Kapitel 1

ENGLAND, 1897

Während sich die Droschke rumpelnd die Anhöhe hinaufkämpft, starre ich gedankenverloren aus dem offenen Fenster. Noch verdecken Brombeerhecken das Herrenhaus von Thornhill Hall. Ich drücke meine Reisetasche an mich, als wäre sie ein Rettungsring und ich ein Ertrinkender. Mit jedem Meter, den wir zurücklegen, steigt meine Nervosität. Zum ersten Mal seit neun Jahren werde ich meiner Mutter gegenüberstehen. Ginge es nach mir, würde ich auf dieses Wiedersehen liebend gern verzichten. Schließlich war sie es, die mich verlassen hat.

Die Kutsche macht einen Sprung, und ich werde von der Sitzbank gehoben, sodass mir die Tasche vom Schoß rutscht. Ich stoße einen überraschten Schrei aus.

»Alles in Ordnung dahinten?«, ruft mir der Kutscher zu, ohne sich umzudrehen.

Blut schießt mir in den Kopf. Eigentlich bin ich nicht sonderlich schreckhaft. »Danke, ja. Das kam nur unerwartet.«

»Schlagloch. Gibts einige hier draußen. Werden Sie merken, wenn Sie ’ne Weile hier sind.«

Wie wunderbar, noch etwas, worauf ich mich freuen kann.

»Is’ anders hier als in London.«

»Ich bin nicht aus London.«

»Was?«

»Ich bin nicht … ach, schon gut!«

Mein Kutscher scheint ein anständiger Kerl zu sein. Mit einem gewinnenden Lächeln und einem Pappschild mit meinem Namen in der Hand hat er mich am Bahnhof erwartet. Trotzdem wäre es mir lieber, wenn er nicht ständig versuchen würde, mich in ein Gespräch zu verwickeln. Dafür bin ich viel zu unruhig.

Außer mir sind keine weiteren Fahrgäste in seine Droschke gestiegen. Ich weiß nicht, ob es daran liegt, dass niemand sonst nach Thornhill reisen will, oder ob meine Mutter diese Pferdedroschke nur für mich bestellt hat – oder ihr neuer Mann. Bei dem Gedanken an den Fremden, unter dessen Dach ich in den kommenden Wochen leben muss, breitet sich ein bitterer Geschmack in meinem Mund aus. Niemand will nach Thornhill Hall. Und ich ganz bestimmt nicht. Meine Mutter wird sich mit mir unterhalten wollen, und ich werde mein Möglichstes tun, um ihr aus dem Weg zu gehen. Uns erwartet ein langer Sommer mitten im Nirgendwo. Ich werde mich zu Tode langweilen.

Wieder drücke ich meine Reisetasche fester an mich. Warum hat Vater nur darauf bestanden, dass ich hierherkomme?

Die Landschaft, durch die wir fahren, ist hügelig und grün. Rechts vom Weg erstreckt sich eine Blumenwiese, so weit das Auge reicht. Ein intensiver Geruch nach Kamille weht zu uns herüber, in der Ferne weiden Kühe.

Hätte es Großmutter hier gefallen? Den Dreck und Smog von London konnte sie nicht ausstehen, sie liebte die Natur und das beschauliche Leben auf dem Land. Allerdings bevorzugte sie die Schönheit eines gut gepflegten Gartens. Jedes Blättchen musste akkurat geschnitten, alle Blumeninseln farblich voneinander getrennt sein. Dem wilden Charme heckengesäumter Wiesen konnte sie nichts abgewinnen.

Mit einem Mal schnürt sich mir die Kehle zu. Ich vermisse Großmutter. Ich kann immer noch nicht begreifen, dass sie tot ist. Ebenso wenig die Tatsache, dass ich gerade eine Frau besuche, die sich weder aus dem Landleben noch aus mir jemals viel gemacht hat. Hätte Vater nicht darauf bestanden, ich wäre nie in den Zug gestiegen. Aber hier bin ich nun. Und Thornhill Hall kommt viel zu schnell näher.

»Deine Mutter versucht, auf dich zuzugehen, Colin, begreifst du das nicht?«

Vater legte mir seine Hand auf meine Schulter. In seinen Augenwinkeln glitzerte es verdächtig.

»Großmutter ist noch keine zwei Wochen tot. Ich kann Mutters Einladung nicht annehmen. Ich kann dich jetzt nicht allein lassen«, erwiderte ich.

»Ich muss ohnehin geschäftlich nach Italien. Dann wärst du allein hier.«

»Ich will nicht zu ihr.«

»Ich weiß. Aber vielleicht brauchst du ja ihren Trost.«

Ich trat einen Schritt zurück und verschränkte die Arme. »Ich brauche nichts von dieser Frau. Es war ihre Entscheidung, uns zu verlassen. Sie hat keine Rücksicht auf uns genommen und nie zurückgeblickt. Warum sollte ich sie jetzt besuchen?«

»Weil sie deine Mutter ist.«

Ich hasste es, dass nun auch mir Tränen in die Augen stiegen. Überdeutlich nahm ich die Familienporträts der verstorbenen Lords und Ladys Cavendish wahr, die von den Wänden des Grünen Salons auf uns herabstarrten. Ich ballte die Finger zu Fäusten, so fest, dass sich meine Nägel in die weiche Haut meiner Handballen gruben. Ich würde ihr niemals nachweinen, o nein, ihr nicht!

»Sie hatte ihre Gründe«, sagte Vater vorsichtig, und ich konnte nicht glauben, dass er versuchte, meine Mutter zu verteidigen. »Das steife Leben einer Lady Cavendish war nichts für sie. Deine Großmutter war eine strenge Frau, der Anstand und Ansehen überaus wichtig waren.«

»Und was ist daran falsch?«

Vater lächelte. »Nichts. Aber deine Mutter war wie ein Wildvogel. Sie hasste die Regeln der Etikette, die mit ihrem Familiennamen einhergehen. Sie fühlte sich eingesperrt. Als sich eine Tür öffnete, konnte sie nichts und niemand halten.«

»Unsere Abstammung verpflichtet«, wiederholte ich das Mantra meiner Großmutter, die mich großgezogen hatte. Sie hatte mir ihre Liebe stets mit der kühlen Reserviertheit einer englischen Lady gezeigt. Doch sie hatte an meinem Bett gesessen, wenn ich fieberte, während meine Mutter sich in irgendeiner Spelunke in London herumtrieb und davon träumte, eine berühmte Schauspielerin zu werden.

Vater seufzte.

»Es gibt …«, begann er, doch ich ließ ihn nicht ausreden.

»Wie kannst du ihr verzeihen? Wie kannst du …?«

»Ich habe deine Mutter einmal geliebt, Colin.«

Das hatte ich auch, doch es lag viele Jahre zurück.

»In manchen von uns«, fuhr Vater fort, »lodert eine Flamme, die so stark ist, dass sie sich ihrem Feuer hingeben müssen, um nicht zu verbrennen.«

»Ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst«, log ich.

»Du wirst es eines Tages verstehen, mein Sohn. Wir alle tragen Wünsche und Leidenschaften in uns. Und wenn uns das Leben die Gelegenheit bietet, ihnen zu folgen, wenn wir den Mut aufbringen können …«

Ich wich einen Schritt zurück und stolperte beinahe über eine der beiden onyxfarbenen Dobermannskulpturen, die wie Wachhunde die Tür zum Garten flankierten. »Ich will das nicht. Ich werde nicht zu ihr fahren.«

»Colin.« Vater klang mahnend.

Ich ballte die Fäuste noch fester, um das Brodeln in mir unter der Oberfläche zu halten. Er kam auf mich zu und umarmte mich. Erst versteifte ich mich, doch dann gab ich nach.

»So unglücklich waren wir in den letzten Jahren doch nicht, du, deine Großmutter und ich, oder?«, flüsterte er.

Und obwohl ich ihm innerlich recht gab, spürte ich, wie neuer Zorn in mir aufstieg. War meine Mutter glücklich gewesen, nachdem sie uns verlassen hatte? Den Zeitungsberichten zufolge, die ich über sie gelesen hatte, schien sie ein ausgelassenes Leben zu führen. Und dafür hasste ich sie noch ein bisschen mehr.

Als der Weg wenig später eine Biegung macht, rückt Thornhill Hall in mein Blickfeld. Es ist ein trutziger Bau aus roten Ziegelsteinen. Das Hauptgebäude mit den zahlreichen Giebeln und Gauben und der klotzförmige Seitenflügel mit seinen dunklen Schindeln sehen wuchtig aus und nicht sonderlich schön. Raben sitzen auf dem Dachfirst und krähen mir wie zur Begrüßung entgegen.

Als die Droschke auf die mit Kieseln bestreute Auffahrt einbiegt, erkenne ich, dass sich eine Menschentraube vor der Freitreppe am Eingang versammelt hat, die mich schon erwartet. Wir sind noch ein ganzes Stück entfernt, als sich eine schlanke Gestalt aus der Gruppe löst und uns mit wehendem Rock entgegeneilt. Mit der Linken hält sie ihren breitkrempigen Sommerhut am Kopf fest, die Rechte streckt sie halb in die Luft, der Droschke entgegen. Mein Herz sinkt mir in die Hose. Zu früh, zu schnell. Ich brauche die blonden Haarsträhnen unter dem Hut nicht zu sehen, um zu wissen, dass sie es ist.

Mutter.

Mein Mund wird trocken, und meine Handflächen werden nass. Die Frau, die auf mich zueilt, kenne ich von Theaterprospekten und Fotografien aus der Zeitung, aus den Erzählungen von Leuten, die sie auf der Bühne gesehen haben – Erzählungen, die nur zum Besten gegeben wurden, wenn meine Großmutter sie gewiss nicht hören konnte. Darin war die Rede von einer charismatischen Frau, einer begnadeten Schauspielerin.

Mit meiner Mutter hat diese Fremde nichts mehr gemein außer ihrem Vornamen. Manchmal wundere ich mich, dass sie den nicht auch hinter sich gelassen hat, vor fast zehn Jahren, als sie mit einem Koffer voller Kleider und Schmuck unserem Zuhause den Rücken gekehrt hat. Sie ist gegangen, ohne sich von mir zu verabschieden. Alles, was sie mir hinterlassen hat, war ein dürftiger Abschiedsbrief.

Ich schließe die Augen und wünsche mir, der Kutscher würde auf der großen Kiesfläche vor dem Haus einfach wenden und zum Bahnhof zurückfahren. Stattdessen zügelt er den Apfelschimmel, die Droschke wird langsamer und bleibt stehen.

»Colin!«

Mutters Stimme klingt dunkel wie Honig und ein wenig außer Atem. Sie erinnert mich an einen warmen Frühlingstag im Mai vor vielen Jahren. Ich bin vielleicht fünf Jahre alt. Mutter und ich liegen unter den ausladenden Ästen eines alten Kirschbaums. Rosafarbene Blüten regnen auf uns herab, und sie kitzelt mich am Bauch und unter den Armen, bis wir beide lachend nach Luft ringen.

Eine Hand schiebt sich in mein Sichtfeld und verdrängt die Erinnerung. Mutters Finger stecken in einem Seidenhandschuh, der sich cremeweiß von dem grauschwarzen Holz der Droschke abhebt.

Plötzlich ist mir übel.

Ich zwinge mich, den Kopf ein wenig zu drehen und ihr ins Gesicht zu sehen.

Ihr Atem geht schnell. Ist es der kurze Lauf über den Kies, der ihr das Blut in die Wangen getrieben hat, oder liegt es an mir? Sie lächelt mich an, doch ihre Lippen zittern, während sich unsere Blicke streifen.

Sie sieht atemberaubend aus. Daran haben auch die kleinen Fältchen in ihrem Gesicht nichts geändert. Selbstvergessen streicht sie sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht, und die Geste erinnert mich so sehr an früher, dass ich mich zwingen muss, in ihr Sarah Tisdale zu sehen, die prominente Bühnenschauspielerin aus der Zeitung, und nicht meine Mutter.

Die Höflichkeit gebietet mir, jetzt etwas zu sagen, doch ich kann mich lediglich fragen, wie ich so dumm sein konnte, tatsächlich hierherzukommen.

Schließlich erlöst uns der Kutscher. »Soll ich zum Haus hochfahren, Ma’am, oder möchte der junge Herr hier aussteigen?«

Mutter schüttelt den Kopf.

»Schon gut, Reginald«, sagt sie. »Fahren Sie, fahren Sie.«

»Möchten Sie einsteigen?«

Ich verspüre den unerträglichen Wunsch, dass sie in die Droschke steigen, sich neben mich setzen und ihre Hand in meine schieben möge. Mir wird noch übler, obwohl ich das eigentlich nicht für möglich gehalten hätte.

Ich zwinge mich, sie anzublicken, und warte auf ihre Reaktion. Ein, zwei Herzschläge vergehen. Vielleicht fragt sie sich, was ich empfinde. In mir mag ein Sturm toben, doch Großmutter hat mich Contenance gelehrt, nach außen hin bleibe ich der ruhige, kühle Gentleman mit der unbewegten Miene. Ich zeige eine Haltung, die meine Mutter niemals anzunehmen imstande war.

»Nein, nicht nötig.« Sie tritt von der Droschke weg und wirkt ein wenig verlegen. »Es sind ja nur ein paar Schritte.«

Reginald schnalzt mit der Zunge, um den Schimmel anzutreiben, und Mutter lächelt mich noch einmal an. Aber ihre Stirn ist zu bewölkt, als dass ihre Miene unbeschwert wirken könnte.

An der Eingangstür von Thornhill Hall erwartet mich Wallace White jr. Ich kenne ihn von Fotografien aus der Zeitung. Er ist Ende vierzig, doch sein stattlicher Schnurrbart und sein Haar sind bereits ergraut. Er ist der neue Ehemann meiner Mutter, angeblich Kunstliebhaber, und verdient sein Geld damit, Expeditionen in die exotischsten Gegenden der Welt zu organisieren. Das freundliche Lächeln, mit dem er mich betrachtet, bringt mich fast aus der Fassung. Neben ihm steht eine hochgewachsene Frau in einem eng geschnittenen lilafarbenen Kleid, das so stark leuchtet, dass es fast in den Augen schmerzt. Sie ist schlank, fast hager. Ich nehme an, sie ist die Nanny und das Baby, das in ihren Armen zappelt, meine Halbschwester Annaleigh.

Die Kleidung der übrigen Frauen und des jungen Mannes, die mit gefalteten Händen meine Ankunft erwarten, weist sie als Dienstboten aus. Das gilt auch für den Mann mit den pomadisierten Haaren in der Butlerunifom. Als die Droschke zum Stehen kommt, tritt er nach vorn, öffnet mit gesenktem Kopf die Tür und wartet darauf, dass ich aussteige.

»Willkommen auf Thornhill Hall!«, ruft Mutter, die just in diesem Moment zu uns aufschließt.