Kapitel 4

Die Theaterbühne unter meinen Füßen schwankt wie ein Dampfer auf hoher See. Während ich mich nach vorn kämpfe, suche ich alle paar Schritte Halt an haushohen Pappmascheekulissen.

»Du musst dich beeilen, Liebling!«

Die Stimme meiner Mutter ertönt von irgendwo über mir. Ich lege den Kopf in den Nacken und entdecke einen goldenen Käfig, der an einem langen Seil ruckartig höher gezogen wird. Meine Mutter steht darin, streckt ihre Arme zwischen den Gitterstäben hindurch und feuert mich an: »Ja, mein Schatz! Weiter so! Ein Schritt nach dem anderen.«

Ich starre sie an. »Was machst du dort oben?«

»Für Fragen bleibt jetzt keine Zeit, Colin. Beeil dich lieber, sonst steckt sie dich auch in einen Käfig.«

Als ich ihrem Blick folge, entdecke ich, halb verborgen hinter einer riesigen Rabenstatue, eine Frau in einem schwarzen Trauerkleid. Schatten verhüllen ihr Gesicht. Sie hält das Seil in der Hand, an dem Mutters Käfig befestigt ist, und zieht ihn unerbittlich höher.

Ein Schauer läuft mir über den Rücken. Ich beschließe, dem Rat meiner Mutter zu folgen, und haste weiter. Als ich mein Ziel, den weinroten Samtvorhang mit den goldenen Quasten, fast erreicht habe, rauscht eine von Kopf bis Fuß verschleierte Gestalt an mir vorbei und zupft an dem Samtstoff herum.

»Lady Imelda?«, frage ich.

Sie beachtet mich gar nicht.

»Dieser Stoff ist völlig falsch«, empört sie sich. »Er ist viel zu dick. Wie soll damit mein Schleierblick gelingen?«

Ich will sie gerade auffordern, von der Bühne zu verschwinden, weil sie hier nichts zu suchen hat, als meine Füße plötzlich feucht werden. Es fühlt sich an, als stünde ich in einem Bach. Ein Blick auf den Boden verrät mir allerdings, dass nicht Wasser über die Bühne fließt, sondern eine schäumende goldene Flüssigkeit. Immer mehr davon flutet die Holzbretter, und überrascht stelle ich fest, dass es sich um Bier handelt.

»Ach du lieber Himmel!«, ruft ein Schauspieler, der sich neben mir durch den Strom kämpft. Er trägt ein Gewand wie ein Barde aus dem Mittelalter, sein Hemd steht offen und enthüllt seine nackte Brust und ein großes Feuermal über der linken Brustwarze.

»Ich kenne dich!«, sage ich zu ihm, das Getöse um mich herum ignorierend. Als ich ihm jedoch ins Gesicht blicke, ist er nicht mehr der fremde Schauspieler, sondern Teddy McKenzie.

»Hast du schon mal etwas ganz Verrücktes gemacht?«, fragt er. Und noch ehe ich antworten kann, lässt er sich nach hinten fallen und versinkt im Bier.

Ich stemme mich gegen die Strömung und bewege mich auf die Stelle zu, wo er untergegangen ist, als mich das knarzende Geräusch von Dielenbrettern aus dem Schlaf reißt.

Mit klopfendem Herzen schlage ich die Augen auf.

Kein Bier. Keine Bühne. Ich liege in meinem Bett, nein, in einem Gästebett auf Thornhill Hall. Es ist stockdunkel, also noch immer mitten in der Nacht.

Aufgewühlt von meinem verrückten Traum, liege ich auf der Matratze und versuche, mich zu beruhigen. Es dauert einen Moment, bis ich begreife, dass hier etwas nicht stimmt. Dass sich etwas nicht richtig anfühlt. Für eine Sommernacht ist es viel zu kalt im Raum, und überhaupt – wer hat das Fenster geschlossen? Ich bin mir absolut sicher, dass ich es einen Spaltbreit geöffnet habe, ehe ich unter die Decke gekrochen bin.

Die Nackenhaare stellen sich mir auf. Mit einem Mal bin ich überzeugt davon, dass noch jemand hier im Zimmer ist.

Sorgfältig darauf bedacht, keinen Laut zu verursachen, um den Eindringling nicht auf mich aufmerksam zu machen, stütze ich mich auf den Ellenbogen und versuche, im Grauschwarz um mich herum etwas zu erkennen. Aber mein Zimmer ist leer. Die Tür ist geschlossen. Ich höre nichts als meinen eigenen pochenden Herzschlag und das leise Ticken der Taschenuhr auf dem Nachttisch.

Eigentlich sollte ich mich jetzt erleichtert in mein Kissen zurücksinken lassen, doch weder meine Gänsehaut will verschwinden noch das Gefühl, dass hier irgendetwas schrecklich falsch ist.

Mit zitternden Fingern taste ich nach den Zündhölzern auf meinem Nachttisch. Eine Bodendiele knarrt Unheil verkündend, als würde jemand gerade darauf treten, auch wenn ich sicher bin, dass niemand im Raum ist!

Niemand, den du sehen kannst, wispert eine böse Stimme in meinem Kopf.

Noch einmal ertönt das Knarzen. Diesmal klingt es näher. Ich zucke zusammen, meine Hand stößt gegen die Streichholzschachtel und wischt sie beinahe zu Boden. Gerade noch rechtzeitig bekomme ich sie zu fassen.

Zum dritten Mal knarzt die Diele, und aus den Augenwinkeln nehme ich eine Bewegung wahr.

Zwei knöchrige blassgraue Hände umschlingen die Messingstange am Fußende meines Bettes.

Ich bin vor Schreck wie versteinert und bringe keinen einzigen Laut über die Lippen. Es ist, als ob meine Stimmbänder gelähmt wären. Meine Finger verkrampfen sich um das Bettgestell, während sich quälend langsam irgendetwas auf die Matratze zuschiebt.

Ein übernatürliches Wesen? Ich kann es nur schemenhaft erkennen. Die Gestalt besteht aus grauem Rauch und Nebelschleiern, ist durchsichtig und fast konturlos. Sie hat nur vage Ähnlichkeit mit einem Menschen.

Starr vor Angst beobachte ich, wie sich der Kopf des Wesens über die Metallstange reckt und wie es mit den Fingern nach meiner Bettdecke greift. Obwohl das Wesen körperlos zu sein scheint, bewegt es mit einer Hand den Stoff, und ich kann spüren, wie die Decke über meine Zehen gleitet.

Um Himmels willen – nein!

Das ist grauenerregend.

Ein kalter Lufthauch weht mir ins Gesicht und lässt meine Zähne klappern.

Das löst mich endlich aus meiner Starre. Rasch öffne ich die Streichholzschachtel auf meinem Nachttisch und hole ein Zündholz heraus.

Jetzt greifen auch die Finger der zweiten Hand nach meiner Bettdecke.

Guter Gott – nein!

Ich beiße die Zähne zusammen, um mein Zittern in den Griff zu bekommen. Sonst wird es mir nie gelingen, die Kerze anzuzünden.

Die Nebelgestalt kriecht langsam immer näher zu mir heran, während ich mit Daumen und Zeigefinger das Streichholz umklammere. Entschlossen reiße ich es an der rauen Seite der Schachtel an.

Es zischt, aber statt Schwefelgeruch steigt mir Veilchenduft in die Nase. Mein Herzschlag setzt aus.

»Wer ist da?«, rufe ich mit krächzender Stimme, als das Feuer endlich aufflammt. Sein goldener Schein treibt die Schatten um mich herum in die Ecken des Zimmers. Das Bett vor mir ist leer. Weder eine Gestalt aus Rauch und Nebel noch eine echte kauert da am Fußende.

Nervös zünde ich die Kerze an und atme erleichtert auf, als auch in ihrem hellen Licht keine seltsame Erscheinung zu erkennen ist.

Eine Weile lang sitze ich nur in meinem Bett und blicke mich nach allen Seiten um. In meinem leeren Zimmer, in dem keine Holzdiele mehr knarrt, in dem es nicht mehr nach Veilchen riecht und keine Nebelgestalt durch die Luft treibt.

Ich habe mir das alles nur eingebildet.

Ich habe schlecht geträumt und war bis eben noch gar nicht richtig wach.

Und mein Fenster? Ich muss es wohl doch geschlossen haben, bevor ich ins Bett gegangen bin.