Kapitel 6

Auf dem Flur laufe ich Teddy in die Arme. Er hält sein Notizbuch in der Hand, ist vermutlich auf dem Weg in den Garten. Er blickt mit gerunzelter Stirn in Richtung Damensalon.

»Du solltest nicht so mit deiner Mutter umspringen.«

»Hast du uns etwa belauscht?«

»Ihr wart nicht zu überhören.«

Sprachlos starre ich ihn an. Er strafft den Rücken und will gerade weitergehen, als er doch noch einmal den Mund aufmacht.

»Es ist ihr wirklich wichtig, sich mit dir auszusöhnen.«

»Sie hat mich mein halbes Leben lang ignoriert.«

»Aber nicht freiwillig!« Ein trauriger Ausdruck huscht über sein Gesicht. »Jetzt will sie für dich da sein.«

Seine Worte nagen an mir. Vielleicht weil er Mutter inzwischen offenbar besser kennt als ich. Wie viele Sommer hat Teddy McKenzie mit ihr verbracht, während ich in Cavendish Manor saß, nur ein paar Tagesreisen von hier entfernt?

»Du begreifst das nicht. Du weißt nicht, was meine Mutter mir angetan hat«, beharre ich störrisch.

Teddy betrachtet mich mit schief gelegtem Kopf und lächelt traurig. »Du hast wenigstens noch eine.«

In den nächsten Stunden halte ich mich von den anderen, so gut es geht, fern. Ich verschanze mich in meinem Zimmer und versuche, mich auf mein Buch zu konzentrieren, doch meine Gedanken schweifen immer wieder ab. Nur zum Mittagessen geselle ich mich zu ihnen. Es gibt eine cremige Kressesuppe, die vorzüglich schmeckt. Am Tischgespräch beteilige ich mich nicht, ebenso wenig wie Teddy. Imelda erzählt freudig von dem Mechaniker, den sie im Dorf aufgetrieben haben und der sich um ihr Automobil kümmern wird. Sie beschreibt begeistert seine stattliche Gestalt. Schon bei der Art, wie sie das sagt, stellen sich mir die Nackenhaare auf. Als hätte sie nichts dagegen, dass er sich um mehr als ihr Fahrzeug kümmert.

Mutter lacht mit ihr und wirkt ganz unbeschwert. Dass es unsere Auseinandersetzung im Salon gegeben hat, merkt man ihr kaum an.

Nach dem Essen verziehe ich mich wieder nach oben, bis zur Ankunft der Wochenendgäste, die Mutter uns gestern schon angekündigt hat.

Zwei Stunden später stehen Garrick Saint-Clark und seine Frau Lucille in der Eingangshalle. Beide scheinen ein paar Jahre jünger als Mutter zu sein. Offensichtlich haben sie sich über ihren Beruf kennengelernt: Garrick ist der Sohn eines Theaterbesitzers aus London. Während seine hochschwangere Frau ein einfaches elegantes Kleid aus weißer Seide trägt, hat er eine burgunderfarbene Anzughose, einen tannengrünen Frack, ein weißes Hemd und eine tintenblaue Fliege an. Kein Stück passt zum anderen. Er wirkt wie ein Zirkusdirektor, bis hin zum schwarzen Zylinder. Fast wundert es mich, dass er statt seines Spazierstocks keine Dompteurpeitsche in der Hand hält.

Das gewinnende Lächeln, mit dem er uns anstrahlt, und die liebevolle Art, mit der er sich um seine Frau kümmert, machen es mir allerdings leicht, ihn sympathisch zu finden. Die Extravaganz seiner Kleidung beeindruckt mich.

Lucille wirkt recht ruhig. Vielleicht liegt das einfach daran, dass die Schwangerschaft sie eine Menge Kraft kostet. Ihre rechte Hand ruht auf ihrem stark gewölbten Bauch, und nachdem Mutter und Wallace sie begrüßt haben, bittet sie gleich darum, sich für ein Stündchen zurückziehen zu dürfen.

Ich tue es ihr gleich und verschwinde rasch auf mein Zimmer, wo ich mich wieder in die Lektüre meines Buches vertiefe. Wenig später klopft es an meine Tür.

»Colin?«

Ich richte mich auf, und das dünne Stück Stoff, das ich als Lesezeichen verwende, gleitet zu Boden.

»Herein.«

Als ich mich umdrehe, steht Wallace im Türrahmen. In seinen Händen hält er eine Vase mit einem riesigen Blumenstrauß. Über die rosafarbenen Köpfe der Pflanzen hinweg lächelt er mir zu.

»Deine Mutter hat mich gebeten, dir diese Blumen zu bringen.«

Ich nicke, während er mit der Vase auf den Waschtisch zusteuert. Als ich endlich in Bewegung komme und dort etwas Platz schaffe, berühren sich unsere Ellenbogen. Der honigsüße Duft der Blüten steigt mir in die Nase.

»Stauden-Phlox«, sagt Wallace und zupft an den Pflanzen, um den Strauß in Form zu bringen. Es ist sonnenklar, dass er keine Ahnung von dem hat, was er da gerade tut. »Sarah meint, die magst du gern.«

»Wir haben sie immer Flammenblumen genannt.« Meine Schultern entspannen sich. »Ich bin überrascht, dass du ihren richtigen Namen kennst.«

Wallace wendet sich mir zu. »Ich habe mich schon vor unserem Einzug um unseren Garten gekümmert, während deine Mutter noch in London auf der Bühne stand. Der Stauden-Phlox war ihr sehr wichtig.« Er lächelt versonnen. »Sarah hat mir eine ganze Liste mit Anweisungen für den Gärtner mitgegeben.«

»Mutter hat Gärten schon immer geliebt.«

Und je natürlicher sie wuchsen, desto besser haben sie ihr gefallen.

Schweigen breitet sich zwischen uns aus. Ich will ihn gerade bitten, mich wieder allein zu lassen, als sein Blick auf meine Taschenuhr fällt, die ich auf den Waschtisch gelegt habe.

»Die sieht sehr schön aus. Darf ich?«

Widerwillig nehme ich sie und lege sie auf seine Handfläche. Behutsam hebt er sie vor sein Gesicht, betrachtet das Zifferblatt, das flache Gehäuse mit der filigranen Gravur und die lange dünne Silberkette, an der sie befestigt ist.

»Ein edles Stück«, stellt er schließlich fest. »Sie ist sicher sehr wertvoll.«

Ich nicke. »Sie hat meinem Großvater gehört.«

»Lord Cavendish?«

»Ja.«

Der Vater meiner Mutter, der starb, als sie noch ein kleines Mädchen war. Meine Mutter hätte diese Uhr sicher nach dem Tod meiner Großmutter erhalten, wenn Großmutter sie nicht kurz davor enterbt hätte. Das ist immerhin eine kleine Genugtuung für mich. Sarah White wird vom Vermögen ihrer Familie keinen einzigen Penny erhalten. Nicht dass sie darauf noch angewiesen wäre, jetzt, wo sie Wallace White jr. geheiratet hat. Er entstammt einer amerikanischen Unternehmerfamilie, die in ihrer Heimat zu beträchtlichem Wohlstand gelangt ist und die meine Großmutter mit kaum merklichem Naserümpfen als neureich bezeichnet hat.

»Pass gut auf sie auf«, sagt Wallace und gibt mir die Uhr zurück.

Als würde ich das nicht ohnehin tun.

»Darf ich …?«, beginnt er zögernd, und ich kann an seinem Gesicht ablesen, dass ihn unser Gespräch ebenso verunsichert wie mich. »Colin, darf ich dich um etwas bitten?«

Mein Körper spannt sich an und ich nicke zögernd.

»Ich denke, du solltest deiner Mutter eine zweite Chance geben«, sagt Wallace.

Ich spüre, wie ich innerlich versteinere. Am liebsten würde ich ihn in seinem eigenen Haus aus meinem Zimmer werfen.

»Lass mich dir eine Geschichte erzählen.«

Bei diesen Worten muss ich mich wirklich beherrschen. Was wird das jetzt? Eine Märchenstunde?

»Eigentlich ist es gar keine Geschichte«, verbessert sich Wallace, als habe er meine Gedanken erraten. »Etwas über mich, wenn man es genau nimmt.« Er steckt seine Hände in die Anzugtaschen, wartet ein paar Sekunden und fährt dann fort: »Weißt du, Colin, ich habe auch nicht mehr viel Kontakt zu meiner Mutter, und das bedaure ich sehr. Sie lebt in Amerika, bei meinem ältesten Bruder.«

Ich biete Wallace den Holzstuhl an, der am Fußende meines Bettes steht, und setze mich auf die Bettkante, nachdem ich die Taschenuhr neben die Blumenvase gelegt habe.

»Danke.«

Ich stelle fest, dass ich Wallace’ freundliches Lächeln mag. Seine linke Augenbraue wippt fröhlich nach oben, wenn es sich über sein Gesicht breitet.

»Zu meinen beiden Brüdern habe ich nicht das beste Verhältnis. Mein Vater ist verstorben.«

»Mein Beileid.«

»Ist schon ein paar Jahre her. Mein Vater hielt immer große Stücke auf meine Brüder, viel mehr als auf mich. Ich nehme an, ich war ihm, nun, zu unbeständig. Er hat ein Stahlwerk gegründet, das ihn reich gemacht hat. Seit seinem Tod führen meine Brüder das Unternehmen. Ich habe mich nie sonderlich für die Firma interessiert. War lieber auf Reisen, hab neue Dinge ausprobiert.«

Ich kann mir vorstellen, warum Wallace mit seinem Vater Probleme hatte.

»Er hat nicht verstanden, dass es auch noch andere Arten gibt, sein Leben zu leben. Oder an Geld zu kommen. Wichtig ist, dass man sich seine Neugierde und seine Leidenschaft bewahrt.«

»Du verdienst dein Geld mit der Organisation von Reisen, richtig?«, frage ich.

Wallace’ Augen beginnen zu leuchten. »Ich bin in New York aufgewachsen. New York ist eine große Stadt und Amerika ein riesiger Kontinent. Aber die Welt ist noch viel größer und voll von herrlichen Orten. Das hat mein Vater nie verstanden. Er wollte, dass ich wie meine Brüder in unser Familienunternehmen einsteige. Aber wäre er doch nur einmal mit mir gekommen – in die Regenwälder von Südamerika, nach Paris oder Moskau, zum Ayers Rock nach Australien …«

»Australien? Dort warst du auch schon?«, frage ich, gegen meinen Willen beeindruckt.

Ein Schatten fällt auf Wallace’ Gesicht. »Noch nicht. Aber sobald Annaleigh alt genug ist, geht es auf die nächste Reise. Ich plane sie bereits. Es gibt genügend Menschen, die gutes Geld dafür bezahlen, eine solche Expedition zu unternehmen.«

Seine Worte bringen etwas in mir zum Klingen. Ayers Rock. Wallace’ Begeisterung ist ansteckend.

»Du könntest uns begleiten«, schlägt er vor. »Deine Mutter und mich. Im nächsten Sommer. Was hältst du davon?«

Ich greife nach einem Glas Wasser und trinke einen Schluck.

»Wie war dein Verhältnis zu deiner Mutter?«, frage ich ihn, um ihn von diesem heiklen Thema abzulenken. »Ich meine, früher.«

Wallace holt tief Luft und nickt. »Gut, gut. Anders als mein Vater und meine Brüder hat meine Mutter immer zu mir gehalten. Ich bedaure sehr, dass ich sie so lange nicht mehr gesehen habe. Ich hätte ihr viel zu erzählen.«

»Du könntest sie doch besuchen.«

»Solange sie bei meinem Bruder lebt, ist das schwierig«, erwidert Wallace. »Er ist nicht erpicht darauf, mich wiederzusehen.«

»Du könntest ihr schreiben«, schlage ich vor.

»Das ist nicht das Gleiche. Manche Dinge«, er blickt mir direkt in die Augen, »bespricht man besser von Angesicht zu Angesicht.«

Ich schlucke.

»Wie gut, dass du dich entschlossen hast, deine Mutter zu besuchen«, sagt er hoffnungsvoll.

Ich schüttle den Kopf. »Ich bin nur hergekommen, weil mein Vater darauf bestanden hat.«

»Dein Vater scheint ein feiner Mann zu sein. Sarah erzählt nur Gutes von ihm.« Wallace steht auf. »Ich habe gesehen, wie du deine Mutter anblickst, wenn du glaubst, dass es niemand merkt. Sie fehlt dir.«

Ich presse meine Lippen fest aufeinander.

»Gib ihr eine zweite Chance, Colin. Sie … sie würde es sich so sehr wünschen. Deine Mutter liebt dich.«

Nach diesen Worten dreht er sich um und geht zur Tür. Ehe er sie öffnet, schaut er mir noch einmal direkt ins Gesicht.

»Wie wäre es, wenn du sie heute Abend kurz besuchst, während sie sich für das Dinner fertig macht?«

Das war Mutters Vorschlag, wette ich. Bilder aus der Vergangenheit tauchen vor mir auf, wie ich auf einem Stuhl neben ihr sitze und sie dabei beobachte, wie sie sich hübsch macht. Wie haben wir diese Stunden geliebt.

»Was denkst du?«, drängt Wallace mich.

Ich kann nicht antworten, denn der Kloß in meinem Hals wird immer größer. Deshalb nicke ich nur.

Als Wallace mein Zimmer verlassen hat, trinke ich das Wasserglas in großen Schlucken aus und blinzle die Tränen weg, die in mir aufkommen.