Kapitel 10

Da Mutter und Wallace abwesend sind, sollte ich als Gastgeber Imelda und die anderen eigentlich nicht allein lassen. Dennoch gehe ich nach oben, um meine Garderobe zu wechseln.

In meinem Zimmer entzünde ich die Kerze auf meinem Nachttisch und hole mir ein trockenes Hemd und eine frische Hose aus der Kommode.

In Rekordzeit ziehe ich mich um. Der Schrecken von vorhin steckt mir noch in den Knochen, und auch der Rauchgeist aus meinem Albtraum geht mir nicht aus dem Kopf. Bevor ich mein Zimmer wieder verlasse, stecke ich die Taschenuhr ein. Nach dem Zwischenfall mit Bob fühle ich mich nicht wohl dabei, sie unbeaufsichtigt zurückzulassen. Ich wünschte, ich könnte das Gästezimmer abschließen, doch in der Tür steckt kein Schlüssel.

Als ich auf den Flur trete, stutze ich.

Von unten dringt gedämpftes Gemurmel zu mir, es ist eiskalt und, seltsamer noch, alle Kerzen sind verloschen. Ich blicke zum Schlafzimmer meiner Mutter am Ende des Flurs. Durch den Türspalt dringt goldenes Licht. Vermutlich kann Annaleigh nicht einschlafen, kein Wunder bei dem Sturm, der an den Fensterläden rüttelt und um die Hausecken pfeift. Als Kind hatte ich auch Angst vor Gewittern. Papa hat dann an meinem Bett gesessen und mir aus Märchenbüchern vorgelesen. Diese Erinnerung lässt mich lächeln.

Ich gehe zurück in mein Zimmer, zünde die Kerze wieder an und nehme sie mit in den Flur.

Wer hat die anderen gelöscht? Steht vielleicht irgendwo ein Fenster offen und es war der Wind? Und weshalb hat sich noch kein Dienstbote darum gekümmert?

Als ich auch die Kerze an der Wand neben meiner Tür anzünden will, stelle ich erstaunt fest, dass die Halterung leer ist, ebenso die auf der gegenüberliegenden Flurseite. Auch aus dem Erdgeschoss dringt kein Licht mehr. Annie oder Mary werden die alten Stumpen wohl entfernt haben und holen gerade aus dem Keller neue.

Vor Teddys Tür bleibe ich stehen und klopfe. Nichts rührt sich. Vermutlich ist er schon wieder nach unten gegangen.

Als ich mich umdrehe, erzittert Thornhill Hall unter einem solch gewaltigen Donnerschlag, dass ich befürchte, der Blitz habe in das Gebäude eingeschlagen. Mein Puls rast, vorsichtig taste ich mich den Flur entlang. Ich bin noch etwa zehn Schritte von der Treppe entfernt, als ich erkenne, dass dort jemand auf mich wartet. Eine dunkle Silhouette steht vor dem Eingang der Galerie.

»Teddy?«

Ich hebe die Kerze, doch ihr Schein blendet mich mehr, als dass er die Umgebung erleuchtet. Ich blinzle kurz, aber nachdem sich meine Augen wieder an die Finsternis gewöhnt haben, ist, wer auch immer dort stand, verschwunden.

Ich frage mich, ob ich ihn mir wohl ebenso eingebildet habe wie die Nebelgestalt in der Balkontür, als ich etwas Kleines sehe, das vor der Treppe am Boden liegt.

Mit jedem Schritt, den ich näher komme, zieht sich mein Magen mehr zusammen. Endlich erkenne ich den Gegenstand – es ist der Ball aus dem Garten. Der Ball, den ich ans Teichufer gelegt habe und der kurze Zeit später, wie von Geisterhand bewegt, verschwunden war.

Jetzt liegt er direkt vor mir, seine rote Farbe schimmert, wo das Licht der Flamme darauf fällt.

Ich blicke mich nach allen Seiten um, starre in die Dunkelheit, halte den Atem an und spitze die Ohren. Doch außer mir ist hier niemand.

Wie ist der Ball hierhergekommen? Als ich vor ein paar Minuten nach oben kam, um mich umzuziehen, lag er noch nicht an dieser Stelle, da bin ich mir sicher. Spielt Teddy etwa irgendein undurchsichtiges Spiel mit mir, um sich dafür zu rächen, dass ich in seinem Notizbuch geblättert habe?

Gedankenverloren stelle ich die Kerze auf den Fußboden und hebe den Ball hoch. Er fühlt sich ganz natürlich an, keineswegs überirdisch.

Da nähern sich schnelle Schritte. Heißer Atem streift meinen Nacken. Ich spüre, wie jemand mit voller Wucht in meinen Rücken kracht. Ein Stoß katapultiert mich nach vorn, über die oberste Treppenstufe hinweg. Der Ball fällt mir aus der Hand, während ich spüre, wie meine Füße die Bodenhaftung verlieren. Mit wild rudernden Armen und Beinen fliege ich durch die Luft. Erschrocken will ich aufschreien, doch schon im nächsten Moment stürze ich kopfüber die Treppe hinunter. Der Aufprall presst mir die Luft aus der Lunge, und Schmerz explodiert in meinem Körper. Meine Rippen knacken, ein Stechen durchzuckt den Unterarm, mit dem ich mich abzustützen versuche. Schon sehe ich den massiven Stützpfeiler des Treppengeländers auf mich zurasen, ohne dass ich es verhindern kann. Mit der Stirn pralle ich direkt dagegen, und plötzlich ist alles schwarz um mich herum.