Kapitel 12

Im ersten Moment will ich lachen. Doch das glucksende Geräusch, das in meiner Kehle aufsteigt, verwandelt sich in ein Krächzen, ehe es aus meinem Mund kommt. Denn auch wenn ich gern glauben möchte, dass Miss Cleve sich einen schlechten Scherz erlaubt, befürchte ich, dass sie die Wahrheit sagt. Und auch die Tatsache, dass ich meinen Kopf keinen Zentimeter weiter drehen kann, kommt mir merkwürdig vor.

Mit den Fingern betaste ich meinen Hals, bis ich auf eine spitze Stelle stoße und mein Herz vor Schreck einen Satz macht.

Kann mein Herz überhaupt einen Satz machen, wenn ich tot bin? Nun, zumindest fühlt es sich so an.

Und die Stelle an meinem Hals fühlt sich an, als würde sich ein Knochen durch meine Haut bohren.

Oh mein Gott!

Miss Cleve zieht meine Finger von meinem Hals weg und umschließt sie mit ihren Händen. Das Lächeln, das sie mir schenkt, hat etwas Tröstliches.

Doch was an dieser Situation kann bitte tröstlich sein?

Schritte nähern sich.

»Ah, Rupert, endlich«, sagt Miss Cleve. Sie klingt erleichtert.

Ein Mann mit aristokratischen Gesichtszügen, braunen Haaren und einem schmalen Schnurrbart tritt zu uns und geht vor mir in die Hocke. Er trägt einen eleganten schwarzen Anzug.

»Ein Neuer? Wann ist das denn passiert?«

Seine ruhige Stimme lässt mich unwillkürlich an dunkle Schokolade denken.

»Gerade eben.«

Jetzt spricht zum ersten Mal der alte Mann, der im Eingang zum Flur steht. Das kleine Mädchen hat sich zum Glück beruhigt.

»Der Arme ist die Treppe heruntergestürzt«, erklärt Miss Cleve.

Und noch bevor ich den Mund aufmachen und berichten kann, was tatsächlich geschehen ist, kniet sich Rupert hinter mich. Er legt eine Hand um mein Kinn, die andere drückt er mir fest in den Nacken. Ehe ich weiß, wie mir geschieht, verstärkt er seinen Griff und dreht und zerrt an meinem Kopf, als wollte er ihn mir von den Schultern reißen. Schmerz durchströmt mich bis in die Zehenspitzen. Mein Schrei hallt durch die leeren Korridore des alten Anwesens.

Der Fremde, Rupert, lässt mich los und hockt sich wieder vor mich. Geradezu kameradschaftlich klopft er mir auf die Schulter.

»Ist es jetzt besser?«

Ich setze zu einem Protestschrei an, als ich bemerke, dass sich mein Kopf tatsächlich wieder drehen lässt. Auch der furchtbare Vorsprung an meinem Hals ist verschwunden.

»Oh … danke.«

Rupert grinst mich an, streicht sich mit einer selbstbewussten Geste die Haare nach hinten und steht auf.

Eine blonde Frau tritt an seine Seite und schmiegt sich an ihn.

»Das ist mittlerweile so etwas wie Ruperts Spezialität«, sagt sie. Der Seidenschal, den sie trägt, erinnert mich an den von Lady Imelda.

Vorsichtig rappele ich mich auf und stelle fest, dass ich etwas wackelig auf den Beinen bin. Miss Cleve, die plötzlich wieder neben mir steht, stützt mich.

»Machen Sie das öfter?«, frage ich Rupert.

»Öfter, als mir lieb ist«, erwidert er grinsend. »Hat ein bisschen gedauert, aber inzwischen habe ich den Dreh raus.«

Seine Gefährtin löst sich von ihm. »Ich war die Erste, der er den Kopf wieder eingerenkt hat.« Sie klingt, als wäre sie stolz darauf.

Wie gebannt beobachte ich, wie sie sich ihr Seidentuch von den Schultern zieht, mit der Rechten ihre Hochsteckfrisur leicht nach hinten schiebt und auf eine Stelle dicht unterhalb ihres Ohres zeigt. Ich muss näher an sie herangehen, um die kleine Wölbung zu erkennen. Es sieht aus, als säße eine daumennagelgroße Kugel direkt unter ihrer Haut.

Sofort betaste ich erneut meinen eigenen Hals, doch ich spüre keine Erhebung mehr.

Die Blondine lacht und winkt ab.

»Keine Sorge, bei dir ist alles in Ordnung. Bei mir hat es Rupert leider noch nicht gut hinbekommen.« Sie lässt ihren Kopf kreisen, und es knackt so laut, dass sich mir die Zehennägel hochrollen. »Deshalb muss er mich immer wieder mal einrenken. Ich bin übrigens Daisy.«

Sie streckt mir die Hand entgegen und ich schlage ein.

»Sehr erfreut«, lüge ich. »Ich bin Colin.«

»Aber das wissen wir doch!«, sagt die Köchin. Schließlich hat sie mich gestern bei meiner Ankunft mit allen anderen Angestellten vor dem Haus begrüßt. Warum sie jetzt allerdings mit diesen seltsamen Fremden neben mir steht, ist mir ein Rätsel. Ist sie etwa auch gestorben? Zieht ein Serienmörder durch Thornhill Hall?

»Was … ist denn passiert?«, stammle ich.

Daisy bezieht die Frage auf sich. »Ich wurde erschossen, und dabei habe ich mir das Genick gebrochen.« Sie deutet zur Galerie im ersten Stock hinauf. »Die Wucht des Schusses hat mich nach hinten taumeln lassen, sodass ich über das Geländer gefallen bin. Das war vielleicht ein Schock!«

»Sie wurden erschossen?« Meine Stimme kippt.

Daisy zieht am Ausschnitt ihres Kleides. Der Stoff rutscht ein Stück herunter und gibt eine wulstige Narbe unter dem Jochbein frei. »Den Schuss hätte ich ja vielleicht noch überlebt. Lady Cecilia war eine miserable Schützin. Aber der Sturz …« Sie rückt ihr Kleid wieder zurecht. »Tja. Pech gehabt.«

»Wann ist das passiert?«

Rupert legt Daisy ganz ungeniert den Arm um die Taille und mustert mich über ihre Schulter hinweg. »Im Dezember 1881. Eine Nacht vor Heiligabend.«

Daisy schmiegt ihren Kopf an seine Brust. »Dem Himmel sei Dank ist mein lieber Rupert gleichzeitig mit mir gestorben.«

»Ich würde es etwas anders ausdrücken«, widerspricht ihr dieser, und Daisy wirft ihm einen leicht gekränkten Blick zu.

»Haben Sie sich etwa gegenseitig umgebracht?«, frage ich entsetzt.

Rupert reißt die Augen auf. »Guter Gott, nein. Wo denkst du hin? Ich wurde ebenfalls erschossen.«

»Von besagter Lady Cecilia?«

»Das ist eine längere Geschichte.«

»So lang nun auch wieder nicht.« Ein junger Mann tritt an das Geländer der Galerie. Auf seinem Kopf sitzt ein breitkrempiger Strohhut. Er deutet auf Rupert. »Seine Lordschaft hat Lady Cecilia betrogen, die zu diesem Zeitpunkt seine Verlobte war. Und Cecilia hat sich bitter gerächt. Leider nicht nur an ihm, sondern auch an der armen Daisy.«

Der Mann spricht den Namen der jungen Frau beinahe zärtlich aus. Ruperts Stimme hingegen ist schneidend wie ein frisch geschliffenes Messer.

»Warum wühlst du nicht weiter draußen im Dreck, anstatt hier alten Staub aufzuwirbeln, Thomas?«, fragt er.

»Falls du es noch nicht gemerkt hast: Es stürmt und es ist mitten in der Nacht«, sagt Thomas mit dem Strohhut.

»Lasst gut sein, ihr beiden«, mischt sich der ältere Herr nun ins Gespräch ein. »Das ist wahrlich nicht der rechte Augenblick.«

Thomas kommt die Treppe herunter. Anders als Rupert und Daisy trägt er eine abgewetzte Stoffhose und ein schmutziges Hemd. An seinen Lederschuhen klebt eingetrockneter Schlamm. Auf dem Treppenabsatz bleibt er stehen und streckt der kleinen Charlotte eine Hand entgegen. Das Mädchen steht auf, und gemeinsam kommen sie die Stufen bis zur Eingangshalle herunter.

»Das ist Thomas«, erklärt Miss Cleve. »Er kann ganz wundervoll mit Blumen und allen anderen Pflanzen umgehen. Er ist Gärtner – oder, besser, er war es.« Dann deutet sie auf den alten Herrn. »Und das ist George. Er war hier mal Kammerdiener und ist so etwas wie die gute Seele des Hauses.«

George winkt verlegen ab und humpelt, schwer auf einen Stock gestützt, auf uns zu. Erst jetzt, wo er ins Licht der Halle tritt, bemerke ich, dass das Mauerwerk und die hüfthohe Vase hinter ihm durch ihn hindurchschimmern – als wäre er durchsichtig.

Ungläubig blicke ich von einem zu anderen. Nur langsam sickert die Erkenntnis zu mir durch, was das alles bedeutet: Ich bin mitten in einem Haufen von Geistern gelandet!

Inzwischen stehen sie alle um mich herum: der halb durchsichtige George, der, wie ich jetzt erkenne, freundliche Augen besitzt, die kleine Charlotte, deren Gestalt an den Rändern leicht ausfranst, Rupert, der erfahrene Halseinrenker, die ätherische Daisy, die sich zärtlich an ihn lehnt, und Thomas, der jetzt seinen Strohhut vom Kopf nimmt und mir zur Begrüßung zunickt. Im Gegensatz zu vorhin auf der Galerie sieht er ein bisschen verlegen aus.

Und dann ist da noch Miss Cleve. Der hätte ich am wenigsten zugetraut, ein Geist zu sein. Schließlich dachte ich, sie sei noch am Leben.

Kann man bei Geistern überhaupt von Leben sprechen?

»Wie viele von euch gibt es hier?«, frage ich die Köchin.

»Nur uns. Und jetzt natürlich auch dich.« Miss Cleve strahlt mich an.

»Und Alice!«, kräht Charlotte.

Die Köchin legt sich die Hand auf die Wange. »Ach Gott, ja natürlich: Alice! Wo ist sie denn?«

»Vermutlich in der Bibliothek«, antwortet Daisy mit einem Naserümpfen.

»Nein, ich glaube eher, dass sie sich zurückgezogen hat«, erwidert George, der Kammerdiener, deutlich sanfter. »Du kennst sie doch.«

Miss Cleve nickt und dreht sich zu mir. »Alice fürchtet sich nämlich vor Gewittern. Sie ist ein reizendes Mädchen, wenn auch ein bisschen …«

»Scheu«, hilft George ihr.

Klar, Gewitter sind immer unheimlich. Blitze können in Dächer einschlagen und verheerenden Schaden anrichten. Die Beauclerks, unsere Nachbarn, haben bei einem solchen Unwetter einen ganzen Seitenflügel ihres Anwesens verloren. Dass diese Toten hier jedoch auch Angst vor Gewittern haben, verwundert mich. Wahrscheinlich befürchten sie, kein Dach mehr über dem Kopf zu haben, wenn Thornhill Hall bis auf die Grundfesten niederbrennt.

Ein schrecklicher Gedanke kommt mir. In den vergangenen Jahren habe ich so manche Gruselgeschichte gelesen. Ich befeuchte meine Geisterlippen mit der Zungenspitze, was sich tatsächlich so anfühlt wie immer, und frage in die Runde: »Wie ist das eigentlich? Sind wir an Thornhill Hall gebunden? Oder können wir das Haus verlassen?«

»Natürlich können wir das. Thomas ist fast die ganze Zeit draußen im Garten«, beruhigt mich Miss Cleve. Doch als sie fortfährt, stellen sich mir die Nackenhaare auf. »Allerdings müssen wir auf dem Grundstück bleiben. Aber wo sollten wir auch hingehen?«

Nach Cavendish Manor, schießt es mir durch den Kopf. Zu meinem Vater. Der mich dann nicht mehr sehen kann.

Moment mal! Wenn Geister tatsächlich existieren, bedeutet das etwa, dass meine Großmutter und mein Großvater auf Cavendish Manor herumspuken? Hätte ich mit ihnen Kontakt aufnehmen können, gleich nach ihrem Tod?

»Ich bin ertrunken«, teilt Charlotte mir mit. Dabei grinst sie so stolz, als wäre es wesentlich ehrenvoller, als Wasserleiche zu verenden, statt sich nur das Genick zu brechen, weil man die Treppe hinuntergestoßen wurde.

Wenn ich den erwische, der mir das angetan hat …

»Ist einer von euch für meinen Sturz verantwortlich?« Der Reihe nach blicke ich jedem der Geister ins Gesicht. Ich mustere sie ganz genau. Sie wirken mild amüsiert bis mitleidig. Keiner von ihnen macht eine schuldbewusste Miene.

Miss Cleve faltet die Hände vor ihrer Schürze.

»Wir sind Geister, Colin. Wir können Menschen nicht berühren.«

»Aber er hat mir doch eben erst den Kopf eingerenkt!«, erwidere ich und deute mit dem Zeigefinger auf Rupert. Und Miss Cleve selbst hat mich wie ein fürsorgliches Kindermädchen auch schon mindestens ein halbes Dutzend Mal angefasst.

»Ja, aber das war nach deinem Tod«, verteidigt sich Rupert.

Mit einem dumpfen Pochen kündigen sich Kopfschmerzen bei mir an. Auch das noch.

»Unter uns Geistern ist das gar kein Problem«, sagt nun Kammerdiener George. »Wir können uns gegenseitig berühren.« Und wie um seine Worte zu unterstreichen, nimmt er eine Hand von seinem Stock und klopft mir schwach auf die Schulter. »Die Menschen, die hier leben …«

»Für uns ist es, als ob sie die Geister sind«, erklärt Daisy mit gesenkter Stimme. »Wir können durch sie hindurchlaufen, als bestünden sie aus Luft! Sie spüren unsere Anwesenheit nicht.«

Ich muss unwillkürlich an die Nebelgestalt der gestrigen Nacht denken … Wenn ein Mensch keine Geister sehen kann, muss sie tatsächlich nur ein Albtraum gewesen sein.

Mein Blick sucht den roten Ball auf der Treppe, doch ich sehe nur Charlotte.

»Am See, gestern Nachmittag, da habe ich ein Lachen gehört«, sage ich.

Das Mädchen nickt. »Das war ich!«

Wie ein großer Bruder legt Thomas die Hände auf ihre Schultern. »Charlotte ist die Einzige von uns, die gelernt hat, in Gegenwart der Lebenden stofflich zu werden.«

»Wir wissen nicht, wie sie das hinbekommt«, wirft Daisy ein und klingt leicht frustriert.

»Ich habe es euch doch schon tausendmal erklärt«, erwidert Charlotte leicht verärgert.

»Wir vermuten, es liegt daran, dass sie noch sehr jung war, als sie … zu uns gekommen ist«, sagt Thomas.

»Du kannst es ruhig aussprechen, Thomas: als ich gestorben bin. Ich bin doch kein Baby mehr. Genau genommen, bin ich sogar älter als du.«

Thomas schlingt seine Arme um das Mädchen und zieht es an sich. »Du bist vielleicht länger tot als ich, Charlotte. Aber du wirst niemals älter sein.«

»Es ist auch anderen Geistern schon gelungen, eine stoffliche Form anzunehmen«, mischt sich Miss Cleve wieder ein.

»Welche anderen meinen Sie?«, sage ich, denn ich dachte, bis auf diese Alice seien sämtliche Geister hier.

Miss Cleve lächelt hintergründig. Dann wendet sie sich an die Anwesenden. »Was haltet ihr davon, wenn wir jetzt alle hinunter in die Küche gehen und uns eine Kanne Tee genehmigen? Es gibt viel zu besprechen.«

Ich nicke stumm und muss plötzlich an die lebenden Bewohner des Anwesens denken. Allmählich wundere ich mich, dass noch niemand nach mir gesehen und mich entdeckt hat.

George bemerkt mein Zögern. »Wir werden in der Küche niemandem auffallen. Das liegt an der anderen Ebene, in der wir uns befinden.«

Ich nicke, obwohl ich seine Worte nicht verstehe, und warte darauf, dass er mir mehr erklärt.

»Wir sind zwar am gleichen Ort wie die Lebenden. Aber nicht auf der gleichen … nun, wir nennen es Bewusstseinsebene. Du kannst auch Dimension dazu sagen.«

Ich reiße die Augen auf. Erst jetzt fällt mir auf, dass hier überall Kerzen brennen. Als ich die Treppe hinabgefallen bin, war es stockdunkel. Und wo ist die Kommode mit den violetten Rosen, die bei meiner Ankunft in der Eingangshalle stand? Jetzt ist die Stelle leer, und zwei Schritte daneben steht eine Büste, die zuvor noch nicht da war.

Entweder ist das hier der seltsamste Traum aller Zeiten. Oder …

»Das hier ist das Jenseits«, stammele ich.

George wackelt mit dem Kopf. »Ja und nein.«

»Das verstehe ich nicht.«

»Wie solltest du auch?«, wirft Miss Cleve ein. »Komm einfach mit in die Küche. Dann erklären wir dir alles in Ruhe.«

Ich ignoriere sie und konzentriere mich auf George. »Aber ich habe Charlotte doch im Garten gehört. Sie hat gelacht. Sie hat mich wahrgenommen.«

Es ist Miss Cleve, die mir antwortet. »Du hast Charlotte gehört, weil sie das in jenem Moment so wollte. Wir Geister können mit den Lebenden in Kontakt treten, wenn wir es möchten.«

Mein Herz schlägt mit einem Mal schneller. Tatsächlich scheint es auch im Jenseits noch zu funktionieren.

»Wie geht das?«, frage ich aufgeregt.

»Es ist gar nicht so schwer«, behauptet Charlotte.

»Kannst du es mir zeigen?«

Das Mädchen setzt zu einer Erklärung an, doch Miss Cleve stellt sich zwischen uns. »Dafür ist später noch genug Zeit.«

Ich verschränke die Arme. »Aber ich möchte jetzt sehen, wie das funktioniert!«

Miss Cleve und George wechseln einen Blick und geben schließlich nach.

»Thomas, würdest du bitte …?«, sagt George zu dem Gärtnergeist.

Thomas rückt seinen Strohhut zurecht und streckt mir die Hand entgegen. »Wir müssen uns berühren. Dann können wir einen Menschen mitnehmen, wenn wir in die andere Ebene hinübertauchen.«

Ich bin mir nicht sicher, ob ich verstehe, wovon er spricht, aber ich ergreife dennoch seine Hand. Ob dieses Hinübertauchen wohl wehtut? Ehe ich diese Frage stellen kann, schlägt pechschwarze Dunkelheit über mir zusammen.

Wenig später ist alles um mich herum in dämmriges Zwielicht getaucht. Nur an zwei Wandhaltern brennen Kerzen. Ich blicke nach oben und sehe, dass der erste Stock noch immer in Dunkelheit getaucht ist. Auf der Kommode, die jetzt wieder aufgetaucht ist, steht neben den Blumen eine Petroleumlampe und verbreitet spärliches Licht. Die Büste ist verschwunden.

Die Geister stehen um mich herum, ansonsten ist die Eingangshalle leer. Ich gehe in Richtung Wintergarten und ziehe Thomas hinter mir her.

Inzwischen ist die Dinnergesellschaft verschwunden. Die Überreste des Chaos, das durch die Sturmböen entstanden ist, sind noch immer zu sehen. Auf dem Tisch stehen halb ausgetrunkene Gläser und zerfetzter Blumenschmuck. Ein Whiskeyglas ist umgefallen. Sein Inhalt hat auf dem Tischtuch einen großen Fleck hinterlassen.

Auf dem Boden vor der Balkontür knien Annie und …

»Miss Cleve?«

Ich traue meinen Augen nicht. Die Köchin wringt gerade einen Putzlappen über einem Blecheimer aus.

Lautlos tritt jemand neben mich – eine zweite Miss Cleve! Zusätzlich zu der, die gerade vor mir kniet. Mein Blick fliegt von der einen zur anderen.

Die Geistererscheinung neben mir lächelt mich traurig an. »Das hier ist meine Tochter Lindy.«

Jetzt verstehe ich! Annie hat mir ja erzählt, dass Lindys verstorbene Mutter ebenfalls als Köchin auf Thornhill Hall gearbeitet hat.

»Ich bin Meghan«, sagt die Miss Cleve neben mir und streckt mir die Hand entgegen. Zögernd schüttele ich sie. Wie verwirrend.

In diesem Moment fangen ihre Tochter und Annie in der Dimension der Lebenden ein Gespräch an.

»Es ist ein Jammer«, beklagt sich Lindy.

»Glaubst du, dass es ein Unfall war?«, fragt Annie.

Die Köchin schnaubt. »Und warum waren dann alle Kerzen ausgeblasen?«

»Ja, und irgendjemand hat sie aus den Halterungen genommen«, murmle ich, aber die beiden hören mich nicht.

»Der Wind?«, vermutet das Dienstmädchen.

»Der ist nicht in die Eingangshalle gedrungen. Und oben auf der Galerie waren alle Fenster geschlossen. Nein, da geht etwas Seltsames vor sich.«

»Ausgerechnet in der Nacht, in der Lady Imelda ihre Séance abhalten will.«

Das Seifenwasser spritzt nach allen Seiten, als Annie ihren Lappen auf den Boden klatscht, um den Schmutz wegzuwischen. »Glaubst du, sie hat die Toten aus ihren Gräbern gerufen?«

»Red keinen Unsinn!«, unterbricht die Köchin sie schnell und bekreuzigt sich.

»Aber wenn es …«, Annie senkt die Stimme, »wenn es kein Geist war, dann befindet sich ein Mörder unter unserem Dach. Jemand hat den jungen Mr Colin umgebracht.«

Ich drehe mich zu den anderen Geistern um. Bis auf Thomas, dessen Hand ich immer noch halte, stehen sie hinter mir rund um den Esstisch. Es wirkt fast so, als wollten sie sich gleich zum Abendessen setzen, zu einer Geister-Dinnerparty. War es doch einer von ihnen?

Ich nehme Charlotte ins Visier, die mir einen arglosen Blick schenkt. Dann konzentriere ich mich wieder auf die beiden Lebenden.

Lindy Cleve wischt sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn. »Vielleicht wollte jemand den Jungen nur erschrecken.«

»Die arme Mrs White.« Annie zupft ein halb zerfetztes Ahornblatt von der Glastür.

Lindy brummt zustimmend. »Erst ihre Mutter und dann das …«

Annie dreht nachdenklich das Blatt in der Hand.

»Obwohl …«, sagt sie leise.

»Was meinst du?«, hakt die Köchin misstrauisch nach.

Ich spanne mich nervös an.

»Nun«, antwortet Annie gedehnt. »Mr Colins Großmutter soll sehr vermögend gewesen sein. Aber Mrs White hat sich angeblich nicht besonders gut mit ihr verstanden. Deshalb hat Mr Colin das ganze Geld geerbt. Vielleicht hat sie ihn ja ermordet, um an das Erbe zu kommen.«

Das ist doch wohl …

»Glaub nicht alles, was du hörst«, verteidigt die Köchin meine Mutter, aber Annie dreht sich entrüstet zu ihr um.

»Du hast doch selbst mitbekommen, wie sie den jungen Mr Colin heute Morgen behandelt hat.«

Ich schiele zu Thomas hinüber. Haben die Geister den Streit zwischen Mutter und mir ebenfalls mitbekommen?

»Was erlauben Sie sich!«, rufe ich zornig, trete rasch nach vorn und lasse Thomas’ Hand los.

Wieder hüllt mich für den Bruchteil einer Sekunde Dunkelheit ein. Und dann stehe ich zwar noch immer im Wintergarten, doch es herrscht kein Chaos mehr. Ein silberner Leuchter steht auf dem Tisch. Seine Kerzen sorgen für eine angenehme Beleuchtung. Der Großteil des Raums ist in Dämmerlicht getaucht, doch ich erkenne, dass deutlich mehr Pflanzen an den Wänden stehen. Blumenampeln hängen von der Decke und grüne Ranken ziehen sich wie Girlanden von einer Ecke zur anderen.

Nach und nach flammen um mich herum die Gestalten der Geister auf.

Thomas hebt seine Hand. »Du hast losgelassen.«

»Haben die beiden Frauen mich gehört?« Meine Stimme zittert.

Die anderen schütteln die Köpfe.

»Das können sie nicht«, sagt Rupert. »Dafür muss man sich ziemlich anstrengen. Es dringen nur selten Laute von einer Ebene in die andere.« Rupert geht hinüber zur Bar und schenkt sich einen Fingerbreit Cognac ein. »Noch jemand?«

»Nur einen kleinen Schluck«, flötet Daisy.

Ich schüttle den Kopf.

Rupert füllt ein zweites Glas und reicht es seiner Geliebten.

»Nimm die Flasche mit in die Küche«, schlägt Miss Cleve vor. »Vielleicht möchte der eine oder andere einen Schuss in seinen Tee haben.«

»Ich kann jetzt nicht in die Küche«, protestiere ich. »Erst muss ich mit meiner Mutter sprechen.«

Annies Behauptungen haben mich aufgewühlt. Es ist unvorstellbar, dass Mutter mir das angetan hat. Sie hat mich doch nicht nach Thornhill Hall bestellt, um mir mein Erbe wegzunehmen. Zumal Wallace White jr. wirklich genug Geld hat. Und doch muss ich sie sehen. Ich muss sehen, wie es ihr geht. Wie sie damit zurechtkommt, dass ich … dass ich …

»Bitte«, füge ich kläglich hinzu.

Thomas wirft Miss Cleve einen fragenden Blick zu. Sie ist wohl hier die Autoritätsperson. Auch wenn sie zu Lebzeiten nur eine einfache Köchin war. Ich bereite mich auf eine Diskussion mit ihr vor, doch Miss Cleve nickt nur.

»Also gut, aber beeile dich. Es ist … schon spät.«

Ein Blick auf die Standuhr verrät mir, dass es zwanzig nach elf ist. Müssen Geister etwa zu einer bestimmten Uhrzeit ins Bett? Schlafen Geister überhaupt?

»Ich kümmere mich um ihn«, sagt Thomas. Er sieht ebenfalls zur Standuhr hinüber, dann strafft er die Schultern und dreht sich zu mir. »Ich bringe dich zu deiner Mutter.«