Wie aus weiter Ferne wehen uns Stimmen entgegen, als George und ich zwei Stunden später die Bibliothek verlassen. Sie klingen aufgebracht, doch als wir über die Brüstung in die Eingangshalle schauen, sehe ich niemanden.
»Lebende«, sagt George.
Aus der Ebene der Lebenden dringen Wortfetzen zu uns, es ist unmöglich auszumachen, worüber sie sich unterhalten.
»Ich schaue nach, was los ist«, sage ich.
Nachdem ich in die andere Dimension hinübergetaucht bin, steht Charlotte neben mir. Sie lehnt sich über das Treppengeländer und betrachtet mit leuchtenden Augen das Chaos in der Eingangshalle. Annie kniet mit mehreren Putzlumpen und einem Eimer auf den Fliesen, auf denen sich eine große Lache schmutziges Wasser ausgebreitet hat. Ein weiterer Blecheimer liegt umgestürzt daneben. Als George neben mir und Charlotte auftaucht, greift Mr Pierce gerade nach diesem Eimer und stellt ihn wieder auf. Seine Miene wirkt wie versteinert. Miss Cleve, Meghans Tochter, steht neben Mary, die von einem Heulkrampf geschüttelt wird.
Mutter läuft wie ein aufgescheuchtes Huhn um die Angestellten herum, flankiert von Garrick Saint-Clark und Lady Imelda. Wallace steht, die weinende Annaleigh auf dem Arm, im Durchgang zum Damensalon und wirkt ebenso überfordert wie Teddy, der von der Haustür aus alles entsetzt beobachtet.
»Das ist ja fürchterlich!«, heult Mary.
»Jetzt ist doch alles gut«, versucht Lindy Cleve sie zu beruhigen – was leider gar nichts nutzt.
Und Teddys Tante und Garrick gelingt es ebenso wenig, meine Mutter zu besänftigen. Alle reden so wirr durcheinander, dass ich nichts verstehen kann.
»Was ist denn hier passiert?«, frage ich Charlotte.
»Mary hat den anderen erzählt, dass ein Geist sie heimsucht, der wissen will, wer dich umgebracht hat.«
»Was?«
Mein Puls beschleunigt sich und George legt mir fürsorglich eine Hand um die Schultern.
»Möchtest du einen Schluck Tee zur Beruhigung?« Lindy Cleve versucht, Mary von dem Chaos abzulenken.
Charlotte starrt auf Annie und die schmutzige Pfütze.
»Als deine Mutter das gehört hat, war sie völlig außer sich«, sagt sie zu mir und klingt ein bisschen zerknirscht. »Wallace ist wütend geworden und hat mit Mary geschimpft, und seither heult sie noch mehr.«
»Wie kommt es, dass Mary solch einen Unsinn behauptet?«, fragt George streng.
Charlotte windet sich. »Ich wollte auf Nummer sicher gehen und habe mich ihr noch einmal gezeigt.«
Entsetzt schaue ich sie an.
»Mary ist so ein Plappermaul«, verteidigt sie sich. »Als ich ihr in der Eingangshalle begegnet bin, dachte ich, ich erinnere sie an ihr Versprechen.«
»Charlotte!« George verschränkt seine Arme. »Solltest du nicht bei Thomas im Garten sein?«
»Das war ich auch«, verteidigt sie sich. »Aber als wir fertig waren, habe ich noch ein bisschen mit Alice gespielt, und dann wollte ich den hier zurück in mein Zimmer bringen.« Sie hebt den roten Ball auf, den ich gar nicht bemerkt habe.
»Ich muss unbedingt mit Mary reden«, sage ich und gehe die Treppe hinunter.
»Sie können dich ohnehin nicht sehen und hören«, erinnert mich George, aber ich deute auf Teddy.
»Er schon.«
Ich fange Teddy ab, als er gerade auf seine Tante und meine Mutter zugehen will.
»Hey«, flüstere ich ihm zu.
Nervös schaut er sich nach allen Seiten um.
»Keine Sorge, niemand sonst bemerkt mich.«
Teddy öffnet den Mund, doch ich schüttle schnell den Kopf. »Nicht hier. Draußen.«
Als ich nach seiner Hand greifen will, um ihn hinter mir herzuziehen, fahren meine Finger widerstandslos durch seine hindurch. Trotzdem folgt er mir, ohne zu zögern, als ich zur Eingangstür gehe und auf den Kiesweg trete, auf den die Mittagssonne scheint.
»Wohin jetzt?«, murmelt er.
Wir gehen auf die Rückseite des Gebäudes, um uns zwischen den Fliederbüschen zurückzuziehen. Auf dem Weg erzähle ich ihm, was vorgefallen ist.
»Du lieber Himmel!«, ruft er entsetzt.
Wir sitzen uns gegenüber auf dem Rasen, und weil er mich ja trotzdem sehen kann, lasse ich mich auf die Geisterebene zurückfallen. Meine Finger spielen mit dem seidig weichen Gras.
»Wie war es unten im Dorf? Weiß der Reverend irgendetwas, das uns weiterhelfen könnte?«
Die Frage lässt Teddys Gesicht aufleuchten. »Ich habe tatsächlich einiges über Thornhill Hall und das verborgene Zimmer herausgefunden.«
Ich setze mich kerzengerade hin und falte meine Hände im Schoß.
»Wusstest du, dass das Anwesen schon über hundert Jahre alt ist?«, fragt er mich.
Ich blicke über die Fliedersträucher hinweg, hinter denen das Herrenhaus mit seinem Seitenflügel und den Dachgiebeln aufragt.
»Eine gewisse Familie Lewis hat es bauen lassen, sie kamen aus London«, erzählt er. »Die Lewis lebten eher abgeschieden, hat man Reverend Dodgson erzählt. Als er hierherzog, war die Familie allerdings schon in die Stadt zurückgekehrt und Thornhill Hall nur noch eine Ruine.«
Verwirrt runzle ich die Stirn. »Eine Ruine?«
»Das Haus ist damals beinahe abgebrannt. Es muss Anfang des vorletzten Jahrhunderts passiert sein, so genau wusste das der Reverend nicht. Er sagt, es stand danach jahrelang leer. Erst in den Dreißigerjahren, kurz nach Dodgsons Ankunft, ließ es eine Familie namens Skeffington wiederaufbauen. Auch sie stammten nicht aus dieser Gegend, sie lebten aber mehrere Generationen lang auf Thornhill Hall.«
»Das verborgene Zimmer muss viel älter sein«, vermute ich. »Denn zumindest George und Alice sind schon länger hier auf dem Anwesen.«
Auf Teddys Gesicht breitet sich ein Lächeln aus.
»Du hast noch etwas anderes von dem Reverend erfahren«, sage ich grinsend zu ihm.
Teddy nickt. »Die Skeffingtons haben Thornhill Hall renoviert und wiederaufgebaut. Aber es gab noch einen älteren Teil des Anwesens, der den Brand damals überlebt hat.«
Mein Herz setzt einen Schlag lang aus.
»Auf der rechten Seite des Haupthauses stand früher einmal ein Turm. Er war ein Stockwerk höher als der Rest des Gebäudes.«
Meine Hände und Füße kribbeln so stark, als wären mir die Glieder eingeschlafen. Ich richte mich mühsam auf.
»Und das sagst du erst jetzt?« Wieder fliegt mein Blick über die Fliedersträucher hinweg zu dem Haus mit seinen rötlichen Mauern, den weiß gestrichenen Fensterrahmen und dem mit blauschwarzen Ziegeln gedeckten Dach. Von dem Turm ist keine Spur mehr zu sehen.
»Glaubst du, dass sich das Zimmer irgendwo im rechten Gebäudetrakt befindet?«
Teddy steht auf.
»Komm«, sagt er. »Finden wir es heraus.«
Es ist unsere erste greifbare Spur, auch wenn wir nicht so recht wissen, ob sie uns tatsächlich zum Ziel führt. Denn wenn die Skeffingtons diesen alten Turm von Thornhill Hall nicht wiederaufgebaut haben, wo soll sich das Zimmer dann befinden?
Mr Pierce kommt gerade aus dem Dienstbotentrakt, als wir durch die Haustür hereinstürmen und quer durch die Halle eilen. Er mustert Teddy pikiert, sagt jedoch nichts. Wir drosseln unsere Geschwindigkeit. In einem Trauerhaus herumzurennen, gehört sich tatsächlich nicht. Ich muss meine ganze Selbstbeherrschung aufbringen, um in einem gemütlichen Tempo dem Flur zu folgen, der zum Seitenflügel führt. In den vergangenen Tagen bin ich schon mehrfach hier entlanggelaufen, jedoch erfolglos.
Am Ende des Flurs liegt rechts der Billardsalon und links ein Musikzimmer – ein anderes Zimmer gibt es hier nicht. Und im ersten Stockwerk befindet sich Mutters und Wallace’ Schlafzimmer, das sich über die ganze Breite des Gebäudes erstreckt. Bleibt also nur noch der zweite Stock mit den Dienstbotenquartieren. Die habe ich mir bisher nicht ganz so genau angesehen. In den zweiten Stock gelangt man über das hintere Treppenhaus, das ausschließlich vom Personal benutzt wird.
Die Holztreppe knarrt unter Teddys Füßen verräterisch laut. Einzelne Stufen sind stark abgenutzt, aber vermutlich fehlt Wallace das Geld dafür, sie zu erneuern, genau wie für die Renovierung des Badezimmers im ersten Stock. Oben angekommen, gehen wir langsam den dunklen Flur entlang. Licht fällt nur durch die beiden Fenster im Treppenhaus, und mit jedem Schritt wird es um uns herum dunkler, und meine Aufregung wächst. Teddy atmet flach. Er bewegt sich so vorsichtig, als wäre er ein Einbrecher.
In diesem Flur gibt es mehr Zimmer als in den darunterliegenden Stockwerken, sie sind kleiner und weniger aufwendig ausgestattet. Als ich am Zimmer von Mary und Annie vorbeikomme, entdecke ich eine dünne Linie auf dem Boden: Das muss geweihtes Salz sein. Charlotte, Alice und ich haben die beiden wohl so sehr verstört, dass sie sich damit vor uns Geistern schützen wollen.
Bevor sich mein schlechtes Gewissen wieder regt, gehe ich weiter, bis der Flur an der Außenwand endet. Hier hängt das mannshohe Ölgemälde einer übergroßen Blumenvase. Das Bild ist weder besonders kunstfertig gemalt noch schön, und das ist vermutlich auch der Grund, warum man es in diesem schattigen Flur versteckt hat. Selbst den gelben und roten Blütenkelchen des Gemäldes gelingt es nicht, Helligkeit herbeizuzaubern.
Enttäuschung macht sich in mir breit. Wenn wir auch oben auf dem Dachboden keine Spur finden, bin ich verloren. Mein Blick fällt auf Teddy, der nachdenklich die Fußleisten unten an den Wänden betrachtet.
»Warte mal.«
Er eilt zurück zum Treppenhaus. Dort bleibt er stehen. Neugierig beobachte ich, wie er mit großen Schritten den Flur abschreitet.
»Was machst du da?«
Mit einer Geste bittet er um Geduld.
Als er wieder neben mir steht, strahlt er mich an. »Er ist zu kurz.«
»Der Flur?«
»Ja. Mindestens vier Schritte zu wenig im Vergleich zum Erdgeschoss.«
Ich starre erst ihn an und dann das Blumengemälde. »Du meinst …?«
Seine Augen funkeln, und er deutet auf die Wand, an der das Kunstwerk hängt. »Das hier ist nicht die Außenwand. Vermutlich versteckt sich hinter dem Bild ein Geheimgang.«
Er geht an mir vorbei und greift nach dem dunkelbraun lackierten Bilderrahmen.
Rasch macht er sich an dem Gemälde zu schaffen und nimmt es von der Wand. Es schwankt gefährlich, aber es gelingt ihm, das Bild unbeschädigt auf dem Boden abzustellen. Dahinter befindet sich – nichts.
Teddy lässt den Kopf sinken.
»Tut mir leid«, sagt er und klingt furchtbar frustriert. »Ich muss mich getäuscht haben, ich dachte …«
»Moment«, unterbreche ich ihn. »Ich habe eine Idee.«
Ich schließe die Augen, balle die Hände zu Fäusten und wechsle auf die Ebene der Geister. Und tatsächlich, hier befindet sich an der Wand vor mir eine Tür. Sie kommt mir merkwürdig klein vor. Selbst ich müsste mich bücken, um hindurchzupassen, obwohl ich nicht sonderlich groß bin. Außerdem schließt ihre untere Kante nicht mit dem Flurboden ab, sondern befindet sich auf Höhe meines Knies. Es ist, als würde eine Treppenstufe fehlen, die zu ihr hinaufführt. Die helle Stelle an der Wand markiert die Fläche, an der in der Geisterwelt das Ölgemälde hing. Hinter dieser Tür muss das verborgene Zimmer liegen!
Mit klopfendem Herzen greife ich nach der Klinke. Sie befindet sich auf Kopfhöhe und lässt sich mühelos nach unten drücken. Die Tür schwingt nach innen auf.
»Was machst du da?«, fragt Teddy angespannt.
»Da ist eine Tür und dahinter ein Zimmer.«
»Warte.«
Ich blicke in einen kleinen Raum, durch dessen schmutzige Fensterscheiben nur wenig Sonnenlicht dringt und der verwahrlost aussieht: Das ist das Zimmer, das es nicht gibt!
Ich bin mir ganz sicher. Was sollte es sonst sein?
Auf einmal fühle ich mich ganz leicht. Ich könnte die ganze Welt umarmen.
»Wir haben es gefunden!«, rufe ich begeistert.
Ich hatte schon Angst, dass wir es nicht rechtzeitig schaffen würden. Dass ich das verborgene Zimmer nicht innerhalb der Dreitagesfrist finden würde. Und jetzt ist es da, einfach so, ich möchte schreien vor Glück. Oder singen. Oder tanzen. Oder alles auf einmal!
Endlich kann ich zurück. Ich werde wieder leben.
Aufgeregt spähe ich durch die Türöffnung. Ich könnte hinaufklettern und das Zimmer betreten. Jetzt, jetzt gleich. Dann hätte ich es geschafft.
Aber was ist mit Charlotte und den anderen Geistern, mit Thomas, Daisy und Rupert, die sich ebenfalls danach sehnen, nach Hause zurückzukehren? Ich wäre nicht besser als diese Constance, die sie verraten hat. Aber ich könnte meinen Geisterfreunden eine Nachricht hinterlassen. Ich könnte einen Brief schreiben und ihn verbrennen oder einen anderen Weg finden, ihnen Bescheid zu geben. Jetzt, wo ich das verborgene Zimmer ausfindig gemacht habe, keimt Angst in mir auf, dass es verschwindet, sobald ich meinen Blick abwende.
»Was siehst du?« Teddy hinter mir klingt aufgeregt.
Ich stütze mich am Türrahmen ab und atme tief durch.
Wenn die anderen nur bei mir wären. Ich muss sie holen, damit sie gemeinsam mit mir das Zimmer betreten. Wer weiß, was geschieht, wenn ich selbst durch das verborgene Zimmer gelaufen bin. Ich will nicht, dass sie wegen meiner Ungeduld weitere Jahre ausharren müssen, bis wieder jemand stirbt.
Vielleicht kann Teddy sie holen. Ohne den Türrahmen loszulassen, drehe ich mich zu ihm um – und erstarre vor Schreck. Hinten im Flur, beim Treppenaufgang, liegt eine Kreatur auf der Lauer, die einem Albtraum entstiegen sein muss: ein Schreckgespenst aus finsteren Schatten und öligem Rauch. Seine wabernden Umrisse verdichten sich zu einem Wesen, das Körper und Kopf einer Raubkatze besitzt, dessen Schweif jedoch an die Chitinringe eines riesigen Skorpions erinnern. Ich weiß sofort, wer das ist. Keine Märchengestalt. Es gibt ihn wirklich. Er fixiert mich mit seinen glühenden Kohleaugen und spannt die Muskeln an. Wie eine vor unbändiger Kraft strotzende Hyäne stürmt er lautlos durch den Flur. Er hat es auf mich abgesehen – der Seelenfresser.