Kapitel 32

»Endlich!« Teddy sieht aus, als fiele ihm ein Stein vom Herzen, als ich in seinem Zimmer auftauche. Er stopft gerade Unterwäsche in seine Reisetasche auf dem Bett.

»Was machst du da?«

Er lässt die Schultern sinken. »Ich muss weg.«

»Was?«

»Hast du von dem ganzen Chaos gar nichts mitbekommen?«

»Wovon redest du?« Meine Gedanken überschlagen sich und ein ungutes Gefühl macht sich in mir breit. Teddy wird mich doch nicht im Stich lassen?

Er lässt die Reisetasche los und kommt einen Schritt auf mich zu. »Riechst du das denn nicht?«

Ich atme tief durch die Nase ein. Tatsächlich, ein schwerer Geruch liegt in der Luft. Er erinnert mich an …

»Ist das Weihrauch?«

»Geweiht ist er, glaube ich, nicht«, erwidert er leicht verärgert. »Jedenfalls nicht von einem Geistlichen.«

Da fällt mir Lady Imelda ein. Am Tag nach meinem Treppensturz hat sie mein Gästezimmer mit Kräutern ausgeräuchert.

»War das deine Tante?«, frage ich.

Teddy deutet zur Tür. »Schau mal in den Flur.«

Beunruhigt werfe ich einen Blick über meine Schulter, während Teddy weiterpackt.

Ich wechsle auf die Geisterebene, tauche in den Flur und kehre dann in die Dimension der Lebenden zurück. Dicke Rauchschwaden hängen in der Luft, und aus Mutters Schlafzimmer dringt gedämpftes Weinen.

Ich gehe wieder zu Teddy.

»Deine Tante hat also das Haus noch einmal ausgeräuchert, und meine Mutter weint sich die Augen aus«, stelle ich fest. »Und deshalb willst du gehen?«

Angst ergreift mich. Die Vorstellung, dass er mich verlässt, ausgerechnet jetzt, ist stärker als die Sorge, die Alice’ Geschichte in mir ausgelöst hat.

»Ich will nicht gehen«, antwortet er sofort. »Ich muss. Meine Tante will es so. Aber deine Eltern hätten mich sowieso rausgeschmissen.«

Ich setze mich auf die Bettkante, ein Stück von der Reisetasche entfernt, die ich ohnehin nicht berühren kann. »Warum sollten sie das tun?«

Teddy setzt sich ebenfalls. »Ich habe ihnen gegenüber behauptet, dass ich mich als Geist verkleidet habe, um euer Dienstmädchen zu erschrecken.«

Dieser Nachmittag wird immer verrückter. Als ich ihm ins Gesicht sehe, fällt mir auf, dass die letzten Tage auch ihm zugesetzt haben. Dunkle Ringe liegen unter seinen Augen, und seine Frisur sitzt nicht mehr so akkurat wie an den Tagen vor meinem Tod.

»Ich war in der Bibliothek«, murmle ich.

Doch Teddy ignoriert meine Worte. »Die Sache mit Marys umgestürzten Putzeimer heute Morgen war wohl zu viel für deine Mutter.«

»Charlotte«, murmle ich frustriert. »Warum musste sie so übertreiben?«

Teddy nickt. »Als der Köchin in der Küche ein Teller heruntergefallen ist, ist Mary durchgedreht. Sie hat das ganze Personal mit ihrem Gerede von Geistern und Mord aufgescheucht. Offenbar war sie nicht mehr zu beruhigen. Irgendwann hat man sie bis in den ersten Stock hinauf gehört. Als Wallace nach dem Rechten gesehen hat, kam die ganze Sache ans Licht.«

Ich erstarre. »Was hat er herausgefunden?«

»Na ja, dass ihr in der Nacht ein Geist erschienen ist, der von ihr wissen wollte, wer dich ermordet hat.«

Meine Hände ballen sich zu Fäusten. »Mist.«

»Das hat auch deine Mutter mitbekommen.«

Jetzt fährt mir der Schreck in alle Glieder.

Teddy nickt. »Sie ist ausgerastet.«

»Das kann ich mir vorstellen.« Frustriert lasse ich mich aufs Bett fallen und starre zur Decke.

»Dein Vater hat versucht, sie zu beruhigen. Er hat erklärt, dass euer Dienstmädchen bloß Unsinn redet. Aber Mary hat das nicht auf sich sitzen lassen und steif und fest behauptet, die Wahrheit zu sagen. Daraufhin war meine Tante so beunruhigt, dass sie angefangen hat, das ganze Haus auszuräuchern, um mit deinem Geist Kontakt aufzunehmen.«

Ich stöhne. Teddy lässt sich ebenfalls nach hinten fallen und wir schauen uns an.

»Und dann?«, frage ich.

Er verdreht die Augen. »Weil Wallace kurz davor war, euer Dienstmädchen rauszuschmeißen, habe ich mich eingemischt. Ich habe ihm erzählt, ich wäre gestern Nacht zu den Zimmern der Dienstboten geschlichen und hätte mir ein Bettlaken übergehängt, um Geist zu spielen und euer Personal zu erschrecken.«

Ungläubig starre ich ihn an.

»Ja. Irgendetwas musste ich ja tun.«

Warum?, will ich fragen. Doch eigentlich ist es mir klar. Weil Theodore MacKenzie ein anständiger Mensch ist. Und weil es reicht, wenn eine Person unschuldig aus dem Dienst entlassen wurde. Na ja, nicht ganz unschuldig. Bob wollte meine Uhr ja tatsächlich stehlen.

Und dann kommt mir ein genialer Gedanke: Wenn ich durch das verborgene Zimmer in mein altes Leben reise, kann ich dafür sorgen, dass das alles anders läuft!

»Wallace hat Mary also nicht entlassen?«, hake ich nach.

»Nein. Aber alle haben mich angestarrt, als wäre ich ein Verbrecher.« Teddy schluckt. »Tante Emma hat mich auf mein Zimmer geschickt und mir befohlen, meine Sachen zu packen. Ich soll mit Lucille Saint-Clark nach London zurückfahren. Noch heute Nachmittag.«

»Verdammt!«

»Ich fahre natürlich nicht.« Er zwinkert mir zu und ich stütze mich auf meinem Arm auf.

»Und was willst du stattdessen tun?«

Teddy tätschelt seine Reisetasche. »Ich werde mich verstecken. Ich weiß bloß noch nicht, wo.«

»Das Zimmer!«, sage ich sofort.

Teddy blickt mich zweifelnd an. »Das kann ich doch noch nicht einmal sehen.«

»Das meine ich nicht.« Ich stehe auf und drehe mich zu ihm um. »Ich muss die anderen Geister zusammentrommeln. Und dann müssen wir das verborgene Zimmer durchschreiten. Wenn alles klappt, wird das ganze Chaos hier nie passiert sein und die Welt ist wieder in Ordnung.«

Teddy richtet sich ebenfalls auf. »Aber du warst doch schon dort und es ist absolut nichts passiert.«

Ich senke den Kopf. »Wann fährt dein Zug?«

»Eine Droschke wird uns in einer Stunde abholen.«

Ich balle die Hände zu Fäusten und drehe mich um. Ich hoffe, dass ich Alice nicht zu sehr bedrängt habe. Wenn sie sich jetzt versteckt, könnte es ewig dauern, sie zu finden. Aber ich will sie auf keinen Fall zurücklassen, die Uhr tickt jetzt schon viel zu schnell.

»Colin, warte!«, hält Teddy mich auf, als ich die Schultern straffe und mich auf den Weg machen will. Er sieht völlig verloren aus.

»Was ist, wenn es gar nicht das Zimmer ist, das du suchst?«

»Keine Sorge«, sage ich mit mehr Zuversicht, als ich verspüre. »Wir finden für alles eine Lösung.«

Aber zuerst muss ich wieder lebendig werden.

In der Küche schwatzen alle durcheinander, doch als ich eintrete, kehrt sofort Stille ein. Rupert und Daisy wirken angespannt. Alice steht zwischen Meghan und George an der Spüle und weicht meinem Blick aus.

»Wo ist Charlotte?«

»Hier«, ertönt ihre Stimme hinter mir. »Stimmt das, was Alice sagt?«, fragt sie aufgeregt. »Du hast das Zimmer tatsächlich gefunden?«

Ich nicke.

»Wie?«, will Rupert wissen.

Ich lege meine Hände auf die Lehne des Stuhls, auf dem ich in den letzten Tagen gesessen habe. »Theodore war heute Morgen im Dorf. Er hat sich beim alten Reverend über Thornhill Hall erkundigt.«

Daisy presst sich die Fäuste auf die Brust. »Du meinst den Geistlichen, der gerade zu Besuch gekommen ist?«

Davon hat Teddy nichts erzählt.

»Der Reverend ist hier?«, frage ich verwirrt.

»Er ist mit deinem Stiefvater zu einem Spaziergang aufgebrochen«, antwortet Daisy, als Rupert sie unterbricht.

»Das ist doch jetzt egal«, sagt er barsch. »Sag uns lieber, wo dieses Zimmer ist.«

Ich kratze mich am Kopf und versuche, meine Gedanken zu ordnen.

»Im zweiten Stock«, antworte ich. »Es gibt eine verborgene Tür hinter dem Gemälde mit den Blumen.«

Die anderen schauen sich verdutzt an.

»Hat nie jemand von euch dahinter nachgesehen?«

Eigentlich kann ich es ihnen nicht vorwerfen. Ich hätte vermutlich auch nicht nachgesehen, wenn Teddy nicht gewesen wäre. Allerdings spuke ich auch nicht schon seit Jahrzehnten als Geist durch Thornhill Hall.

»Vielleicht war es bisher nicht dort«, überlegt Meghan. »Du darfst nicht vergessen, dass das Zimmer sich nur in den drei Tagen nach der Ankunft eines neuen Geistes zeigt.«

»In der Stunde, die es nicht gibt«, fügt Alice hinzu.

Ich starre sie an. »Was?«

George nickt. »In einer Zeitspanne, die nicht existiert. Wir haben lange darüber philosophiert. Wer das Zimmer durchschreitet, erhält sein altes Leben zurück. Er reist in die Vergangenheit. Die Zeit, die er oder sie als Geist verbracht hat, existiert dann nicht mehr, verstehst du?«

Nein, nicht wirklich. Doch als ich gerade etwas erwidern will, meldet sich Rupert zu Wort.

»Worauf warten wir noch? Lasst uns aufbrechen.« Er schlingt von hinten seine Arme um Daisy und haucht ihr einen Kuss auf den Nacken.

»Endlich!«, sagt Daisy freudestrahlend.

Sie befreit sich aus Ruperts Griff, dreht sich um und umarmt ihn stürmisch. Verlegen wenden wir anderen den Blick ab. Nur Thomas starrt Daisy und Rupert an, sehnsüchtig und voller Enttäuschung. Wir wissen alle, wie gern er jetzt statt Rupert von Daisy umarmt werden würde. Bestimmt wäre es gut für ihn, seine Geisterexistenz – und damit Daisy – hinter sich zu lassen.

Ich trete zu ihm.

»Du musst dir etwas einfallen lassen wegen deiner Bienen«, versuche ich, ihn abzulenken. »Die kannst du unmöglich hier zurücklassen.«

Er nickt lächelnd, dreht jedoch nervös seinen Strohhut in den Händen.

Ich werfe einen Blick auf meine Taschenuhr. »Wir sollten uns beeilen.«

»Machst du dir Sorgen wegen dem Seelenfresser?«, fragt Charlotte überrascht. »Vor dem sind wir noch ein paar Stunden sicher.«

Ich könnte ihnen davon berichten, dass das nicht stimmt und dass ich dem Monster heute schon begegnet bin – falls ich es mir nicht nur eingebildet habe. Und ich könnte erklären, dass ich das Zimmer durchqueren möchte, ehe Teddy abreisen muss. Aber dafür hätten sie sicher wenig Verständnis, und diese ganzen Erläuterungen vergeuden nur zu viel Zeit.

»Trotzdem«, antworte ich deshalb nur.

Meghan rettet mich. »Ich begleite euch bis zum verborgenen Zimmer.«

Sie lächelt uns tapfer zu. Als ich sie gerade fragen will, ob sie nicht doch in ihr altes Leben zurückkehren möchte, sagt George plötzlich: »Ich komme auch nicht mit.«

Verblüfft starre ich ihn an, während Charlotte einen entsetzten Schrei ausstößt. George breitet die Arme aus, und das Mädchen wirft sich in seine Umarmung.

»Bitte komm mit, George. Du kannst doch nicht allein hierbleiben.«

Tröstend streichelt er dem Geistermädchen über das Haar. »Ich bin nicht allein. Meghan ist bei mir.«

Es dauert eine Weile, bis Charlotte sich beruhigt hat und sich von ihm löst. Meghan nimmt sie bei der Hand und zieht sie von dem Alten weg.

Einer nach dem anderen verabschieden wir uns von George und Meghan.

»Bist du sicher?«, frage ich leise, als ich ein letztes Mal vor dem alten Geist stehe.

Er nickt ernst. »Meine Entscheidung steht fest.«

Alice fällt es wohl am schwersten, George Lebewohl zu sagen. Die beiden haben so viele Jahre gemeinsam auf Thornhill Hall verbracht, dass es sicher schmerzhaft ist, von nun an getrennte Wege zu gehen.

Während George an den Herd tritt, um sich Teewasser aufzubrühen, machen wir uns auf den Weg hinauf in den zweiten Stock.

Mit jeder Treppenstufe werde ich nervöser. Immer wieder drehe ich den Kopf und schnuppere, um zu überprüfen, ob der Geruch nach verbranntem Öl in der Luft liegt, den der Seelenfresser verbreitet. Mein Herz schlägt so schnell, dass ich das Gefühl habe, den Puls in meinen Ohren pochen zu hören. Die anderen sind offenbar so aufgeregt, dass ihnen an mir nichts auffällt.

Als wir den Dienstbotenflügel erreichen, atme ich erleichtert auf: Die Tür zum verborgenen Zimmer ist noch da, und in der Luft hängt nur der Geruch von Weihrauch, den Lady Imelda überall großzügig verteilt hat.

Überrascht deutet Thomas auf das Gemälde, das Teddy und ich auf den Boden gestellt haben. »Ihr habt es gar nicht wieder aufgehängt?«

Ich zucke mit den Schultern. »Auf der Ebene der Lebenden sieht man die Tür doch sowieso nicht.«

Charlotte drängt sich zwischen uns hindurch und berührt das weiß gestrichene Holz der Zimmertür. »Warum ist sie so klein?«

Sie stellt sich auf die Zehenspitzen und versucht, nach der Klinke zu greifen, doch sie kann sie nicht erreichen. Rupert geht zu ihr und stößt die Tür nach innen auf. Die Geister halten den Atem an.

»Na dann los«, murmelt Rupert, packt Charlotte an der Hüfte und hebt sie durch den hohen Türrahmen.

Sie ist die Erste von den Geistern, die den Raum betritt.

Rupert hilft auch Daisy und Alice in das Zimmer und klettert anschließend selbst hinein. Thomas will mir den Vortritt lassen, doch ich winke ab.

»Viel Glück«, wünscht mir Meghan, als nur noch wir beide im Flur stehen.

Ich umarme sie fest. »Danke dir. Für alles.«

Dann folge ich den anderen.

Wir haben eine lange Reihe gebildet, uns an den Händen gefasst und schreiten gemeinsam kreuz und quer durch den Raum. Aber es geschieht nichts, wir sind immer noch da. Kein magisches Portal hat sich vor uns aufgetan und uns nach Hause geholt.

»Was jetzt?«, fragt Rupert nervös. »Warum sind wir noch nicht in unserem Leben zurück?«

Daisy blickt sich angewidert im Zimmer um. Bei jeder Bewegung ist sie sorgsam darauf bedacht, dass ihr Kleid nicht den staubigen Boden streift.

»Weil es nicht das richtige Zimmer ist«, sagt sie wütend.

»Nein!«, protestiere ich, denn ich will es nicht wahrhaben. Das Zimmer fühlt sich richtig an. Ich weiß, dass das keine vernünftige Erklärung ist, aber für welches Ereignis, das ich in den letzten beiden Tagen erlebt habe, gäbe es denn eine?

»Es könnte tatsächlich das richtige Zimmer sein!«, ruft Meghan durch die geöffnete Tür. »Aber vielleicht ist es nicht der richtige Zeitpunkt? Byron sagte immer: Du musst das Zimmer finden, das es nicht gibt«, zitiert sie. »Und es durchqueren in der Stunde, die nicht existiert.«

»Das hatten wir doch schon!«, beschwert sich Daisy.

Ich wische mir den Schweiß von der Stirn. Wie bei meinem ersten Besuch in diesem Zimmer scheint es von Minute zu Minute wärmer zu werden. Dann drehe ich mich zu Alice um. »Was denkst du?«

Sie zuckt mit den Schultern. Ich habe versprochen, sie vor den anderen nicht zu verraten. Aber wenn sie etwas weiß, das uns weiterhelfen könnte, müssen wir es erfahren.

»Keine Ahnung«, sagt Alice.

Charlotte blickt mich wütend an. »Lass sie in Ruhe.«

»Vielleicht gibt es ja einen zweiten Geheimgang«, überlegt Thomas laut. »Vielleicht müssen wir nur diese Balken entfernen.«

Er deutet auf ein Fenster, das mit zahlreichen Brettern vernagelt ist. Bei meinem ersten Besuch ist es mir gar nicht aufgefallen.

Rupert kickt mit dem Fuß einen Gegenstand beiseite, der auf dem Boden liegt. Staub wirbelt auf und er muss husten.

»Es ist sicher nicht verkehrt, das Fenster zu öffnen. Die Luft ist ja nicht zum Aushalten. Wenn man wenigstens etwas besser sehen könnte.«

»Ich hole eine Öllampe«, schlägt Meghan vor.

»Kein Feuer«, sagt Alice, doch Meghan hat sich schon umgedreht und eilt den Gang entlang in Richtung Treppenhaus.

Charlotte geht hinüber zu der umgestürzten Kommode und inspiziert die verbrannten Stufen der Treppe, die irgendwann einmal in das nächste Stockwerk geführt haben.

»Pass auf«, warne ich sie. »Da liegen überall Scherben.«

Charlotte sieht zu Boden. Aber ehe sie sich nach einem der Spiegelsplitter bücken kann, steht Alice neben ihr.

»Geh da weg. Fehlt gerade noch, dass du dich schneidest, kurz bevor wir zu Hause sind. Die Treppe trägt dich ohnehin nicht.«

»Und was ist unter dem Bett?«, erwidert Charlotte, während sie auf das Ungetüm aus Holz und Stoff in der gegenüberliegenden Zimmerecke deutet.

Wir drehen uns alle um.

Daisy rümpft die Nase. »Das ist ganz verschlissen.«

»Charlotte«, ruft Rupert überglücklich. »Du bist genial.«

Mein Herz schlägt schneller. Ich schiele zu Alice. Wenn es einen Geheimgang unter dem Bett gibt, müsste sie davon wissen, oder? Doch ihre Miene bleibt unbewegt.

»Einen Versuch ist es wert«, sagt sie schließlich, und ich frage mich, ob sie mir damit indirekt sagen will, dass Charlotte mit ihrer Vermutung richtigliegt. Aber warum hat sie den Geheimgang dann nicht längst erwähnt?

Gemeinsam mit Rupert und Thomas schiebe ich das Himmelbett zur Seite. Eines seiner Beine knickt ein, während es über die Dielen schrammt, und die hintere Ecke des Bettes sinkt zu Boden. Krachend stürzt der muffig riechende Baldachin in sich zusammen und begräbt uns unter sich.

»Charlotte!« Meghans Stimme dringt durch den verschlissenen Stoff.

Wir kämpfen uns hustend unter dem schweren Stoff hervor und klopfen uns den Staub von den Kleidern.

»Gehts euch gut?«, fragt Daisy.

Ich nicke und starre auf die Stelle, wo das Himmelbett ursprünglich stand. Dort liegt allerlei Dreck und Unrat. Ich greife nach dem Stoff des Baldachins und reiße ein großes Stück davon ab, um mit dem Fetzen über den Boden zu wischen. Aber statt eine Geheimtür freizulegen, wirble ich nur eine Staubwolke auf, die mich einhüllt.

»AHHHHHHHHH!« Charlottes lang gezogener Schrei lässt mich zusammenzucken.

»Was ist passiert?«, ruft Daisy aufgeregt.

Während ich mich aufrapple, stürmen die anderen bereits zur Tür.

»Mach Platz!«, herrscht Rupert Daisy an, die vor ihm steht.

Als ich aus der Staubwolke trete, kann ich gerade noch erkennen, wie Rupert durch die Türöffnung aus dem Zimmer springt und von der Dunkelheit verschluckt wird. Dicker schwarzer Qualm dringt ins Zimmer. Der Geruch nach verbranntem Öl wallt auf, und mein Herz verkrampft sich. Nein! Nicht jetzt. Ehe ich etwas sagen kann, folgt Thomas Rupert in den Flur. Alice steht wie erstarrt neben mir. Daisy presst sich die Hand vors Gesicht und zittert wie Espenlaub.

»Charlotte!«, höre ich Thomas’ Stimme.

Ich bin wie gelähmt.

Der markerschütternde Schrei eines Mannes hallt durch den Flur, gefolgt von einem Knurren. Mir gefriert das Blut in den Adern. Aus der Schwärze tauchen Augen auf, rot wie glühende Kohlen. Der Seelenfresser hat uns gefunden!

Endlich löst sich Alice aus ihrer Starre. Sie eilt an mir vorbei, wirft die Tür ins Schloss und presst sich mit dem Rücken dagegen.

»Was tust du?«, kreischt Daisy. Sie stürzt sich auf Alice, um sie vom Eingang wegzuzerren. »Rupert und die anderen sind noch da draußen.«

Die beiden beginnen, miteinander zu ringen.

»Hört auf!«, brülle ich.

Doch das interessiert sie nicht. Daisy versucht, Alice beiseitezudrängen, die sich nach Leibeskräften wehrt.

»Alice, Daisy – lasst das!«

Ich versuche, sie zu trennen, und kassiere einen Schlag in die Magengrube.

»Mach die Tür auf!«, brüllt Daisy mir zu.

»Auf keinen Fall!«, fleht Alice.

Sie wälzen sich auf dem Boden.

»Du bist wahnsinnig!«, wirft Daisy Alice vor. »Wir müssen ihnen helfen.«

»Dafür ist es zu spät!«

Ich muss an die Geister denken, die mir inzwischen ans Herz gewachsen sind: Charlotte, die bei der kleinsten Gelegenheit in die Luft geht, Thomas, der so friedlich aussieht, wenn er im Garten arbeitet, und Rupert, der mir den Kopf eingerenkt hat.

Mein Körper beginnt, unkontrolliert zu zittern. Ich kann sie nicht im Stich lassen. Während Daisy und Alice aufeinander einschlagen, greife ich nach der Löwenklinke – und öffne die Tür.