Kapitel 37

Ich fahre aus dem Schlaf hoch. Das ist mein Bett. In dem Gästezimmer, das Mutter mir hergerichtet hat. Mein Herzschlag galoppiert, als wäre ich einen Marathon gelaufen. Oder im dritten Stock aus dem Fenster gesprungen. Ich schlage die Bettdecke so schwungvoll zur Seite, dass sie zu Boden rutscht. Draußen geht gerade die Sonne auf, und im Dämmerlicht kann ich erkennen, dass mein Bein, an dem vor Kurzem noch Flammen geleckt haben, unversehrt ist. Ich bin nicht tot. Ich bin am Leben!

Oder etwa nicht?

Mein Magen verkrampft sich, weil ich Angst habe, dass ich trotz allem noch immer ein Geist sein könnte. Ich schließe die Augen und versuche, die Ebenen zu wechseln, doch mein Zimmer verändert sich nicht. Mein Blick fällt auf meine offene Reisetasche neben der Kommode. Ein Teil meiner Kleidung befindet sich noch darin.

Es hat tatsächlich geklappt! Ich muss sofort zu Teddy!

Mein ganzer Körper kribbelt vor Freude und Aufregung, während ich aus dem Bett springe, in meine Filzpantoffeln schlüpfe und mir den Morgenmantel überwerfe. Ich stürze auf den Flur und klopfe nebenan. Niemand antwortet. Erst als ich die Tür aufreiße, fällt mir wieder ein, dass Teddy ja gar nicht weiß, was in den letzten drei Tagen geschehen ist. Aber sein Zimmer ist ohnehin leer. Sein Bett ist gemacht und sein Schlafanzug liegt gefaltet obenauf.

Als ich die Tür zuziehe und mich umdrehe, stoße ich fast mit Annie dem Dienstmädchen zusammen. Sie trägt eine Porzellankaraffe, die mit blauen Zugvögeln verziert ist.

»Sir, Sie sind schon wach?«, fragt sie. »Ich wollte Sie gerade wecken.«

Sie kann mich sehen! Am liebsten würde ich sie vor Freude umarmen und mich mit ihr im Kreis drehen.

»Kannst du mir sagen, wo Mr MacKenzie sich aufhält?«, frage ich sie stattdessen.

Am Morgen vor meinem Tod habe ich ihn im Frühstückssalon getroffen.

»Er geht im Garten spazieren«, antwortet sie.

»Danke, Annie.«

Ich stürze an ihr vorbei, die Treppe hinunter in die Eingangshalle, die wieder so aussieht wie an jenem ersten Tag, als ich in Thornhill Hall ankam. Ich könnte jauchzen vor Glück.

Ich stürme durch den Wintergarten und dann hinaus in den Garten. Der graublaue Himmel färbt sich gerade golden. Teddy hockt am Ufer des Seerosenteichs – an der Stelle, wo Alice ihn gestern Nacht beinahe erwürgt hätte.

Ich renne zu ihm. Der Saum meines Morgenmantels flattert, der Tau malt meine Filzpantoffeln dunkel. Als ich Teddy fast erreicht habe, steht er auf und kommt mir einen Schritt entgegen. Nervös bleibe ich eine Armlänge entfernt vor ihm stehen. Was soll ich ihm sagen? Das habe ich mir noch gar nicht überlegt.

»Gott sei Dank, dir geht es gut!«, sagt er und umarmt mich.

Kurz versteife ich mich, so überrascht bin ich. Dann begreife ich, was er gerade gesagt hat. Und dass er mich berühren kann! Ich klammere mich an ihn. Zum allerersten Mal spüre ich den Druck seiner Arme, seine warme Haut, seinen Herzschlag durch sein Hemd und meinen Schlafanzug hindurch. Meine Augen werden feucht.

»Woher weißt du …?«

Er löst sich aus der Umarmung und schiebt mich von sich. Wir blicken uns tief in die Augen, und ich sehe, dass seine verräterisch glitzern.

»Ich weiß alles«, erwidert er.

Plötzlich muss ich lachen. Es kommt ganz tief aus meiner Brust und fühlt sich gut an. Teddy stimmt in mein Lachen ein. Wenn Annie uns vom Herrenhaus aus beobachtet, muss sie glauben, wir hätten den Verstand verloren.

»Wie ist das möglich?«, frage ich.

Teddy zuckt mit den Schultern. »Wie ist überhaupt irgendetwas von dem möglich, was in den letzten drei Tagen geschehen ist?«

Als hätten wir uns abgesprochen, blicken wir beide in Richtung Thornhill Hall, hinüber zu dem Zimmer, das es nicht gibt, zu dem Turm, der nicht mehr aufgebaut wurde. Er ist verschwunden, als hätte es ihn nie gegeben.

»Ich glaube, es liegt an uns«, sagt Teddy dann. »Dass ich dich sehen konnte, dass ich jetzt bei dir bin. Wir sind füreinander bestimmt.«

Er greift nach meiner Hand. »Und jetzt werde ich dich endlich küssen.«

Liegt es an der aufgehenden Sonne hinter ihm oder werden seine Ohren tatsächlich rot? Ich grinse. Und bevor noch irgendetwas dazwischenkommen und uns aufhalten kann, ziehe ich ihn hinter die Rosensträucher.

Die nächste Stunde verfliegt wie ein schöner Traum. Als Teddy und ich nach Thornhill Hall zurückgehen, sind mein Morgenrock und sein Anzug grün vom Gras und feucht vom Tau.