Kap

3

Über uns funkeln die Sterne. Ein mitternachtsblauer Himmel, der uns hin und wieder mit einer Sternschnuppe belohnt. Eine sanfte Brise raschelt im Laub, das Mondlicht taucht alles in seinen sanften Schein. Alles an dieser Szene ist absolut magisch.

»Camping« ist so gemütlich und auf jeden Fall mein Lieblings-holozoneprogramm. Jojo bleibt wachsam und blickt mit einem leisen Knurren nach oben. Der Schrei einer Eule durchbricht die Stille.

Obwohl ich eigentlich schon zu viel gegessen habe, nehme ich mir noch Nachtisch. Es ist früh am Abend. Ich bin seit Stunden bei den Zwillingen und das Weihnachtsessen scheint schon wieder ewig her zu sein. Zum Glück ist eins unserer Lieblingsrestaurants in der Gegend vorbeigefahren und auf der Decke, die wir ausgebreitet haben, steht eine Auswahl an Köstlichkeiten, die mir das Wasser im Mund zusammenlaufen lässt. Ich häufe mir Mangopudding, ein Kokosbrötchen, etwas Eis und frittierte Banane auf den Teller. Mhm. Theo schaut grinsend auf meine Schätze.

Ich ziehe die Augenbrauen hoch. »Soweit ich weiß, ist der Ramadan zum Fasten da – und alle anderen Gelegenheiten zum Feiern. Und überhaupt, ist dir eigentlich klar, wie viel ich vorhin bei Ripper’s Revels rennen musste? Der Serienkiller persönlich hat mich verfolgt. Ich habe noch nie so viele Runden hintereinander gespielt.«

»Total easy.« Tabby grinst und knabbert an einem Rippchen.

Theo lehnt sich vor und nimmt sich etwas von der Götterspeise und ein paar Kekse. »Was meint ihr, wird dieses Jahr jemand aus London einen Platz ergattern?«, fragt er.

Die ganze letzte Stunde haben wir uns über den London Marathon unterhalten.

Ich zucke mit den Achseln. »Wer weiß … Letztes Jahr haben eine Menge Leute aus dem Norden teilgenommen. Stellt euch vor … den ganzen Weg durch all das Wasser zu reisen, nur um für das Rennen hier zu sein.« Ich schaudere.

Theo richtet seinen Blick auf mich. »Leyla, ich habe mir überlegt … Vielleicht könntest du uns nächstes Mal begleiten, wenn wir die Stadt verlassen, um –«

Ich rutsche mit finsterem Blick auf meinem Stuhl herum. »Nicht das schon wieder, Theo.«

»Bitte«, sagt er. »Mum könnte dir im Handumdrehen Papiere ausstellen lassen, weil du mit uns reisen würdest. Dann müsstest du nicht noch zwei Jahre warten, bis du 18 bist.«

Ich funkle ihn an. »Warum musst du immer wieder davon anfangen? Über die Grenze zu fahren, ist echt nicht mein Ding. Der Rest des Landes interessiert mich nicht, akzeptier das endlich.« Nicht mal für Geld würde ich mich raus in die Wildnis wagen. All die unbekannten Gebiete und Kreaturen und Tausende von Gefahren, die dort überall lauern. Ich schlinge die Arme um meine Knie.

Tabby neigt den Kopf zur Seite und sieht mich mit zusammengekniffenen Augen an. »Du wirst es nicht ewig vermeiden können, London zu verlassen. Und du verpasst so viel, Leyla. Du müsstest unsere Hotels mal in echt sehen – die Filmaufnahmen von ihnen kommen da nicht ran. Theo hat dort alle möglichen technischen Wunderdinge installiert.«

Vivian Campbell, die Mutter der Zwillinge, hat die Hotelkette der Familie nach dem frühen Tod ihres Mannes vor zwei Jahren übernommen, als der Tunnel, durch den gerade sein Zug fuhr, zusammenbrach. Die Hotels sind so gebaut, dass jedes Gebäude an eine bestimmte Epoche der Alten Welt erinnert, ausgestattet mit Relikten und Möbeln aus dieser Zeit. Sie sind zu wahren Touristenmagneten geworden. Theo interessiert sich nur insoweit für das Familienunternehmen, als dass er die Hightech-Illusionen für die Gäste programmieren und installieren darf.

»Und du hast jeden meiner landesweiten Wettbewerbe verpasst«, fährt Tabby fort und schmiert sich Clotted Cream und Marmelade auf einen Scone. »Im neuen Jahr habe ich noch einen in Wales. Ich wünschte, du wärst dabei, wenn ich die so richtig plattmache.«

Tabby ist eine echte Meisterin in verschiedenen Kampfkunstdisziplinen. Ich habe sie beim Training beobachtet und fürchte, allein vom Zusehen schon blaue Flecke bekommen zu haben.

»Und das meint sie ernst.« Theo hält die Hände vor sich, als wolle er sich schützen. »Sie hat hier drin mit Samurai- und Ninja-Kämpfern geübt. Ihre Gegner stehen immer noch unter Schock. Gestern hat sie uns an Bord eines Schiffes in der Ägäis kämpfen lassen. Anscheinend haben wir den römischen General Julius Cäsar gerettet. Diese Piraten haben sie nicht kommen sehen!«

Tabby glättet ihr Haar. »Keiner dieser dämlichen Trottel war mutig genug, um es mit mir aufzunehmen.«

Ich esse auf, ziehe die Beine an und stütze mein Kinn auf den Knien ab. Mein Haar fällt mir wie ein Vorhang um die Beine. »Das ist einfach nicht mein Ding.« Es ist besser, bei dem zu bleiben, was man kennt – immer.

Es wird still. Jojo kaut auf ihrem karierten Kleidchen herum. Sie springt auf und kläfft, als Müller, der neueste Haushälter der Campbells, neben ihr Gestalt annimmt. Er trägt nur Fußballshorts, streckt die Brust heraus, wirft seinen blonden Zopf zurück und zwinkert mir zu. Ich kann mir ein Kichern nicht verkneifen.

Alle paar Monate wählen die Zwillinge abwechselnd eine neue Haushälterin oder einen neuen Haushälter aus. Die Programmierung bleibt dieselbe, nur Aussehen und Persönlichkeit ändern sich. Es ist immer lustig, wen Tabby aussucht. Im Moment handelt es sich um einen berühmten deutschen Fußballspieler aus den 20er-Jahren.

Tabby mustert Müller von oben bis unten und wirft ihm einen Luftkuss zu.

Der Haushälter erwidert die Geste, bevor er sie anspricht. »Eure Hoheit …«

Theo schnaubt und jetzt müssen wir alle kichern.

»… Ihr wolltet benachrichtigt werden, wenn die Marathon-Auslosung bekannt gegeben wird.«

»Ganz richtig«, sagt Tabby. »Danke, Müller. Das wäre dann alles.«

Flackernd verschwindet er aus unserem Blickfeld.

»Ruhezustand«, befiehlt Tabby und im Nu ist die Alte Welt um uns herum nicht mehr zu sehen.

Wir sind in der schimmernden Holozone, dem größten Raum im Haus der Campbells. Die virtuelle Installation ist ein Geschenk ihres verstorbenen Vaters zum 13. Geburtstag der Zwillinge gewesen.

Wir springen auf und entfernen unsere Sensoren und Linsen. Die Geschwister sind beide größer als ich, obwohl sie nur ein Jahr älter sind. Auf dem Weg in den Wohnraum begegnen wir ihrer Mutter, und während Tabby und Theo weitergehen, bleibe ich einen Moment stehen, um mit ihr zu reden.

Vivian, die genauso aussieht wie Theo, nur mit kürzerem Haar, neigt ihren Kopf in meine Richtung. Ein trauriges Lächeln erhellt ihre freundlichen blauen Augen. »Bleib über Nacht, Leyla. Du könntest dir die Jubiläumsfeier hier mit uns anschauen anstatt morgen in einem überfüllten Pub.«

»Das würde ich gerne, Viv. Nur … mein Vater und ich haben uns die Jubiläumssendung immer im Pub angesehen. Und obwohl er dieses Jahr nicht da ist, will ich trotzdem hin. Aber ich gehe noch nicht heim. Wir wollen erst noch die Auslosung für den Marathon verfolgen.«

Vivian nickt mitfühlend und ihre Augen verdunkeln sich. »Du solltest draußen noch vorsichtiger als sonst sein, Liebes. Diese Bestien haben letzte Woche bei den Färöern die Hölle losgelassen.« Sie schüttelt den Kopf.

Ich verziehe das Gesicht. »Ich habe es gesehen. Das war ein schrecklicher Angriff.«

Ein Schatten huscht über Vivians Gesicht. »Ich verstehe einfach nicht, wie sie es wagen können, unseren Siedlungen so nahe zu kommen.« Sie schaudert und schlingt die Arme um ihren Oberkörper. »Manchmal scheint es, als gäbe es gar keine Hoffnung mehr für uns. Wir sind für so ein Leben nicht gemacht. Wir sind für Tag und Nacht gemacht. Nicht für ewige Dunkelheit. Wen wundert es da«, sie senkt die Stimme, »dass so viele an der Seekrankheit leiden? Diese Hoffnungslosigkeit … Es gibt kein Heilmittel dagegen. Und mittlerweile vermehren sich diese Horrorgestalten immer weiter und weiter, wie die Mondfische.«

Ich schiebe mir die Haare aus dem Gesicht und sehe mich um, ob Tabby außer Hörweite ist. »Viv, bitte. Was ist, wenn Tabby das hört? Sie ist immer noch nicht ganz gesund.«

Vivian beißt sich auf die Lippen und wirft einen unschlüssigen Blick in Richtung Wohnraum.

»Wir können dieses Übel überleben«, fahre ich fort. »Das Leben hier unten hat mehr zu bieten als Anthropoiden. Wir haben eine riesige Veränderung auf der Erde durchgestanden. Und na ja, ich weiß, dass es natürlich kein bisschen so ist, wie das Leben oben war, aber … wir sind immer noch am Leben. Ich meine, das ist doch die Hauptsache, Viv: die Tatsache, dass wir noch immer da sind – und nicht, wo wir sind.«

Vivian sieht mich zweifelnd an. »Oh, Schätzchen, du bist jung und noch so naiv, Hoffnung zu haben, obwohl die Fakten so entmutigend sind. Aber du musst dir keine Sorgen um Tabitha machen – Theo und ich tun alles, um sie bei Laune zu halten. Nimm diese Last nicht auch noch auf dich, Liebes, du hast selbst genug zu tragen. Und ich würde meine Befürchtungen niemals vor ihr aussprechen.« Sie stößt einen langen Seufzer aus und lässt die Schultern hängen. »Mir ist sehr wohl bewusst, dass die Seekrankheit jederzeit zurückkehren und sie erneut zu einem Schatten ihrer selbst werden könnte wie …«

»Leyla!«, schreit Tabby und winkt mich aus dem offenen Wohnraum zu sich.

Vivian und ich wenden uns um und sehen, wie Tabby und Müller ziemlich eng miteinander tanzen.

»Tabitha!«, mahnt Vivian, lässt den Haushälter mit einer Handbewegung verschwinden und wir müssen beide lachen – genau, was wir jetzt gebraucht haben.

»Oh, bevor ich es vergesse! Bitte schön, Liebes.« Die Mutter der Zwillinge zieht ein kleines Fläschchen aus ihrer Tasche. Sie beugt sich zu mir, öffnet die Flasche und hält sie mir unter die Nase. »Ah, riech einmal daran. Echte Erde aus der Alten Welt! Nicht dieser nachgemachte Mist, den sie einem auf den Märkten andrehen wollen. Fröhliche Weihnachten, mein Schatz.«

Auch ich überreiche Vivian ein Geschenk. Vor ein paar Monaten habe ich auf dem Markt einen Gartenzwerg aus der Zeit der Jahrhundertwende gefunden. Der Millennium-Barock ist ihre Lieblingsepoche der Alten Welt – vor Kurzem wurde sie sogar zum Ehrenmitglied des Millennium-Barock-Ausschusses ernannt. Obwohl er mit Rissen übersät und an vielen Stellen geklebt ist, hat der Zwerg immer noch ein kleines Vermögen gekostet – zum Glück durfte ich ihn in Raten bezahlen. Ich bin mir sicher gewesen, dass er ihr gefallen würde.

»Weißt du, manchmal gelingt es mir«, sagt sie und umarmt mit wehmütigem Blick den Gartenzwerg, »das ganze Wasser einfach wegzudenken, und dann fühlt es sich irgendwie an, als wäre ich ein Teil der Alten Welt.« Ihr Armband blinkt. »Lass uns später weiterreden, Liebes. Es ist so schön, dass du hier bei uns bist.« Sie drückt mir einen Kuss auf die Stirn und nimmt den Anruf entgegen.

Ich gehe zu den Zwillingen in den Wohnraum. Das gesamte Haus der Campbells ist elegant und mit Hochglanzmöbeln eingerichtet. Der offene Wohnbereich wird von raumhohen Fenstern eingerahmt und ist allein schon so groß, dass unsere Wohnung daneben wie ein Schuhkarton wirkt. Alle Villen hier in der Gegend sind ganz individuell gestaltet.

Eine perlmuttartig schimmernde Kugel, der Putz-Roboter, schwebt an mir vorbei und beginnt, ein Schränkchen abzustauben, in dem Tabbys unzählige Kampfkunst-Trophäen und -Auszeichnungen ausgestellt sind. Mein Herz macht einen Hüpfer. Tabby hat mein Geschenk genau in die Mitte des Regals platziert. Es ist ein detailgetreues Origami-Modell von der 12-jährigen Tabby, wie sie mit ihrem Vater tanzt. Das gehört zu ihren schönsten Erinnerungen an ihn.

Mir stockt jedes Mal der Atem, wenn ich daran denke, dass die Zwillinge ihren Vater nie wiedersehen werden. Ich kann mir nicht einmal vorstellen, wie sich das anfühlen muss. Ein unerträglicher Gedanke.

Theos Miene erhellt sich auf einmal. »Dein Geschenk. Ich habe es dir noch gar nicht gegeben!«

»Noch eins? Ich habe doch schon was von dir bekommen! Die holografische Szene für mich zusammenzuschneiden, muss ewig gedauert haben.«

Er runzelt die Stirn. »Ist ja richtig toll gelaufen mit der Familien-Szene. Verdammtes Pech, dass der Strom genau in dem Moment ausgefallen ist.«

Ich drücke seinen Arm. »Ich musste gar nicht alles sehen, um es großartig zu finden. Bestes Geschenk aller Zeiten.«

Theo rennt hinaus und ist blitzschnell wieder zurück. »Ta-da!« Er hält mir ein langes, dünnes Päckchen hin.

Ich packe es vorsichtig aus, um das schöne Papier nicht zu zerreißen, es wäre perfekt für ein Origami-Modell. »Ein Regenschirm! Wahnsinn, danke, er ist toll!« Der Schirm ist aus lilafarbenem Stoff, der Stock bronzefarben. »Ich habe schon einmal einen in der Hand gehabt, als die Königliche Konservierungsgesellschaft einen Tag der offenen Tür hatte. Der war total verrostet und kaputt, aber dieser hier ist wunderschön!«

»Na gut, es ist kein richtiger Regenschirm«, sagt Theo und zwinkert mir zu. »Es ist …«

»… eine verdammt echte Waffe«, verkündet Tabby strahlend.

Mir fällt der Kiefer herunter. Ich habe noch nie eine Waffe besessen. Ich starre die beiden an, unschlüssig auf meinem Stuhl herumrutschend. Eine Geheimwaffe. Sie soll wie ein harmloser Regenschirm aussehen. Irgendwie ist es toll.

»Du kannst nicht allein leben, ohne eine Möglichkeit, dich zu verteidigen, Leyla«, meint Theo. »Ich habe neulich gesehen, wie Miss Petrov aus dem Finanzamt ins Bürgerhaus kam und einen Sonnenschirm in der Hand hatte, da bin ich auf die Idee gekommen: Ich könnte eine Waffe für dich entwerfen, die aussieht wie ein Accessoire. Und ich weiß ja, wie gern du es magst, dir Regen vorzustellen. Ach ja, und in der durchsichtigen Spitze ist eine Lampe.« Er legt mir beruhigend eine Hand auf die Schulter. »Der Schirm ist vollkommen ungefährlich, wenn er nicht aktiviert ist, keine Angst. Aber entweder du nimmst ihn oder du ziehst bei uns ein. Also, ich zeig dir am besten, wie er funktioniert.«

Kurz darauf ist der vermeintliche Regenschirm an meinen Handabdruck angepasst und ich weiß, wie man ihn benutzt. Ich kann damit eine Flüssigkeit versprühen, die Lähmungen verursacht und die man in superschmale Tanks nachfüllen kann. Außerdem hat der Schirm eine Taser-Taste für Elektroschocks, die ich jedoch bestimmt niemals einsetzen werde. Die verschiedenen Funktionen lassen sich über winzige, eingerückte Knöpfe an der Längsseite bedienen. Der Schirm ist fantastisch. Beängstigend, aber fantastisch. Ich grinse und Theo grinst zurück.

Ich umarme ihn stürmisch. »Ich finde ihn einfach toll! Du bist unglaublich, Theo. Vielen, vielen Dank!«

Er lächelt und winkt ab.

»Die Marathon-Auslosung!«, schreit Tabby, als das Bild auf der Kommunikationswand gerade zu Elvis wechselt, und meine Mundwinkel heben sich sofort noch ein Stückchen höher.

Wir jubeln. Elvis ist auch Papas Lieblingsmoderator. Allein wie er sich bemüht, den amerikanischen Akzent nachzumachen, ist schon superlustig. Der schwarze Imitator steht im BBC-Studio, er trägt seinen weißen Overall aus Satin, der bis zum Bauchnabel geöffnet ist, und um die Taille einen mit Strasssteinchen besetzten Gürtel. Auf der Nase sitzt eine goldene Brille mit dicken dunklen Gläsern. Er schlägt seinen glitzernden Kragen hoch, fährt sich mit der Hand über die Schmalztollen-Perücke und zeigt mit einem strahlenden Lächeln in die Kamera.

»Hallo, hallo, verehrtes Publikum in Großbritannien. Fröhliche Weihnachten! Natürlich bin ich es, Elvis, und schon in zwei Tagen bin ich wieder euer Gastgeber des Londoner U-Boot-Marathons 2099. Heute Abend präsentiere ich euch die Auslosung, und zwar live. Gleich geht’s los, liebe Leute. Nur noch drei Minuten. Ihr könnt euch bis dahin noch die neuesten Schrecken aus der Tiefe ansehen«, bei diesem Hinweis verzieht er das Gesicht, »oder geht noch einmal aufs stille Örtchen und schnappt euch auf dem Rückweg Snacks und Getränke!« Er spitzt die Lippen, sagt »Vielen Dank« und lacht herzlich.

Die Schrecken aus der Tiefe blitzen auf dem Bildschirm auf: eine gefährliche Unterströmung in der Nähe von Irland, die einen um die halbe Welt mit sich zieht, bis man nur noch Futter für blinde Tiefseemonster ist, die sich tagelang an einem sattfressen, sowie eine Kreatur, die aussieht wie eine Kreuzung zwischen einem Riesenaal und einem Dämon. Ich zittere und springe auf. Vielen Dank, aber heute nicht.

Ich laufe zur Toilette und hole dann noch ein Leckerli für Jojo. Als ich zurückkomme, hat die Auslosung bereits begonnen. Nummer nach Nummer rast in so hoher Geschwindigkeit, dass man die einzelnen Zahlen nicht erkennen kann, über einen Bildschirm neben Elvis. Sobald er den Bildschirm berührt, wird die hervorgehobene Nummer mit allen angemeldeten Teilnehmern abgeglichen.

»Keiner, den wir kennen!«, sagt Theo, als ich gerade fragen will.

Nur 100 Namen werden ausgelost. Die Chance, einen Teilnehmer persönlich zu kennen, ist ziemlich gering, aber vor zwei Jahren ist Jack Taylor gezogen worden. Ich versuche, nicht daran zu denken, was mit ihm passiert ist.

Der Butler der Campbells kommt mit Getränken herein. Mit seinen roten »Augen« registriert er meine Anwesenheit und begrüßt mich mit einem Nicken. Ich nippe an meinem Getränk, denke an nichts anderes mehr und lasse mich von der Euphorie um die Auslosung anstecken.

Elvis ruft einen Namen nach dem anderen auf und imitiert dabei den Sänger aus dem 20. Jahrhundert. Und ehe wir uns versehen, ist er schon fast durch. Jetzt vergleicht er wieder eine Nummer mit dem Register und gibt den Namen bekannt: »Bewerber Nummer 94, Camilla Maxwell!«

Im Raum bricht Geschrei aus. »Die kennen wir!«, rufen wir alle gleichzeitig.

Wir jubeln, klatschen Beifall und schicken Camilla eine Nachricht, um ihr zu gratulieren, während Elvis die restlichen Nummern zieht, bis schließlich alle 100 Teilnehmer feststehen. Der Moderator gibt jetzt einen Song zum Besten, tanzt dazu und lässt die Hüften kreisen. Wir wenden uns vom Bildschirm ab, um miteinander anzustoßen und die Ergebnisse zu besprechen. Ich gebe mir Mühe, nicht allzu enttäuscht zu sein. Die Chance, ausgelost zu werden, ist sowieso klitzeklein.

»Unglaublich, dass Camilla dabei sein wird!«, sagt Theo.

Tabby wackelt mit den Augenbrauen. »Erstaunlich, dass der Name der Tochter des obersten Historikers gleich im ersten Jahr, in dem sie es versucht, gezogen wird, oder?« Sie schüttelt den Kopf und grinst. »Jedenfalls werden die Medien komplett verrücktspielen! Ich sag’s euch, Camilla wird dieses Jahr der leuchtende Star des Marathons sein. Sie wird die ganze Aufmerksamkeit bald hassen, armes Ding. Ahh, wie aufregend! Nur noch zwei Tage …«

»Na, ihr habt wirklich Glück gehabt, Leute, denn jetzt gehen alle wieder zurück auf Los.« Elvis’ Stimme übertönt plötzlich unsere eigenen, auch wenn er nicht ganz so begeistert klingt wie sonst. Wir halten inne und wenden uns wieder dem Bildschirm zu.

»So ist es, Leute, die letzte Auslosung wird wiederholt!« Dann wird sein Gesichtsausdruck ungewöhnlich düster. »Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, gemäß der Wahrhaftigkeit und der Selbstverpflichtung des Marathon-Ausschusses auf vollständige Transparenz muss ich die eben erfolgte Auslosung des 100. Platzes für ungültig erklären. Wie sich herausgestellt hat, ist der Teilnehmer, nachdem er seine Bewerbung für das renommierteste aller Sportereignisse Großbritanniens abgegeben hat, als ein Anthropoid enttarnt worden – und wurde entsprechend behandelt. Aber es besteht kein Grund zur Sorge und heute ist schließlich unser Nationalfeiertag!«

Es fühlt sich an, als hätte ich einen Stein im Magen, und dem Ausdruck auf den Gesichtern der Zwillinge nach zu urteilen, geht es ihnen genauso. Wenn es einem Anthropoiden gelungen ist, die strengen Regeln bei der Anmeldung zu unterlaufen, dann sind wir nicht so sicher, wie wir dachten … Wir haben unterschätzt, wie durchtrieben und listig sie wirklich sind.

Um Sorgen und einer möglichen Aufregung unter den Zuschauern zuvorzukommen, wird nun zu einer Live-Erklärung der Vorsitzenden des Ausschusses, Mariam Khan, geschaltet, die versichert, dass eine solche Unachtsamkeit nie wieder geschehen wird. Dann zeigt der Sender mehrere Werbeclips für den Marathon. Schließlich ist der Moderator wieder zu sehen und bereitet die Zuschauer mit überschwänglichen Gesten darauf vor, dass er nun noch einmal den letzten glücklichen Teilnehmer auslosen wird.

Tabby verschränkt die Arme. »Dass diese Bestien es überhaupt wagen

»Verdammter Mist.« Theo schüttelt den Kopf. »Aber wenigstens haben sie seine wahre Identität noch rechtzeitig herausgefunden! Elvis ist jetzt so weit – wir sollten nicht zulassen, dass sie uns die Auslosung verderben.«

»Stimmt«, sagt Tabby. »Und, Leyla, du musst den Marathon unbedingt hier mit uns zusammen angucken.«

»Versprochen. Wenigstens feuern wir dieses Mal alle dieselbe an«, erwidere ich und schaue auf die Uhr. Jojo sieht ein bisschen müde aus, es ist schon spät und ihr Körbchen, ein kuscheliger Bliss-Pod, steht zu Hause, weil er zu groß ist, um in ein Tauchboot zu passen. »Tabs, ich fürchte, ich muss mich bald auf den Heimweg machen.«

»Ach, bleib doch noch länger, Leyla. Oder lass wenigstens Jojo über Nacht hier, wenn du schon nach Hause gehen willst. Morgen bist du sowieso wieder hier. Es gibt ein –«

»Leyla Fairoza McQueen!«, ruft Elvis.

Wir sehen uns an. Stille. Ich schüttle den Kopf und runzle die Stirn.

Theos Mund klappt auf. Er dreht sich zum Bildschirm um. »Zurückspulen. Stopp. Play.«

Elvis grinst, während er die Auslosung für den so heiß begehrten Platz ein weiteres Mal durchführt. »Und zu guter Letzt, meine lieben Zuschauer, heißt es alles oder nichts – der oder die 100. Teilnehmerin ist … Leyla Fairoza McQueen!«

Die Stille im Raum hält noch drei Sekunden lang an.

Dann schreien wir. Das kann nicht wahr sein! Wir springen, hüpfen und brüllen. Mir ist heiß. Die blassen Wangen der Zwillinge haben sich rot gefärbt. Ich kann es nicht fassen. Ich kann nicht mehr klar denken.

Es war mein allererster Versuch, weil ich erst vor ein paar Monaten 16 geworden bin. Wer erwartet schon, jemals einen der Plätze zu ergattern!

Elvis liest gerade Anweisungen für die ausgewählten Teilnehmer vor, aber das muss ich mir später noch einmal ansehen. Mein Armband blinkt: Glückwünsche von einer begeisterten Camilla und dann eine Nachricht vom Marathon-Ausschuss. Ich muss mich morgen früh in Westminster melden. Sie werden noch weitere Gesundheits- und Fahrzeugkontrollen durchführen, erst dann ist die Anmeldung vollständig und abgeschlossen.

Ehemalige Teilnehmer erzählen immer von diesem Moment und es stimmt – es kommt mir alles total unwirklich vor. Weil die Chance, ausgewählt zu werden, so gering ist, machen sich die meisten Anwärter kaum die Mühe zu trainieren, nachdem sie sich angemeldet haben. Andere trainieren sogar mit einem straffen Zeitplan – und mit professioneller Hilfe. Zum Glück fahre ich bei den wöchentlichen Rennen mit. Aber trotzdem geht es hier um einen kompletten Hindernisparcours …

Oh mein Gott, endlich werde ich in der Lage sein, einige Rechnungen zu bezahlen und meine Raten für den Entdeckerfonds zu begleichen.

»Tabs«, flüstere ich. »Ähm, dein Boot. Wäre es in Ordnung, wenn …«

Tabby verdreht die Augen. »Sei nicht albern! Es wäre mir eine Ehre, wenn du damit im Marathon antrittst. Du hast schon Übung damit und brauchst ein Fahrzeug, das du wirklich gut kennst.«

»Vielen, vielen Dank. Oh mein Gott …«

Wir schreien alle wieder und hüpfen auf und ab. Mein Armband hört nicht mehr auf zu blinken – Glückwünsche von allen möglichen Bekannten und entfernten Familienmitgliedern in Tokio, Pretoria, Berlin, Kabul und New York.

Mein Großvater hat eine Nachricht hinterlassen, seine Stimme klingt schwach und besorgt. Ich gehe in eine ruhigere Ecke, um ihm zu antworten. »Bitte mach dir keine Sorgen, Opa. Ich weiß, dass es nicht leicht sein wird, und es ist ein schwieriger Parcours. Aber es gibt auch jede Menge Sicherheitsvorkehrungen und ich werde das schon schaffen. Lass uns bald sprechen.«

Tabby winkt mich zu sich, Augen und Mund weit aufgerissen. »Vergiss nicht, die Preise sind mega! Zugegeben, es ist ein harter Brocken – der härteste –, aber wenn du irgendwie unter die ersten fünf kommst, kannst du einen genialen Preis abgreifen, Leyla! Sie sind immer –« Sie bleibt stehen, weil ihr Blick auf den Bildschirm gefallen ist, und ihre Augen leuchten auf. Theo und ich drehen uns ebenfalls um und stöhnen.

Man sieht Finlay Scott, den Gewinner des letzten Marathons, Champagner trinkend und umlagert von Fans. Er gratuliert den Teilnehmern und wünscht ihnen alles Gute.

»Denkt daran«, sagt er und tippt gegen sein Glas, »was auch immer euer Herz begehrt …«

Ich halte den Atem an. Auf einmal höre ich die Geräusche um mich herum nur noch gedämpft und Hitze breitet sich von meiner Brust bis hoch in mein Gesicht aus. Einfach so kommt es zu einem Wechsel der Gezeiten.

Atemlos wende ich mich wieder den Zwillingen zu. »Er spricht über den Ultimativen Preis … Versteht ihr?! Ich muss den Marathon gewinnen. Dann kann ich um Papas Entlassung bitten.«