Kap

8

Ich steige durch die Luke und schleppe mich mit Jojo auf dem Arm den düsteren Flur entlang bis in unsere Wohnung. Jedes Mal wenn ich den Kopf drehe, zucke ich vor Schmerz zusammen. Das ständige Umschauen während des Marathons fordert jetzt seinen Preis. Vielleicht kann der Medi-Bot helfen.

Im Flur hebe ich die Siegestrophäe hoch. Ich schließe die Augen und gehe durch die realistisch wirkenden Bilder der holografischen Projektionen hindurch, die in dem langen Gang aufleuchten. In einem davon weiche ich dem anderen Teilnehmer in letzter Sekunde aus. Ich sehe mich um, aber in keinem der Nachrichten-Highlights wird gezeigt, dass meine Anfrage für den Ultimativen Preis abgelehnt worden ist.

Der gesamte Marathon und die Preisverleihung sind nur noch eine verschwommene Erinnerung. Ich strecke die Hand nach dem Sicherheitsscanner der Tür aus und bleibe wie angewurzelt stehen.

Die Tür ist bereits einen Spaltbreit geöffnet.

Ich atme so scharf ein, dass meine Lunge schmerzt. Jojos Körper versteift sich. Was soll ich tun?

Mit zitternder Hand drücke ich die Tür ganz auf. Jojo springt aus meinem Arm und rennt, ohne meine Rufe zu beachten, hinein. Drinnen liegt mein Regenschirm auf dem Boden. Ich hebe ihn auf. Der Ständer, an dem er normalerweise hängt, ist zur Seite geworfen, meine Sachen liegen überall verstreut. Mein Herz hat aufgehört zu schlagen, da bin ich mir ganz sicher. Ich atme tief ein und aus, Schmerz sticht in meiner Brust.

Das Hündchen kommt winselnd, aber ohne zu knurren, zurück. Ich drehe mich mit dem Schirm in der Hand zum Wohnraum herum.

Die Tür gleitet auf. Ich keuche und stolpere zurück. Es ist, als hätte ich meine Fähigkeit zu logischem Denken draußen im Flur gelassen, ich sehe und fühle nichts. Ich weiß nicht, wohin ich zuerst schauen soll.

Alles ist zerstört.

Alle unsere Sachen sind zerschlagen und zerrissen. Jedes Möbelstück ist umgestoßen worden, die Füllungen von Polstern und Kissen sind über den ganzen Raum verteilt. Die Bilder sind von den Wänden gerissen und liegen in Einzelteilen auf dem Boden.

Ich bleibe für eine Weile in der Tür stehen.

Schließlich gehe ich in die Küche und dann in die Schlafzimmer. Alles ist auf den Kopf gestellt worden. Im Zimmer meines Vaters schnappe ich nach Luft, einen säuerlichen Geschmack auf der Zunge. Auf Zehenspitzen suche ich das hohe Regal mit den Fingern ab und Erleichterung durchflutet mich – der Koran ist immer noch da. Gott sei Dank haben sie ihn nicht auch auf den Boden geworfen. Bei dem Gedanken läuft mir ein Schauder über den Rücken.

Ich gehe wieder zurück, um die Eingangstür zu verschließen, und stelle fest, dass das Schloss nicht aufgebrochen worden ist. Was hat das zu bedeuten? Etwas knirscht unter meinem Fuß, als ich den Wohnraum betrete. Das geliebte afghanische Teeservice meiner Mutter liegt zersplittert auf dem Boden, anstatt seinen Ehrenplatz im Regal einzunehmen. Die spitzen Scherben vermischen sich mit den Fetzen, die alles sind, was von meinen Origami-Modellen übrig geblieben ist. Warum?

Ein Häufchen türkisfarbener Splitter ist alles, was von Mamas Bodenvase übrig geblieben ist. Ich ringe nach Luft. Sie hat sie für Papa getöpfert, als die beiden sich verlobt haben. Papa hat diese Vase vergöttert und sich geweigert, jemals etwas hineinzustellen. Sie selbst sei ein Meisterwerk der Schönheit, hat er immer gesagt. Ich lege mir ein paar kleine Scherben auf die Handfläche, sie glitzern. Ich lasse sie durch meine Finger rieseln.

Ich zögere einen Moment, dann rufe ich: »Jeeves?« Gott sei Dank, die Wand erwacht flimmernd zum Leben.

»Guten Abend, Miss Leyla. Darf ich Ihnen zu Ihrer heutigen herausragenden Leistung gratulieren, die Sie –«

»Bitte überprüfe die Sicherheitsdaten der Wohnung von heute.«

Die Arme um meinen Oberkörper geschlungen, schlurfe ich kopfschüttelnd durch den Raum; Tausende von Erinnerungen, die jetzt alle auf unheimliche Weise zerstört worden sind. Die Zeichnungen meiner Mutter von ihren Lieblingsdichtern, Jalaluddin Muhammad Rumi und Robert Frost – alle zerschnitten. Die zusammengefaltete Leinwand fällt mir ins Auge – sie wurde von der Wand gerissen und liegt auf dem Boden. Nein! Ich steige über das Chaos hinweg und halte den Atem an, während ich sie öffne. Erleichtert stoße ich die Luft wieder aus, meine handgemalten Karten sind alle noch da. Stunde um Stunde habe ich an ihnen gesessen, seit ich ein Kind gewesen bin. Ich lehne die Leinwand gegen die Wand.

Unter dem Sofa lugt etwas hervor – der Medi-Bot. Ich ziehe das viereckige Hilfsmittel heraus. Auf einer Seite ist er eingedrückt, die Schubfächer lassen sich nicht mehr bewegen. Also keine Schmerzlinderung. Jojos Hängematte liegt zerfetzt daneben und ich hebe eines der Holzteile hoch. Wer zerstört eine Welpen-Hängematte? Mein Vater hat sie selbst gebastelt und war sich ganz sicher, dass das faule Hündchen sie lieben würde, und genauso ist es. Ich lasse das Holzteil wieder fallen. Nichts ergibt hier einen Sinn.

»Es stehen keine Sicherheitsdaten von heute zur Verfügung, Miss Leyla. Das Sicherheitssystem wurde heute um 17.30 Uhr deaktiviert.«

Es gibt einen Verantwortlichen für all das hier und auch dafür, dass die Daten anschließend gelöscht worden sind. Aber wer war es und, noch wichtiger, warum das alles? Mein Herzschlag rauscht mir in den Ohren. Meine Beine beginnen zu zittern. Ich muss mich setzen.

»Wer hat das System deaktiviert, Jeeves?«

»Das System wurde von Ihnen deaktiviert. Ihre persönliche ID wurde dafür verwendet. Es –«

»Was?« Alles ist so falsch.

»Ihre persönliche ID wurde verwendet, um das interne Sicherheitssystem zu überschreiben. Miss Leyla, gibt es ein Sicherheitsproblem? Soll ich die Behörden informieren?«

Ich runzle die Stirn. »Ja, bitte.«

Mein Blick fällt auf Mamas handgewebten Wandteppich. Auch er ist in Fetzen gerissen. Er war ein Erbstück von ihrer Urgroßmutter. Ich presse meine Hand gegen die Stirn. Denk nach.

»Miss Leyla, die Polizei wird kommen, Sie haben jetzt einen Termin für morgen Vormittag um elf Uhr. Sie werden angewiesen, sich einen sicheren Ort für die Nacht zu suchen, wenn die Sicherheit hier beeinträchtigt ist, und –«

»Ich komme schon zurecht. Jeeves, bitte führe noch einmal eine Durchsuchung jeder einzelnen Datei meines Vaters durch. Zeige mir jedes Dokument, das ich nicht selbst geöffnet habe.«

Es dauert nur eine Minute. Und ich kenne bereits das Ergebnis.

»Miss Leyla, alle Dateien von Mr Hashem McQueen sind gründlich geprüft worden. Es gibt keine Dokumente, die nicht als gelesen markiert sind. Kann ich Ihnen sonst noch irgendwie helfen?«

»Nein«, antworte ich mit ruhiger Stimme. »Du kannst mir nicht helfen, Jeeves.«

Alles fühlt sich falsch an. Die Wohnung. Mein Vater. Hätte der Premierminister meine Bitte angenommen, dann wäre mein Vater jetzt wahrscheinlich schon auf dem Weg nach Hause.

Ich steige über meine Sachen hinweg. Fremde sind in unsere Wohnung eingedrungen und haben unsere Sachen durchwühlt.

Wie kann jemand es wagen, in unseren einzigen privaten Raum auf der ganzen Welt einzudringen? Es muss mit der Verhaftung meines Vaters zusammenhängen und damit, dass ich draußen manchmal verfolgt worden bin.

Mein Gesicht wird warm. Ich habe ein Recht darauf zu erfahren, was hier vor sich geht, verdammt noch mal!

Ich rufe Großvater an. Er meldet sich nicht. Ich schreibe ihm eine Nachricht und schließlich flimmert der Bildschirm auf.

Nur, dass ich nicht meinen Großvater sehe, sondern einen völlig Fremden.

Mein Puls rast und mir wird schlecht. Sind sie jetzt auch bei meinem Opa? Ich brauche einen Moment, bis ich mich wieder gefasst habe und erkenne, dass der Typ ungefähr in meinem Alter ist, vielleicht ein bisschen älter. Er starrt mich mit zusammengekniffenen Augen an.

»Wer bist du?«, will ich wissen. »Wo ist mein Großvater und was habt ihr mit ihm gemacht?«

Der Blick seiner honigbraunen Augen ist weiter auf mich gerichtet, er beobachtet mich aufmerksam und verschränkt die Arme. Seine Haut ist kupferfarben und er scheint nur aus Muskeln, Sehnen und Misstrauen zu bestehen.

»Dein Großvater ist in Sicherheit«, sagt er mit einer tiefen und heiseren Stimme, die leicht irritiert klingt. »Wie kommst du darauf, dass ich ihm etwas antun will?«

»Aber wer bist du und wo ist mein Großvater?«, schreie ich.

Er schüttelt den Kopf und reckt das Kinn vor. »Ich bin ein Freund und Gideon geht es gut. Er nimmt gerade einen wichtigen Anruf entgegen. Er wird jeden Augenblick hier sein. Was gibt es denn so Dringendes?«

»Moment mal … Bist du der Sohn seines Freundes, der zu Weihnachten von den Färöern gekommen ist? Opa hat erzählt, er habe einen Besucher bei sich. Und warum beantwortest du seine Anrufe? Ich muss ihn sprechen, und zwar dringend!« Ich schaue hinter mich in den verwüsteten Raum und wende mich wieder zu ihm um. »Bitte«, sage ich, »ruf ihn. Irgendjemand hat … hat meine Wohnung zerstört.«

Ein Muskel in seinem Kiefer spannt sich an und er fährt sich mit der Hand durch sein langes dunkles Haar, das ihm in Wellen bis zu den Schultern reicht. Er bemüht sich, an mir vorbei in den Raum zu schauen, und als sich unsere Blicke wieder begegnen, blitzen seine Augen in einem feurigen Bernsteinton auf.

»Ich rufe deinen Großvater«, entgegnet er und geht sofort weg.

Was in aller Welt? Ich tigere unruhig durch den Raum und versuche, all das zu verstehen. Es ist unmöglich.

»Queenie! Bist du verletzt, mein Kind?« Endlich taucht mein Großvater auf, er mustert mich mit weit aufgerissenen Augen.

Oh Gott sei Dank, es geht ihm gut! »Opa, wer ist der Typ? Warum ist er –«

»Queenie! Was ist passiert? Ari sagte, etwas ist mit der Wohnung? Bist du verletzt? Bitte, mein Kind, erzähl mir sofort alles!«

Ich zeige ihm die Zerstörung hinter mir. »Wie kommt jemand auf die Idee, so etwas mit meiner Wohnung zu machen, Opa? Ich weiß, dass du es weißt. Bitte sag mir, was hier los ist. Mir ist klar, das alles hat irgendwie mit Papas Verhaftung zu tun. Das kannst du nicht mehr leugnen!« Ich sehe ihn mit festem Blick an, meine Wangen brennen vor Hitze.

Das Gesicht meines Großvaters scheint unter meinen Worten in sich zusammenzufallen. »Genug, Kind.« Er hat eine Hand erhoben, und während er niedergeschlagen nickt, lässt er die Schultern hängen. »Ich werde dir erzählen, was ich weiß. Aber du musst warten, bis ich bei dir bin.«

»Nein, Opa, bitte. Kein Warten mehr, sag es mir jetzt.« Ich habe lange genug gewartet. Nicht zu wissen, was eigentlich los ist, bringt mich langsam um.

Er holt tief Luft und atmet langsam aus. »Es tut mir leid, Queenie. Ich hätte es dir erzählen sollen. Ich will versuchen, es dir zu erklären, mein Kind. Aber zuerst möchte ich dich daran erinnern, dass ich in Abwesenheit deines Vaters dein Vormund bin. Du musst verstehen, dass alles, was ich tue, immer nur zu deinem Besten ist. Du bist in Gefahr und musst beschützt werden. Du hast dich geweigert, zu jemandem zu ziehen. Du hast mir keine andere Wahl gelassen. Als dich vor ein paar Wochen jemand zu verfolgen begann, habe ich mich an meinen alten Freund Ben gewandt und ihn um Hilfe gebeten. Er hat seinen Sohn geschickt, damit wir für deine Sicherheit sorgen können.« Er hält inne, weil der Typ von eben wieder in den Raum kommt. Mein Großvater winkt ihn zu sich heran. »Leyla, das ist Ari. Er ist nicht meinetwegen hier, sondern damit du sicher bist. Seit seiner Ankunft hat er auf dich aufgepasst.«

»Was? Du hast jemanden, den ich nicht einmal kenne, gebeten, auf mich aufzupassen? Ich habe dir schon erklärt, dass ich keine Hilfe brauche – von niemandem! Warum hast du mir nicht einfach die Wahrheit gesagt? Und außerdem«, ich mustere diesen Ari, der im Moment so aussieht, als wäre er lieber an jedem anderen Ort, nur nicht hier, »warum hat er überhaupt mitgemacht? Warum sollte er auf eine Fremde aufpassen wollen?« Ich gehe näher an den Bildschirm heran und senke meine Stimme. »Das ist doch merkwürdig, Opa. Bitte ihn, damit aufzuhören.«

Ari richtet sich auf und verschränkt die Arme.

Großvaters Augen verdunkeln sich. »Das hat er sich nicht wirklich ausgesucht, Queenie. Du hast doch von dem schrecklichen Angriff bei den Färöern gehört?«

Ich nicke und mir wird ganz flau im Magen. »Aber was hat das jetzt mit alldem zu tun?«

Ari geht aus dem Raum. Großvater wartet mit sorgenvoller Miene, bis er verschwunden ist.

Er wendet sich wieder an mich. »Ari kommt von den Färöern. Er hat in dem Ort gelebt, der angegriffen worden ist. Er hat bei dem Überfall jemanden verloren, der ihm sehr nahestand. Sein Vater hatte Angst, wie Ari auf den Tod seines Freundes reagieren könnte, und wusste, dass ich mir Sorgen gemacht habe, weil du verfolgt wirst. Also hat er Ari hierhergeschickt, um ihn abzulenken und für deine Sicherheit zu sorgen. Er ist von weit her gekommen, um uns zu helfen. Und ich werde mich nicht dafür entschuldigen, dass ich etwas unternommen habe, um dich zu schützen, mein Kind. Ich wünschte nur, ich hätte es dir gleich erzählt.«

Ich überlege einen Moment und schlucke. »Vertraust du ihm, Opa?«

»Ich würde Ben, seinem Vater, mein Leben anvertrauen und ihm vertraue ich deins an. Und wie du weißt, Queenie, brauchen wir gerade jetzt Menschen, auf die wir uns verlassen können. Ich habe ihm alles gesagt, was ich über die ganze Geschichte weiß.«

»Mehr als mir also«, antworte ich und es gelingt mir nicht, die Bitterkeit in meiner Stimme zu unterdrücken. »Wieso brauche ich jemanden, der auf mich aufpasst? Ich will Antworten, Opa. Wo ist Papa? Was geht hier tatsächlich vor? Wenn du mir nicht endlich anvertraust, was du weißt, dann schwöre ich, werde ich jeden, der mir über den Weg läuft, danach fragen. Ich werde nicht aufhören, Fragen zu stellen, bis –«

Er versucht wieder, mich zu überreden zu warten, bis er bei mir ist, aber schließlich nickt er seufzend. Er lässt die Schultern hängen und sieht mich bedrückt an. Ich beginne, an meinen Nägeln zu kauen.

»Es bricht mir das Herz, dir das alles jetzt zu erzählen, Queenie. Ich habe mich so sehr bemüht, dich vor dem Schmerz zu bewahren. Aber du hast recht, es ist meine Pflicht, dir die Wahrheit zu sagen.«

Ich blicke ihn starr an, ohne zu blinzeln.

»Dein Vater ist nicht von der Polizei verhaftet worden, mein Kind. Er ist … er ist von der Blackwatch abgeholt worden.«

Ich hole schluchzend Luft und schlage mir die Hand vor den Mund. Die unheimliche Blackwatch. Die übermächtige Truppe, die den Premierminister schützen soll. Mein Vater hatte Angst vor ihnen … Ich kann nicht aufhören, den Kopf zu schütteln.

Mein Großvater sieht mich mit schmerzverzerrter Miene an. »Wir sind bei der Arbeit gewesen, als es im Labor plötzlich dunkel geworden ist. In kürzester Zeit sind sie aufgetaucht. Zuerst haben wir beide gedacht, dass es sich um einen Angriff der Anthropoiden handelt. Dein Vater hat sich gut geschlagen, bis sie sich schließlich zu erkennen gegeben haben und ihre Waffen auf uns richteten. Einer von ihnen ging auf deinen Vater los. Ich habe versucht, ihm zu helfen, wurde aber weggestoßen. Das Letzte, was ich von ihm gesehen habe, ist, dass er bewusstlos gewesen ist … und dass zwei Soldaten ihn gefesselt und geknebelt haben und ihn aus dem Raum schleppten. Und dann wurde meine Welt schwarz.«

Ich zucke zusammen. »Nein, nein, nein!« Ich taumle zurück.

Großvater verzieht das Gesicht. »Es tut mir so leid, mein Kind. Sie haben mich einfach dort liegen lassen. Dein Vater ist nicht in Westminster. Ich … ich fürchte, er ist nicht einmal in London …«

»Oh Gott, nein.«

»Leider ja. Wir wissen, dass dein Vater aus der Stadt gebracht worden ist. Aber noch weiß niemand, wo sie ihn festhalten. Er scheint verschwunden zu sein. Verstehst du, Queenie?«

Ich öffne den Mund, um etwas zu sagen, aber meine Lippen zittern zu sehr.

Großvater schüttelt den Kopf. »Wer auch immer hinter dieser Farce von einer Verhaftung steckt, hat die Beschuldigungen gefälscht. Das haben wir von Anfang an gewusst. Es muss jemand sehr Mächtiges sein, dass die Blackwatch auf seine Anordnung hin handelt. Und deswegen ist es für uns so schwierig, damit an die Öffentlichkeit zu gehen. Ich fürchte, es ist leider wenig überraschend, dass deine Bitte um die Freilassung deines Vaters abgelehnt worden ist. Es ist das reinste Chaos, mein Kind. Wir haben ununterbrochen daran gearbeitet herauszufinden, warum man ihn weggebracht hat.«

Ich starre vor mich hin und versuche, die Bedeutung seiner Worte zu verstehen. Aber ich sehe nur Papa vor mir, gefesselt und geknebelt.

»Es tut mir so leid, Queenie. Und jetzt … jetzt haben sie das mit deiner Wohnung gemacht. Du bist alleine nicht mehr sicher.«

Ich schlucke und zwinge mich zu sprechen: »Wir? Du und wer noch, Opa? Die Blackwatch … Was will sie überhaupt von Papa? Und warum hat die Polizei gelogen und mich in dem Glauben gelassen, es handle sich um eine gewöhnliche Verhaftung?« An der Art, wie er den Kopf schüttelt, und an seinem erschöpften Gesichtsausdruck erkenne ich, dass er selbst schon mehr als einmal an diesen Fragen verzweifelt ist. »Opa, was ist, wenn es von jemand so Mächtigem ausgeht wie Captain Sebastian? Ich bin ganz sicher, dass er den Premierminister überzeugt hat, meine Bitte nicht zu erfüllen – ich habe ihn beobachtet. Nach der Zeremonie wirkte er ziemlich angespannt und wütend. Was, wenn das auch mit dem Zustand meiner Wohnung zusammenhängt? Klingt vielleicht weit hergeholt, aber ich glaube, er hängt irgendwie in alldem mit drin. Und er macht mir einfach Angst, wie er einen immer anstarrt und alles im Blick hat.«

»Sebastian ist widerwärtig, eine Schande für unsere Nation, mein Kind. Er ist schlüpfrig wie ein Fisch und zu schlau, um sich erwischen zu lassen. Und ja, ich bin mir ziemlich sicher, dass er eine große Rolle bei alldem spielt.«

Bei seinen Worten schaudere ich. »Oh, Opa, du hättest mir die Wahrheit sagen sollen. Von Anfang an. Meine vielen Besuche bei der Polizei, meine Nachforschungen, die Petitionen, die unzähligen Anfragen bei den Behörden, die Suche nach Hinweisen, die Bitten um rechtliche Vertretung – in all der Zeit hätte ich etwas anderes tun können, um Papa wirklich zu helfen. Ich dachte, alles hängt vom Marathon ab. Oh je, ich habe überlegt, jemanden ernsthaft zu verletzen, nur damit ich das Rennen gewinnen und um Papas Freiheit bitten kann. Jemand hätte sterben können!«

»Es war ein Fehler, dir nicht gleich die Wahrheit zu sagen, mein Kind. Bitte verzeih mir. Ich wollte dich nicht beunruhigen und habe versucht, dich zu beschützen. Du darfst nicht den Mut verlieren. Wir werden deinen Vater niemals aufgeben.«

Ich schlucke und atme tief ein. »Ich weiß, dass du es gut meinst, Opa, und du hast diese Last ganz allein getragen. Aber du hättest mir einfach vertrauen sollen. Dann wäre alles leichter für uns gewesen. Ich bin stärker, als du denkst. Immerhin kenne ich jetzt endlich die Wahrheit.«

Eine Stunde später laufen die Nachrichten. Selbst Hintergrundgeräusche sind jetzt besser, als allein mit meinen Gedanken zu sein. Es wird wieder einmal an die Bedrohung durch die Anthropoiden erinnert. Ich wende mich ab.

Die Worte meines Großvaters gehen mir immer noch im Kopf herum. Die Vorstellung bereitet mir körperliche Schmerzen.

Er hat mich immer wieder gebeten, entweder direkt zu mir kommen zu dürfen oder endlich zu ihm zu ziehen, bis wir die Dinge geklärt haben. Keiner seiner Vorschläge scheint jedoch eine Lösung für irgendetwas zu sein. Nicht wirklich. Ich massiere meine Schläfen. Mein Kopf fühlt sich an, wie das Wasser nach einem Seebeben aussieht, alles nur Sand und Kies – zu trüb, um sich darin orientieren zu können.

Immerhin weiß ich nun, was an jenem Tag passiert ist. Wie kann ich meinem Vater jetzt helfen? Es gibt nichts, was er nicht unternehmen würde, um mir zu helfen. Ich schlinge die Arme um meinen Oberkörper, als eine Erinnerung in mir aufsteigt.

Vor acht Jahren hat es eine Reihe von Rückschlägen bei der Lebensmittelproduktion gegeben, weil die Ernten der Deptford Farm von einem Angriff der Anthropoiden zerstört worden waren. Die Terroristen haben auch die große Anlage für die Bananenzucht bei uns in der Nähe getroffen und sowohl Bananen als auch das Papier, das aus ihren Stängeln und Blättern produziert wird, waren monatelang rationiert, bis endlich welche importiert werden konnten. Ich bin noch zu jung gewesen, um die ganze Tragweite zu verstehen, und machte mir nur darüber Sorgen, dass es zu wenig Papier gab, um weiterhin meine geliebten Landkarten zeichnen zu können. Bald darauf ist eine der größten Eiweißpflanzen des Landes durch ein Seebeben beschädigt worden und es kam zu einer landesweiten Nahrungsmittelkrise.

Mein Vater hat immer wieder gehungert, damit ich genug zu essen hatte, aber ich war noch nicht alt genug, um das zu merken. Er dachte sich Ausreden aus, weshalb er nicht mitessen könne, und erzählte mir beim Nachhausekommen, er wäre auf der Arbeit so hungrig gewesen, dass er bereits gegessen hätte.

Wenn mein Großvater seinen Gewichtsverlust nicht bemerkt und ihn gezwungen hätte, damit aufzuhören … Ich versuche, den Kloß in meinem Hals herunterzuschlucken und den Druck auf meiner Brust loszuwerden. Es gelingt mir nicht. Es gibt einfach so viel, woran ich denken muss. Und was diesen Ari betrifft – ich brauche wirklich niemanden, der auf mich aufpasst! Mein Name geht gerade durch die Nachrichten. Ich sehe mich im Raum um. Ich muss unbedingt ein paar Listen machen.

Ich schaffe es jedoch nicht, mich zu konzentrieren.

Die Behörden haben mich belogen und in dem Glauben gelassen, mein Vater sei in Westminster. Wem kann ich vertrauen? Mir fällt kein einziger Grund ein, warum sich die Blackwatch für meinen Vater interessieren könnte. Sie soll den Premierminister beschützen – und Gott weiß, was sonst noch. Mein Vater hat jedenfalls mit alldem nichts zu tun. Warum haben sie ihn mitgenommen? Worin soll er ihrer Meinung nach verwickelt sein?

Ich kann keine einzige Erinnerung, keine Handlung oder auch nur den Funken eines Beweises dafür finden, dass mein Vater irgendetwas Schlechtes getan hätte. Rein gar nichts deutet darauf hin, dass er jemals wissentlich in irgendetwas Zweifelhaftes verwickelt gewesen wäre. Entweder haben sie einen schrecklichen Fehler gemacht oder jemand hat ihm etwas angehängt. Aber das würde immer noch nicht erklären, weshalb ich von den Behörden belogen werde.

Meine Augen jucken, der steinharte Kloß in meinem Hals scheint immer weiter zu wachsen, während ich versuche, ein bisschen aufzuräumen, damit der Raum sicherer für Jojo ist, wenn sie aufwacht. Nachdem sie das Chaos angeknurrt hat, ist sie vorhin dann doch in ihren Bliss-Pod gesprungen, wo die beruhigenden Klänge und Lichter ihre Wirkung hatten, sodass sie sich schließlich in die große kieselsteinähnliche Form gekuschelt hat.

In den Nachrichten wird berichtet, dass die fünf Bestplatzierten morgen früh in den Büros des Marathon-Ausschusses ihre Papiere und die Schlüssel für ihre neuen Besitztümer erhalten werden. Die Sprecherin listet dann mit aufgeregter Stimme noch einmal die fünf Preisträger und ihre Gewinne auf.

Ich lasse mich gähnend auf das harte Sofa fallen und reibe mir den Nacken.

Die Nachrichtensprecherin erwähnt meinen Namen. Und dann sieht man mich auf dem Podium stehen, wie ich vom Premierminister die Urkunde und die Siegestrophäe überreicht bekomme. Weiß er, dass seine großartige Blackwatch meinen Vater abgeführt hat?

Neben mir auf dem Sofa schimmert etwas, was zwischen den Polstern feststeckt. Ich greife danach und halte unsere Familien-Schneekugel in der Hand. Mein Hals wird ganz trocken und fühlt sich an wie zugeschnürt. Ich betrachte die Schneekugel und streiche mit den Fingern über ihre glatte Rundung. Wer auch immer hier eingebrochen ist, muss sie achtlos weggeworfen haben.

Mein Vater wird nicht so bald nach Hause zurückkehren. Das ist die Wahrheit. Ich schleppe mich auf steifen Beinen zum Fenster. Ein paar Dinge sind nicht von den Wänden gerissen worden. Das Ölgemälde meiner Mutter von Oscar Wilde, mein Lieblingsbild unter all ihren Kunstwerken, hängt schief am Haken, die Leinwand zerstört wie alles andere auch. Warum zerfetzt man eine Leinwand? Haben sie gedacht, mein Vater würde etwas dahinter verstecken?

Haben sie gefunden, wonach sie gesucht haben?

Im Hintergrund erzählt die Nachrichtensprecherin alles über das U-Boot, das ich gewonnen habe.

Ich habe gehofft, heute Abend wieder mit meinem Vater zusammen zu sein. Aber nach alldem ist er nun nicht einmal in London. Die Vorstellung, dass er irgendwo da draußen ist, in wilderen Gewässern … Ich schaue hinaus auf die sich verändernden Formen der dunklen und unruhigen Umgebung. Die abendliche Strömung treibt die Wellen gegen die Gebäudewand.

Wer hat in unserer Wohnung gewütet? Wenn es die Behörden gewesen sind, was wollen sie noch? Sie haben bereits meine ganze Welt.

Wo halten sie dich fest, Papa?

Die Nachrichtensprecherin klingt jetzt richtig begeistert, als sie die technischen Daten meines Schiffs runterrattert. Ich halte inne und höre zum ersten Mal richtig hin. Bei ihren Worten setzt mein Herzschlag für einen Moment aus. Alles steht still. Und dann taucht sie einfach so auf, kommt klammheimlich auf der Strömung angeritten und kracht gegen mich, rücksichtslos und aufwühlend.

Eine wilde, ungeheuerliche Idee.

Ich schaue auf die Schneekugel und kippe sie hin und her, bis aller Glitzer durch die Glaskuppel wirbelt. Die Regenbogenfische schwimmen umher und das winzige U-Boot schaukelt in der türkisfarbenen Flüssigkeit. Ohne zu blinzeln, starre ich in die große Weite draußen vor meinem Fenster. Ich halte den Atem an und schlinge die Arme um meinen Oberkörper.

Wo bist du, Papa?

Das Gesicht gegen die Scheibe gepresst, erschaudere ich angesichts der tintenfarbenen Leere vor mir. Was für eine unheimliche Weite. Was für eine düstere Finsternis.

Die Strömung wird stärker und die Wellen um unser Gebäude steigen an, werden höher und wilder. Ein Sturm braut sich zusammen.

Ich schließe die Augen, atme tief ein und aus und lasse die undenkbaren Gedanken zu.