10
»Auf jeden Fall haben sie auch in deinen Dateien nach etwas Bestimmtem gesucht«, sagt Theo leise. Er runzelt die Stirn, während er schnell alle Dateien prüft und sie dann eine nach der anderen von meiner Wand wischt.
Tabby und ich starren ihn an.
»Sie haben überall herumgeschnüffelt«, fährt er fort. »In deinen persönlichen Dokumenten, den Daten der Behörden, deinen Kontakten, sogar in den Finanzdaten. Sie sind hinter etwas her. Und da wir jetzt mehr darüber wissen, was mit deinem Vater geschehen ist – es muss damit zusammenhängen. Ähm, und das ist noch nicht das Schlimmste. Die Überschreibung des Sicherheitssystems? Die ist von einer Regierungsquelle ausgegangen. In Westminster.«
Die Regierung. Meine Hände und Beine zittern, ein Stein liegt mir im Magen.
Tabby schüttelt den Kopf. »Was, verdammt noch mal, ist hier los? Aber egal, was es ist, deswegen musst du doch nicht gleich London verlassen? Ich verstehe das nicht, Leyla. Ich meine, du hast immer solche Angst davor gehabt, zu reisen und –«
»Bitte, Tabs«, sage ich. »Wir haben bereits darüber gesprochen. Ich mache mich auf jeden Fall auf die Suche nach meinem Vater. Ich frage Großvater um Hilfe. Ich glaube, er weiß sogar noch mehr, als er endlich zugegeben hat, und ich werde ihn bitten, mir den richtigen Weg zu zeigen. Er hat immer wieder ›wir‹ gesagt. Sie wissen, dass mein Vater nicht in London ist, und vielleicht wissen sie sogar noch mehr. Zumindest ist es ein Anfang.«
Theo blickt mit großen Augen auf die Zerstörung im Raum. »Ich unterstütze dich ja in allem, was du vorhast, aber alleine herumzureisen, mit den Anthropoiden da draußen …« Seine Miene verdüstert sich.
»Ich weiß.« Ich gehe näher zu ihnen. »Ich kann es ja selbst kaum ertragen, über sie oder darüber, London zu verlassen, nachzudenken. Aber welche Wahl habe ich denn? Mein Vater ist verschwunden. Irgendwie ist die Regierung in das Ganze verwickelt. Sie lügen uns an. Und jetzt habe ich das U-Boot, also kann ich selbst nach ihm suchen.«
Tabby wirft die Hände in Luft, ihr Gesicht ist blass geworden. »Selbst wenn es dir gelingt herauszufinden, wo sie ihn festhalten – was dann? Leyla, glaubst du, du könntest die Blackwatch irgendwie austricksen?«
»Nein. Aber dann weiß ich endlich, wo er ist und was hier wirklich los ist. Was ich danach tue, entscheide ich dann. Alles besser, als hier rumzusitzen und zu warten.« Ich zeige auf das Chaos im Aufenthaltsraum. »Hier bin ich nicht mehr sicher, nicht wahr? Und ich kann meinen Vater nicht suchen, wenn ich auch festgenommen werde.«
»Aber dieser Ari, von dem du erzählt hast, passt doch jetzt auf dich auf«, sagt Tabby.
Ich zucke mit den Achseln. »Das hat aber nicht verhindert, dass die Wohnung durchsucht worden ist, oder?«
»Nein.« Tabby seufzt. »Wenn ich mir vorstelle, dass du oder Jojo zu Hause gewesen wärt – ihr hättet verletzt werden können …«
Ich habe mich auf das Sofa gesetzt und den Kopf in die Hände gestützt. Ich wünschte, ich wüsste, was man alles vor mir geheim hält.
Theo schüttelt den Kopf. »Und jetzt haben sie versucht, Zugang zu deinen privaten Informationen zu bekommen … Ich kann irgendwie verstehen, warum dein Großvater dir so lange nichts erzählen wollte. Das hier ist richtig stinkender Mist. Hör zu, wenn ich zu Hause bin, schicke ich dir ein Programm und du musst es sofort aktivieren, Leyla. Sobald es hochgeladen ist, können deine Nachrichten, Dateien und alles andere mit einem einzigen Befehl gelöscht werden. Ich meine, sodass sie wirklich fort sind. Glaub mir.«
»Wow. Danke dir.«
Er winkt ab. »Das ist gar nichts, ein Projekt vom letzten Jahr. Das in diesem Jahr wird noch größer und besser, ich hatte nur noch keine Gelegenheit, es zu testen …« Er unterbricht sich, als die Wand am anderen Ende des Raumes aufflackert. »Nur ein Tracer, den habe ich durchlaufen lassen«, erklärt er, tritt näher an die Kommunikationswand heran und überprüft den Datenfluss.
Ich stehe auf, gehe zum Fenster und muss dabei um einen großen Haufen zerstörter Gegenstände herumlaufen. Tabby folgt mir.
Der Drahtlose Mann dröhnt durch die Wohnung und beglückwünscht jemanden in Surrey zur Tötung eines Riesenhais, der es gewagt hat, sich in den städtischen Gewässern herumzutreiben, und die Bewohner in Angst und Schrecken versetzte.
»Ruhe!«, schreit Tabby ihn an; es klingt eher wie ein Zischen.
Dann wird es still und wir starren beide hinaus ins Wasser.
Sie schüttelt den Kopf. »Du musst wirklich nicht weg, Leyla. Wir könnten versuchen –«
»Du musst gehen, Leyla«, kommt Theos Stimme vom anderen Ende des Raums. Sie ist gedämpft und klingt gepresst. »Du musst so schnell wie möglich los.«
Eine Welle kalter Übelkeit steigt in mir hoch.
Tabby und ich sehen uns entsetzt an und gehen dann zu ihm hinüber. Ich folge seinem Blick zu dem codierten Text, der an der Wand schimmert.
»Was ist los, Theo? Was heißt das?«
Er dreht sich zu mir um und schluckt, bevor er antwortet. »Es heißt, dass die Blackwatch höchstpersönlich dich im Visier hat. Du wurdest als Sicherheitsbedrohung eingestuft.« Er senkt den Kopf. »Demnach müssen sie nichts anderes mehr tun, Leyla, als dich mitzunehmen.« Theo legt eine Hand auf seinen Mund und wendet sich tief in Gedanken versunken wieder der Wand zu.
Tabbys Schultern heben und senken sich. »Nein, verdammt, nein …«
Meine Beine haben sofort wieder zu zittern begonnen. Ich taumle ein paar Schritte zurück und Tabby fängt mich auf.
»Ich wusste, dass es schlimm ist«, flüstere ich atemlos. »Aber mir war einfach nicht klar, wie schlimm.«
Tabby hilft mir zum Sofa und wir setzen uns. Sie nimmt meine Hände in ihre, ihre Miene ist jetzt wild entschlossen und ihre Augen funkeln. »Du bist nicht allein, Leyla. Wir lieben dich und holen dich hier raus, bevor sie dich finden.«
Meine Brust schmerzt. »Ich schaffe das schon«, sage ich nickend und frage dann Theo: »Steht da auch weshalb? Warum sie mich beobachten, was sie von mir wollen – und weshalb sie meinen Vater festgenommen haben?«
Theo schüttelt den Kopf. »Nein, tut mir leid, nichts dazu … Du hattest recht. Zu gehen ist jetzt wirklich deine einzige Möglichkeit.« Seine Stimme ist leise und klingt fassungslos. Er fährt sich übers Gesicht. »Okay, du musst dich an den Mechaniker wenden, der für dein U-Boot zuständig ist. Ich brauche für den Anfang eine sofortige Freigabe und vollen Zugriff auf alles. Die Verteidigungs- und Sicherheitssysteme sind schon ziemlich cool, aber ich glaube, da lässt sich noch was verbessern. Wir müssen sicherstellen, dass du für alles gewappnet bist.«
Ich nicke eifrig und bin nicht ganz sicher, wen ich beruhigen will – die beiden oder mich selbst.
»Bist du von Sinnen?!«
»Ich muss weg von hier und Papa finden.«
»Bist du völlig verrückt geworden?!« Großvater senkt seine erhobene Stimme.
Wir sitzen am späten Abend in seinem Arbeitszimmer. Dieser Ari ist zum Glück irgendwo unterwegs, mein Großvater mag ihm ja vertrauen, aber ich kann gut darauf verzichten, dass ein finster dreinblickender Fremder hier herumschleicht.
»Alles, was du kennst, ist London, Queenie – die Welt da draußen ist völlig anders. Wir müssen etwas unternehmen, aber dass du allein durch Großbritannien ziehst, ist bestimmt keine Lösung. Verstehst du das denn nicht? Warum musst du nur so stur sein wie das Meer!« Er macht keinen Rückzieher und läuft nur immer weiter auf seinen Stock gestützt im Raum hin und her: taptap, schlurf, taptap, schlurf.
Ich kaue auf meiner Unterlippe – ich werde es tun müssen, kann es aber auch nur schwer ertragen, ihn so zu verärgern. »Was schlägst du denn vor, Opa? Es ist die einzige Möglichkeit. All diese Dinge, von denen ich dachte, dass die Regierung sie niemals tun würde, dass jemand oder irgendein Gesetzt sie aufhalten würde – all das ist bereits geschehen. Sie haben mir meinen Vater weggenommen, ihn ohne Rechtfertigung verhaftet. Seitdem haben sie ununterbrochen gelogen. Es wird niemand kommen und uns auf magische Weise retten. Ich nehme mein U-Boot und werde nach ihm suchen. Aber ich habe keine Ahnung, wo ich anfangen soll. Und wie du weißt, darf ich, bis ich 18 bin, nicht ohne Begleitung reisen, es sei denn, ich habe Papiere.«
Er lässt die Schultern sinken. »Nach der Verhaftung deines Vaters haben sie mir ein Reiseverbot auferlegt. Wegen des Verbots darf ich auch keine Reisepapiere für andere unterschreiben. Mir ist klar, dass du hier nicht mehr sicher bist, mein Kind. Aber ganz allein durch Großbritannien zu fahren, wäre wie hochzutauchen und die Wasseroberfläche zu durchstoßen, nur um sich dann mitten in einem wütenden Sturm wiederzufinden. Warum verstehst du das nicht, du kannst nicht einfach –«
»Nein, warum verstehst du das nicht, Opa? Aut viam inveniam aut faciam, erinnerst du dich? Du hast mir das beigebracht: ›Entweder ich finde einen Weg oder ich bahne mir einen‹. Ich werde auf jeden Fall losfahren – egal ob ich Papiere oder ein Reiseziel habe. Ich muss weg, bevor sie mich auch mitnehmen – wer soll Papa dann noch helfen?« Meine Stimme bricht und ich verstumme, um mich zu beruhigen.
Jojo springt mir in die Arme und vergräbt ihre Nase in meiner Strickjacke.
Mein Großvater kommt zu mir, stützt sich an der Wand ab und umarmt mich. Ich kuschle mich an ihn. Er riecht wie immer nach Tabak und Vanille. Neben dem Geruch meines Vaters ist dies der wunderbarste Duft der Welt. Manchmal kann ein Geruch dafür sorgen, dass sich deine Stimmung vollkommen verändert oder dass man sich ganz woandershin versetzt fühlt. Gerüche sind wie Zaubersprüche und ich liebe den meines Großvaters sehr.
Ich muss daran denken, wie sein Herzinfarkt ihn kurz nach der Verhaftung meines Vaters eine Zeit lang außer Gefecht gesetzt hat. Das ist für mich die schlimmste Zeit gewesen. Die zwei Menschen, die mir auf der Welt am wichtigsten sind, brauchten Hilfe und ich konnte nichts tun. Als Opa damals so schwach und hilflos in seinem Bett lag, habe ich meine Stirn gegen seine gelegt und ihm versprochen, immer für ihn da zu sein. Ich seufze, mein Blick wandert durch das Arbeitszimmer.
Wohin man auch schaut, hängen Bilder von Mama, Papa und mir. Verschiedene Zitate zieren die Wände, auch mein Lieblingsspruch von Gam zu L’tova: Was auch geschieht, es hat sein Gutes. In den Regalen stehen die schönen wissenschaftlichen Modelle und auf der breiten Fensterbank eine silberne Menora.
Großvater verlagert sein Gewicht und ich umarme ihn fester. »Papa ist irgendwo da draußen, Opa. Er braucht mich, da bin ich mir sicher. Ich kann es spüren. Bitte vertrau mir. Verheimliche nichts mehr vor mir, ja? Ich weiß, du willst mich beschützen, aber ich schaffe das. Ich muss nach Papa suchen.«
Er blickt zur Decke und stößt einen tiefen Seufzer aus. »Bevor ich es überhaupt in Betracht ziehe, musst du mir erst versprechen, dass du mich alle Sicherheitsmaßnahmen ergreifen lässt, die ich für notwendig halte, und –«
»Alles, was du willst. Ich verspreche es!« Endlich. Danke.
»Wenn du gehen musst, dann wirst du dich auf den Weg zu meinem Cottage in King’s Lynn machen und dich nicht von dort wegbewegen, bis ich eingetroffen bin, verstanden? Ich werde kommen, sobald ich wegkann, ohne Verdacht zu erregen.«
Das ist ein Anfang. »Ich bleibe im Cottage, bis du dort bist, versprochen. Und dann plane ich meinen nächsten Schritt. Aber, Opa, was ist mit deinem Reiseverbot?«
»Das werde ich brechen. Wichtig ist nur, dass du in Sicherheit bist, mein Kind. Es gibt so viele Hürden zu überwinden … Wie willst du ohne Papiere reisen? Mir fällt da nur Vivian Campbell ein, aber es würde sie in Gefahr bringen, wenn –«
»Nein«, sage ich, »Vivian kann ich nicht fragen.« Großvater hat recht, es würde nur einen Verdacht auf die Mutter der Zwillinge werfen. Sie würden ihren Sponsorenantrag niemals genehmigen und die Campbells sehr wahrscheinlich unter Beobachtung stellen.
»Captain Sebastian wird dir auf den Fersen sein, und wenn du nur einen Fehler begehst –«
»Lass uns jetzt aufhören, uns darüber zu sorgen, was noch alles passieren könnte, Opa. Wir können uns Gedanken darüber machen, wenn es so weit ist. Ich will mich nicht von der Angst davon abhalten lassen, es überhaupt zu versuchen. Und …«, ich hebe die Augenbrauen, »an etwas haben wir noch gar nicht gedacht: die Forscher-Erlaubnis. Sie können der Siegerin des London Marathons einen Platz bei den berühmten Forschern kaum verweigern.«
Ich atme tief ein, um beim Ausatmen so viel Anspannung wie möglich loszuwerden. Jedes Mal wenn ich an meinen Plan denke, steigt eine schreckliche, abgrundtiefe Panik in mir auf.
Schreckliche Panik und ein kleiner Hoffnungsschimmer.