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»Ein Unheil, meine Liebe«, verkündet der Navigator feierlich. »Der Test über die Leistung des Anti-Tracking-Schutzes ist leider negativ ausgefallen. Die Funktion der Modifikation scheint auf irgendeine Weise behindert zu sein. Wenn ich eine Vermutung wagen darf, würde ich annehmen, dass der magnetische Sturm, der gegenwärtig an der Oberfläche tobt, der Grund für diese Störung sein könnte.«
Verdammt. Ich werde in den Überwachungssystemen des Verkehrsverordnungsamts auftauchen und die Behörden werden sich das zunutze machen – wenn sie nicht schon längst auf meiner Fährte sind. Ich versuche, mich von diesem Rückschlag nicht aus der Fassung bringen zu lassen, und weise Oscar an, einen Zwischenstopp in Brighton Pier in Belvedere einzulegen, bevor wir weiter zur Grenze fahren. Sobald Theos Freundin die Technik repariert hat, sind wir wieder weg.
Doch erst einmal ist es Zeit für ein warmes Getränk. Die Kombüse ist wunderbar und größer als die Küche in unserer Wohnung. Der Raum ist mit Schränken aus Erlenholz mit Kupfergriffen ausgestattet und überall verlaufen bronzefarbene Rohre. Hinter dem Retrodesign verbergen sich nur neueste Technik und Geräte. Direkt neben der Küchenzeile hängen Pflanzentöpfe an Schnüren von der Decke – mein eigener Hydrokulturgarten!
Zurück im Salon nippe ich an dem heißen Kakao, während ich mir das große, reich verzierte Regal voller Bücher ansehe. Und alle diese Bücher gehören mir! Ich kann nun an den Seiten riechen und mich darin verlieren, so oft ich will. Mein Lächeln wird breiter. Hinter jedem Buchdeckel steckt eine ganz andere Welt. Und all diese Welten – fremd und bekannt, seltsam und wunderbar – und all die verschiedenen Figuren, mit ihren Hoffnungen, Träumen und Abenteuern befinden sich hier in diesem Regal. Magisch.
Ich greife nach einem zusammengerollten Bild von meinem Vater und mir, dessen Rahmen bei dem Einbruch zerstört worden ist. Es ist ein Foto von meinem fünften Geburtstag – dem ersten ohne meine Mutter. Papa hat versucht, alles ganz besonders schön zu machen. Ich halte eine Swasi-Prinzessinnen-Puppe in der Hand, die ich mir über ein Jahr lang gewünscht hatte. Es ist eine Vintage-Puppe gewesen, deswegen hat es länger gedauert, bis mein Vater genug dafür gespart hatte.
Ich hänge das Bild an die Wand, in die Nähe einer tickenden Uhr mit einem freigelegten, so kompliziert aussehenden Uhrwerk, wie ich es noch nie gesehen habe. Ein Gedanke steigt in mir auf und ich fühle mich gleich besser.
Zum allerersten Mal seit mein Vater verschwunden ist – und obwohl ich weiß, dass seine Situation ernster ist, als ich zunächst befürchtet hatte –, ist auf eine Erinnerung an ihn nicht das Gefühl vollkommener Verzweiflung gefolgt. Endlich kann ich etwas Konkretes unternehmen, um ihn zu finden.
Jetzt setze ich mich in den lavendelfarbenen Sessel neben dem Bücherregal und überdenke im warmen Licht einer kunstvollen bronzefarbenen Stehlampe noch einmal meine Reise aus London. Gerade befinden wir uns kurz vor Canary Wharf, genau auf dem richtigen Kurs. Weiter fahren wir dann Richtung Belvedere zu der großen Indoor-Strandanlage. Je schneller die Modifikation in Ordnung gebracht wird, desto besser.
Jojo ist nach wie vor ganz aufgekratzt, führt ihre Erkundungstour durch das Schiff fort und beachtet meine Rufe gar nicht. Sie hat sogar die Hälfte des Abendessens stehen gelassen, das Dummerchen. All die Aufregung scheint viel zu viel für sie zu sein.
Die abendlichen dunklen Gewässer erstrecken sich endlos nach allen Seiten hin. Ich gehe zum Aussichtsfenster und bleibe in einigen Metern Entfernung vor dem überwältigenden Ausblick stehen. Die Wellen rollen vorbei und umlaufen den Bug, während die Kabul hindurchpflügt. Es ist unmöglich, etwas im Dunkeln zu erkennen. Das einzige Licht kommt von den Solarkugeln und den vorderen Scheinwerfern des Schiffs. Es ist, als würde man sich durch ein riesiges Nichts schieben, ohne zu wissen, was einem begegnet.
Wenn nur das vertraute strahlend weiße Licht der Straßenlaternen irgendwie bis hierher scheinen würde. Und wie seltsam es ist, nicht mehr auf die schattenhaften Formen der vor einem aufragenden Gebäude zu stoßen. Auch das Meeresleben ist hier teilweise anders. Der grelle Lichtstrahl des Schiffs zieht ganze Schwärme von wild gemusterten Fischen an.
All die Warnungen vor den unbekannten Schrecken aus der Tiefe fallen mir auf einmal ein und ich beginne zu zittern.
Wo verdammt noch mal ist Jojo? Ich rufe nach ihr und bekomme von irgendwoher ein fröhliches, weit entfernt klingendes Bellen zur Antwort, aber sie taucht nicht auf. Ich hole stattdessen Oscar herbei.
Der Navigator erscheint in wunderbarer Aufmachung, er trägt ein Rüschenhemd und eine ziemlich schicke Reithose. Er fährt sich durch sein Haar, als wäre er sich seiner Aufmachung bewusst.
»Ist alles in Ordnung, Oscar?«
»Alles in bester Ordnung, meine Liebe. Wir sind auf Kurs für den Zwischenstopp in Brighton Pier. Obwohl die Behörden das Gebiet überprüfen, gibt es noch keine Meldung über eine mögliche Behinderung unseres Reisewegs. Darf ich Ihnen bei irgendetwas behilflich sein?«
»Schau dir das an«, flüstere ich.
Er beobachtet mit mir zusammen die vorbeiziehende Umgebung.
»Es ist … es ist ziemlich beängstigend, nicht wahr?«
Mit fragender Miene dreht er sich zu mir um. »Warum erschreckt Sie die Aussicht?«
»Nun, wenn es zu dunkel ist, um etwas zu sehen, könnte sich da draußen fast alles verstecken.«
»Meine Liebe, das wahre Geheimnis der Welt liegt im Sichtbaren, nicht im Unsichtbaren.«
Seine Stimme klingt verwundert, das gefällt mir. »Aber wenn man es sehen kann, wie kann es dann ein Geheimnis sein? Es ist sichtbar, also weiß man, was es ist. Und wie könnte das genauso beängstigend sein, wie es nicht zu wissen? Nein, Oscar.« Ich schüttle langsam den Kopf, während ich die Aussicht weiter auf mich wirken lasse. »Ich kann mir nichts Schlimmeres vorstellen, als es nicht zu wissen.«
Das U-Boot schwankt ein wenig und meine Muskeln spannen sich an. Etwas zu essen. Das ist es, was ich jetzt brauche.
Kurz darauf trage ich einen Teller mit dampfendem Kabuli Palau, einem afghanischen Reisgericht, zurück in den Salon. Außerdem einen Snack für Jojo, falls das aufgedrehte Hündchen sich jemals dazu entschließen sollte, wieder aufzutauchen. Ich werfe zwei Plüschkissen auf den Boden, setze mich mit überkreuzten Beinen darauf und lasse mir den köstlichen Reis und das Fleisch schmecken, dessen würziges Safranaroma mich ganz einnimmt.
Ob es eine gute Idee ist, ein leckeres Essen zu sich zu nehmen, während man auf endlose Wassermassen schaut und sich vorstellt, darin unterzugehen? Wahrscheinlich nicht. Wer Jungfrau als Sternzeichen ist, der macht sich gern Sorgen, sagt mein Vater immer. Jungfrauen bleiben gern realistisch. Hm, vielleicht aber lieber auch nicht so verdammt realistisch. Ich wende meinen Blick ab.
Mir fällt etwas Reis aus dem Mund, als Oscar ohne Vorwarnung neben mir erscheint. Daran muss ich mich wirklich noch gewöhnen.
»Meine Liebe, Belvedere naht.«
»Danke, Oscar.«
Das Boot fährt weiter. Als ich wieder aus dem Fenster sehe, taucht etwas am Rand der Scheinwerferkegel auf, das sich auf und ab bewegt. Es treibt in die hellere Beleuchtung neben dem Schiff. Was in aller Welt ist das? Nein! Ich schlage mir die Hand vor den Mund, während mir eisige Kälte in die Glieder fährt.
Es ist eine aufgeblähte Wasserleiche, die schon halb verwest ist. Ein Erwachsener, da bin ich mir sicher. Die Haare wehen um das Gesicht, der Mund steht offen und die Augen sind zu einem hohlen Blick erstarrt. Im grellen Licht des Fahrzeugs wird sein ohnehin schon schrecklicher Zustand schonungslos hervorgehoben. Der Körper ist in Seile und ein dünnes Material gewickelt – ein selbst gemachtes Segel. Mein Mund wird trocken. Dieser arme, arme Mensch.
Er muss versucht haben, an der Oberfläche zu überleben.
Seitdem die Erde sich so vollständig gewandelt hat, treiben dort oben immer wieder ganz plötzlich auftauchende und sehr heftige Stürme ihr Unwesen. Die riesigen zerstörerischen Wellen sind tödlich für alles und jeden. Selbst die Ingenieure, die alle Solarkollektoren und -kugeln, Satellitenschüsseln und Sauerstoffleitungen warten, tragen Schutzkleidung, wenn sie an die Oberfläche müssen. Hier unten sind wir alle sicherer. Ich verstehe nicht, warum manche Menschen alles riskieren, um oben zu leben, bevor es für uns dort sicher genug ist …
Der Körper treibt im kalten Licht, das vom Boot ausgeht, weiter und dreht sich dabei. Bald ist er außer Sichtweite. Ein Bild meines Vaters, wie er bewusstlos im Labor am Boden liegt, blitzt vor meinem inneren Auge auf. Schmerz pulsiert in meiner Brust. Ich laufe auf den Gang, die Arme um meinen Oberkörper geschlungen.
»Jojo!«
Ich beginne meine Suche in den Räumen mit uneingeschränktem Zugang und höre gedämpfte, zufriedene Laute des Welpen von der unteren Ebene. Dieser Schlingel! Ich klettere die Leiter hinunter und Jojos vertraute Geräusche werden immer lauter. Was in aller Welt …? Sie kommen aus dem Kontrollraum. Das ist doch nicht möglich! Wie sollte Jojo dort hineingelangt sein?
Ich betrete den Kontrollraum. Jojo scheint es gut zu gehen, zum Glück. Sie sitzt neben der Sonarstation und knabbert an einem Leckerli. Als sie mich sieht, wedelt sie zur Begrüßung mit dem Schwanz.
»Jojo? Wie bist du hier reingekommen? Und wo hast du das Leckerli her?«
Ich blicke mich um. Gibt es einen zweiten Eingang? Unmöglich. Aus dem Augenwinkel erkenne ich, wie etwas vorbeihuscht. Was zum … Mein Puls beschleunigt sich.
Habe ich mir das nur eingebildet? Nein, da ist auf jeden Fall etwas gewesen.
Ich gehe um das Kommunikationsboard herum und bewege mich vorsichtig durch den Raum. Was zum Teufel ist hier los? Ich lege eine Hand auf meinen Bauch und zwinge meine Füße zum Weitergehen. Wieder nehme ich aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahr. Meine Hände zittern – hätte ich bloß meinen Regenschirm bei mir! Meine Handflächen werden feucht. Nichts zu sehen.
Ich schleiche um einen hohen Spind herum und springe schreiend hoch. Mit aufgerissenen Augen und offenem Mund bin ich vor Schreck wie gelähmt.
Vor mir steht Ari, ganz still und mit einem unlesbaren Ausdruck in den feurigen bernsteinfarbenen Augen.