Kap

15

Theos Freundin Sam wartet schon direkt hinter der Luke. Sie trägt das bekannte weiße T-Shirt der Anlage, auf dem der blaue Schriftzug »Brighton Pier« über einem Bild des Piers in der Alten Welt zu sehen ist. Sie hält ihr Handgelenk hoch und ihr Armband bestätigt ihre Identität.

Ihr sommersprossiges Gesicht strahlt, während sie sich ihren Rucksack auf den Rücken hievt und, ohne Luft zu holen, vor sich hin plappert: »Stimmt es, dass du auf Reisen gehst? Hat Theo gesagt. Mich wirst du da draußen nie erwischen, viel zu gefährlich mit all den Biestern in der Nähe. Und – oh, hallo!«

Ich folge ihrem Blick und runzle die Stirn. Ari ist aus dem Schiff gestiegen, um nach mir zu sehen. Ich gebe ihm ein Zeichen, dass er gehen soll. Er blickt mich finster an und bleibt unschlüssig stehen.

»Wow, wer ist denn das?«

»Was? Niemand. Ich kenn ihn nicht einmal.«

»Ähm, ist er nicht grade aus deinem U-Boot gekommen?«

»Was auch immer. Ich kenne ihn wirklich nicht!«

»Naaa gut. Oh, Glückwunsch zum Marathon! Du hast es echt gerockt! Oh mein Gott, ich verabscheue Paul Martin – er hat den zweiten Platz echt nicht verdient! Er hätte dich ernsthaft verletzen können, wenn du ihm nicht aus dem Weg gefahren wärst! Totaler Mist.«

»Total.« Ich grinse. »Danke. Ich hoffe, du hast nicht zu lange warten müssen.« Ich rausche an Ari vorbei und er folgt uns zurück ins Schiff.

»Ich bin gerade mit meiner Schicht fertig – perfektes Timing also!« Sam feuert eine Frage nach der anderen über mein Boot ab, während sie sich umsieht. »Ich muss vor allem in den Kontrollraum und danach brauche ich noch ein paar Minuten im Maschinenraum. Die ganze Sache dürfte nicht länger als eine Stunde dauern. Ich fasse es nicht, dass du eins der alten Wrights aus den 70ern hast!« Ihr Gesicht leuchtet auf, als sie das Innere des U-Boots erblickt, und sie pfeift anerkennend. »Es ist mega! Deutsche Ingenieurskunst, japanische Technik in allen Wrights – nice!«

Mein Grinsen wird breiter. Es ist fast, als würde Theo vor mir stehen. Wir begeben uns auf den Weg zum Kontrollraum und kaum dort angekommen, macht Sam sich an die Arbeit. Ari scheint sich in Luft aufgelöst zu haben, zum Glück.

Ich laufe nervös durch den Raum. Ich sollte einfach gehen. Hier verschwende ich nur meine Zeit damit, darüber nachzudenken. Warum sollte ich hier rumsitzen, wenn ich am Strand sein könnte? Es dauert ja nicht lang – rein und wieder raus.

Sam ist voll und ganz in ihre Arbeit vertieft. »Der Navigator hatte recht. Die Technik ist von dem magnetischen Sturm durcheinandergebracht worden. Aber das habe ich im Handumdrehen repariert.«

Wunderbar, nur ein kurzer Abstecher und schon bin ich wieder zurück. Ich sage Oscar und Sam Bescheid, ziehe mich um und verlasse das Schiff Richtung Strand.

Als ich auf dem Weg ins Zentrum der Anlage bin, wird ein weiteres Seebeben gemeldet. Dieses Mal hat es Richmond Park im Südwesten Londons getroffen. Hoffentlich wurde niemand verletzt.

Je näher ich dem Strand komme, desto lauter werden der Lärm und die Musik. Schnell eine Eintrittskarte gezogen und schon blicke ich auf den Ort, an dem ich zusammen mit meinem Vater ein paar wunderschöne Tage verbracht habe, als er mich zu meinem 14. Geburtstag mit einer Reise hierher überrascht hat. Wärme breitet sich in meiner Brust aus. Einen Augenblick lang stehe ich einfach nur da und nehme alles in mich auf. Es ist einfach großartig.

Die größte Freizeitanlage von London: Es ist, als würde die freie Landschaft sich ewig weit in alle Richtungen erstrecken. Unmöglich zu sagen, wo in der Ferne die echte Landschaft endet und die Projektionen beginnen. Ich ziehe meine Schuhe aus, grabe die Füße in den Sand und setze dann meinen Weg fort. Ein kleiner Junge schenkt mir ein Zahnlückengrinsen, bevor er an seiner Sandburg weiterarbeitet. Ich blinzle in das blendend helle Licht der »Sonne«.

Unter dem klaren blauen Himmel geht es geschäftig zu. Kinder lassen Drachen fliegen, Tauben und Möwen segeln gurrend und krächzend durch die Luft. Ich recke die Arme in die Höhe, die heiße Luft ist himmlisch. Meine Haut kribbelt.

Wie muss es gewesen sein, verschiedene Jahreszeiten und wechselndes Wetter auf der Erde zu haben? Unterschiedliche Temperaturen, Anblicke und Gerüche zu kennen? Den Wind im Gesicht und Regentropfen auf der Haut zu spüren, die Hand auszustrecken, um eine Schneeflocke zu fangen, und zuzusehen, wie sie darin schmilzt. Was ist das wohl für ein Gefühl gewesen?

Als ich an einem hell erleuchteten Musikpavillon vorbeigehe, klingen Musik und Gesang zu mir herüber. Hohe, mehrfach gewundene Rutschen werden mit Begeisterung benutzt und in der Ferne erklimmen andere Urlauber die grauen Felswände. Ein Karussell flackert leuchtend orangefarben, gelb und rot, während Kinder ebenso wie Erwachsene sich auf den Tierfiguren im Kreis drehen lassen.

Ich betrachte das türkisfarbene lebhafte Wasser. Wenn das Wasser draußen doch nur so klar und durchsichtig wäre! Was für eine Vorstellung, das alles machen zu können: die Tiefen des Meers zu erkunden, auf seiner Oberfläche zu schwimmen und dann, wenn man genug davon hat, an Land zu gehen und in den Himmel zu schauen. Die Menschen in der Alten Welt konnten das alles. So viele Welten in einer. Ist das der Grund, warum die Leute zu allem bereit wären, nur um an die Oberfläche zurückzukehren? Wahrscheinlich hat Deathstar recht, die Forscher sind großartige Leute, weil sie ihr Leben riskieren, um einen Weg zu finden, damit all das für uns wieder möglich wird. Und ich sollte mich wirklich nicht mehr über die hohen monatlichen Raten beschweren.

Richtig, es wird Zeit zurückzugehen, aber zuerst grabe ich meine Füße tiefer in den warmen weißen Sand und wackle mit den Zehen. Ich bücke mich, schaufle ein bisschen Sand in meine Hand und lasse ihn durch meine Finger rieseln. Unter mir bebt ganz schwach der Boden.

Ich schaue genauer hin. Vor meinen Augen hüpfen die Sandkörner hoch, während ich spüre, wie der Boden erneut bebt. Ist das normal? Ich richte mich auf und sehe mich um. Niemand sonst scheint besorgt zu sein. Vielleicht ist das eine neue Attraktion? Vielleicht haben sie –

Der Himmel flackert und dann beginnen die Vögel zu verschwinden.

Eine Möwe, die auf den fernen Horizont zufliegt, ist auf einmal weg, nur um kurz darauf im Flug erstarrt wieder zu erscheinen. Ich trete einen Schritt zurück. Wenn es sich bloß um einen technischen Fehler handelt, warum fühlt sich der Boden dann so merkwürdig an?

Auf einmal verwandelt sich der ganze Himmel – alle Wattebauschwölkchen, alle Drachen, alle Vögel und selbst die strahlende Sonne werden zu starren, grellfarbenen Linien. Ich zittere. Jetzt bemerken auch die anderen Leute die Veränderungen, blicken sich um und zeigen nach oben. Das sieht ganz falsch aus. Ohne den blauen Himmel wirkt die Atmosphäre in der gesamten Anlage völlig anders – unangenehm und surreal. Mir dreht sich der Magen um. Ein Alarm ertönt. Die Beleuchtung flackert und wird schwächer. Ich schaue hoch und erstarre.

Die bunten Streifen sind weg. An ihrer Stelle ist nun das durchsichtige Dach der Anlage erschienen. Die riesige kuppelförmige Abdeckung, die normalerweise für die Urlauber unsichtbar ist, umgibt uns vollständig. Ohne Hologramme oder andere Projektionen, die sich sonst wie ein Schleier davorschieben, bildet der echte Ausblick einen großen Kontrast zum normalerweise inszenierten Inneren. Die dunklen abendlichen Gewässer wirbeln und schäumen über dem Bauwerk. Jemand schreit und dann bricht Chaos aus.

Die Leute springen aus ihren Liegestühlen auf und die Gruppen um das Kaspertheater und die Zuckerwatte- und Eisstände lösen sich augenblicklich auf.

Ein Tier, das größte, das ich jemals gesehen habe, schwimmt über dem Dach der Anlage. Ein riesiger Schatten. Ich bleibe wie angewurzelt stehen, ein kaltes Stechen in der Brust. Es ist eine Art Wal, der hin und her gleitet. Jedes Mal wenn die dunkle Gestalt sich wieder nähert, scheint sie größer zu werden. Die leeren Augen starren geradeaus. Um mich herum blinken nun unheimliche rote Lichter auf und dann ertönt eine Durchsage:

»Achtung, Achtung: Brighton Pier wird von Anthropoiden angegriffen.«

Oh mein Gott!

»Bitte räumen Sie in geordneten Bahnen das Gebäude«, fährt die Stimme fort. »Bleiben Sie nicht stehen. Bitte bleiben Sie ruhig und verlassen Sie sofort das Gelände.«

Von allen Seiten sind verängstigte Rufe zu hören. Die Durchsage wird ständig wiederholt. Die Mitarbeiter der Anlage geben laute Anweisungen und versuchen, eine schnelle Räumung zu organisieren.

Ein weiteres Beben, dieses Mal stärker. Ohne abzuwarten, bis das Karussell zum Stehen kommt, springen Menschen in Panik von den Reitfiguren. Hilferufe klingen von den Felsen herüber, wo die Kletterer nun in den Halteseilen baumeln.

Ich wanke. Dann stampfe ich mit den Füßen auf, um wieder Gefühl in die Beine zu bekommen. Es bringt nichts. Ich atme tief ein und aus: Denk nach. Unmöglich. Wie werden sie angreifen? Mit Fernfeuerwaffen? Einer Explosion? Greifen sie uns sogar selbst an? Meine Gedanken springen rasend schnell von einer schrecklichen Möglichkeit zur nächsten. Übelkeit steigt in mir auf und droht mich zu ersticken. Das Schlucken fällt mir schwer. Anthropoiden.

Wir sind wie die kleinen Zierfische in einem armseligen Fischglas der Alten Welt. In der Falle.

Die schattenhafte Gestalt rammt wieder das Dach. Konzentrier dich! Jojo … Geht es ihr gut? Wird das U-Boot den Angriff überstehen? Ein Schluchzen, ganz in meiner Nähe. Der kleine Junge, der eben noch seine Sandburg gebaut hat, sitzt weinend inmitten des Durcheinanders von Schreien und Sirenen. Hoch über ihm schwankt halterlos eine der gewundenen Rutschen.

Auf einmal kommt Leben in mich, ich stürze zu ihm, packe ihn am Handgelenk und wir flüchten. Die Rutsche kracht hinter uns herunter und die allgemeine Panik nimmt noch zu. Die Mutter des Jungen schreit auf und entdeckt ihren Sohn. Sie reißt ihr Kind von mir weg und rennt mit ihm davon. Ein weiteres Beben.

Ich zittere. Was tue ich hier eigentlich? Ich muss hier weg. Und zwar sofort. Ich werfe mich in das Gewühl der Menschen, die den Strand entlang zu den Einstiegsluken laufen. Ich versuche, mich durch die Menge zu drängen, aber vergeblich. Wir sind zu viele auf zu engem Raum und ich komme nicht voran.

Ich laufe auf die schwankenden Bäume zu. Dort sind deutlich weniger Menschen und sie sind viel schneller unterwegs. Ich zwinge mich, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Jojo und Sam … Was ist, wenn das U-Boot –

Ein gewaltiger Stoß und ich verliere den Boden unter den Füßen. Ich segle durch die Luft.

Um mich herum pulsieren grelle Farben und sämtliche Geräusche stürmen auf mich ein: Alarmsignale, Schreie, Weinen und von irgendwo weit weg etwas, das wie Jojos Bellen klingt. Ich knalle auf den Boden auf. Mein ganzer Körper schreit stumm.

Die hohe Palme über mir zersplittert krachend und schwankt in meine Richtung, als eine dunkle Leere über mich hereinbricht.