Kap

18

Nach einer Tasse Tee sieht die Welt immer gleich viel besser aus. Ich trinke die beruhigende Flüssigkeit in kleinen Schlucken und knabbere an einem Scone, während das U-Boot durch die Londoner Gewässer in Richtung Wald pflügt.

Jojo ist damit beschäftigt, einem saftigen Knochen hinterherzujagen, der durch den Raum schwebt. Aber ganz gleich, wie schnell das Hündchen auch ist, die Projektion kann es nie einholen. Jojos Hinken ist völlig verschwunden, zum Glück hat Ari sich um sie gekümmert. Warum hat sie mich nicht auf seine Anwesenheit aufmerksam gemacht? Sie sollte mir gegenüber loyal sein.

Die Worte meines Großvaters fallen mir wieder ein: Er ist hier, um für deine Sicherheit zu sorgen.

Der Tee erfüllt seinen Zweck. Ich bereite Ari auch eine Tasse zu und gehe damit in den Kontrollraum. Er ist nicht dort, also suche ich im Maschinenraum nach ihm.

Als ich den Raum betrete, schlagen mir Hitze und das ständige Dröhnen der Maschine entgegen. Ein Gewirr aus Rohren, das überall an den Wänden und sogar über meinem Kopf entlangläuft. Ich bin umgeben von Anzeigen, Hebeln, Ventilen und Tanks in allen Formen und Größen und aus den unterschiedlichsten Materialien. Ich blicke mich suchend um, bis ich ihn entdecke.

Ari trägt kein Hemd und sein Rücken und die Schultern glänzen feucht. Jetzt gerade überprüft er jedes Ventil und liest alle Anzeigen ab. Unter seiner kupferfarbenen Haut sieht man bei jeder Bewegung das Spiel seiner Arm-, Schulter- und Rückenmuskeln. Wie kann man gleichzeitig anmutig und so unglaublich stark aussehen?

Ich wende schnell den Blick ab, verschütte in meiner Hektik etwas Tee und schnaube genervt.

Er schaut in meine Richtung, so durchdringend wie immer. Doch dann wird seine Miene auf einmal besorgt.

»Ist alles in Ordnung?«

»Ja.« Werd jetzt bloß nicht rot. »Du weißt, dass Oscar uns darauf aufmerksam machen würde, wenn irgendetwas überprüft werden müsste? Und die Messwerte im Kontrollraum sehen alle gut aus.«

Er nickt. »Ich wollte nur auf Nummer sicher gehen. Manche Probleme tauchen erst auf, wenn das Boot unterwegs ist. Aber so weit scheint alles in Ordnung zu sein.«

Ich stelle den Becher ab. »Ähm, hier ist Tee.«

Er starrt den Becher an, einen leicht überraschten Ausdruck in den Augen. Als unsere Blicke sich treffen, wird seine Miene sofort wieder verschlossen. Er schlendert an mir vorbei, um eine Druckanzeige zu checken – er läuft barfuß und scheint sich hier ganz zu Hause zu fühlen. Ein Geruch nach warmem Holz, Blättern und Wasser geht von ihm aus. Vielleicht würde ein Wald so riechen wie er.

»Ich mag keinen Tee«, sagt er. »Ich trinke nur Kaffee.«

Echt jetzt? Wie kann man keinen Tee mögen? »Tja, das ist natürlich schade. Ich mag keinen Kaffee, also habe ich nur Tee mit an Bord gebracht.«

»Ich habe alles, was ich brauche.«

Oh Mann. Er ist nicht der Einzige, der sich wünscht, dass er nicht hier an Bord meines U-Boots wäre. Er macht mich noch wahnsinnig! Ich kann ihn einfach nicht leiden. Aber ich muss ihn unbedingt etwas fragen. »Was weißt du alles über meinen Vater? Irgendetwas, was ich nicht weiß?«

Die Frage hat ihn unvorbereitet erwischt und er starrt mich an, bevor er sich gegen einen Tank lehnt und die Hände in die Hosentaschen gleiten lässt. Sein Gesicht hat sich gerötet, seine Haut glänzt und seine Augen strahlen hell. »Kommt darauf an«, antwortet er schließlich und sieht mich zurückhaltend an, »was du weißt.«

»Mein Vater ist eines Tages zur Arbeit gegangen und nicht mehr nach Hause zurückgekehrt. Die Polizei erklärte mir, er sei verhaftet worden, weil er Leuten, die unter der Seekrankheit leiden, dabei geholfen hätte, sich das Leben zu nehmen – eine verdammte Lüge. Mein Großvater hat mir vor Kurzem endlich die Wahrheit gesagt, nämlich, dass er von der Blackwatch gefangen genommen worden ist. Die Behörden behaupten, mein Vater würde in London festgehalten, was ebenfalls gelogen ist. Großvater weiß, dass man ihn aus der Stadt gebracht hat. Es gibt keinen einzigen Beweis, der die Anschuldigungen gegen meinen Vater untermauern würde. Das ist alles, was ich weiß. Und du?«

Er runzelt die Stirn, während er aufmerksam vor sich hin starrt. Dann wird seine Miene wieder verschlossen und er zuckt mit den Achseln.

»Ich bin nur hier, weil mein Vater darauf bestanden hat, dass ich seinem Freund helfe. Dein Großvater hat mich gebeten, dafür zu sorgen, dass du sicher bis nach King’s Lynn gelangst. Sobald du in seinem Cottage bist, kehre ich zurück in mein eigenes Leben. Das ist alles, was ich weiß.«

Ich halte seinen Blick fest, ohne zu blinzeln.

Schließlich flackern die bernsteinfarbenen Tiefen seiner Augen und er seufzt. »Kam dir schon irgendwann einmal etwas merkwürdig vor, bevor dein Vater vermisst wurde?«

»Was zum Beispiel?«

»Hast du jemals davon gehört, dass auch andere Leute verschwunden sind?«

Ich überlege und versuche, mich zu erinnern. »Manchmal, ja. Gerüchte hier und da. Aber sie wurden verhaftet, weil sie etwas Unerlaubtes getan hatten.«

Er hebt eine Augenbraue.

Ich funkle ihn an. »Mein Vater ist unschuldig!«

»Ich weiß«, sagt er.

Mein Mund öffnet sich, schnell schließe ich ihn wieder. Was für eine Erleichterung, wenn jemand einem zustimmt!

»Aber«, fährt er fort und ein bitterer Unterton schleicht sich in seine Stimme, »vielleicht waren die anderen Verschwundenen ja auch unschuldig? Hast du dich das jemals gefragt?« Er verschränkt die Arme. »Ihr Leute … Hauptsache glücklich in eurem eigenen Leben, ganz egal, was mit anderen geschieht – solange es euch nur gut geht. Und immer schön alles glauben, was euch erzählt wird.«

Ich trete von einem Fuß auf den anderen. Warum zählt er mich zu diesen »Leuten«? Er macht mich wirklich noch wahnsinnig! »Was meinst du damit? Warum sollte ich ganz normale Verhaftungen merkwürdig –«

Er richtet sich auf, presst die Lippen zusammen und fährt sich mit der Hand durch die Haare. Als bereue er seinen Ausbruch, wendet er den Blick ab. »Hör mal, es ist, wie ich gesagt habe: Ich bin nur hier, um aufzupassen, dass du in Sicherheit bist. Wenn wir das Cottage in King’s Lynn erreicht haben, ist der Fall für mich erledigt.«

Ich öffne den Mund, aber bevor ich etwas erwidern kann, taucht Oscar auf.

»Meine Liebe, es scheint, als seien wir in umkämpftes Kraut-Gebiet gelangt. Unglücklicherweise befinden wir uns inmitten eines ziemlichen Tumults zwischen gegnerischen Banden.«

Wir hasten beide zurück nach oben in den Salon. Kopfschüttelnd nehme ich die Informationen in mich auf und spähe hinaus ins Wasser. Obwohl mir die Gefahr bewusst gewesen ist, habe ich es trotzdem geschafft, direkt hineinzugeraten. »Oscar, sofort in den Verteidigungsmodus wechseln und weiter aufmerksam bleiben«, sage ich.

»Greif sie an«, drängt Ari und entblößt seine Zähne. »Damit wir weiterfahren können.«

»Auf keinen verdammten Fall! Die Kabul ist ausgestattet mit den besten Verteidigungssystemen – wir müssen Deathstars und Theos Technik vertrauen. Die da draußen haben an uns doch gar kein Interesse, sie bekämpfen sich gegenseitig. Wenn wir so schnell wie möglich durchrasen, sehen sie, dass wir keine Bedrohung darstellen.«

Er blickt mich mit gerunzelter Stirn an, während er vor dem Sichtfenster auf und ab geht. Ob er irgendjemandem vertraut?

Ich gehe meine Möglichkeiten durch. In dieser Situation wäre ein Tauchboot viel nützlicher. Mit einem U-Boot kann man nicht einfach hochschießen oder sich im Senkrechttauchgang oder einer Rückwärtsrolle aus der Gefahrenzone bringen.

Ich weise den Navigator an: »Umschalten auf Infrarot, sicherstellen, dass unsere Abwehr weiterhin funktioniert. Auf keinen Fall tiefer tauchen, dort unten werden noch viel mehr von denen sein. Dieses Wasserlevel ist für sie eine Herausforderung. Wir sollten noch 50 Meter höher steigen, aber dann könnten wir von Patrouillen entdeckt werden. Also weiterfahren und volle Kraft voraus.«

Das U-Boot schiebt sich vorwärts. Laser prallen vom Schiffskörper ab, während es sich zwischen Fahrzeugen hindurchmanövriert, die sich gegenseitig angreifen. Ich springe erschrocken auf, als unser U-Boot schwankt, und rufe Oscar.

»Kein Grund zur Besorgnis, meine Liebe. Das Schiff ist in bester Ordnung.«

Ich kaue an meinen Nägeln. »Oscar, noch ein wenig höher steigen. Nur sechs Meter.«

Der Handel mit Kraut ist ein Riesengeschäft. Und illegal. Die Nachfrage ist höher als das Angebot. Das Schilfgras wächst verstreut in den höheren Lagen und viele haben ein großes Interesse an dem schleimigen Gewächs. Getrocknet und geräuchert hilft es dabei, die Angst hinter sich zu lassen. Zumindest für eine Weile. Aber es trägt auch dazu bei, dass unsere Zahlen sinken, denn Überdosierungen können tödlich sein – und kommen häufig vor.

Wir lassen die Kämpfe hinter uns. Das U-Boot hat keinen Schaden davongetragen, wie Oscar bestätigt.

Wir überqueren die Themse bei Thamesmead, fast wieder an der Stelle, wo wir gestartet sind.

Ich schlucke meine Enttäuschung herunter. Wenn ich bis Mitternacht an der Grenze sein will, muss ich positiv denken. Der Angriff auf Belvedere war nicht vorherzusehen. Wir fahren weiter. Irgendwo unter uns müsste sich jetzt die Farm befinden, eins der beliebtesten Hotels der Campbells, das ganz realistisches Gras, Pseudo-Erde, Zäune, Felder und »Outdoor«-Aktivitäten im Programm hat. Man muss schnell sein, wenn man eine Reservierung ergattern möchte. Ich wollte schon immer mal dorthin, einfach um zu sehen, wie es ist. Vielleicht, wenn Papa wieder frei und sein Name reingewaschen ist. Inshallah.

Nach einiger Zeit wird das Wasser um uns zusehends grüner und aufgewühlter, was sowohl von einer Proteinpflanze als auch von einem Kraftwerk unter uns verursacht wird, die beide die Strömung zum Schäumen bringen und für erhöhten Auftrieb sorgen.

Das U-Boot pflügt weiter über die Stadt hinweg und rast über das alte Gelände des Friedhofs und des Krematoriums. Nur sehr wenige Menschen der Alten Welt sind in ihren Ruhestätten geblieben.

Oscar erscheint im Salon. »Meine Liebe, der Epping Forest liegt vor uns.«

Ich mache mich auf das Schlimmste gefasst.