9. KAPITEL

Lacey arbeitete nur noch.

Das ganze Wochenende nach der Trennung von Seth, die komplette Woche danach, Samstag und Sonntag am Wochenende darauf und sogar am Labor Day vergrub sie sich noch mehr in ihre Arbeit als jemals zuvor.

Tag und Nacht kümmerte sie sich um jedes Detail beim Bau des Trainingszentrums und managte telefonisch und übers Internet Produktion, Marketing, Vertrieb, Verkauf und Website ihrer Modekollektion. Sie schlief kaum mehr als drei oder vier Stunden, auf einer Luftmatratze im alten Farmhaus, in der Nähe des Badezimmers.

Erst am Labor Day gönnte sie sich die erste richtige Pause. Und das auch nur, weil Hutch aus den Flitterwochen zurück war und beide Brüder gedroht hatten, sie in einen Teppich einzurollen und zu Ians und Jennas Barbecue zu tragen.

Schließlich gab Lacey nach und schmiedete einen Plan: Sie würde bis acht Uhr mit den anderen feiern, und danach würde sie ein paar Dinge in Hutchs Apartment in der Stadt bringen, in dem sie wohnen wollte, weil sie aus Seths Gästehaus ausziehen musste.

Dort würde sie heiß duschen, was ein Luxus war, weil das Wasser im Farmhaus nur lauwarm aus der Leitung kam. Danach würde sie Papierkram erledigen, bis ein oder zwei Uhr morgens, denn um die Zeit schlief Seth bestimmt schon fest.

Am ersten Freitag war sie mitten in der Nacht zur Camden-Ranch gefahren, hatte sich davon überzeugt, dass im Haupthaus kein Licht brannte, und war ins Gästehaus geschlüpft, um eine Tasche mit dem Nötigsten zu packen. Die geschäftlichen Unterlagen hatte ihre Assistentin in der Woche darauf geholt. Den Rest würde Lacey in der Nacht nach dem Barbecue ins Apartment schaffen.

Und anschließend würde sie auf der Luftmatratze schlafen, um bei Tagesanbruch mit der Arbeit beginnen zu können. Denn nur, indem sie wie besessen arbeitete, konnte sie sich von Seth ablenken. Daher musste sie sich ständig beschäftigen.

Und das würde sie auch während der ersten Zwangspause seit dem wunderschönen Wochenende mit Seth tun …

„Herrje, du siehst ja grauenhaft aus!“

Lacey wusste, dass ihre neue Schwägerin sie nicht so hatte begrüßen wollen, als sie die Tür öffnete, denn Jenna lief rot an und entschuldigte sich sofort. „Tut mir leid! Das ist mir rausgerutscht. Natürlich siehst du nicht schrecklich aus, nur müde. Jetzt verstehe ich, warum Ian und Hutch sich Sorgen um dich machen. Komm herein.“

Lacey betrat das Farmhaus, in dem Ian jetzt mit Jenna und Abby wohnte, und winkte ihrer Schwägerin Issa zu, die gerade den Kopf aus der Küche am Ende des Flurs streckte.

„Yacey!“

Laceys fast drei Jahre alter Neffe Ash konnte ihren Namen nicht aussprechen. Yacey war seine Version, und die rief er, als er zu ihr rannte und die Arme um ihre Knie schlang.

„Hallo, Baby-cakes, wie geht’s dir?“ Sie umarmte ihn lächelnd.

„Wir haben Marshmallows. Die kochen wir nachher.“

„Wir rösten sie“, übersetzte Jenna.

„Toll!“, sagte Lacey.

Ash ließ ihre Knie los und nahm ihre Hand. „Ich soll dich nach hinten bringen.“

„Ian und Hutch sind draußen“, erklärte Jenna.

Lacey ließ sich von ihrem Neffen ins Freie ziehen, wo ihre Brüder auf zwei von drei Klappstühlen saßen.

Ash schob seine Tante auf den freien Stuhl und wartete.

„Geh und spiel mit Abby, Ash“, bat sein Vater.

„Weil ihr mit Yacey reden müsst“, wiederholte der Junge etwas, das er gehört hatte.

„Was soll das werden, eine Krisenintervention?“, fragte sie lachend, als Ash widerwillig zur Sandkiste trottete.

„So ähnlich“, antwortete Hutch lachend.

„Nein, nicht so ähnlich“, verbesserte Ian. „Es ist eine Krisenintervention. Wir machen uns nämlich Sorgen um dich.“

Das hatte Jenna ihr schon erzählt.

„Um mich braucht sich keiner Sorgen zu machen. Mir geht es gut“, versicherte sie mit einer gespielten Unbeschwertheit, die allerdings nicht sehr überzeugend ausfiel.

„Ach, komm schon, Lacey, das stimmt nicht“, entgegnete Hutch. „Du hast erzählt, dass du nun doch nicht auf der Camden-Ranch, sondern im Apartment wohnen willst. Aber Issa und ich wohnen noch unten im Haus. Hast du vergessen, dass wir erst im nächsten Monat ausziehen? Ich weiß, dass du noch kein einziges Mal dort übernachtet hast.“

„Und meine Assistentin hat mit deiner Sekretärin telefoniert“, warf Ian ein. „Deshalb wissen wir auch, dass du auf der Baustelle schläfst.“

Mehr wussten sie nicht? Hatten sie sich noch nicht zusammengereimt, dass sie und Seth sich getrennt hatten?

Offenbar nicht. „Wir hatten einen holprigen Start, und ich muss die verlorene Zeit aufholen. Und daneben kümmere ich mich noch um meine Kollektion. Deshalb schlafe ich vorübergehend im Büro, weil es praktisch ist. Es wäre unsinnig, weiterhin Miete für das Gästehaus zu zahlen, und ich habe mir eine Luftmatratze gekauft. Aber nach dem Barbecue heute Abend ziehe ich ins Apartment. Trotzdem wird es bestimmt noch Nächte geben, in denen ich auf der Baustelle bleibe und auf der Luftmatratze schlafe.“

„Wie kannst du dir das bieten lassen?“, fragte Hutch aufgebracht.

Wussten die beiden etwa, was zwischen ihr und Seth vorgefallen war? Aber woher sollten sie?

„Wenn du dich nicht wehrst, übernimmt Dad dein Leben und bestimmt für dich, wo es langgeht“, fügte Ian hinzu.

Lacey atmete auf. Sie meinten ihren Vater.

„Das hat er mit Ian und mir gemacht, und jetzt zieht er es bei dir durch“, sagte Hutch.

Ihre Brüder sprachen darüber, dass Morgan Kincaid vielleicht gar nicht ahnte, wie viel er seinen Kindern abverlangte, und dass sie beide einige Jahre ihres Lebens, so manche Beziehung und andere wichtige Dinge geopfert hatten, um es ihrem Vater recht zu machen.

„Aber irgendwann kommt der Zeitpunkt, an dem du dich auflehnen musst“, erklärte Ian. „Sonst wirst du nie ein eigenes Leben haben.“

„Das hat Hutch lange vor mir begriffen“, ergänzte Ian. „Ich habe es erst kapiert, als ich Jenna kennenlernte. Bisher hast du Glück gehabt. Du musst dich zwar totschuften, aber er hat dich noch nicht verstoßen, weil …“

„Weil ich ein Mädchen bin.“

„Weil du ein Mädchen bist“, bestätigte Ian. „Aber jetzt hat er dich auf das Trainingszentrum angesetzt, und du bist dabei, in das Loch zu fallen, aus dem wir mühsam wieder herausgeklettert sind.“

„Davor wollen wir dich bewahren“, sagte Hutch.

„Es geht mir gut“, log sie tapfer.

„Nein, das stimmt nicht. Du machst einen großartigen Job für ihn, aber es geht dir nicht gut dabei“, widersprach Hutch. „Sieh dich an – du bist blass wie ein Gespenst, du hast Ringe unter den Augen, und ich wette, seit unserer letzten Begegnung hast du mindestens fünf Kilo abgenommen. Und wir mussten dich geradezu erpressen, damit du heute herkommst und nicht durcharbeitest.“

„Wir wollen doch nur, dass du aus unseren Fehlern lernst, Lacey“, beschwor Ian sie. „Du musst Dad rechtzeitig eine Grenze setzen, sonst kannst du ihm noch so viel geben, und er wird immer mehr verlangen.“

„Das haben wir schon als kleine Kinder kapiert, als er uns beim Football unerbittlich geschunden hat. Ich habe das viel zu lange mitgemacht. Du kannst für ihn arbeiten, aber du musst sagen, wann Schluss ist, denn er wird das nie tun. Er wird dich aussaugen, bis für dich selbst nichts mehr übrig ist.“

Als Jenna und Issa mit Tabletts voller Appetithäppchen, Getränke und Grillfleisch aus dem Haus kamen, schwiegen die Brüder. Lacey war froh, dass die beiden sie nicht nach Seth gefragt hatten, dennoch musste sie daran denken, was er am Freitagabend im Büro zu ihr gesagt hatte.

Und dass sie in Ians Garten saß und sah, wie glücklich er mit Jenna und Abby und Hutch mit Issa und Ash war, hob ihre Stimmung auch nicht gerade. Ihre Brüder hatten Familien und konnten mit ihrem Leben zufrieden sein. Sie hatten sich mit ihrem Vater angelegt und seine Kritik, seinen Zorn und seine Verachtung überstanden. Sie hatten sich von Morgan Kincaid emanzipiert.

Hutch und Ian hatten sich gewehrt und die Folgen ertragen. Sie waren nicht daran zerbrochen, sondern hatten herausgefunden, was sie wirklich wollten. Was sie glücklich machte.

Plötzlich wurde ihr klar, dass niemand vor Morgan Kincaids Kritik sicher war. Niemand entging seiner Engstirnigkeit und seinen Vorurteilen. Und niemand schaffte es, ihm auf Dauer zu gefallen. Ihr Vater war einfach unfähig, einen anderen Menschen so zu akzeptieren, wie er war.

Ihre Brüder hatten auf dem Footballfeld, in geschäftlichen Dingen und in ihrem Privatleben unter seinen überzogenen Erwartungen gelitten.

Und Lacey litt darunter, dass sie das Mädchen war. Morgan Kincaid hatte Frauen gegenüber eine altertümliche, zutiefst machohafte Einstellung. Seine Ansichten und Erwartungen waren ebenso unrealistisch wie alles, was er Ian und Hutch an den Kopf geworfen hatte.

Aber Lacey hoffte noch immer, dass ihr Vater sich ändern würde. Sie wollte ihm unbedingt beweisen, dass er falschlag.

Und schlimmer noch, sie opferte dafür das Glück, das sie mit Seth gefunden hatte.

Seth war nicht wie ihr Vater oder Dominic. Er verlangte nicht, dass sie ihr Leben völlig umstellte. Ihm war nicht gleichgültig, was sie wollte. Er erwartete nicht, dass sie sich seinen Vorstellungen von einer Frau anpasste und sich verleugnete. Er hatte sie nur gebeten, das zu tun, wozu Ian und Hutch ihr gerade geraten hatten: nicht ihr ganzes Leben der Arbeit zu opfern.

Sie sollte sich fragen, was sie wirklich wollte. Was sie glücklich machte.

Aber das hatte sie nicht gewagt. Denn wenn sie zu dem Ergebnis kam, dass sie Seth, ein Leben und eine Familie mit ihm wollte, würde ihr Vater von seinem hohen Ross herab behaupten, dass er das schon immer gewusst hatte.

Und wenn schon! Was wäre so schlimm daran, wenn er ihr Leben mit Seth verachtete? Ein Leben, das immer so war wie das herrliche Wochenende, das sie zusammen verbracht hatten? Ein Leben, das so glücklich war wie das von Hutch mit Issa und Ian mit Jenna?

Wäre das der wahre Sieg über ihren Vater? Dann müsste Lacey ihm nichts beweisen, sondern könnte einfach nur glücklich sein, mit Seth und allem, was er ihr zu bieten hatte.

Wie konnte ich bloß so dumm sein?

Seth war ein faszinierender Mann. Er war klug, humorvoll und attraktiv und stark. Er war er selbst. Er hatte sich den Erwartungen seiner Familie entzogen, weil er wusste, was er brauchte, um seinen eigenen Weg zu finden.

Lacey fühlte sich leer ohne ihn.

Seit sie mit ihm Schluss gemacht hatte, arbeitete sie nur noch den ganzen Tag und schlief nachts schlecht. Sie lenkte sich ab, um nicht an ihn zu denken. Aber die Leere, die er in ihrem Leben hinterlassen hatte, war nicht auszufüllen.

Sie wollte mit Seth zusammen sein. Kein Job der Welt, kein Erfolg, keine Angst vor Kritik änderte daran etwas. Nichts und niemand konnte sie davon abbringen. Sie wollte ihn. Sie wollte ein Leben mit ihm. Eine Zukunft mit ihm. Kinder mit ihm.

Oder war es dazu schon zu spät?

„Ich muss gehen!“, rief sie.

„Alles in Ordnung mit dir?“

„Bist du krank?“

Sie musste über die besorgten Fragen ihrer Brüder lachen. Etwas zu schrill. Spätestens jetzt sah sie ein, dass sie tatsächlich übermüdet war. „Ihr habt recht“, sagte sie. „Mehr, als ihr ahnt. Und ich muss mich um etwas kümmern. Sofort. Deshalb kann ich leider nicht länger bleiben.“

Ian und Hutch runzelten die Stirn und versuchten zusammen mit Issa und Jenny, sie zum Bleiben zu überreden.

Aber sie schafften es nicht.

Denn was Lacey vorhatte, war viel wichtiger als saftige Burger und knusprige Maiskolben.