3. KAPITEL

Normalerweise schaute Lacey nicht dauernd auf die Uhr. Seit sie die Planung und den Bau des Trainingszentrums übernommen hatte, dauerte ihr Tag oft achtzehn Stunden, und sie machte erst Feierabend, wenn sie zu erschöpft war, um weiterzuarbeiten.

Doch als sie am Freitag an ihrem Schreibtisch im alten Farmhaus saß, fiel ihr Blick immer wieder auf die beiden Zeiger, die nur so dahinzukriechen schienen.

Warum war sie so ungeduldig? Warum konnte sie es kaum erwarten, dass es halb fünf wurde und Seth Camden kam?

Was um alles in der Welt war los mit ihr? Warum konnte sie nicht aufhören, an den Mann zu denken? Selbst wenn sie spätabends endlich einschlief, träumte sie anschließend von ihm. Und nachdem sie heute Morgen aufgestanden war, schaute sie dauernd zum Pool hinüber, um einen Blick auf ihn zu erhaschen.

Und das ausgerechnet jetzt, da sie die Chance bekam, nach der sie sich schon als kleines Mädchen gesehnt hatte. Die Chance, zum Kincaid-Team zu gehören und Aufgaben zu übernehmen, die ihr Vater sonst nur einem Sohn anvertraute. Bisher war Morgan Kincaid der festen Ansicht gewesen, dass Frauen in der Geschäftswelt und vor allem im Football an die Seitenlinie gehörten. Als Cheerleader, Empfangsdame, Sekretärin. Mit viel Glück und noch mehr Fleiß vielleicht als Eventplanerin. Weil jede Frau irgendwann den Mann ihres Lebens kennenlernte und heiratete, um eine Familie zu gründen.

Morgan Kincaid war sexistisch und altmodisch. Immer wieder hatte Lacey mit ihm diskutiert und all die erfolgreichen Frauen aufgezählt, die seiner Theorie widersprachen. Mit dem Ergebnis, dass sie neue Geschäftsräume einrichten, Personal fürs Büro und die Kantine einstellen, mit dem Koch die Speisepläne durchsprechen und im Marketing und in der Öffentlichkeitsarbeit arbeiten durfte.

Aber ein wichtiges neues Projekt leiten, noch dazu, wenn es um Football ging? Niemals.

Bis jetzt.

Jetzt durfte Lacey den Bau des Trainingszentrums der Monarchs beaufsichtigen. Die Monarchs waren das neueste NFL-Team. Eine Profimannschaft, die ihrem Vater gehörte. Sein wahr gewordener Traum.

Aber sie hatte den Job nur bekommen, weil ihre Brüder dafür nicht mehr infrage kamen. Hutch hatte vor langer Zeit dem Football den Rücken gekehrt und seinen Vater damit schwer enttäuscht. Inzwischen besaß er seine eigene Kette von Sportgeschäften und wollte mit der Kincaid Corporation nichts zu tun haben.

Sein Zwillingsbruder Ian hatte sich in Jenna Bowen verliebt, sie geheiratet und ihr geholfen, die Farm zu behalten, auf der sein Vater das Trainingszentrum hatte errichten wollen. Und als wäre das schon nicht schlimm genug gewesen, hatte er sich auch noch den Besitz der McDoogals vor der Nase wegschnappen lassen. Von den Camdens.

Morgan Kincaid war außer sich gewesen. Um Ian zu bestrafen, hatte er das Projekt Lacey übergeben. Aber nicht ohne sie wissen zu lassen, dass er sie dabei im Auge behalten würde.

Ian hatte es nichts ausgemacht. Er war glücklich verheiratet und hatte Abby, Jennas verwaiste Nichte, adoptiert. Außerdem nahm er es Lacey nicht übel, dass sie das Projekt leitete. Im Gegenteil, er hatte sogar angeboten, ihr dabei zu helfen.

Aber sie wollte es allein schaffen und ihrem skeptischen Vater beweisen, dass sie eine leitende Position im Familienkonzern verdiente.

Und deshalb durfte sie sich von nichts und niemandem ablenken lassen.

Schon gar nicht von Seth Camdens knackigem Po.

Oder irgendeinem anderen Körperteil.

Trotzdem musste sie immer wieder an den Mann denken. An die strahlend blauen Augen. Das lässige Lächeln. Die breiten Schultern und kräftigen Oberschenkel. Die Muskeln, die sich bei ihrer ersten Begegnung unter der verschwitzten Haut gestrafft hatten. Und gestern Abend unter dem Gewicht der Kartons …

Sein Anblick verfolgte sie, und sie schien ihn einfach nicht abschütteln zu können.

Aber das würde sie! Hier und jetzt!

Leider schaute sie in genau diesem Moment auf die Uhr in der Ecke des Bildschirms. Es war fast halb fünf. Sie speicherte ihre Arbeit ab und eilte ins Bad, um zu überprüfen, ob die Frisur noch richtig saß, ob die weiße Bluse ordentlich in der grauen Hose steckte und ob die Mascara verschmiert war. Und ein Hauch Lipgloss wäre auch nicht schlecht …

Hatte ihr Vater etwa recht? Endlich hatte sie die Verantwortung, die sie sich immer gewünscht hatte. Und was tat sie? Sie arbeitete nicht, sondern zerbrach sich den Kopf darüber, wie sie auf einen Mann wirkte. Ihr Computer war auf Stand-by, während sie in den milchigen Spiegel über dem verrosteten Waschbecken starrte.

Delegieren, dachte Lacey. Ich kann es delegieren.

Jemand anderes konnte Seth Camden zeigen, was seine Familie auf dem Dachboden und in der Scheune zurückgelassen hatte. Sie musste sich nicht persönlich darum kümmern.

Aber dann würde sie ihn nicht sehen …

Und wenn schon, sagte sie sich streng. Sie nahm sich fest vor, Seth einem Mitarbeiter zu überlassen und sich wieder an den Schreibtisch zu setzen.

Doch bevor sie ihren Entschluss in die Tat umsetzen konnte, knirschte der Kies vor dem alten Farmhaus unter den Reifen eines Wagens. Ohne zu überlegen, warf sie einen Blick in den Spiegel und ging nicht in ihr Büro zurück, sondern zur Haustür.

Und als sie sah, wie Seth Camden aus seinem weißen Pick-up stieg, in Cowboystiefeln, Jeans und einem Westernshirt, wusste sie, dass sie die Aufgabe nicht delegieren konnte.

Lacey ging hinaus und begrüßte ihn.

„Meine Brüder, meine Schwester, meine Cousins und ich haben immer in der Scheune gespielt und so getan, als wäre das Haus verwunschen“, erzählte Seth auf dem Weg übers Gelände. „Nachdem es verkauft war, habe ich mich kurz umgesehen. Weil ich geschäftlich verreisen musste, habe ich zwei meiner Mitarbeiter gebeten, sich um die Übergabe zu kümmern. Offenbar habe ich ihnen nicht gesagt, dass sie auch auf dem Dachboden und hinter der Scheune nachsehen sollen.“

„In der Sattelkammer steht noch ein alter Schreibtisch“, sagte Lacey, als sie die Scheune erreichten. „Ich nutze das Haus als Büro und die Scheune, um Baumaterial zu lagern. Meine Leute wollen in der Sattelkammer kleinere Werkzeuge, Nägel und Schrauben unterbringen. Sie wollen Regale aufstellen, und ich habe sie gebeten, damit zu warten, bis der Schreibtisch herausgeholt ist. Vielleicht hat er für Sie noch einen Wert, und ich möchte nicht, dass er beschädigt wird.“

„Danke, dass Sie daran gedacht haben.“

In der Scheune stapelte sich Bauholz. Sie ging mit Seth zwischen den Brettern und Balken nach hinten, öffnete die Tür zur Sattelkammer und ließ ihm den Vortritt.

Er trat ein, und obwohl sie es auf keinen Fall tun wollte, starrte sie auf seinen Po.

„Ja, jetzt erinnere ich mich an den Schreibtisch“, sagte er, als sie ihm rasch in den Raum folgte.

Er ging um ihn herum und hob ihn an einer Seite an. Dabei verrutschte der Schreibtisch ein wenig. „Was haben wir denn hier?“ Er schob ihn weit genug aus dem Weg, ging in die Hocke und betrachtete die Luke, die sich darunter verborgen hatte.

Lacey starrte auf die Jeans, die sich um die Oberschenkel spannten, den breiten Rücken, die dunklen Locken an seinem Nacken. Als er die Luke anhob, strafften sich die Bizepse, und sie spürte ein Kribbeln im Bauch.

„Ein versteckter Schatz?“, scherzte sie, als Seth eine staubige Truhe aus dem Hohlraum unter dem Fußboden hob. Ihre Stimme klang brüchig, aber er schien es nicht zu bemerken.

„Sieht aus wie eine Piratenkiste, nicht wahr?“ Er stellte die Truhe neben die Luke. „Aber soweit ich weiß, sind die Camdens nie zur See gefahren, und für einen richtigen Schatz ist das Ding wohl zu klein genug.“

Die Truhe war aus Metall, in etwa so groß wie zwei Schuhkartons übereinander und mit einem verrosteten Vorhängeschloss versehen.

„Ich möchte wissen, wo der Schlüssel ist. Wahrscheinlich längst verschwunden. Ich muss das Schloss aufsägen, um nachzusehen, was drin ist.“

„Golddublonen?“

Er hob die Truhe an und schüttelte sie. Was immer darin war, es klang nicht nach Münzen. Dazu war das Geräusch zu dumpf.

„Das glaube ich nicht“, erwiderte er und stützte die Truhe auf eine Hüfte. „Ich nehme sie mit. Vielleicht finde ich einen Schlüssel, der passt. Der Schreibtisch muss warten.“ Er lächelte. „Wollen Sie mir jetzt das landwirtschaftliche Dingsbums zeigen?“

„Hier entlang.“ Lacey öffnete eine ins Freie führende Tür.

„Ach, das ist nur eine alte Bodenfräse“, sagte Seth, als sie auf das Gerät zeigte. „Sie haben recht, so einfach ist die nicht wegzuschaffen. Ich brauche einen anderen Wagen, um sie mit einem Tieflader abzuholen.“

„Also müssen Sie noch einmal herkommen.“ Sie klang fröhlicher, als sie wollte, und ärgerte sich darüber.

„Kann es bis Freitag warten?“, fragte er, bevor er die Truhe auf seinem Pick-up verstaute. „Der Tieflader ist anderswo und steht erst dann zur Verfügung. Ich würde gern alles auf einmal erledigen.“

„Natürlich.“

„Ihre Leute können gern in der Sattelkammer Regale aufstellen. Zu mehr als Brennholz dient der Schreibtisch nicht mehr, da macht es nichts, wenn sie ihn beschädigen.“

Inzwischen waren sie wieder am Haus, und Lacey stieg vor ihm die Treppe zum Obergeschoss und die vier Stufen zum Dachboden hinauf. Viel zu spät wurde ihr bewusst, dass ihr Po sich dabei direkt vor seinen Augen befand. Oben angekommen, drehte sie sich hastig um und sah, wie Seth ebenso rasch den Blick hob. Dass er verlegen lächelte, tröstete sie etwas.

Die Decke war hoch genug, um aufrecht stehen zu können, aber Seth musste den Kopf einziehen, als er nachsah, was er abholen sollte. Ein alter aufgerollter Teppich. Kartons voller Weihnachtsschmuck, Spielzeug, Bücher und Kleidung. Ein antiker Spiegel. Ein Schaukelstuhl. Und diverse andere Sachen, die kein Mensch mehr brauchte.

„Die Sachen liegen hier offenbar schon sehr lange herum“, sagte er. „Aber ich kümmere mich nächste Woche darum.“

„Wann immer es Ihnen passt“, hörte Lacey sich antworten. „Wir benötigen den Platz in der Scheune, aber dieser Krempel kann hier oben bleiben, bis das Haus abgerissen wird. Das passiert erst, wenn die neuen Gebäude errichtet sind. Wo jetzt noch das Haus und die Scheune stehen, kommen Trainingsplätze hin, deshalb brauchen wir eine neue Zubringerstraße.“

„Ich habe unten das Modell gesehen. Zeigen Sie mir, was Sie planen?“

Lacey war stolz darauf, dass sie trotz all der Ablenkung an die Straße gedacht hatte, und freute sich, ihm ihr erstes großes Projekt präsentieren zu können. Am Modell, das im ehemaligen Wohnzimmer aufgebaut war, beschrieb sie ihm das Verwaltungsgebäude und die Trainingseinrichtungen mit Umkleidekabinen, Schwimm- und Entmüdungsbecken, Besprechungsräumen, Fitnesscenter und Videoabteilung.

Sie erzählte ihm von den drei geplanten Spielfeldern, eins davon mit Kunstrasen, die anderen beiden mit Naturrasen, von denen eins beheizt werden sollte, damit das Team auch im Winter trainieren konnte. Sie zeigte ihm die Wohnquartiere und schwärmte von den zwei Racquetball-Courts, die nicht nur den Spielern, sondern auch dem Personal zur Verfügung stehen würden.

„Aber wo jetzt noch das Farmhaus und die Scheune stehen, ist der Boden ebener, deshalb werden die Spielfelder hier angelegt. Wir drehen das Ganze einfach in die andere Richtung. Das einzige Problem ist die neue Zugangsstraße. Wir möchten, dass sie zum Verwaltungsgebäude führt, möglichst weit von den Spielfeldern entfernt. Dort befinden sich der Besucherbereich, der Medienraum für Pressekonferenzen und der Schauraum für all die Trophäen, die das Team hoffentlich gewinnt.“

Sie warf Seth einen prüfenden Blick zu. Er schien sich nicht zu langweilen. „Das heißt, die neue Straße muss ungefähr hier vom Highway abzweigen“, mit dem Zeigefinger auf dem Modell zog sie den Verlauf nach, „und zwar über Ihr Land.“

„Ja, das sehe ich.“ Er nahm den Blick vom Modell und sah sie an. „Das hier ist Ihr Baby, was?“

„Wobei mein Vater mir dauernd über die Schulter schaut, weil er mir zum ersten Mal etwas so Großes anvertraut. Aber ja, es ist allein mein Projekt.“

„Was haben Sie vorher gemacht?“

Wollte er von der Straße ablenken, oder interessierte es ihn wirklich?

„Öffentlichkeitsarbeit, Eventplanung, Personaleinstellung auf unterer Ebene, Büromanagement.“

Bevor er nachfragen konnte, warum sie keine wichtigeren Aufgaben übernommen hatte, erzählte sie ihm, was wirklich ihr Baby war.

Sie senkte die Stimme, als dürfte sie eigentlich nicht darüber reden. Dabei war es längst kein Geheimnis mehr. „Vor anderthalb Jahren habe ich mit etwas begonnen, mit dem meine Familie nichts zu tun hat.“

„Ihr eigenes Footballteam“, scherzte er.

„Das nicht, aber ich habe mich schon immer für den Sport interessiert und festgestellt, dass es viele weibliche Fans gibt. Leider gibt es die Sachen mit Teamlogos fast nur für Männer. Deshalb habe ich Frauenmode in den Farben und mit den Emblemen der bekanntesten Teams entworfen, produziert und auf den Markt gebracht, für den Fitness- und den Freizeitbereich.“

„Tatsächlich?“

„Die Kollektion nennt sich Lacey Kincaid Sportswear.“

„Und wie läuft es?“

„Gut. Zuerst habe ich sie nur übers Internet vertrieben, aber jetzt verkauft mein Bruder Hutch ausgewählte Artikel in seinen Geschäften. Erst kürzlich hat er mir erzählt, dass sie reißenden Absatz finden. Er will die gesamte Kollektion verkaufen, und ich muss mehr produzieren.“

„Und das alles neben diesem Projekt?“

„Ich weiß, wahrscheinlich sollte ich mich allein auf das Trainingszentrum konzentrieren, aber …“

„Die Mode macht Ihnen Spaß.“ Seth klang, als wüsste er, wie viel ihre eigene Kollektion ihr bedeutete.

„Stimmt“, gab sie zu. Allen anderen gegenüber tat sie so, als wäre Lacey Kincaid Sportswear nur ein Hobby, das sich selbst finanzierte. Sie verstand nicht, warum sie zu Seth Camden ehrlich war.

„In gewisser Weise ist das Trainingszentrum das Baby meines Vaters. Und die Sportswear meins.“

„Warum muten Sie sich dann auch noch das hier zu?“ Er zeigte auf das Modell. „Warum beschränken Sie sich nicht auf die Mode und überlassen jemand anderem die Kopfschmerzen, die das Projekt mit sich bringt?“

„Diese Chance durfte ich mir nicht entgehen lassen. Ich bin wie ein Einwechselspieler, der von der Ersatzbank kommt und beim Super Bowl zeigen kann, was er drauf hat. Nichts wird mich davon abhalten. Ich will nur nicht auf das andere verzichten.“

„Da haben Sie sich viel vorgenommen.“

„Sehr viel sogar.“

„Aber Sie schaffen es, oder? Die Chance wollen Sie sich auch nicht entgehen lassen.“

„Heute Vormittag habe ich den Hersteller beauftragt, die Produktion zu erhöhen. Zwischen zwei Besprechungen über das Bauprojekt.“

Seth musterte sie einen Moment lang, und Lacey fragte sich, was er dachte.

„Vielleicht geht es mich nichts an“, begann er. „Aber mir ist aufgefallen, wenn Sie über das Trainingszentrum sprechen, wirken Sie angespannt … so, als würden Sie gegen den Strom schwimmen. Wenn Sie über ihre Modekollektion reden, lächeln Sie und begeistern sich dafür, als würde es Ihnen viel mehr Spaß bereiten. Fühlen Sie sich zu dem hier“, er zeigte auf das Modell, „nur verpflichtet? Ihrem Vater gegenüber?“

„Verpflichtet? Nein! Im Ernst, das hier ist die Chance meines Lebens. Die Mode ist nur … eine Art Freizeitvergnügen. So wichtig ist sie nicht.“

„Ihnen scheint sie aber wichtig zu sein.“

„Ach, das ist nur so eine alberne Mädchensache. Aber das Trainingszentrum … das ist riesig, und ich kann froh sein, dass ich dafür verantwortlich bin.“

„Ja, es ist riesig“, bestätigte er, als würde er sie nicht darum beneiden.

„Aber ich werde damit fertig.“

Warum wollte sie, dass er ihr glaubte?

„Wenn Sie meinen.“

„Ja, das meine ich. Ich würde es mir für nichts auf der Welt entgehen lassen.“

Seth nickte, dann nickte er in Richtung der Tür. „Sie sind sehr beschäftigt. Ich will Sie nicht länger aufhalten.“

Ihr lag auf der Zunge, dass er sie so lange aufhalten konnte, wie er Lust hatte. Aber das durfte sie nicht mal denken und erst recht nicht aussprechen. „Wir wollten uns über die Zufahrtsstraße unterhalten“, erinnerte sie ihn.

„Darüber muss ich nachdenken.“

Sie folgte ihm durchs Haus. „Es ist nur ein schmaler Streifen Land …“

„… der über eins meiner Maisfelder verläuft. Ich muss ausrechnen, wie viel mich die entgangene Ernte kostet.“

„Wir brauchen nur den Streifen für die Straße, das Land links und rechts davon können Sie behalten“, beharrte Lacey, als sie durch die Nachmittagshitze zu seinem Pick-up gingen.

„Wir haben unseren Besitz immer zusammengehalten.“

Aber wenn die einzige Straße zum Trainingszentrum den Camdens gehörte, könnten sie damit drohen, den Zugang zu sperren, und die Kincaids erpressen.

„Vielleicht könnten Sie eine Ausnahme machen …“ Lacey fragte sich verärgert, warum sie sich anhörte, als wolle sie mit ihm flirten.

Lächelnd öffnete Seth die Fahrertür, stieg jedoch nicht ein, sondern stellte einen Fuß auf die Kante, legte den Arm auf die Tür und sah Lacey mit seinen ausdrucksvollen blauen Augen an.

„Ich gehe ein paar Zahlen durch, schaue auf die Landkarte und lasse mir etwas einfallen“, erwiderte er in einem Tonfall, der auch nicht gerade geschäftsmäßig klang.

„Dafür wäre ich Ihnen dankbar.“

„Wie sehr?“, fragte er mit einem Blick, der verriet, dass sie beide sich alles andere als professionell verhielten.

„Sehr“, antwortete sie und erwiderte sein Lächeln.

Er lachte. „Das könnte mir reichen“, sagte er leise.

Wie von selbst zuckte ihr Blick zu seinem Mund, und plötzlich spürte sie, dass die Atmosphäre zwischen ihnen zu mehr als einem spöttischen Geplänkel führen konnte. Vielleicht sogar zu einem Kuss …

Als seine vollen Lippen sich zu einem noch breiteren, fast herausfordernden Lächeln verzogen, wünschte sie, dass Seth sie tatsächlich küssen würde. Nur um zu wissen, wie es sich anfühlte …

Wie unprofessionell war das denn?

Warum ging dieser Cowboy namens Camden ihr so unter die Haut?

Ohne eine Antwort darauf – und wütender auf sich als je zuvor – unterbrach sie den Blickkontakt und wich einen Schritt zurück. „Ich muss wieder an die Arbeit“, sagte sie resolut.

„Natürlich.“ Er stieg ein. „Wir sehen uns zu Hause“, fügte er hinzu, bevor er die Wagentür schloss.

Hoffentlich, dachte sie.

Er startete den Motor, legte den Gang ein, warf ihr einen letzten Blick zu, winkte kurz und fuhr davon.

Lacey blieb, wo sie war, und starrte auf die Staubwolke, die seine Reifen aufwirbelten.

Du hast ein Trainingszentrum zu bauen, sagte sie sich. Und ein eigenes Unternehmen, um das du dich kümmern musst.

Trotzdem stand sie in der Hitze und schaute einem Wagen – und dem Fahrer – nach, bis beide nicht mehr zu sehen waren.

Mit aller Kraft wehrte sie sich gegen den Wunsch, der plötzlich in ihr aufstieg. Den Wunsch, jetzt neben Seth Camden zu sitzen.

Und sich von ihm küssen zu lassen …

Am Freitag kehrte Lacey erst kurz vor Mitternacht ins Gästehaus zurück. Im großen Haus brannte kein Licht. Sie konnte nicht wissen, ob Seth schon zu Bett gegangen war, anderswo schlief oder zu Hause war und sein Bett mit jemand anderem teilte. Sie wollte es sich nicht fragen, doch genau das tat sie, als sie den kleinen Bungalow betrat.

Am Samstag stand sie um halb fünf auf und verließ das Gästehaus um fünf. Wieder war von Seth nichts zu sehen.

Erst nach zehn Uhr am Abend kam sie zurück, und als sie erschöpft und mit schweren Schritten am Haupthaus vorbeiging, nahm sie den Duft von italienischem Essen wahr. Er kam aus der Terrassentür, die die hintere Wand der Küche bildete. Wer kochte um zehn Uhr an einem Samstagabend?

„Hallo! Kommen Sie jetzt erst von der Arbeit?“

Es war Seth Camdens Stimme. Bitte, lass ihn nicht gerade ein Date haben …

„Ja“, antwortete sie und schaute zum Haupthaus.

Außer Seth sah sie niemanden. Er stand an der Spüle und beobachtete sie durchs Fenster. Sein Haar war nach hinten gekämmt und feucht. Hatte er gerade geduscht? Außerdem schien er keinen Besuch zu haben, denn er trug ein altes Sweatshirt mit abgeschnittenen Ärmeln und – soweit sie erkennen konnte – verwaschene Jeans.

Aber vielleicht hatte er auch einige Stunden voller wildem Sex hinter sich, und er und seine Partnerin hatten rasch geduscht und sich irgendetwas angezogen, um ein spätes Abendessen zuzubereiten. Dass die andere Frau nicht in der Küche war, änderte nichts an dem Szenario, das Lacey sich ausmalte. Denn bestimmt verbrachte ein Camden, schon gar nicht ein so attraktiver wie Seth, den Samstagabend nicht allein …

„Augenblick“, sagte er und warf einen Blick in einen Topf auf dem Herd, bevor er wieder am Fenster auftauchte.

„Sie kochen? Um diese Zeit?“

„Ja. Möchten Sie mit mir essen?“

Es klang harmlos. Dennoch schossen ihr Hintergedanken durch den Kopf, als sie überlegte, warum sie ablehnen sollte.

Aber außer einem kalten Burger und einem Fitnessriegel aus ihrer Handtasche hatte sie nichts gegessen. Im Gästehaus hatte sie die Wahl zwischen Crackern und Cornflakes. „Sehr gern sogar! Es duftet köstlich, und ich bin halb verhungert.“

Oh. Aber wenn er nun doch ein Date hatte und die Frau gleich aus dem Bad kommt …

„Das Nudelwasser kocht noch nicht“, sagte er. „Und mit dem Salat habe ich gerade erst angefangen. Aber falls Sie noch kurz ins Gästehaus gehen möchten, in fünfzehn bis zwanzig Minuten ist alles fertig.“

Lacey wusste, dass man ihr den langen Arbeitstag ansah. Noch ein Grund, warum sie inständig hoffte, dass er keine titelbildschöne Freundin zu Besuch hatte.

„Sind Sie allein?“

Demonstrativ blickte Seth über die Schulter, bevor er Lacey wieder ansah. „Ja. Es sei denn, hier ist noch jemand, von dem ich nichts weiß“, erwiderte er, als fände er die Frage seltsam.

Also kein Date. Kein romantisches Abendessen nach stundenlangem Sex. Nur Seth.

Und ich …

„Kann ich noch schnell duschen?“

„Klar.“

„Ich bin gleich wieder da.“

Beschwingt umrundete Lacey den Pool, betrat das Gästehaus und zog die Bluse aus, während sie gleichzeitig die Schuhe mit den Füßen abstreifte. Ihre Hose landete auf der Couch, bevor sie nur ganz kurz duschte. Danach schlüpfte sie in bequemere Unterwäsche, weiße Shorts und ein schlichtes rotes T-Shirt mit V-Ausschnitt. Sie bürstete sich das Haar, band es mit einem Gummiband hoch, legte etwas Rouge, Mascara und Lipgloss auf, zog Sandalen an und eilte hinaus.

Seth deckte bereits einen der kleinen Tische am Pool.

„Ich hatte schon befürchtet, ich würde vielleicht bei einem Date stören“, sagte sie so beiläufig wie möglich.

„Nein, kein Date. Davon habe ich nicht viele“, erwiderte er, als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt, mit Lacey über sein Liebesleben zu reden.

„Also springt nicht gleich eine Freundin, Verlobte oder Ehefrau aus dem Gebüsch?“

„Keine Freundin. Keine Verlobte. Und erst recht keine Ehefrau.“

Mit anderen Worten, Seth war frei wie ein Vogel …

„Was ist mit Ihnen?“, fuhr er fort. „Freund? Verlobter? Ein Ehemann, der irgendwo wartet, während Sie in der Einöde ein Trainingszentrum bauen?“

„Bei meinem Terminplan?“, entgegnete sie lachend. „Ich könnte nicht mal eine Topfpflanze am Leben erhalten, geschweige denn eine Beziehung.“

„Sie arbeiten viel.“

Das schien ihm nicht zu gefallen, daher umging sie das Thema. „Und Sie? Warum essen Sie so spät?“

Er lächelte. „Ich habe heute länger als sonst gearbeitet, wenn auch nicht freiwillig. Eine Kuh hat gekalbt und brauchte Hilfe.“

Gekalbt. Heißt das, sie hat ein Junges zur Welt gebracht?“

„Ja. Und sie hat es nicht allein geschafft. Ich bin erst vor einer Stunde nach Hause gekommen, habe geduscht und beschlossen, das ausgefallene Abendessen nachzuholen.“

„Daher diese tollen Düfte, die aus der Küche kommen?“

„Tomaten, Zwiebeln, Knoblauch und selbst gepflanztes Basilikum.“

„Ich bin beeindruckt.“

„Warten Sie lieber, bis Sie es probieren. Alles ist fertig, ich muss es nur noch holen. Und ich kann den Wein empfehlen. Der Koch hat schon ein Glas getrunken und meint, er schmeckt ganz gut.“

Lacey lachte. „Dann haben Sie ein Glas Vorsprung.“

„Nur eins.“

„Ich helfe Ihnen beim Aufdecken.“

Sie holten die Flasche Wein, zwei Gläser, eine Schüssel mit Pasta, eine mit Salat und einen Korb mit Brot aus der Küche. Als sie am Tisch saßen, schenkte Seth den Wein ein und forderte Lacey auf, sich zu bedienen.

Nach dem ersten Bissen stöhnte sie genießerisch auf.

„Das schmeckt wundervoll! Und Sie haben alles selbst zubereitet?“

Er lächelte. „Sie kochen nicht?“

„Nicht mal Wasser“, gab sie zu. „Man hat oft versucht, es mir beizubringen, weil Mädchen so etwas können müssen. Aber ich habe mich geweigert. Meine Grundregel lautete: Wenn meine Brüder etwas nicht tun müssen, muss ich es auch nicht.“

„Aus Prinzip?“

„Aus Prinzip.“

„Hmm. Ich weiß nicht, ob ich damit durchgekommen wäre.“

„Es war nicht einfach, aber ich habe es durchgehalten. Dann wurde ich älter, und mit der Freiheit war es vorbei. Um in der Kincaid Corporation eine Rolle zu spielen, musste ich die Jobs übernehmen, von denen mein Vater fand, dass sie zu einer Frau passten. Bis jetzt.“ Sie probierte den Salat, mit seinem ebenfalls selbst angerührten Dressing, das nach mildem Essig und Gewürzen schmeckte.

„Ein Camden kocht selbst? Haben Sie denn nicht die Gerichte des persönlichen Küchenchefs der Familie mit einem silbernen Löffel zu sich genommen?“

Lachend trank Seth einen Schluck Wein. „Oh, Sie kennen meine Großmutter nicht.“

„Die aus Northbridge?“

„Ja, die aus Northbridge. Wir nennen sie GiGi. Sie heißt Georgianna, aber das war uns zu lang. Sie hat uns aufgezogen, mit der Hilfe meines Großvaters und eines Ehepaars, das schon ewig für sie arbeitet. Obwohl GiGi der unumstrittene Kapitän war, hat sich die ganze Besatzung um meine Brüder Cade und Beau, meine Schwester January, unsere Cousins Dane, Dylan und Derek und um die Drillinge Lang, Lindie und Livi gekümmert.“

„Nachdem Ihre gesamte Familie bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen war, richtig?“ Auch das wusste sie aus ihrem Kursus am College.

„Ja. Ich war elf. Es passierte bei einem Ausflug für die Erwachsenen. Die Männer wollten angeln, die Frau shoppen. Die Kinder blieben mit den Nannies zu Hause.“

„Also gab es Nannies“, warf Lacey ein. Endlich bestätigte sich eins ihrer Vorurteile.

„Ja, damals. Vor dem Absturz lebten wir mit unseren Eltern in unserem Haus, die Cousins bei ihren Eltern. H. J., unser Urgroßvater, hatte sich wegen seiner Herzbeschwerden zur Ruhe gesetzt und war bei GiGi und Großvater eingezogen. Margaret und Louie, das Haushälterehepaar, wohnen über der Garage.“

„Und bei Ihnen zu Hause gab es Nannies. Vermutlich auch Köche und Dienstmädchen und Butler?“

„Meine Mutter und meine Tante legten viel mehr Wert auf Standesbewusstsein als GiGi, deshalb gab es bei meinen Eltern tatsächlich Köche, Dienstmädchen und Haushälterinnen, aber an einen Butler erinnere ich mich nicht.“

Lacey neckte ihn, aber es schien ihm nichts auszumachen. Auch das gefiel ihr.

„Also hat Ihr Urgroßvater H. J., der den Reichtum der Camdens begründet hat, sich irgendwann zur Ruhe gesetzt? Ich dachte, er hat bis an sein Lebensende gearbeitet.“

„Wissen Sie das auch aus dem Kursus am College?“

„Ja.“

„Etwa drei Monate vor dem Familienausflug hatte er die Leitung des Unternehmens an meinen Großvater, Vater und Onkel übergeben. Zwei Tage vor dem Abflug hat er sich bei einem Sturz den Rücken verletzt. GiGi ist zu Hause geblieben, um ihn zu betreuen.“

„Aha, deshalb waren H. J. und Ihre Großmutter nicht an Bord.“

„Aber alle anderen“, sagte Seth ernst.

„Sie waren erst elf, nicht wahr? Wie alt waren die anderen Kinder?“

„Ich war das älteste Enkelkind. Die jüngsten, meine Schwester Jani und die Drillinge, waren sechs.“

„Keine Babys mehr, aber immer noch kleine Kinder.“

„Ja“, bestätigte er betrübt. „Zehn traumatisierte, verängstigte Kinder.“

„Ich weiß noch, wie es war, als meine Mutter starb. Hutch und Ian waren zwölf. Es war schrecklich. Kein Geld der Welt, kein gesellschaftlicher Status oder was auch immer konnte uns trösten. Aber wenigstens hatten wir noch unseren Vater. Ich will mir nicht vorstellen, wie es gewesen wäre, ihn auch zu verlieren …

„Zum Glück hatten wir GiGi. Und H. J. und Margaret und Louie“, erzählte er leise. „GiGi hat uns alle zu sich genommen und uns gesagt, dass sie jeden von uns liebt, dass wir weiterleben und zusammenhalten müssen, als eine große Familie. Und das haben wir auch getan. H. J. hat sich um das Unternehmen gekümmert, bis er mit neunundsechzig starb, und Margaret und Louie waren für uns wie Ersatzeltern.“

„Ihre Großmutter hat ihren Schwiegervater betreut und gleichzeitig zehn Enkelkinder großgezogen? Und das alles ohne jemanden, der ihr das Kochen abnahm?“, fragte Lacey, um die Stimmung aufzuhellen.

Es wirkte, denn Seth lachte. „Vergessen Sie Margaret nicht. Aber sie und ihr Mann gehörten praktisch zur Familie. GiGi wäre niemals auf die Idee gekommen, uns Kinder fremden Menschen zu überlassen oder uns auch nur in ein Internat zu stecken.“

„Aber Sie sind doch auf eine Privatschule gegangen, schon aus Sicherheitsgründen?“, fragte sie und dachte dabei an das Gerücht, dass jemand sich am Flugzeug der Camdens zu schaffen gemacht hatte, damit es abstürzte.

„Stimmt. Aber abgesehen davon hat unsere Großmutter uns nicht verwöhnt. Wir mussten unsere Betten selbst machen, unsere Zimmer aufräumen, und alle anderen Aufgaben reihum erledigen. Sie hat Margaret und Louie geholfen, und wir Kinder waren die Assistenten. Wir haben Staub gewischt, die Böden gesaugt, Fenster geputzt, die Wege gefegt und den Garten gepflegt. Inzwischen sind Margaret und Louie über sechzig, meine Großmutter wird fünfundsiebzig, aber die drei erledigen noch immer alles gemeinsam.“

„Und wer hat gekocht?“, kam Lacey auf den Ausgangspunkt zurück.

„GiGi und Margaret haben Frühstück gemacht – und das Mittagessen am Wochenende und in den Ferien. Aber Margaret und Louie sind immer pünktlich um sechs in ihre eigene Wohnung gegangen. Natürlich hat Margaret oft etwas vorbereitet, aber meistens haben GiGi und H. J., als er noch bei uns war, und wir zehn Kinder uns selbst um das Abendessen gekümmert. Dann haben wir alle zusammen gegessen, und wer das versäumte, brauchte eine verdammt gute Entschuldigung.“

„So habe ich mir Ihr Familienleben nicht vorgestellt“, gestand Lacey. „Ich glaube fast, ich hatte eine verwöhntere Kindheit.“

„Wie gesagt, GiGi hatte eine klare Vorstellung davon, wie Kinder aufwachsen sollten.“

„Sie hat Sie großgezogen, als würden Sie auf einer Farm am Rand einer Kleinstadt leben, nicht einen Steinwurf vom Denver Country Club entfernt?“

„Ja, das hat sie. Sie ist ein einzigartiger Mensch. Ich kenne niemanden, der von allen so geliebt wird wie sie. Sie ist praktisch veranlagt und einfühlsam und bewältigt jede Krise voller Entschlossenheit und Zuversicht. Sie steht immer mit beiden Beinen fest auf dem Boden, gibt nie auf und meistert jedes Problem …“

„Zehn Enkelkinder, zum Beispiel.“

„Vermutlich hätte sie auch zwanzig aufgenommen, ohne mit der Wimper zu zucken.“

„Täusche ich mich, oder vergöttern Sie sie?“

Seth lächelte. „Das tun wir alle. Wie jeder, der sie kennt.“ Er aß nicht mehr und hatte sich zurückgelehnt. „Und bei Ihnen gab es also keine Nannies für den Kincaid-Nachwuchs?“

„Keine Nannies. Mein Vater war der Ansicht, dass eine Mutter ihre Kinder selbst aufziehen soll. Und den Haushalt führen und sich um den Ehemann kümmern.“

„Aber Sie haben Ihre Mutter verloren, als Sie zehn waren.“

Offenbar hatte er nicht nur von sich selbst erzählt, sondern auch aufmerksam zugehört.

„Stimmt. Aber die Schwester meines Vaters, meine Tante Janine, war gerade frisch geschieden, hatte keine Kinder und ist zu uns gezogen. Sie hat von meiner Mutter die Aufgabe übernommen, mir beizubringen, wie sich eine richtige Lady benimmt.“

Es war spät geworden, und Lacey stand auf. „Ich helfe Ihnen beim Abräumen. Sicher sind Sie müde nach Ihrer Tätigkeit als Geburtshelfer im Stall, und ich muss in ein paar Stunden wieder hoch, um auf der Baustelle alles zu erledigen, bevor …“

„Die Hochzeit Ihres Bruders. Mir ist gerade eingefallen, dass die morgen Abend stattfindet“, unterbrach Seth sie und erhob sich ebenfalls.

Zusammen brachten sie alles in die Küche, und Lacey drehte den Wasserhahn an der Spüle auf, um die Teller abzuwaschen.

„Waren Sie heute Abend nicht beim Probeessen?“

„Nein. Hutch heiratet Issa McKendrick …“

„Ich weiß, ich bin eingeladen. Ich kenne die McKendricks gut.“

„Dann wissen Sie vermutlich auch, dass es eine schlichte Hochzeit wird, mit Issas Schwester als Trauzeugin und Ian als Trauzeuge. Daher gab es nicht viel zu proben.“

„Trotzdem, es ist die Hochzeit Ihres Bruders“, beharrte er, als könnte er sich gar nicht vorstellen, dass Lacey nicht dabei gewesen war.

„Ich hatte im Büro viel nachzuholen, genau wie morgen. Und um rechtzeitig zur Trauung fertig zu sein, muss ich vor dem Morgengrauen aufstehen.“

„Wow! Erstaunlich, dass Sie sich die Zeit genommen haben, mit mir zu essen.“

„Bei Ihren Kochkünsten?“, scherzte sie. „Dem Duft aus der Küche konnte ich einfach nicht widerstehen.“ Und seiner Nähe auch nicht.

Er griff um sie herum und stellte das Wasser ab, bevor sie mehr als die Teller spülen konnte. „Überlassen Sie den Rest mir. Ich möchte nicht schuld sein, wenn Sie mit Ringen unter den Augen bei der Hochzeit Ihres Bruders erscheinen. Legen Sie sich schlafen.“

„Sind Sie sicher? Kochen ist vielleicht nicht meine Stärke, aber abwaschen kann ich ganz gut.“

„Dafür habe ich einen Geschirrspüler.“

Obwohl Lacey gern noch etwas Zeit mit Seth verbracht hätte, ließ sie sich von ihm auf die Terrasse begleiten. Er lehnte sich gegen die Tür, und als sie sich umdrehte, um sich für die Einladung zu bedanken, schob er die Daumen in die Jeanstaschen – was unglaublich sexy aussah.

„Wenn wir beide zur Hochzeit gehen, wäre es doch unsinnig, zwei Wagen zu nehmen“, begann er. „Außerdem stehen Sie vor Tagesanbruch auf und sind zu müde, um sich ans Steuer zu setzen. Was halten Sie davon, wenn ich Sie fahre?“

„Ein Camden als Chauffeur?“

„Zu Ihren Diensten.“ Seth deutete eine Verbeugung an.

„Das wäre schön.“

„Müssen Sie früher dort sein?“

„Nein, wie ich schon sagte, es ist eine schlichte Zeremonie.“ Lacey fragte sich, wie viele Leute wussten, dass ihre zukünftige Schwägerin ein Baby von einem anderen Mann bekam. Hutch war zwar nicht der biologische Vater, aber er war fest entschlossen, das Kind wie sein eigenes zu behandeln.

„Die Trauung beginnt um sieben. Ab sechs bin ich abfahrbereit. Kommen Sie einfach her, wenn Sie so weit sind“, schlug er vor.

„Einverstanden.“ Plötzlich freute Lacey sich richtig auf die Hochzeit. „Danke für das Abendessen, es war wirklich köstlich. Kompliment an den Koch.“

Seth lächelte. „Ich freue mich, dass es Ihnen gefallen hat. Alles schmeckt besser, wenn man nicht allein essen muss.“ Er hatte die Stimme gesenkt und sah Lacey in die Augen.

Und plötzlich, wie aus dem Nichts, sehnte sie sich danach, ihn zu küssen. Sie wollte, dass er sie küsste. Es war kein vager, verträumter Wunsch mehr wie am Tag zuvor beim Abschied auf der Baustelle. Heute Abend war er viel konkreter. Und so stark, dass sie unwillkürlich das Kinn anhob.

Seth lehnte mit einer Schulter am Türrahmen, und es sah so aus, als würde er sich vorbeugen. Nur ein bisschen. Aber genug, um Lacey glauben zu lassen, dass es wirklich passierte. Dass er sie küssen wollte …

Doch dann hielt er inne und straffte sich. „Wir sehen uns morgen.“

„Morgen Abend“, bestätigte sie und hoffte, dass ihr fröhlicher Tonfall verbarg, wie enttäuscht sie war. „Nochmals danke fürs Essen.“ Sie atmete tief durch, ging um den Pool herum und verschwand im Gästehaus, ohne sich noch einmal umzudrehen.

Sie schloss die Tür und schaute durch den Spalt zwischen der Wand und dem Vorhang am Fenster.

Seth stand noch immer an die Terrassentür gelehnt und sah zum Gästehaus.

Und in diesem Moment wusste Lacey, dass sie es sich nicht eingebildet hatte. Seth hatte sie tatsächlich küssen wollen.

Aber er hatte es nicht getan.

Hätte sie den ersten Schritt wagen müssen?

Nein, denn so ungern sie es sich auch eingestand, insgeheim fand sie, dass ein Kuss immer vom Mann ausgehen sollte. Es war albern, und sie schämte sich dafür, dass sie an den altmodischen Einstellungen festhielt, mit denen sie aufgewachsen war. Aber albern oder nicht, es ließ sich nicht ändern.

Unzufrieden mit sich ging sie zu Bett und gab die Hoffnung nicht auf, dass er sie irgendwann doch noch küssen würde.