5. KAPITEL

Die erste Woche der Bauphase des Trainingszentrums lief nicht gut. Wichtige Maschinen fehlten noch immer. Falsch geliefertes Material musste zurückgeschickt und neues bestellt werden. Der Bauunternehmer musste wegen eines Notfalls in der Familie verreisen. Der Polier brach sich ein Handgelenk. Ein Sturm beschädigte eine Stromleitung.

Außerdem hatte Lacey noch ein Problem mit dem Stoff, aus dem die Fahrradshorts für ihre Kollektion hergestellt wurden. Dann wurden plötzlich mehr Kapuzenshirts nachgefragt, als sie liefern konnte, und drei neue Abnehmer waren verärgert, weil sie nicht die richtige Ware bekommen hatten.

Daher schlief sie noch weniger als sonst, und die Ringe unter ihren Augen waren nicht mehr zu übersehen. Da Seth sich für Freitag angekündigt hatte, opferte sie morgens eine halbe Stunde ihrer viel zu kurzen Nachtruhe, um die Spuren ihrer Erschöpfung besonders sorgfältig zu tarnen, eine Hose auszusuchen, die ihre Figur betonte, und das Haar hochzustecken, anstatt es wie sonst zu einem Pferdeschwanz zu binden.

Leider telefonierte sie gerade mit ihrem Vater, als Seth am Nachmittag vor der Scheune hielt. Morgan Kincaid schrie sie an und behauptete, dass einem männlichen Projektleiter keine der Katastrophen dieser Woche passiert wäre.

„Natürlich hätte ein Mann alles besser gemacht, Dad“, konterte Lacey aufgebracht. „Weil jeder weiß, dass Männer in die Zukunft schauen und auch noch zaubern können!“

„Werd nicht frech, kleines Mädchen. Ich habe dich auf der Hochzeit mit Seth Camden gesehen. Er ist dir nicht von der Seite gewichen, und du schienst nichts dagegen zu haben. Außerdem wohnst du bei ihm. Wenn du weniger an ihn und mehr an deinen Job gedacht hättest, wäre das alles nicht passiert.“

„Ich wohne im Gästehaus der Camden-Ranch und habe Seth seit Montagabend nicht mehr gesehen. In dieser Woche war ich so lange auf der Baustelle, dass ich auch in einem Zelt hätte übernachten können. Und nichts – absolut nichts – von dem, was auf der Baustelle passiert ist, hatte mit Seth Camden zu tun. Niemand hätte es verhindern können!“

Ihr Vater verabschiedete sich missmutig. Aber kaum hatte sie aufgelegt, kam ein Bauleiter herein und berichtete, dass der Kranführer sich einen anderen Job gesucht habe und sie einen Nachfolger auftreiben müsse.

Als Seth auf dem Weg zum Dachboden in ihr Büro schaute, sprach sie gerade mit einer Zeitarbeitsfirma und konnte ihm nur kurz zuwinken. Durchs Fenster beobachtete sie, wie er seinen Pick-up belud. Als er fertig war, drehte er sich zum Haus um und sah, dass sie noch den Hörer am Ohr hatte. Er winkte zum Abschied und ging zur Fahrertür.

„Entschuldigung, ich muss Schluss machen. Ich melde mich wieder“, sagte sie hastig und eilte auf die Veranda.

„Hi!“, rief sie atemlos.

„Hallo, Fremde“, erwiderte er und stieg wieder aus. „Du sahst beschäftigt aus, da wollte ich nicht stören.“

„Beschäftigt ist untertrieben. Ich habe eine chaotische Woche hinter mir.“

„Kommst du klar?“

„Nein. Es gab eine Katastrophe nach der anderen, hier und mit meiner Kollektion.“

„Das tut mir leid.“

Täuschte sie sich, oder war er wieder kühl und distanziert? Sie ging zu ihm und zeigte auf die Ladefläche. „Hast du alles?“

„Die Bodenfräse und den Schreibtisch hat einer meiner Leute abgeholt. Auch der Dachboden ist leer.“

„Danke.“

Er schwieg.

Was war los? Sie suchte nach einem anderen Thema, um noch eine Weile sein markantes gebräuntes Gesicht betrachten zu können. „Was ist mit der alten Truhe aus der Sattelkammer? Hast du einen Schlüssel gefunden?“

„Nein, ich musste das Schloss knacken.“

„Was war drin?“

Er zuckte mit den Schultern. „Nur ein paar alte Tagebücher. Ich habe sie meiner Großmutter in Denver geschickt. Hast du noch irgendwelche versteckten Schätze gefunden?“

„Soweit ich weiß, ist niemand auf etwas gestoßen, das deiner Familie gehört.“

„Falls doch, würdest du es mitbekommen?“

War es ihm wichtiger, als er zugeben wollte?

„Ja, ich vertraue meinen Leuten. Wenn jemand etwas entdeckt, sagt er mir bestimmt Bescheid.“

„Und du würdest mich informieren, oder?“

„Natürlich. Warum? Vermisst du etwas?“

„Nein. Aber von diesen Sachen hier wussten wir auch nichts.“

„Keine Sorge. Was ich finde, gebe ich immer ab.“

Er lächelte nicht über ihren Scherz. „Da wäre ich dir dankbar. Wegen meiner Großmutter, weißt du.“

„Klar.“

„Ich habe dich die ganze Woche nicht zu Gesicht bekommen.“

„Erzähl das meinem Vater. Er scheint zu glauben, dass ich mich mehr für dich als für das Trainingszentrum interessiere.“

Endlich lächelte Seth.

„Er hat uns zusammen gesehen. Auf der Hochzeit“, erklärte sie.

„Aha.“ Er wurde wieder ernst.

In dem Moment kam ein Vorarbeiter ums Haus und bat sie, sich die gerade gelieferten Backsteine anzusehen.

„Ich will dich nicht länger aufhalten“, sagte Seth und stieg ein.

„Vielleicht sehen wir uns nachher“, erwiderte sie und klang hoffnungsvoller, als sie wollte.

„Du weißt ja, wo ich wohne.“

Der Vorarbeiter rief nach ihr, und Lacey blieb nichts anderes übrig, als sich um ihr neuestes Problem zu kümmern. Noch bevor Seth den Motor startete, eilte sie davon.

An diesem Abend kehrte Lacey gegen neun Uhr ins Gästehaus zurück. Die Fenster des Haupthauses waren dunkel. Vermutlich war Seth ausgegangen, schließlich war es Freitag und noch nicht sehr spät.

Natürlich fragte sie sich, ob er sich mit einer Frau traf. Er hatte erzählt, dass er nicht viele Dates hatte, aber das musste nicht heißen, dass er überhaupt keine hatte …

Warum quälte sie sich mit solchen Gedanken?

Es ging sie nichts an, und erst recht hatte sie keinen Grund, sich darüber den Kopf zu zerbrechen.

Trotzdem ging sie enttäuscht unter die Dusche und gönnte anschließend Haar und Gesicht eine gründliche Pflege. Danach war es halb elf, aber obwohl sie müde war, legte sie sich nicht schlafen.

Nein, es hatte nichts damit zu tun, dass Seth noch unterwegs war und sie sehen wollte, ob er allein nach Hause kam.

Sie wollte einfach noch nicht ins Bett.

Daher föhnte sie das Haar, ließ es locker auf die Schulter fallen, zog eine Pyjamahose aus weißer Seide und ein leuchtend rotes T-Shirt an und setzte sich mit Crackern und Käse an den Pool.

Nein, nicht um auf Seth zu warten, sondern um die frische Luft zu genießen.

Keine Minute später hörte sie, wie sein Sportwagen vor der Garage hielt.

Bitte lass ihn kein Date haben.

Obwohl sie kein Recht dazu hatte, spitzte sie die Ohren und lauschte. Der Motor verstummte, die Wagentür wurde geöffnet und wieder geschlossen, und das Garagentor fiel ins Schloss.

Sie hörte keinen zweiten Wagen und auch keine Stimmen.

In ihr stieg die Hoffnung auf wie ein Luftballon, der sich losgerissen hatte. Dann kam Seth in den Garten und auf den Pool zu. Er war allein und trug eine Kakihose und ein gelbes Poloshirt, und in der Hand hielt er eine Flasche Wein.

Als er Lacey bemerkte, nickte er ihr zu, lächelte jedoch nicht.

„Hi“, sagte sie so fröhlich wie möglich.

„Du bist zu Hause. Das überrascht mich.“

Sie ignorierte die Spitze. „Unterwegs gewesen?“

„Abendessen mit Freunden.“

Sie zeigte auf die Flasche. „Mochten Sie den Wein nicht?“

„Den haben sie mir geschenkt. Als Dankeschön dafür, dass ich vor zwei Wochen beim Umzug geholfen habe.“

„Ein Camden hat beim Umzug geholfen?“

Er zog einen Mundwinkel hoch. „Ob du es glaubst oder nicht, trotz meines Nachnamens kann ich eine Couch heben.“

Er zögerte, und sie befürchtete schon, dass er sich verabschieden würde. „Ich habe Cracker und Käse“, sagte sie rasch. „Du hast Wein. Wir könnten unsere Vorräte zusammenlegen …“

„Das könnten wir.“ Wieder machte er eine Pause. „Na gut, ich mache die Flasche auf und hole Gläser.“

Er klang nicht sonderlich begeistert, aber die Erschöpfung fiel von ihr ab, als sie ihm nachsah. Wenig später setzte er sich zu ihr und schenkte den Wein ein.

„Du siehst ungewöhnlich entspannt aus“, stellte er fest und gab ihr ein Glas.

Lacey schob den Teller mit Crackern und Käse über den Tisch. „Ich habe mich etwas erholt, auch ohne Pferd.“

„In dieser Woche warst du manchmal um Mitternacht noch nicht zu Hause und morgens schon wieder weg, wenn ich aufgestanden bin.“

„Einmal bin ich im Büro eingeschlafen, mit dem Kopf auf dem Schreibtisch. Zum Glück funktioniert die Dusche im alten Farmhaus noch, und im Auto habe ich immer Sachen zum Wechseln.“

„Glaubst du wirklich, dass es das wert ist? Den Stress und die langen Tage?“, fragte er, als könnte er kaum fassen, dass jemand sich so etwas antat.

„Ich habe schon immer so viel gearbeitet“, gab sie zu und nippte an ihrem Glas.

Auch Seth trank einen Schluck. „Der ist gut. Guter Wein. Guter Abend, gute Freunde, gutes Essen.“

„Dinge, für die ich mir keine Zeit nehme.“ Sie ahnte, worauf er hinauswollte.

„Stattdessen hast du immer Sachen zum Wechseln dabei, falls du zum Schlafen nicht nach Hause fahren kannst.“

„Das Projekt ist wichtig.“

Er nickte, aber sein Blick wurde mitfühlend. „Kein Projekt, kein Job sollte so wichtig sein. Man braucht auch ein Privatleben.“

„Okay, vielleicht hast du mehr Privatleben als ich“, gab sie zu. „Und mehr Freunde.“

„Mehr Spaß.“

„Aber du wohnst an einem Ort, den wir extra ausgewählt haben, damit das Team ungestört und ohne Ablenkungen trainieren kann. Du lebst isoliert, deine Familie ist weit weg, und außer Freunden, die dich ab und zu zum Essen einladen, gibt es niemanden. Außer Arbeit bleibt einem hier kaum etwas. Ehrlich gesagt graut mir vor dem Wochenende, wenn auf der Baustelle nichts los ist, denn dann weiß ich nicht, womit ich mich hier draußen sonst beschäftigen soll.“

Diesmal wirkte sein Lächeln nicht gezwungen, aber dafür etwas spöttisch. „Du hast das Wochenende frei?“

„Ich muss Papierkram nachholen, für das Trainingszentrum und meine Kollektion, aber abgesehen davon …“

„Dann schenk es mir“, unterbrach er sie.

Sie lachte. „Was?“

„Verbring das Wochenende mit mir, damit ich dir zeigen kann, wie schön es hier sein kann, wenn man nicht arbeitet. Wenn man nicht beweisen muss, dass man besser ist als drei Männer zusammen. Erzähl deinem Vater, dass du das Wochenende in einem Kloster oder beim Camping verbringst. Irgendwo, wo er dich nicht erreichen kann.“

„Mein Vater fährt zu einer Tagung, auf der er den Begrüßungsvortrag hält und die ganze Zeit im Mittelpunkt steht. Vor Montag werde ich von ihm nichts hören.“

„Großartig! Dann kannst du einfach nur Lacey sein – nicht Lacey, die Unfehlbare, nicht Lacey, die so gut ist wie der dritte Sohn, den er nicht bekommen hat, nicht Lacey, die Supergeschäftsfrau. Einfach nur Lacey.“

„Wer soll das sein?“, scherzte sie.

„Ich weiß nicht genau, eine Mischung aus der hübschen kleinen Prinzessin für ihre Mutter und einem der Jungs für ihren Vater. Aber ich würde es gern herausfinden …“

Der Vorschlag war verlockend. Andererseits wären es zwei ganze Tage mit Seth. Mit einem Mann, den sie entschieden zu attraktiv fand.

„Ich habe nicht das ganze Wochenende frei“, wandte sie ein. „Ich muss Papierkram erledigen.“

„Dann lasse ich dich morgen noch arbeiten. Ich muss Tiere füttern und tränken und nach der Ernte sehen, aber danach? Du hast selbst gesagt, dass du nicht weißt, was du mit dir anfangen sollst.“

„Können wir über die neue Straße reden, die ich brauche?“

Seth verdrehte die Augen. „Nein! Morgen Vormittag kannst du arbeiten, aber sobald wir zusammen sind, ist Schluss damit! Hast du wirklich keine Vorstellung davon, wie man abschaltet und sich entspannt?“

„Ich brauche die Straße.“

„Okay. Ich mache dir ein Angebot: Verbring dieses Wochenende mit mir, und du kriegst die Straße dafür.“

„Einverstanden.“

Er hob die Weinflasche, aber Lacey schüttelte den Kopf. „Es ist spät, und ich muss früh aufstehen und den Papierkram erledigen, wenn ich mir den Nachmittag freinehmen will.“

„Wie du meinst.“ Er stand mit ihr auf.

Lacey war wirklich müde. Als sie nach dem Teller griff, stieß sie ihn vom Tisch. Er fiel zu Boden, und der Käse und die Cracker flogen umher. „Und jetzt weißt du auch, dass ich tollpatschig werde, wenn ich erschöpft bin.“

„Dann überlass die Scherben besser mir.“ Seth kam um den Tisch herum, ging in die Hocke und hob sie auf, während Lacey den Käse und die Cracker einsammelte – und einen Blick auf seine muskulösen Oberschenkel riskierte.

Sie warfen alles in den Abfalleimer in der Küche des Gästehauses, danach standen sie beide in der Tür, einander gegenüber, mit dem Rücken an den Rahmen gelehnt.

„Gehören zum Entspannungsprogramm am Wochenende auch haarige Tiere?“

Er lachte. „Nur ich.“

Sie schaute in sein markantes Gesicht mit den Bartstoppeln an den Wangen … und konzentrierte sich hastig auf das, was er gerade sagte.

„An diesem Wochenende feiern wir die Gründung von Northbridge. Am Sonntag findet das Picknick an der alten Brücke statt, nach der die Stadt benannt ist. Dann siehst du mal, wie schön es hier sein kann.“

„Und wenn ich mich langweile?“

„Keine Sorge, das lasse ich nicht zu.“

Lacey lachte, aber ihr entging nicht, dass die Atmosphäre sich völlig verändert hatte. Zunächst war Seth distanziert gewesen, dann hatten sie miteinander gescherzt, und jetzt lag etwas in der Luft, das ihr Herz schneller schlagen ließ.

Als ihre Blicke sich trafen, legte er eine Hand in ihren Nacken und schob die Finger ins Haar. Dann beugte er sich hinab und berührte ihren Mund mit seinem, ganz leicht, bis sie die Lippen öffnete.

Sie schloss die Augen, presste den Kopf gegen seine große Hand, strich über seine Brust, fühlte die Muskeln unter dem Poloshirt und ließ seine Kraft auf sich wirken.

Er vertiefte den Kuss, sie erwiderte ihn ebenso leidenschaftlich, und schlagartig fiel die Müdigkeit von ihr ab. Doch als sie dem Verlangen nachgeben wollte, das sich in ihr ausbreitete und die Knie weich werden ließ, zog er sich wieder zurück, und der Kuss wurde erst sinnlich, dann zärtlich, bevor Seth den Kopf hob.

Sie schlug die Augen auf.

„Morgen. Mittag. Keine Arbeit mehr“, sagte er mit leiser, tiefer Stimme.

„Ja, ja, ich habe es nicht vergessen.“

Lächelnd küsste er sie aufs Haar. „Überlass die restlichen Splitter am Pool mir. Morgen fege ich alles zusammen und spritze die Fliesen ab.“

Als er davonging, schloss Lacey die Tür und genoss die Erinnerung an den Kuss noch einen Moment lang. Erst danach fiel ihr ein, dass so etwas eigentlich nicht passieren durfte.

Doch als sie zu Bett ging, sehnte sie sich nach mehr davon …