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GRAZ UND UMGEBUNG

Etliche der Wurm’schen Werke lassen sich buchstäblich verstehen. Das Fat Car mit seinen adipösen Wülsten ist eben ein fettes Auto, wie man diese dicken Dinger in einer Mischung aus Bewunderung und Abstoßung nennt. Das Haus, das der Gebäudekante des mumok, des Museums Moderner Kunst Stiftung Ludwig Wien, eine House Attack beigebracht hat, erinnert daran, dass man, wie der Berliner Naturalist Heinrich Zille es um 1900 festgestellt hatte, einen Menschen mit einer Wohnung erschlagen könne wie mit einer Axt. Und wenn das elterliche Einfamilienhaus als Narrow House erscheint, dann ist der Eindruck mit im Spiel, dass es eng zuging damals, als der Erwin noch daheim wohnte – eng, was den Zusammenhalt angeht, oder auch eng, was das Milieu betrifft, den Horizont, den Blick auf die Welt. Diese Außenskulptur, die mit einer Länge von sechzehn und einer Höhe von sieben Metern der Wirklichkeit eins zu eins abgeschaut ist, bei einer Breite von einem Meter sechzig indes dem Eindruck, ein Strich in der Landschaft zu sein, alle Ehre macht, verdankt sich einer Einladung durch das UCCA Center for Contemporary Art in Peking im Jahr 2010. Der Raum, der ihm für seine Solo-Präsentation zur Verfügung stand, schien ihm allzu schmal, Wurm wollte zeigen, dass sie mich einquetschen. Er wollte dies mittels eines Gebäudes vorführen, dem man nun einmal mit Körperlichkeit begegnet, mit „taktiler Rezeption“, wie Walter Benjamin es genannt hat, mit der Erinnerung an das Gespür, das einen beim Betreten überkommt: Welches Haus kenne ich: das Elternhaus. Das Narrow House ist somit zunächst eine Reaktion auf einen Kunstkontext, und erst in zweiter Linie autobiografisch. Dann aber umso bemerkenswerter.

Stolz prangt ein 79 neben dem Eingang, es ist die Hausnummer für die Rinneggerstraße im Nordosten von Graz, wo die Familie ihr Domizil hatte. Sehr außerhalb der Stadt, in schier dörflicher Umgebung, gibt es die Liegenschaft bis heute und wird von Erwin Wurms Schwester Eva bewohnt. Den Baugrund hatte der Vater damals vom Wirt des „Windischhansl“ ein paar Häuser weiter gekauft – das Gasthaus gibt es ebenfalls noch – und eine typische Nachkriegsarchitektur der zweiten Generation darauf gestellt: mit Satteldach, aber nicht so spitz, wie es einst bei NS-Bauten beliebt gewesen war und wie es in der Version des Narrow House aussieht; mit breiten Fenstern ohne Kreuz zwischen den Gläsern, einstöckig ohne Mansarde, aber mit Dachluken – mit eher behäbigen Proportionen und nicht so buchstäblich zackig wie in der Aufbereitung fürs Schmale. Wie ein Teppichläufer ist Wurms Modell ein Stück Grünfläche beigegeben, es steht Pars pro Toto für einen gepflegten, baumbestandenen Garten, der nach vorne zur Straße geht und sich hinten in der hügeligen Gegend verliert. Auf eineinhalb Metern Breite ist nun eine Zimmerfolge unterzubringen, denn natürlich ist das Narrow House betretbar. Am Eingang kommt unmittelbar das Wohnzimmer, links schmiegt sich im weiteren Verlauf die Küche ein paar wenigen Dezimetern ein, schließlich zieht sich daneben der Flur entlang, der zum Bad, zur Toilette und zum Schlafzimmer der Eltern führt. Die Kinder hatten ihre Zimmer im ersten Stock, den es in der Engführung nicht gibt, aber jenes grüne Telefon, das im Flur stand und offenbar eine spezielle Erinnerung wert ist, wirft sich schon in die Brust: das Zentrum, da hat es sich abgespielt, unter der Treppe. Die Ausstattung ist perfekte späte 1960er, mit Gediegenheit und einer Ahnung von Transgression in Orange. Provinz meets Pop und Space Race, Astrodesign und Austrodesign in einem. Das alles in Originallänge und auf eineinhalb Metern insgesamt zusammengefasster Breite. Dann gibt es noch ein Foto, seinerseits gequetscht, es zeigt den kleinen Erwin, vielleicht ein Jahr alt, sehr pausbäckig mit Wollmützchen, geschaukelt und geschunkelt von seinem Vater, der in Festlaune ein Tänzchen mit seinem Erstgeborenen aufführt.

Car Big, 2001. Mischtechnik, 130 × 234 × 490 cm.

Narrow House, Innenansicht.

Erwin auf dem Arm seines Vaters, um 1955.

Um der historischen Wahrheit die Ehre zu geben, ist zu sagen, dass das Narrow House nicht den Ort widerspiegelt, in dem der Künstler seine frühe Kindheit verbrachte. Als das Anwesen in der Rinneggerstraße, die nicht mehr zur Gemeinde Graz gehört, sondern zu Niederschöckl, Gestalt annahm, konnte Erwin Wurm seinem Vater dabei bereits zur Hand gehen, und er zog dorthin, bevor seine Eltern nachkamen, die es zunächst als Wochenendhäuschen nutzten, sein Zimmer über der Eingangstür war eine Art Atelier, denn ich wollte ja Maler werden. Der Künstler verbrachte hier also seine Pubertät. Annie Ernaux, eine Lieblingsautorin von Erwin Wurm, Galionsfigur des Prinzips Autofiktion, Nobelpreisträgerin für Literatur 2022 und Gestalterin lapidarer Sätze, die den Geist dieser Zeit und dieser Lebensjahre auf den Punkt bringen, sagt es so: „In die Stadt gehen, träumen, sich selbst befriedigen und warten, die mögliche Zusammenfassung einer Provinzjugend.“ (Ernaux, 56) Das Elternhaus, das im Narrow House wiederauflebt, ist ganz buchstäblich jenes der Eltern, und der Künstler wird sich bald daraus verabschieden. Tut dies wiederum dem Autobiografischen Abbruch? Auch das Wort „Eltern“ ist ja ein Shifter, und „Vater“ und „Mutter“ sind es nicht minder. Alle, die es benutzen, meinen jeweils das Ihre damit, und was auch immer Erwin Wurm von seiner Kindheit im Narrow House reflektiert, kann vom Publikum mitgenommen werden in die eigene psychische und soziale Organisation.

Mutter hat er eine Arbeit benannt, eine Wärmflasche auf zwei Beinen, die Arbeit ist größenvariabel, existiert als vier Meter hohe Outdoor Sculpture wie in Glasversion in den Maßen, die ein solcher Thermophor nun einmal hat – und gestattet so eine Reminiszenz an die jeweiligen Müttergestalten mit ihren Präsenzen und den Dimensionen, mit denen sie sich geltend gemacht haben. Vater dagegen hat nur ein einziges Format, auch er ist eine Figur auf zwei Beinen, doch das Objekt, das die Füße in der Fasson halten, ist eine Doppelliterflasche, ein Doppler, wie sie Österreichs Winzer für ihre Billigangebote bereithalten. Ein Behältnis für zwei Liter hat schlechterdings eine einzige Größe, und es ließe sich psychologisieren genug, was der Künstler damit sagen wollte. Er sagt dieses: Nicht jeder Vater ist mein Vater. Assoziationen an Alkoholismus sind in dieser persönlichen Situation jedenfalls fehl am Platz. Und dann gibt es noch eine One Minute Sculpture mit dem Titel The North/South Question, der Vorschlag für ein Visavis von zwei Personen, eine männlich, eine weiblich, die zwischen ihre Oberkörper ein Brett geklemmt haben und es so, im Gegenüber, im Besetzen einer Polarität, in der Höhe halten. Für Geschwister ist der Untertitel, und wer mag, kann an den Künstler und seine Schwester denken, die sich hier in die Augen sehen und zu einer gemeinsamen Aktion zusammentun. Vielleicht kann man es mit einem Gegensatzpaar beleuchten, das immer wieder auftaucht, wenn es um den Zusammenhang von künstlerischem Ego und künstlerischem Œuvre geht: Was Erwin Wurm von sich selbst in seine Arbeit einfließen lässt, ist aufrichtig, was mitgeteilt wird, entspricht der eigenen Überzeugung von Triftigkeit. Es ist aber nicht authentisch, das Abgründige, Abstoßende, auf Widerspenstigkeit Angelegte bleibt außen vor. Den Unterschied macht die Diskretion, eine Tugend, die in der Moderne vielfach verachtet wurde. Hier soll sie respektiert werden.

The North/South Question (One Minute Sculptures), 2007. Anleitung, Zeichnung auf Karton.

Erwin Wurm mit seiner Mutter beim Skifahren, um 1959.

Erwin Wurm mit seinen Eltern, um 1955.

Big Mutter, 2015 (Ausstellungsansicht, Trap of the Truth, Yorkshire Sculpture Park, UK, 2023). Bemalte Bronze, 400 × 205 × 110 cm.

Vater II, 2017. Glas, Gips, 49 × 12 × 18 cm.

Narrow House, 2022 (Dauerausstellung, Place Léon Meyer, Le Havre, Frankreich). Mischtechnik, 915 × 130 × 1880 cm.

Narrow House, Innenansichten.

Erwin im Fasching. Er geht als Chinese, um 1957/58.

Erwin Wurm wurde am 27. Juli 1954 in Bruck an der Mur geboren. Solche Sätze sind in Stein gemeißelt, auch wenn sie nicht viel zu besagen haben. Das obersteirische Bruck ist nichts anderes als der Geburtsort, denn der Wohnort war Kapfenberg, fünf Kilometer die Mürz flussaufwärts, die sich in Bruck mit der Mur vereint. Die Geburt des Stammhalters hat die Situation in der Etagenwohnung in der Grazer Straße nicht gerade verbessert, es war die klassisch ärmliche Konstellation von Zimmer-Küche-Kabinett, wozu dann auch die Bassena gehört, die Toilette samt Waschgelegenheit im Treppenhaus. Das Eisenbahnergebäude sieht nach vorne malerisch aus, eine Ahnung von Jugendstil strahlt es aus mit einer friesartigen Holzverschalung unter der Traufe und farblich akzentuierten Fensterrahmen. Doch die Wohnung ging nach hinten, eine Gasse namens Bräuerleiten zieht sich den Hügel hoch, und der Hof zwischen Haus und Hang war ein erster Spielplatz. Man teilte sich die Wohnung zu fünft, die jungen Eltern schliefen im Kabinett, das Baby kam zu den Großeltern, väterlicherseits, die das Hauptzimmer hatten – dem Großvater, der bei der Bahn arbeitete, war die Unterkunft zu verdanken. Dann gab es noch die Küche, in der ein großer Emailherd für alles Warme sorgte – spärlich genug für ein Leben, das sich nicht proletarisch verstand. Schließlich war der Vater, Jahrgang 1926, Polizist, Straßenpolizist damals, ein Gendarm. Die Mutter, Jahrgang 1934 und also gerade zwanzig bei Erwins Geburt, teilte mit ihrem Mann den Namen, den Vornamen, denn beide, Johann und Johanna, wurden Hansi genannt – das Faible für Sprachspiele lag womöglich schon in der Wiege.

Die Mutter war Verkäuferin in der Konditorei Schilcher in Kapfenberg gewesen, und dort war ihr der Zukünftige über den Weg gelaufen. Sie stammte aus einem Ort namens Thörl, auch nur wenige Kilometer entfernt. Unisono wird die Mutter als freundlich, zurückhaltend und dabei ausnehmend attraktiv beschrieben, ein traditionelles Bild, dem das des Vaters als beeindruckend, selbstbewusst und mit Autorität ausgestattet korrespondiert. Abermals eine klassische Konstellation, in der sich eine konventionelle Vorstellung von Familie mit der zaghaften Idee, eine neue Generation zu verkörpern, verbindet. Diese Ahnung von einem im Irgendwo lancierten Es-einmal-besser-Haben scheint dem kleinen Erwin auf den Leib geschrieben, und wieder ist die Instanz die Sprache. Der Junge sollte hochdeutsch reden, das war der Mutter sehr wichtig, und tatsächlich trägt bei ihm das weiche, nonchalante Österreichisch, das die Welt ohnedies liebt und es dem schneidigen Deutsch so gern entgegenhält, eine Art elaborierten Ton – nicht, dass es als Varietät nicht bemerkbar wäre, aber es hat etwas auf Sympathie Angelegtes, sozusagen Gutaussehendes, etwas, dem man die Erziehung anmerkt. Heute, in Bezug auf die große Welt, liegt darin eine Qualität. Der Künstler erinnert sich gut, wie ihm das anfangs zum Vorwurf gemacht wurde, als Schnöseligkeit und Prätention.

Im Narrow House präsentiert sich neben der gequetschten Version des Fotos von Kleinkind und Papa ein weiteres, ohne Verzerrung, denn es ist an einer Längs- und nicht an einer Querwand zu hängen gekommen. Es zeigt den kleinen Erwin als Chinese, in einem kaum Verkleidung zu nennenden Kostüm, wie man es Kindern zum Fasching/Gschnas/Karneval anlegt. Die Darbietung mag aus der Zeit gefallen sein, doch sie berührt vor allem im Kontrast zum Fond des Ganzen, zur Umgebung dieser Ausstaffierung, die aus nichts als der unberührbaren Tristesse des Hinterhofs besteht. Da mag das karge Lächeln des Kleinen, sein allzu offensichtliches Bemühen, fröhlich zu wirken, eine Atmosphäre eingefangen haben – und mit ihr die Entscheidung, das Foto ins Enge Haus zu integrieren.

Dann gibt es noch eine Aufnahme – nicht im Narrow House zu sehen – vom obligatorischsten aller Anlässe für den Einsatz der Kamera. Sie ist so sprechend, dass man sich ein paar Worte dazu nicht entgehen lassen kann. Vor einem stattlichen Christbaum hat sich die junge Familie in Positur begeben, alle blicken gespannt aufs offenbar vom Großvater gehandhabte Objektiv: links der Vater, dann die Mutter, auf deren Schoß der Junior, angetan mit dem gleichen weißen, sichtlich gestärkten Hemdkragen wie der Senior, der indes einen Pullover trägt, während der Sohn es nur zu einem Pollunder bringt (die gleichsam feminine Rundung des Bündchens der Mutter schlägt dazu noch einen Bogen). Ganz rechts schließlich, scheinbar um den Bestand der Kernfamilie Vater – Mutter – Kind – Kind zu vervollständigen, Erwins bester Freund damals, Alois Pierer mit Namen. Fokus der Veranstaltung ist ohnedies ein Roller, offenbar das Geschenk, ziemlich überdimensioniert und für den Moment noch völlig außer Gebrauch. Doch der Abend, erinnert sich der Künstler, endete insgesamt im Fiasko, denn der Christbaum fing Feuer und musste entsorgt werden durch beherzten Wurf aus dem Fenster. Wie der Roller war auch er für andere Größenverhältnisse als jene der Kapfenberger Situation vorgesehen.

1960 wird sich der Zustand ändern. Die Kernfamilie wird vervollständigt, denn die Schwester Eva kommt auf die Welt, und die bisherige Wohnung wird endgültig zu klein. Der Vater geht zur Fortbildung nach Wien und kehrt als Kriminalinspektor zurück, auf den nun neue Aufgaben in der Großstadt warten. Die Destination ist Graz, man bezieht in der Wilhelm-Raabe-Gasse im dritten Bezirk ca. 80 Quadratmeter in einer Anlage der BUWOG, der „Bauen und Wohnen Gesellschaft mit beschränkter Haftung“, die seit ihrer Gründung 1950 für Bundesbedienstete der Republik Österreich Wohnraum zur Verfügung stellte. Die Familie ist nun zu viert, denn die Großeltern bleiben am alten Domizil in Kapfenberg. Die Zeiten wurden insgesamt splendider, der Nachkrieg machte dem Wohlstand Platz. 1958 eröffnet Spar in Graz seinen ersten Selbstbedienungsladen, Kastner & Öhler, das Großkaufhaus am Hauptplatz, installiert im Jahr darauf die erste Rolltreppe der Steiermark, und die Ausstellung „Neues Bauen, neues Wohnen“ in den jüngst erbauten Häusern an der Keplerstraße führt 1960 vor, wie zeitgemäße Gediegenheit aussieht – mit Essecke und Sideboard. Erwin sieht in diesem Jahr in der Volksschule Graz-Geidorf in der Muchargasse die Welt der Bildung von innen. „Der Fortschritt war der Horizont des Lebens“, heißt es bei Annie Ernaux – was sie schreibt, erinnert mich so an meine Familie: „Er versprach Wohlstand, Gesundheit für die Kinder, elektrisches Licht in den Häusern, Straßenlaternen, Bildung, alles, was den Krieg und die dunklen Seiten des Landlebens vergessen ließ. Der Fortschritt steckte im Plastik und im Resopal, in Antibiotika, in der Krankenversicherung, im fließenden Wasser, in der Kanalisation, in Ferienlagern und höherer Bildung, im Atom. ‚Man muss mit der Zeit gehen‘, sagten die Leute bei jeder Gelegenheit, als wäre das ein Zeichen von Intelligenz und Weltoffenheit.“ (Ernaux, 43) Graz wird Erwin Wurms Wohnort bleiben, bis er 1977 zum Studium nach Salzburg geht.

Weihnachten in Kapfenberg: der Vater, die Mutter, der Erwin und der Freund Loisl; dazu ein überdimensionaler Roller und ein überdimensionaler Christbaum.

Erwin Wurm mit seinem Großvater Leopold Wurm, 1955; nach seiner Pensionierung bei der Bahn arbeitete der Großvater im Wach- und Schließdienst und verschaffte dem Enkel hier bisweilen Ferienjobs.

Erwin mit seiner sechs Jahre jüngeren Schwester Eva, 1964.

In kultureller Hinsicht war Graz in den 1960ern avancierter als die Hauptstadt. Während in Wien die Tendenzen bestenfalls in Hinterzimmern und Etagenwohnungen blühten und Kulturgeschichte als Camouflage betrieben wurde, die zwar die Exekutive, aber kein Publikum auf den Plan rief, gab es in Graz so etwas wie Institutionen. Das „Forum Stadtpark“ war 1959 ins Leben gerufen worden, Ort der Musik und der Literatur mit seiner 1960 erstmals erscheinenden Zeitschrift „manuskripte“. Als Pendant in der bildenden Kunst existierte bereits seit 1952 das „Künstlerhaus“. Seit 1963 gab es „trigon“, als „Dreiländer-Biennale“ für Österreich, Italien und das damalige Jugoslawien, eine Ausstellungsreihe, die bis 1991, als die politischen Umstände alles anders machten, funktionierte. Und als hätte man damals schon um eines der Zauberworte gegenwärtiger Kulturpolitik, die Festivalisierung, gewusst, rief man 1968 den „steirischen herbst“ ins Leben, als Jahreszeit für das Stelldichein von allem, was sich in den Begriff Avantgarde kleiden ließ. Kaum auszudenken, dass einige der Initiativen aus der steirischen Landespolitik kamen und von Anfang an ein öffentliches Interesse jedenfalls mitformuliert worden ist. So liest sich der chronologisch früheste Eintrag für eine Einzelausstellung auf Erwin Wurms Website: 1981 Forum Stadtpark, Graz, Austria. Aki Bleich-Rossi, der Grazer Galerist, gab gern folgende Erklärung für sein Engagement vor Ort: „Wien hat die Touristen, Linz hat die Industrie, Salzburg hat die Festspiele, Innsbruck hat die Berge und sogar Leoben hat den Fußball. Nur Graz hat nichts als die Kultur.“ Mir bleibt Bleich-Rossi unvergessen als einer der hellsichtigsten Vertreter der aktuellen Produktion in Österreich und als der Mann mit den besten Manieren im Kunstbetrieb. 1985 hat Erwin Wurm dann auch in seiner Galerie eine Solo-Präsentation. Für einige Jahrzehnte war Graz in der Tat so etwas wie ein Sehnsuchtsort.

Jenseits des Hochkulturellen kann Graz mit zwei Personen aufwarten, die als „Große Söhne“ gelten: Jochen Rindt, der Formel-1-Pilot, der hier zwar nicht geboren wurde, aber noch in seinem ersten Lebensjahr nach Graz kam, einer der ersten Rennfahrer mit jenen Popstar-Qualitäten, wie sie in den 1960ern auf Massentauglichkeit hin abgesteckt wurden. 1970 starb er 28-jährig beim Grand Prix in Monza. Und natürlich Arnold Schwarzenegger, geboren 1947 in der westlichen Peripherie von Graz, die „steirische Eiche“, Bodybuilder, Terminator, Gouverneur. Anders als bei Rindt ist Erwin Wurm künstlerisch von ihm fasziniert. Es gibt zwei Akteure, zwei Plastiker des späteren 20. Jahrhunderts, die mich sehr interessieren, Plastiker, die keine Bildhauer sind. Zum einen Michael Jackson, zum anderen Arnold Schwarzenegger, zwei Darsteller und Selbstdarsteller, die signifikante Veränderungen an ihren Körpern vornehmen ließen und darin gleichsam skulpturale Arbeit leisteten. Bei Schwarzenegger ist es, auf den Punkt gebracht, sein Volumentransfer, und Wurm hat versucht, ihn zu interviewen. Er ist dann Gouverneur geworden, das hat mir den Wind aus den Segeln genommen. Auch mit Jackson verlief es im Sand.

Krawatte in der Küche: Erwin mit seiner Mutter Johanna, 1973/74.

Mein Vater hat mir immer Kriminalgeschichten erzählt. Er hatte mit Mördern und Raubüberfällen zu tun. Was ich am interessantesten fand, was mich erstaunte und zu seiner Welt hinzog, war, dass die Leute, die er ins Gefängnis steckte, ihn liebten. Er hat sie weggesperrt, oftmals für Jahre, aber dort machten sie Basteleien für ihn, die sie ihm schickten. (COS 2013, Übersetzung R. M.) Ein wenig wie das beliebte Kinderspiel „Räuber und Gendarm“ schien dem Jungen, was sein Vater im täglichen Beruf machte. Speziell dessen Beliebtheit faszinierte ihn. Gewöhnlich redete er sie an wie „Charlie, nicht du schon wieder oder „jetzt hast du schon wieder denselben Fehler gemacht, und sie erwiderten „Ich weiß, ich weiß, ich bin so dumm, es tut mir so leid. Er wurde eine Vaterfigur für sie, eine Autorität, die sie mochten und schätzten. Und sie machten ihm Geschenke. Vielleicht hat mich das zum ersten Mal zur Skulptur gebracht. (COS 2013) Geschenke etwa in Gestalt des Grazer Uhrturms, des Wahrzeichens der Stadt – verfertigt aus Tausenden von Streichhölzern von einem der Delinquenten, wie der Vater seine Klientel nannte. Nach seiner Fortbildung war Johann Wurm in Graz bei der Sitte gelandet, später kam er in die Mordkommission. Es war durchaus gefährlich, einmal fing er sich eine Blutvergiftung ein, es hatte eine Verfolgungsjagd gegeben, es kam zur Schlägerei und er wurde gebissen. Einen Messerstich in den Oberschenkel gab es auch. Und dann war da noch das Auffinden von Leichen nach drei, vier Wochen, wo alles voller Maden war. Man kann sich vorstellen, wie aufregend das war. Eine erfolgreiche Karriere, so sieht es auch der Sohn: Mein Vater ist gut angekommen. Bei seiner Beerdigung – er starb im Jahr 1995 – waren über 1.000 Menschen. Indes: Polizist wollte ich nie werden.

Einmal sollte der Sohn speziell angeben mit seinem Vater. Mittlerweile war er im Gymnasium in der Carnerigasse, näher an der elterlichen Wohnung gelegen als seine Volksschule. Er war geworden, was man Mittelschüler nennt, und einer seiner Klassenkameraden hatte einen Jäger als Vater. Man vereinbarte eine Art Waffentausch, der eine sollte ein Jagdgewehr, der andere eine Pistole mitbringen, doch nur Erwin hielt sich an die Vereinbarung. Natürlich wurde er erwischt, und auch wenn keine Munition dabei war, trug es ihm sogenannten Karzer ein, neun Stunden Festsetzen nach dem Unterricht, Vorladung des Vaters und Androhung des Schulausschlusses. Nachsitzen musste er öfter, doch diese Schmach blieb dem Schüler im Gedächtnis. Er legte auch eine Ehrenrunde ein, nach der dritten Klasse durfte er ein Jahr wiederholen. Er war dreizehn und absolvierte fortan in seiner Pubertät das Übliche. Vielleicht reicht dieser Satz: Ein großer Trinker war ich nie. Experimente mit „Echnatol“-Reisetabletten, die, nun ja, eine halluzinogene Wirkung haben können, legt man es nur intensiv darauf an, haben handelsüblich stattgefunden. Sein erstes eigenes Buch kauft er sich mit vierzehn. Dass es Bertolt Brechts „Die Geschäfte des Herrn Julius Cäsar“ war, erwähnt er heute mit einem gewissen Stolz. Er ist geschlagen worden von seinem Vater, „Watschen“, wie das verniedlichend im örtlichen Idiom heißt, hat es schon gesetzt. Das Gewaltsame des Verfahrens erachtete man als alltäglich. Erst im Nachhinein, wenn man liest und hört und reflektiert, kommt man darauf, dass es anders hätte gemacht werden sollen. Alles in allem war es eine glückliche Kindheit.

Leger in der Liege: Eva mit ihrem Vater Johann, 1965.

Elisabeth von Samsonow, Künstlerin und Philosophin, Universitätslehrerin, langjährige Freundin und Nachbarin der Wurms sowohl in Wien als auch am Zweitwohnsitz in Niederösterreich, gibt so etwas wie die Familienpsychologin, und sie ist beim Gespräch anlässlich dieses Buches um keine Seelenschau verlegen. Auch sie findet in Erwin Wurms Vergangenheit nichts anderes als das gut Verdaute einer für damalige Verhältnisse unproblematischen Kindheit. „Er hatte supernormale Eltern, sogar noch gruselig normalere Eltern als andere.“ Daraus konnte sich dann eine spezielle Kreativität entwickeln, meint sie: „Interessant, wo man überall die Kuckuckseier hinlegen kann, und er ist ein echtes Kuckucksei. Er hat sich schon als Kind für alles interessiert, was nicht war, was er war. Er ist extrem resilient und selbstbewusst. Nur aus der Beschädigung heraus kann man so eine Karriere nicht machen.“ (Gespräch mit Elisabeth von Samsonow, 21.3.2023) Das Stichwort heißt also Normalität. Vielleicht sollte man nochmals Annie Ernaux zitieren, denn sie facettiert virtuos auf, was es heißt, wenn die Lage ist, wie sie ist: „Nachdem man jahrelang getrennt durch die Stadt gezogen und sich nur in Gruppen begegnet war, begannen Jungen und Mädchen, sonntags nach der Messe oder nach dem Kino miteinander zu reden. Die Jungs parodierten ihre Lehrer, machten anzügliche Späße, dachten sich obszöne Wortspiele aus, nannten sich gegenseitig ‚Muttersöhnchen‘, fielen einander ins Wort.“ (Ernaux, 64/65) Was bei Ernaux sich zusätzlich geltend macht, ein Gefühl der Scham angesichts eines immer steiler werdenden Gefälles der Bildungsniveaus, kennt Erwin Wurm nicht.

„Im Herbst 1811 zog ein Komet über den Himmel der K.-u.-k.-Monarchie Österreich-Ungarns.“ So beginnt der Eintrag zu Franz Liszt auf Österreichs offiziellem Tourismusportal austria.info. „Eine Wahrsagerin prophezeite mit dem Streifzug des Kometen über Raiding den Eltern von Liszt die Geburt eines Genies. Unter diesem guten Stern erblickte das einzige Kind des Ehepaares Adam und Maria Anna das Licht der Welt. Die Frau aus dem fahrenden Volk sollte Recht behalten: Liszt wurde Komponist, Musiker, Schriftsteller, Geistlicher, Gelehrter, Orchesterdirektor, Dirigent, Theaterdirektor und Pianist.“ So ein umherschweifender Himmelskörper kann eine Obsession sein. Der Schriftsteller und notorische Querdenker Ernst Jünger durfte über hundert Jahre alt werden, um ihn in Gestalt des Halleyschen gleich zweimal in seinem Leben zu bewundern – einmal, 1910, als Fünfzehnjähriger, das andere Mal, 1986, mit über neunzig, flog er ihm bis Malaysia hinterher. Komet und Kreativität teilen das Initial, und so gehört zu einer anständigen Künstlerlegende eben ein Komet. Erwin Wurm pflegt des Öfteren auf einen astronomischen Gast zu verweisen, einen „Vagabunden“, wie es im „Komentenlied“ des Johann Nepomuk Nestroy heißt, einem Gassenhauer der österreichischen Liedkultur. Dann rekapituliert Wurm, dass aus dem Gelände Wilhelm-Raabe-Gasse 9, in dem er aufwuchs, zwei weitere Gewächse sprossen, die es mit der Kunst zu tun hatten: zum einen Hortensia Fussy, ebenfalls Jahrgang 1954, Bildhauerin, Schülerin des steirischen Skulpturen-Urgesteins Josef Pillhofer, zum anderen Manfred Marburger, zwei Jahre älter, Maler, der heute in London lebt und Erwin seinerzeit schwer beeindruckt hat. Zur Erklärung für diese gewisse Fülle an bildendem Elan führt Wurm einen Kometen an, der womöglich damals sein Wesen am Firmament trieb: Als ich klein war, flog ein Komet – ein Stück Fels aus dem Universum – über unser Haus. Drei der Menschen in dem Gebäude wurden künstlerisch tätig, obwohl niemand weiß, wie oder warum. Ich war einer von ihnen. Ich glaube wirklich, es war wegen des Kometen. (COS 2013) Oder: Ich bin anfänglich in einem Mehrfamilienhaus aufgewachsen. Zwei andere Kinder aus diesem Haus sind auch Künstler geworden. Vielleicht ist ein Komet über dieses Haus geflogen. Zusatz: „(lacht)“. (Xecutives.net 2018) Längst zieht die Geschichte Kreise. In Photographs, Wurms Zusammenstellung fotografischer Arbeiten aus dem Jahr 2020, dient sie dem einleitenden Essay von Laurie Hurwitz als Motto. Und als im März 2023 einige seiner Malereien im neuen Flagship Store von Louis Vuitton am Wiener Graben vorgestellt wurden, handelte die Eröffnungsrede ihrerseits davon. Se non è vero è ben trovato. Die augenzwinkernde Vorliebe des Künstlers für parapsychologische Erklärungen, für Levitation und Telekinese, wird noch des Öfteren in diesem Buch auftauchen.

Da ist dann noch so eine Episode, und sie hat mit jenem musikalischen Moment zu tun, den alle Jugendlichen irgendwann einmal haben. Obwohl der Künstler zu verstehen gibt, keine Beschallung zu mögen, wenn er bildnerisch arbeitet, leistete er sich einst ein diesbezügliches Faible. Er spielte Leadgitarre in einer Band, Ultrasound war der gewiss ehrgeizige Name, und man nahm sogar an einem Wettbewerb teil. Sie wurden 18. von 22 an den Start Gegangenen, dann haben wir wieder aufgehört. Lieblingsmusik damals, um 1970? Die Beatles und Jimi Hendrix, sagt Wurm, und das ist schon wieder an der Kippe zum Falschen, so richtig ist es. Und dann sagt er noch etwas Drittes: Dave Dee, Dozy, Beaky, Mick & Tich, eine eher seichte Combo aus dem England nach 1966. Warum auch immer gerade diese fünf, sie sind jedenfalls präsent in seiner Erinnerung, und wenn schon ein Komet als Erklärung taugt, dann auch Wurms Kunst. Schließlich heißt der bekannteste Hit der Band „Bend It“ und beschreibt also ein Verfahren, das auch bei gewissen Phänomenen, deren Wurm sich annimmt, zur Anwendung kommt. Könnte eine Verbindung bestehen zwischen dem Biegen als gesungener Aufforderung und jenem als vollzogene Bildhauerei? Sigmund Freud ist immer zwischen uns.

Für die Oberstufe wechselt er an das musisch-pädagogische Realgymnasium am Hasnerplatz in Graz, weiterhin gleich um die Ecke von dort, wo er wohnt. Ein Jahr vor Schulende ist ein Foto entstanden, das seine Klasse mit ihren satten drei Dutzend an Kameraden zeigt. Ein sehr homogener Verein ist da zu sehen, ihre Herkunft lokal, ihr Outfit der International Style der Provinz, die Frisuren noch sehr zurückhaltend, manche richtiggehend mit Fassonschnitt, einer trägt sogar eine Krawatte, allerdings zu einer Art Collarless Suit, als spielten die Beatles noch vor schreienden Mädchen. Der zeitkonforme Nonkonformismus ist ziemlich gebändigt, jedenfalls am Tag, an dem der Fotograf gekommen ist. Unterhalb der Aufnahme zieht sich ein Papierstreifen entlang, auf ihm haben die Porträtierten ihre Unterschriften platziert, oftmals, der österreichischen Konvention entsprechend, unter Erstnennung des Nachnamens. Auch ein Wurm Erwin ist zu lesen. Selbstverständlich ist er auch zu sehen, sein Konterfei prangt ziemlich genau im Zentrum, mit verschränkten Armen sitzt er da, den Blick leicht von der Kamera abgewandt, er wirkt schüchtern, und die Haare wagen sich allein um wenige Zentimeter über die Ohren. Im Mai 2023 feierten sie fünfzigjähriges Maturajubiläum, ein langes Leben seit dem Abitur, ein halbes Jahrhundert. Erwin war dabei. Die konnten sich an so viele Dinge erinnern, an Zitate aus dem Unterricht. Ich habe das alles vergessen oder verdrängt. Dafür steht er noch mitten im Leben.

„Keiner geht mit Erwin ins Museum oder in Ausstellungen“, schreibt Élise Mougin-Wurm in ihrem Buch „Der Bildhauer, der keine Skulpturen machen wollte“, das 2020 im französischen Original und 2022 auf Deutsch erschienen ist. Der Titelheld ist ihr Mann, die von der Bildergeschichte, die erzählt wird, vor allem Angesprochenen sind Kinder, das Ergebnis ist ein Album für Familien, geschrieben und illustriert von einer, die es wissen muss. Wie geht das also mit der Kunst, vor allem wenn ein ständiger Moment des Contre-Coeur mitspielt? Élise Mougin-Wurm rekapituliert: „Als Kind sammelt er Zinnsoldaten, aber nicht um Krieg zu spielen, sondern weil er die bunt bemalten Figuren einfach schön findet. Außerdem malt er sehr gern und verbringt viele Stunden damit, detailgenaue Bilder mit einem sehr dünnen Pinsel zu machen. (Er ist ganz besonders kreativ, wenn es darum geht, seine kleine Schwester Eva zu ärgern.)“ (Mougin-Wurm, o.S.) Zwischen einem nicht sehr musischen Elternhaus und der Lebensentscheidung zur künstlerischen Existenz weist einem dann oft eine Instanz den Weg, eine Interferenzfigur in Gestalt der Lehrerin oder des Lehrers. Diese Personen treten sowieso auf, unausweichlich, man kann sie mögen oder nicht, doch hilfreicher ist es, wenn man der einen oder dem anderen mit Sympathie begegnet. Bei Erwin Wurm heißt der Lehrer Norbert Nestler.

Élise Mougin-Wurms Kinderbuch „Der Bildhauer, der keine Skulpturen machen wollte“, 2020. Im Original französisch, ist das Buch 2022 in deutscher Ausgabe erschienen.

Geboren 1942 in Wien, studierte Nestler an der dortigen Akademie Lehramt Kunsterziehung, kam 1966 nach Graz und unterrichtete fortan an verschiedenen Gymnasien, darunter auch an Erwin Wurms Schule am Hasnerplatz. Auch als Lehrer blieb er Künstler, war Mitglied des „Forums Stadtpark“ und sorgte für Aufsehen mit öffentlichen Performances, indem er etwa als Inkarnation der sinistren Romanfigur Dr. Fu Manchu durch die Straßen ging und Leute ansprach, die des Weges kamen. „Wenn du in die Schule gehst, lernst du einen bestimmten Kunstbegriff – ein wenig Kunstgeschichte, ein wenig Zeichnen, ein wenig Geometrie. Du hast eine allgemeine Vorstellung, was mit Kunst gemeint ist. Die Ausbildung will, dass du Kalenderblätter identifizieren kannst. Norbert Nestler war auf einmal jemand, der den Kunstbegriff praktiziert. Das ist eine Kategorienverschiebung.“ Nestler hat neben Wurm einem zweiten Schüler die Richtung gewiesen. Gregor Schmoll, Jahrgang 1970 und ebenfalls in Bruck an der Mur geboren, heute wohnhaft in Wien und ein anerkannter Künstler, Musiker und Spezialist für Ludwig Wittgenstein, war auf der Nachfolgeanstalt des Gymnasiums am Hasnerplatz, einer Art Erweiterung des Hauses, situiert in der Grazer Monsbergergasse. Anders als Wurm war Schmoll ein renitenter Schüler, er hat, wie er es nennt, „zweimal repetiert“, um dann unter den Fittichen Nestlers seine Berufung zu finden. Von ihm stammen die obigen Zeilen. Und auch diese: „Es gibt ja viele Wald-und-Wiesen-Maler und -Künstler, die den Kunsterzieherstatus haben, aber im Endeffekt keine künstlerische Entwicklung durchmachen und ganz in ihrer Pädagogik aufgehen. Nestler war primär Künstler. Er hat so eine Begeisterung für die Kunst vermittelt, jedenfalls für Leute wie Erwin und mich, die das vielleicht im Keim schon in sich getragen haben.“ (Gespräch mit Gregor Schmoll, 21.4.2023) Nestler muss eine Erscheinung gewesen sein, „immer im Anzug, mit englischen Stiefeletten“, in späteren, schüttereren Jahren mit einem Haarzöpfchen am Nacken. Künstler wie er tragen einen Habitus.

„Als Erwin seinen Eltern verkündet, dass er Maler werden möchte“, heißt es im Bändchen über den „Bildhauer, der keine Skulpturen machen wollte“, „ist ihnen völlig klar, dass er eines Tages arm … als Bettler … als Krimineller … landen wird“ – wobei die drei Wendungen mit den Pünktchen im Layout so gesetzt sind, dass sie eine absteigende Linie vollführen und damit den Weg in den Abgrund, der ja so sicher ist, schon in ihrer Anordnung abstecken. „Daher“, so geht es im Buch weiter, „beginnt Erwin erst einmal, Philosophie und Kunstgeschichte zu studieren, um Lehrer zu werden.“ Vor allem studiert er drei Jahre auf Hauptschullehrer, und er muss dafür nicht einmal das Areal wechseln. Er wird Student an der Pädagogischen Hochschule Steiermark, am Hasnerplatz 12, dort, wo auch schon sein Gymnasium untergebracht war. Begleitend dazu inskribiert er an der Universität Graz in Germanistik und Kunstgeschichte, aus Interesse, denn dem elterlichen, vor allem väterlichen Wunsch entsprechend bereitet er sich auf etwas Gediegenes, mit Sicherheit Versehenes vor. In den drei Jahren seines Grazer Studiums lebt und arbeitet er im Haus ziemlich weit draußen, in der Rinneggerstraße, das die Familie in der Zwischenzeit bezogen hat. Das Zweitstudium an der Uni hat er nicht abgeschlossen, das zerbröselt sich dann. Aber er ist Hauptschullehrer. Für zwei ganze Wochen im Herbst 1977 hat er auch eine Stelle innegehabt, in Sinabelkirchen, 25 Kilometer von Graz Richtung Oststeiermark, bekannt vor allem durch den unsterblichen Reim „Ich spiel höchstens noch in Graz, Sinabelkirchen und Stinatz“ aus „Fürstenfeld“, dem Superhit von STS. Nach vierzehn Tagen ereilte ihn die Mitteilung, dass er für ein Kunststudium am Salzburger Mozarteum vorgesehen sei. Ein Kollege in Sinabelkirchen meinte, das ist doch ein Lebensjob, den du hier hast. Darauf ich: Gerade deswegen will ich wieder gehen.

Von der Chronologie her in spätere Jahre reichend, aber definitiv in ein Kapitel über Graz, seine Umgebung und das Leben darin gehörend, soll im Folgenden eine Konstellation Revue passieren, für die der Begriff Freundschaft zu weit ginge. Vielleicht war es eine Kumpanei, vielleicht auch eine Zweckgemeinschaft. Eine Männerbündelei, eine Bubenpartie, die immer wieder auch von einer anderen Seite als jener Wurms her beleuchtet wird. Es geht um Werner Schwab, das Enfant terrible, wie man das dann nennt, das Wunderkind und den Zuspätgeborenen jenes speziellen Theaters der Grausamkeit, für das Österreich ohnedies berühmt ist. Schwab, knapp vier Jahre jünger als Wurm, lebte als verkanntes, in Alkohol eingelegtes Genie in Graz, besuchte die dortige Kunstgewerbeschule, schwankte zwischen Bild und Text hin und her, ging 1978 nach Wien, um ganz seriös an der Akademie bei Bruno Gironcoli zu studieren, doch kam er immer wieder zurück in die Heimatstadt, wie es auch Erwin Wurm von Salzburg her praktizierte. Ein Dritter gehört zur Runde, Janos Erdödy, der Älteste der drei, ebenfalls mit künstlerischen Avancen, die er im Jahr 1978 in eine Galerie in der Grazer Elisabethstraße goss, die er „Cool Tour“ nannte. Werner Schwab hatte dort eine Einzelschau, anschließend kam Erwin Wurm an die Reihe. Es war seine erste Solo-Show, heute führt er sie nicht mehr an, doch in Publikationen der 1980er-Jahre scheint sie noch auf als Initialzündung.

„Cool Tour – Produzentengalerie“ von János Erdödy in Graz, 1978. Als Türsteher ein Künstler, davor Werner Schwab, ein Literat.

Wurms großangelegte, eine erste Zusammenfassung bietende Präsentation seiner One Minute Sculptures in der Grazer Neuen Galerie 2002 wagt in ihrem Katalog einen interessanten Rückblick: Die Innenklappen vorne und hinten führen ein Schwarz-Weiß-Foto vor, ein wenig unscharf und sichtlich in die Jahre gekommen, das Wurm und Schwab zeigt, wie sie vor dem Schaufenster der Ladengalerie von „Cool Tour“ stehen. Es muss aus dem Jahr 1978 stammen, Wurm steht in der Eingangstür, Schwab, der ein Riese war, in Augenhöhe auf der Straße, in vertrautem Duett. Erdödy hat das Foto gemacht. Als Peter Weibel – der Kurator der Neuen Galerie und Vielzweckwaffe der österreichischen Avantgarde, Medienkünstler, Impresario, „Polyartist“, wie er sich selbst nannte, ein begnadeter Fädenzieher, der vor Kurzem allzu plötzlich verstorben ist – die Aufnahme in sein Katalogbuch aufnahm, hat er niemanden um Erlaubnis gefragt. Und auch nicht bei der Integration eines Ausschnitts aus einem Stück von Schwab, viel später entstanden, eines der letzten des am Neujahrstag 1994 seinerseits viel zu früh verstorbenen Autors. Das Stück heißt „Volksvernichtung oder Meine Leber ist sinnlos“, wurde im November 1991, als Schwab längst die Sensation der Saison war, an den Münchner Kammerspielen uraufgeführt und hat einen Protagonisten mit einem sprechenden Namen: Er heißt Wurm.

„Es ist ein Skandal. Es ist in Wahrheit ein Skandal, der keiner sein kann, weil ein Untermensch wie Sie selbstverständlich skandalunfähig ist. Der einzige Skandal an Ihnen ist Ihre Geburt, Frau Wurm. Wurm… Wurm… auch so eine Abartigkeit als namentliche Konstellation, so eine Untertreibung als Größenwahn.“ (Schwab, 144) Natürlich ergibt es nicht viel Sinn, aus einem Stück, das eine einzige Übertreibung ist, ein paar Sätze zu nehmen, um aus ihnen welche Absicht auch immer zu destillieren. Hermann Wurm und seine Mutter werden jedenfalls in ihrer Wohnung heimgesucht von einem parasitären Schlag an Menschen, die Schwab-üblich eines wollen: auf die Nerven gehen mit allem, was ihnen verbal und gastrointestinal zur Verfügung steht. Die Stelle, die Weibel für das Innencover nimmt, liest sich demgegenüber ein wenig zugänglicher: „Frau Wurm: Aber was ist das dann denn für eine Sorte von einer Kunst, die Grazkunst? Hermann Wurm: Also die Grazkunst… diese Kunstsorte, das ist, wenn die künstlerischen Menschen ihre Gefühle in der gefühlvollen Stadt… zusammenreißen… also wenn eine Kunstsorte sich einen einmaligen Anfang herausnimmt aus dem gefühlvollen Grazmenschen.“ (Schwab, 130; die Pünktchen sic!) Es gibt noch ein zweites Stück von Schwab, in dem Frau Wurm und ihr Sohn Hermann die Hauptrolle spielen, „Der Himmel mein Lieb meine sterbende Beute“ betitelt und im November 1992 am Staatstheater Stuttgart uraufgeführt. Hier wird Wurm als „Kunstmaler“ bezeichnet, ein Prädikat, das ihm im früheren „Fäkaliendrama“, wie Schwabs erste Bühnenstücke zusammengefasst werden, nicht gestattet war. Und er ist erfolgreich. Als Schwabs Theater entstand, hatten sich der Schriftsteller und der Künstler längst nichts mehr zu sagen. Erdödy erinnert sich so: „Der Erwin hat die Aggressionen vom Werner nicht ausgehalten, aber auch das Trinken.“ Überhaupt sei ihr Verhältnis nie so eng gewesen. (Gespräch Erdödy mit Barbara Belic, veröffentlicht am 10. Dezember 2018 vom Literaturhaus Graz, zu sehen auf Youtube) Offenbar war es zu einem ganz buchstäblichen Schlagabtausch zwischen den beiden gekommen, 1978 noch, im Umfeld der Galerie. Das war es dann gewesen.

Eine Geschichte gibt es noch zu erzählen, sie spielt im Jahr 1977 und handelt nicht in Graz, sondern 800 Kilometer entfernt, in Kassel. Sie ist aber in Graz ausgeheckt worden und gehört ins Umfeld der Kumpelhaftigkeiten von damals. Erdödy und Wurm bildeten eine Künstlergruppe, die sich den stolzen Namen Demok gegeben hatte, für Demonstration und Kunst. Das war seinerzeit durchaus handelsüblich, und der Ort für eine nachhaltige Demonstration von Demok war jener, wo nicht zuletzt Joseph Beuys als Haupt- und Staatsakteur eines solchen an die Öffentlichkeit gerichteten Verständnisses für Furore sorgte, die documenta, Ausgabe 6. Demok fuhr also nach Kassel, richtete sich am Zeltplatz ein und gedachte, das Terrain aufzurollen. Man hatte Flugblätter vorbereitet, sie sollten zur Verteilung kommen bei einem Auftritt, der sich Christo, den Land Artist, den Verpackungskünstler, vorgenommen hatte. Christo hat schon so viel gemacht. Wir haben uns gedacht, jetzt packen wir ihn selber ein, damit das mal ein Ende hat. Spektakulär sollte es sein, wie es die Aktionskunst längst etabliert hatte und wie sie in Österreich zu ihrem Ismus gekommen war, zum, mit dem Begriff von Peter Weibel, „Aktionismus“. Gelegenheit ergab sich bei der Aufführung eines Films im Beisein des Künstlers, der Christos Arbeit „Running Fence“ dokumentierte. Wir sitzen im Publikum, Flugblätter und Plastikplane dabei, mir wird immer mulmiger und komischer zumute. Der Film war gut und beeindruckend. Wir laufen noch auf die Bühne, versuchen, das Plastik um ihn zu wickeln, es war aber ohne Kraft, weil wir längst überzeugt waren, es ist eine blödsinnige Idee. (Erwin Wurm sagt auf gut Österreichisch: Es ist ein Schmarren.) Mitten in der Aktion schaue ich zum Gesicht von Erdödy und sehe schwere Zweifel und Depression. Dann kamen auch schon Helfer, und es gab eine Rangelei. Eigentlich hatte man vorgehabt, das bei weiteren Künstlern zu praktizieren, Arnulf Rainer etwa, den Übermaler, mit schwarzer Farbe zu überpinseln. Doch das wagemutige Programm verlief im Sand. In Zukunft würde man seine Tunnelblicke besser justieren. Erdödy ging nach Wien an die Akademie zu Gironcoli. Und Erwin Wurm ging nach Salzburg ans Mozarteum.

Mit János Erdödy, 1979.

Karl-Heinz Ströhle und Erwin Wurm als Zauberkünstler, 1979.