Im Februar 1997 beginnt Erwin Wurm ein Skizzenbuch, das nachhaltig zu verstehen gibt, dass bildende Kunst auf dem Disegno aufbaut, auf der vorbereitenden, annähernden, den Gedanken beim Verfertigtwerden nachhelfenden Rolle der Zeichnung. Das Buch ist in altes Leinen eingeschlagen, die Jahreszahl 1860 ist zu lesen, und es gibt auf dem Tuch christologische Symbole, wie sie derlei rustikale Arbeiten mit sich bringen. Schlägt man die Kladde auf, sieht man gleich zu Anfang Textarbeiten, mit Bleistift und Aquarell zu Papier gebracht, und es steht zweimal zu lesen: Rauchen. Auf der nächsten Seite, im selben Blau der Schrift gehalten, heißt es: Rauch, darunter Mutter schläft; auf der nächsten Seite, diesmal mit blauem Kugelschreiber in Inversschrift zweimal untereinander abermals Mutter schläft. Gut 200 Seiten weiter, die Skizzen nähern sich ihrem Ende, eine Liste an Wörtern: Angst heißt es hier, Hass, Missgunst, Neid, ein Katalog an Unannehmlichkeiten. Man kann unschwer mutmaßen: Derjenige, der hier um Ausdruck ringt, kämpft mit sich und der Welt – und mit dem Tod der Mutter.
Der Status quo in diesen Monaten: Man hat Kämpfe, muss sich finden, die anderen überzeugen, auch gegen äußere Widerstände. Dann kam langsam das Hoch, dann ist es wieder hinunter gegangen, ziemlich weit hinunter. Als ich 42 war, sind meine Eltern beide an Krebs gestorben, und meine Frau hat mich mit den Kindern verlassen. Innerhalb eines Jahres habe ich meine Ursprungsfamilie und meine selbst gegründete Familie verloren. Da ist es mir sehr schlecht gegangen. (Meet 2009) Innerhalb eines Jahres sterben der Vater mit 69 und die Mutter mit erst 63 Jahren. Dass einem das im Nacken sitzt, bedarf keiner großen Worte – und letztlich bleibt ein Rumoren über die unmittelbare Trauer hinaus, denn unweigerlich verbinden sich diese allzu frühen Tode mit der eigenen Lebenserwartung. Der Künstler versucht sich jetzt, da er selbst in ein gewisses Alter gekommen ist, entsprechend zu rüsten, mit Fitnessaktivitäten, Vorsorgeuntersuchungen und der Uralttugend der Mäßigung. Doch ein Moment der Beunruhigung bleibt, und Erwin redet auch unumwunden davon.
Parallel zum Tod der Eltern geht die Ehe in die Brüche. Dorothee Golz zieht mit den beiden Söhnen, sie sind sechs und vier Jahre alt, zurück nach Deutschland, ins Haus ihrer Eltern in Mülheim an der Ruhr. Rosenkrieg nennt man, was folgt, mit behördlich festgelegten Besuchsterminen und der Kommunikation übers Gesetzbuch. Zu ihrer großen Überraschung erhält Dorothee Golz die Einladung, bei der zehnten documenta 1997 mitzumachen. Die Leiterin Catherine David hatte sich im Vorfeld viel in Wien aufgehalten und hier mit einer Rasanz Positionen eingesammelt, dass man über die documenta-Halle als „Österreich-Pavillon“ witzelte. Sie war auch in der Eiswerkstraße vorbeigekommen, wo sie die Ateliers von Wurm und Weinberger in Augenschein nahm – und sich von „Frau Wurm“ einen Kaffee servieren ließ, die sie als Künstlerin nicht weiter beachtete. Bei einem späteren Wien-Besuch stieß sie auf die Präsentation von Dorothee Golz in der Secession, es war bereits Ende 1996, die Künstlerin war mittlerweile von Wien weggezogen, doch es erreichte sie ein Anruf von Madame David. Sie wurde, sagt sie, die am spätesten Eingeladene aller Teilnehmenden. Erwin Wurm bestätigt diese Geschichte. Es wäre indes nicht Wien, erzählte man sich nicht eine Alternativversion, getränkt von ebenjenen Hass–Neid–Missgunst, wie sie im Skizzenbuch benannt werden. Diese Version, die man von einem Künstler hört, der sie von einem Kritiker hat, der sich wiederum auf einen Künstler beruft (die Namen sind dem Verfasser bekannt), geht so: Catherine David will Wurm und Weinberger besuchen, doch Wurm verleugnet den Kollegen; die documenta-Chefin geht wieder, um unverrichteter Dinge zurückzukehren, denn sie gibt dem Taxifahrer die Adresse, von der sie gerade abfuhr; sie stellt den Unterschleif fest und revanchiert sich, indem sie Weinberger einlädt und Wurm nicht. So weit die Begebenheit im Sinn von Hauen und Stechen. Tatsächlich hat Erwin Wurm an keiner documenta teilgenommen – was sich aus heutiger Sicht als nicht sehr herbes Manko darstellt. Natürlich habe ich mich damals geärgert, dass ich nicht dabei bin. Aber ich hätte nie dafür sorgen wollen, dass jemand anderes nicht dabei ist. Manfred Wakolbinger, der 1987 mit von der Partie war, meint für seinen Teil: „Der Erwin hat es mir nie geneidet.“
Die oben angeführte Passage, in der Wurm über das desaströse Jahr 1996 spricht, geht folgendermaßen weiter: Ich habe viel gemacht, Therapie, ich habe gekämpft in meiner Arbeit. Ich habe mich mit meiner Frau wegen der Kinder arrangiert. Letztendlich hat mir auch sehr geholfen, dass ich in dieser negativen Phase eine künstlerische Wende vollzogen habe, die unbewusst kam und die mir dann zum großen Erfolg verholfen hat. Erfolg erfüllt einen schnell mit Glücksgefühlen. Wenn er länger anhält, hat man die Möglichkeit, das noch auszubauen. Man erkennt, da kann noch so viel sein, an so vielen Orten. Der Verlustschmerz der Eltern verblasst irgendwann, dann habe ich meine Kinder wiedergesehen. Mittlerweile ist alles wunderbar. Aber das darf ich nicht sagen, denn dann fragt man sich: Wann kommt das nächste Ungemach? (Meet 2009) Man darf es schon sagen, und die Therapie war jedenfalls sehr wirksam. „Mit der Zeit ebbten die Dispute ab, und Erwin und ich haben einen entspannten Kommunikationsmodus gefunden“, erinnert sich Dorothee: „Sodass ich mich nach sechs Jahren entschlossen habe, wieder nach Wien zurückzukehren. Es war mehr eine Herzensentscheidung denn eine auf Vernunft basierende Überlegung. Erwin bot mir an, dass er mir einen Teil des Hauses überschreiben würde, wenn ich zurückkomme. Ich war hin- und hergerissen und bin dann, um eine Entscheidungshilfe zu haben, zu einer Astrologin gegangen. Mir lag immer noch viel an Erwin und ich wollte, dass er und auch die Kinder glücklich sind. Die Astrologin legte Tarotkarten auf und bei meiner Frage: Was geschieht, wenn ich nicht nach Wien zurückkehre. Da kam für Erwin die Karte mit dem Tod. Und wenn ich zurückkehre, die mit dem Füllhorn.“ Seit 2002 lebt und arbeitet Dorothee Golz wieder in der Eiswerkstraße.
Und dann ist da vor allem die künstlerische Wende. Sie hat einen Namen, der längst eine Weltmarke geworden ist: One Minute Sculpture.
One Minute Sculpture, 1997. C-Print.
„Die Ein-Minuten-Skulpturen“ steht entsprechend über dem Kapitel, das sich in dem Buch über den Bildhauer, der keiner sein wollte, mit ihnen befasst. Élise Mougin-Wurm leitet sie aus den Kleiderarbeiten der frühen 1990er her: „All seine Pullover ein ganzes Leben lang zu tragen, um eine Skulptur zu sein. Das ist nicht gerade praktisch. Wie lange muss das mindestens dauern – eine Skulptur? Eine Minute – ist das genug? Erwin erfindet die One Minute Sculptures: Skulpturen, die das Publikum selbst herstellen muss, indem es für eine einzige Minute Anweisungen befolgt. (So entstehen oft absurde Positionen mit Alltagsgegenständen.)“
Das Publikum wird autorisiert, selber Hand anzulegen. Doch bevor es so weit kam, hatte sich noch eine Erfahrung ergeben, die, wie immer wieder bei diesem Künstler, der freimütig vom Scheitern erzählt, mit Frustration zu tun hat. Es ging um eine fotografische Kampagne, die sich auf die Kleiderskulpturen bezog, um sie, schließlich ist das An-, Um- und Ausziehen das Nonplusultra des Umgangs etwa mit Pullovern, in PR-Arbeit umzusetzen. Erwin Wurm wurde also engagiert, um aus seiner Kunst Werbung zu machen, engagiert von Palmers, einer österreichischen Renommiermarke für ebenso alltägliche wie mit Raffinesse verbundene Unterwäsche. Das Projekt verlief zur allgemeinen Unzufriedenheit. Zur Vorgeschichte gehört Wurms Freundschaft mit Elfie Semotan, der Wiener Fotografin, die für die Wäschefirma eine allgemein begeistert aufgenommene Kampagne gestartet hatte, die deutlich zum Image von Palmers als Ausstatter gehobener Ansprüche beigetragen hatte. Der Künstler gesteht im Gespräch mit ihr: Da muss ich mich gleich outen: Ich bin nur wegen dir, Elfie, in die Palmers-Falle getappt. Ich hatte nie vorher Werbung gemacht, es hat mich auch nie gereizt, aber Palmers hat mich sehr wohl gereizt, und zwar nur wegen deiner genialen Plakate, Elfie. Und ich muss sagen, ich bin kläglich gescheitert. Geplant war eine Plakatkampagne mit meinen Fotos. Und obwohl ich nie einen nackten Körper gezeigt habe, wollte kein Model mitmachen – denen war das zu blöd und sie haben sich einfach geweigert – dann musste ich Porno-Models engagieren … Ich wollte zum Beispiel ein Foto machen, wo das Model mit gespreizten Beinen dasitzt und das Höschen auf Kniehöhe gespannt ist, aber natürlich so, dass es die Scham aus Kamerasicht verdeckt. Jedenfalls waren die Porno-Models wiederum beleidigt, weil ich ihre Köpfe nicht gezeigt habe. Es war also ein Riesendesaster und dann habe ich es Palmers gezeigt, und die haben es schlicht und ergreifend gehasst. Aber die Fotos gibt es und sie werden oft ausgestellt. Das war meine einzige Erfahrung, die ich mit Werbung gemacht habe. (Bestseller 2010) Daraus war eine Konsequenz zu ziehen: Den Beteiligten musste mehr Handhabe eingeräumt werden; und den Beteiligten musste weniger Handhabe eingeräumt werden.
Die Regel lautet, es nur im vorgegebenen Kontext zu machen, bzw. dafür zu sorgen, dass die Besucher wirklich dem folgen, was ich angegeben habe: In diesem Satz, den der Künstler für den Podcast seines Berliner Galeristen Johann König formulierte, tritt das Betriebsgeheimnis der One Minute Sculptures zutage. Es gibt fixe Vorgaben, bündig vermittelt in einer Handlungsanleitung, die beigefügt ist, wenn sich die Arbeit zur spontanen Aufführung anbietet. Oder es gibt Fotografien von bereits vollzogenen Arbeiten, in denen unter Beisein des Künstlers jemand agierend, realisierend zu Werke gegangen ist, stellvertretend für alle anderen. Oftmals werden die Leute in den One Minute Sculptures ja mit Posen und Positionen konfrontiert, für die sie die Natur augenscheinlich nicht eingerichtet hat. Wenn sich also der Museumsmensch kopfüber in den Eimer verfügt, dem Bankmanager zwei Spargelstangen in den Nasenlöchern stecken oder die Galeriemitarbeiterin liegend auf Orangen balanciert, dann geht es durchaus unbequem zu. Man kann sich an die Lieblingssentenz des Surrealismus erinnert fühlen und Wurm nun dabei zusehen, wie er seine ureigene „zufällige Begegnung einer Nähmaschine und eines Regenschirms auf einem Seziertisch“, ein Satz aus den „Gesängen des Maldoror“ von Lautréamont, inszeniert. Die Mitwirkenden erleben das skurrile Stelldichein jedenfalls buchstäblich am eigenen Leib. Recht viel länger als eine Minute werden die Arrangements so oder so nicht dauern. Die Kurzzeiterfahrungen an der Tücke des Objekts sind für die Handelnden so unmittelbar, wie sie für das Publikum in den Ausstellungen über das Medium Fotografie wirksam werden. Diejenigen, die mitmachen, werden vom Prinzip Skulptur traktiert und erfahren durchaus haptisch, was Dreidimensionalität ist, weil sie womöglich blaue Flecken verursacht und in die Rippen fährt. Diejenigen dagegen, die nur betrachten, tun sich gütlich an der Behaglichkeit der Fotografie. Wenn es nicht wehtut, kann sich der Charme dieser Ad-hoc-Kreationen vollends entfalten. Dieser Charme gerade ist es, der sich einprägt und Wurms Werk seine Identität gibt.
In der gerade formulierten Passage zu den One Minute Sculptures habe ich versucht, das Wort „Witz“ zu vermeiden, denn auch Erwin Wurm versucht es zu vermeiden. Das Humoreske, Skurrile, womöglich Groteske herauszustellen, das zweifellos in diesen Arbeiten vorhanden ist, scheint ihm eine zu brachiale Verkürzung. Es lässt die gewissermaßen anthropologische Dimension außer Acht. Ich bin kein Kabarettist. Ich verwende natürlich Humor in meiner Arbeit – und Zynismus … Viele Leute lachen über Dinge, die gar nicht so witzig sind. Die Leute lachen am meisten bei diesen Fernsehsendungen, wenn Menschen Missgeschicke passieren, die sich verletzen, stürzen und so weiter. Das hat mit Bösartigkeit und Gemeinheit zu tun. Ich möchte über ernste Themen sprechen können, aber nicht mit Pathos. Pathos mag ich nicht. Pathos ist schwer und triefend. Ich will diese Leichtigkeit, die kommt manchmal durch Humor, manchmal durch anderes. … Ich mache aber nichts, nur damit die Leute darüber lachen können. (Meet 2009)
Die Geburtsstunde der One Minute Sculptures schlug im Herbst 1997. Der Künstler hatte eine Solo-Show im Künstlerhaus Bremen, er kam zehn Tage vor Eröffnung angereist, es gab keinen Transport von Kunst, die Präsentation sollte vor Ort entstehen. Erfahrungen mit den Gegebenheiten vor Ort waren von jeher Bestandteil seiner künstlerischen Strategie, seien es die Bretter aus der Schreinerei in der Knöllgasse, sei es der allgegenwärtige Staub, seien es die Pullover, die Wurms Galerist Jack Hanley in San Francisco besorgte. Wurm nennt das Verfahren situationselastisch. Auf ebendiese Geschmeidigkeit konnte er sich verlassen. So kam dann auch der Bremer Galerieleiter Horst Giese zu seiner einen Minute für die Ewigkeit: Er ist jener mittelalte, leicht angegraute, vollbärtige Mann mit der hohen Stirn, dem allerlei Büroutensilien in allerlei Gesichtshöhlen stecken, besonders apart der Tacker, der vom Mund hervorsteht, als wäre er ein Rüssel. Es war die Zeit, als man an die artifiziellen Verlängerungen zu denken begann, die dem menschlichen Körper von technischen Geräten beigebracht würden. Inspiriert war derlei Gedankengut gern einmal von Donna Haraways „A Cyborg Manifesto“: „Cyborgs sind kybernetische Organismen, Hybride aus Maschine und Organismus, ebenso Geschöpf der gesellschaftlichen Wirklichkeit wie der Fiktion.“ (Haraway, 33) Und schon in der ersten Zeile ihres Manifests gebraucht sie ein einschlägiges, vielfach strapaziertes Wort: „ironisch“. Genau so, ironisch, funktioniert die Versöhnung von Alltag und Science-Fiction, wie Direktor Giese sie am Leitfaden seines Leibes formuliert.
Und wie viele andere sie formulieren. In ihrer perfekten Aufführbarkeit gehen die One Minute Sculptures nun um die Welt. Der Künstler stellt sie vor und stellt sie her: 1998 im schweizerischen Appenzell, 1999 im französischen Cahors oder 2000 in Taipeh und immer wieder im heimischen Wien, bevorzugt in Miniaturen mit Freunden und Bekannten. Zu einer speziell ikonischen Variante ist die noch im Gründungsjahr 1997 entstandene Darbietung geworden, die einen gut gekleideten, in Jackett und dunkler Hose angetanen Herrn zeigt, wie er das Prinzip Kleidung buchstäblich im Mund hat. Als würde er apportieren, trägt er einen Kleiderbügel mit lachsfarbenem Hemd. Als eine Art Mise en abyme, als Bild im Bild also, passt das Hemd perfekt zu seiner übrigen Garderobe. Der Herr ist Cajetan Grill (auch Gril geschrieben), Wiener Galerist, der mit Wurm vielerlei Verkäufe abwickelte, der ihm Werke abnahm und zu Wurms eigener Sammlung an Kunst beitrug, der ein enges Mitglied seiner Entourage war, bis sich die Vertrautheit nach und nach im Sande verlief. Anfang 1999 gibt es im Kunsthaus Bregenz eine erste Bestandsaufnahme der One Minute Sculptures, deren Siegeszug fortan auf ihre Weise unaufhaltsam wird. Gründungsdirektor des eineinhalb Jahre davor eröffneten Ausstellungsinstituts ist Edelbert Köb, der sich abermals als Wegbegleiter und Wegbereiter von Wurm erweist. (2006, als Direktor des Wiener mumok, wird er auch die aufsehenerregende, Scharen an Interessierten bewegende Präsentation Keep A Cool Head verantworten.)
„Pictures“ hieß lapidar eine Ausstellung 1977 und in deren Gefolge ein Text 1979, in denen der New Yorker Kritiker Douglas Crimp auf eine Kunst nach dem Boom der Performance aufmerksam machte. Cindy Sherman ist heute sicher der prominenteste Name, den Crimp damals aufrief, die Regisseurin der „Untitled Film Stills“, in denen sie Szenen arrangierte, die so taten, als kämen sie aus Klassikern der Kinogeschichte. Alles war nachgestellt und vorgestellt und existierte dabei allein als Foto. „Performance“, schrieb Crimp, sei nur noch „eine von einer ganzen Reihe an Möglichkeiten, ein Bild auf die Bühne zu stellen.“ „Staging a picture“, formuliert es Crimp im amerikanischen Original. Und all die Auftritte, die bis dato tatsächlich auf Bühnen stattgefunden hatten, werden nun, so heißt es weiter, „rückinvestiert in ein Bild, das als Bild funktioniert“. „Reinvested in the pictorial image“, wie Crimp formuliert, was sich natürlich schöner liest als im Deutschen, wo es für all das nur ein Wort gibt: Bild. In diesem Sinn bieten die One Minute Sculptures zweierlei Möglichkeiten: Sie funktionieren, auf der Basis einer Anleitung, als konkrete Auftritte, als Bühnenshows für einen Kürzestmoment; und sie funktionieren als Bilder, in denen diese Momente dauerhaft gemacht werden dafür, dass man sie betrachtet. Die Performance wird rückinvestiert in ein Bild, das als Bild funktioniert, weil es ein Foto ist. Das wäre die Tradition, in die sich diese neue, aufregende Kunst einreiht.
Noch etwas steht bei Crimp, und das liest sich so: „Die Prozesse des Zitierens, Exzerpierens, der Rahmung und des Auf-die-Bühne-Stellens, die die Strategien der Arbeiten ausmachen, die ich hier diskutiere, machen es notwendig, neu über Repräsentation und ihre Ebenen nachzudenken. Unnötig zu sagen, dass wir hier nicht nach Quellen oder Ursprüngen suchen, sondern nach den Strukturen von Bezeichnung; unterhalb jedes Bildes gibt es immer schon ein anderes Bild.“ „Underneath each picture there is always another picture“ (Crimp, 186, Übersetzung R. M.): Das ist der Schlüsselsatz für eine Ästhetik, die man speziell mit den 1980ern verbindet und auf den Begriff „Appropriation“ gebracht hat. Aneignungen, Anleihen, Übernahmen sind damit gemeint, ein Borgen und Besorgen bei anderen Bildern, das bisweilen so weit ging, dass man Original und Übernahmen nicht unterscheiden konnte. Die in Crimps „Pictures“-Ausstellung beteiligte Sherrie Levine ist eine wichtige Vertreterin der „Appropriation Art“. Letztlich aber geht diese Strategie des Anverwandelns bis zur Unkenntlichkeit eines Unterschieds auf eine Künstlerin zurück, die eine sehr gute Freundin Erwin Wurms war: Elaine Sturtevant, geboren 1924, verstorben 2014, exerzierte ihr Verfahren vor allem an Vorgängern, die es ihrerseits mit dem Begriff Original nicht so ernst nahmen: bei Duchamp etwa oder bei Pop-Artisten wie Andy Warhol. Mit Begriff und Prinzip der Appropriation hat eine gewisse Nonchalance Einzug gehalten, eine Lässigkeit, nach der allzu deutliche Übernahmen als schier unvermeidliche Begleiterscheinungen bei kultureller Produktion gelten. Schließlich gibt es immer schon ein „Unterhalb“ bei Bildern.
Eine solche Praxis des Aneignens hat den One Minute Sculptures von Anfang an zugesetzt. Wurms Szenerien waren als Augenkitzel und arrangierte Akrobatik zu attraktiv, sie waren zu originell, als dass man sich die Ideen, die sie trugen, nicht von Anfang an unter den Nagel gerissen hätte. Diese Akte der Aneignung wurden sodann als legitime Appropriation verbucht. Schon 1999 führt der Künstler ein Streitgespräch mit der Schweizer Kuratorin und Modeexpertin Michelle Nicol über eine Folge von Fotografien, die für das Pariser Magazin „Self Service“ gemacht worden waren. Michelle Nicol gab eines der Modelle. Die Aufnahmen stammten von Ridge Forester, der sich dabei als Künstler verstand, als er in ziemlicher Eins-zueins-Entsprechung Situationen der One Minute Sculptures nachstellte: Vor allem der Typ mit dem Kleiderbügel im Mund konnte einem schon sehr bekannt vorkommen. Noch so ein Werbefotograf, war Erwins erste Reaktion auf die Kampagne, der keine eigenen Ideen hat, der klaut und stiehlt und jetzt auch noch die Nerven hat, das als Appropriation Art zu verkaufen. Dabei ist die mehr als zehn Jahre alt … Und besonders unangenehm ist es durch seine Nachbarschaft zur Werbung. Die Gesprächspartnerin versucht ihn zu beruhigen mit der Versicherung, dass kein Geld im Spiel gewesen sei, und stellt die Gegenfrage: „Wo ziehen Sie die Linie, wenn es ums Kopieren geht?“ Antwort: Wenn alles in der Kunstwelt bleibt, ist es okay. Wenn es aber um Werbung geht, geht es um Geld, und das mag ich überhaupt nicht. Interessant ist immerhin, dass Ridge Forester es ganz offen macht. In der Werbung passiert Kopieren ständig. Und die Künstler und Künstlerinnen sind die Idioten, weil sie daran nicht partizipieren. (Self Service 1999, Übersetzung R. M.) Heute sieht Wurm die Dinge gelassener: Mittlerweile erkennen die Leute, dass es von mir ist. Am Anfang musste ich dafür kämpfen, dass es meines bleibt.
Noch etwas war dem Künstler wichtig: Im deutschsprachigen Bereich gab es wenig Bewusstsein für geistiges Eigentum. Amerika war damals schon anders. 1996 war Erwin Wurm an einem Ausstellungsprojekt beteiligt, das der französische Kurator Jérôme Sans bei Deitch Projects realisierte. Die Veranstaltung, Shopping betitelt, fand im öffentlichen Raum statt, und der Künstler installierte großformatig das Visavis von Jakob und Jakob fett über der Galeriefront von Deitch. Sofort wurde juristisch interveniert: Da musste ich seitenweise ausführen, dass die Bildrechte bei mir liegen. Die sind da viel bewusster.
Nach dieser Vorgeschichte hatte Wurm nun mit einer speziell deutschsprachigen Rücksichtslosigkeit gegenüber geistigem Eigentum zu tun, die in einer Klage seinerseits mündete. „Echt“, eine Boygroup aus Flensburg, hatte 1999 einen ziemlichen Erfolg mit ihrem Lied „Du trägst keine Liebe in dir“. Zwei Jahre später war es vorbei mit dem Hype, man versuchte es mit einer letzten Single namens „Stehengeblieben“, Erstveröffentlichung im Januar 2002. Das Video dazu meint es sehr freigiebig mit der Vorlage, es sind Szenen, die in den One Minute Sculptures angelegt sind: Flaschen sind zwischen ein Bandmitglied und die Wand, an der es steht, geklemmt, ein anderer ist mit Tape an einer Dachrinne befestigt, wieder ein anderer hat einen Föhn im Mund, und einer der Köpfe steckt in der Trommel einer Waschmaschine. Die Sache ging also vor Gericht, und „Echt“ wurde zu einer Geldstrafe verurteilt. Das Video ist nach wie vor im Netz zu besichtigen.
Die Affäre mit „Echt“ zog Kreise in der Musikbranche. So weit jedenfalls, dass sich eine echte Kapazität bei Erwin Wurm meldete, um in aller Seriosität und allem Respekt vor dem Original sich der One Minute Sculptures zu bedienen. „Can’t Stop“ von den Red Hot Chili Peppers wird im Januar 2003 veröffentlicht, als Auskopplung aus ihrer LP „By The Way“, für deren Cover ebenfalls ein Künstler herangezogen worden war – Julian Schnabel nämlich, so etwas wie das amerikanische Pendant zur europäischen wilden Malerei. Das Video zu „Can’t Stop“ wurde Mark Romanek anvertraut, Jahrgang 1959, der schon für David Bowie und Madonna gearbeitet und damit längst die Adelsprädikate eingesammelt hatte. Das würde sich nun auf einen Künstler in Wien auswirken.
Ich bekam einen Anruf vom Regisseur des Videos, Mark Romanek … Und natürlich fand ich diese Idee spannend, denn all das fand auf einer Ebene statt, die mich immer schon interessiert hat, denn einer der zeitgenössischen Räume für Kunst ist der mediale Raum – Zeitungen, Fernsehen, Internet. Ich habe das Video zwar nicht für die Red Hot Chili Peppers gemacht, sondern es entstand in einer Art Zusammenarbeit: Sie haben mir den Film zwei- oder dreimal in verschiedenen Fassungen geschickt, ich konnte das eine oder andere verändern. Aber es ging gar nicht so sehr darum, dass ich hier alles künstlerisch festlegte, sondern es war hier gerade das Besondere, dass meine Bildsprache von dieser Band übernommen wurde. Ich habe mir aber ausbedungen, dass ich einen Credit im Video selbst bekomme, was in gewisser Weise ein Meilenstein in der Geschichte von MTV war, denn ich war der erste Künstler, der derart gecreditet wurde … Die Musikbranche ist unglaublich empfindlich, was Copyrights etc. betrifft, aber in der bildenden Kunst bedient man sich schamlos. Künstlerische Ideen sind nach wie vor Raubgut – jeder kann sich bedienen und der Schnellere gewinnt. Und so ist in der Schlusseinstellung des Tapes auf einer Art Pegboard in Großbuchstaben zu lesen: „Inspired by the ‚One Minute Sculptures‘ of Erwin Wurm“. Davor passiert das ikonische Programm Revue: der Schlagzeuger Chad Smith mit dem Kleiderbügel im Mund, als wäre er Cajetan Grill; der Bassist Flea gespickt mit Büroutensilien, als wäre er Horst Giese; daneben, davor und dazwischen Sänger Anthony Kiedis und Gitarrist John Frusciante knallgelbe Eimer balancierend oder mit Plastikflaschen unter den Achseln. Das Lied enthält ja auch die Zeile: „Wait a minute, I’m passing out, win or lose just like you“. Eine Minute warten – inspiriert von Erwin Wurm. Im Atelier, so erinnert sich der damalige Assistent Roman Pfeffer, schlug man vor, als Honorar sollte es einen Live-Auftritt der Band geben, ein Hauskonzert in der Eiswerkstraße. Es wurde, zusätzlich zu den Credits, ein Geldbetrag.
Tatsächlich gibt es noch eine Referenz auf Kunst in dem Video. Wurm macht im Gespräch darauf aufmerksam: Was ich schade fand: In dem Video wird auch die Arbeit einer Künstlerin verwendet, die ich sehr schätze, Lucy Orta, die keinen Credit bekommen hat. In einer Szene sieht man einen der Musiker in einer ihrer herrlich absurden Zeltjacken. Sie hätte auch genannt werden müssen. (GRID 2013) Kiedis, der Sänger, steckt in der silbrig schimmernden Plane. Ja, Lucy Orta, Britin, Jahrgang 1966, Exponentin einer gewissen Survival Art, wie sie in den 1990ern mit Namen wie Andrea Zittel oder Absalon aufgekommen war, hätte genannt werden müssen. Mark Romanek pflegte sein Faible für die Einarbeitung von künstlerischen Positionen übrigens weiter. 2013 dreht er mit dem Rapper Jay-Z zur Bebilderung von dessen ohnedies zu ästhetischen Anspielungen einladendem Song „Picasso Baby“ in der New Yorker Pace Gallery: Persönlichkeiten der diversen Szenen treten auf und assistieren dem Performer, indem sie ihn umarmen. Es sind illustre Persönlichkeiten speziell der bildenden Kunst wie Marina Abramović, George Condo, Lorna Simpson, Lawrence Weiner oder Kehinde Wiley.
Der chronologisch erste Verweis auf eine Zeitschrift, Rubrik Periodicals, auf Erwin Wurms Website ruft das österreichische Fotomagazin „Eikon“ aus dem Jahr 1998 auf. Der Text ist, anders im Grunde als bei dem riesigen Rest an Beiträgen, sehr akademisch gehalten, er räsoniert und argumentiert, als wäre er für einen Katalog geschrieben. Er handelt von Kleiderarbeiten, die indes mit dem Begriff One Minute Sculptures bedacht werden, und stammt von dem Wiener Autor Hanno Millesi. Tatsächlich hat Millesi sich als Erster wissenschaftlich mit Wurm beschäftigt, Titel seiner Diplomarbeit: „Oberfläche und Raum. Analytische Betrachtung zum bildhauerischen Werk Erwin Wurms 1982–88“. Dennoch gehört der Abschnitt zu Millesi in dieses Kapitel über die One Minute Sculptures.
„Erwin Wurm“, sagt Millesi, „war derjenige, mit dem ich am besten reden konnte. Er kommt von einer sehr kunsthistorischen Überlegung, einer bildhauerischen Basis: Raum, Oberfläche, Inhalt. Und er wollte das Gespräch auch.“ Millesi, geboren 1966 in Wien, studierte an der Universität seiner Heimatstadt und arbeitete nebenbei in der Galerie von Ursula Krinzinger. Dort lernte er Wurm kennen. Und er fand auch jemanden an der Uni Wien, der eine Arbeit zur Gegenwartskunst annehmen würde: Es war „ein Dozent, also jemand, der man sein muss, um solche Arbeiten zu betreuen; ich fand das bezeichnend, da es sowieso keinen Professor gab, der ein auch nur annähernd zeitgenössisches Thema angerührt hätte; der Dozent war also so etwas wie die nachrückende Hoffnung; und er fand es interessant, wusste zwar nicht, wer das war, aber er ließ sich auf das Abenteuer ein.“ Einige Monate lang. Dann meldete sich der Dozent – „ich war schon mitten in der Arbeit“ – und beschied dem Kandidaten, er sehe sich außerstande, „mit so einer Arbeit in Verbindung gebracht zu werden“. Im Museum für angewandte Kunst hatte es, organisiert von Verena Formanek, die Ausstellung Design Wien gegeben, es ging um die allmähliche Hybridisierung von autonomen und angewandten Formen der Kunst, und Erwin Wurm war (zusammen mit, unter anderen, Brigitte Kowanz) mit von der Partie. Er zeigte eine eher ungewöhnliche Bodenarbeit auf der Basis von Fleckenteppichen. Das nun besah sich der Betreuer und lernte eine Facette künstlerischer Produktion kennen, die sein Verständnis offenbar überstieg. Er zog sich zurück, und Millesi musste sich umorientieren – dorthin, wo sich alle trafen, die in Österreich Kunstgeschichte auf Gegenwart reimten, zu Wilfried Skreiner. 1991 wurde Hanno Millesi von der Universität Graz diplomiert.
Heute ist Hanno Millesi freier Schriftsteller, ein anerkannter Literat, und auf eines seiner Bücher, ein zauberhaftes Stück skurriler Prosa, sei hier speziell hingewiesen, seinen 2016 erschienenen Roman „Der Schmetterlingstrieb“. Der Ich-Erzähler macht Exkursionen in seiner Wohnung und erlegt sich dabei Aufgaben auf, die den One Minute Sculptures nahestehen. Da heißt es dann: „Von oben fällt mein Blick auf einen Schemel, der unmittelbar vor dem Sofa steht, damit sich meine Füße darauf ausruhen können. Vor diesem Schemel knie ich mich hin und halte meinen Kopf unter seine Sitzfläche. Das ist mir lieber als ihn oben aufzulegen, als präsentierte ich ihn einem Henker. Unter dem Schemel, stelle ich mir vor, entzieht sich meine Gedankenwelt jeder universellen Gerichtsbarkeit.“ (Millesi, 25) Der Autor erzählt gleichsam die Geschichten zu Wurms Situationen, er bringt die eine Minute der Skulpturen in eine Verlaufsform und versetzt sie mit einer Art Erklärung. Das Geodätische in Wurms Arrangements, die Verbindung zweier Punkte in diesem leicht aus der Fasson geratenen Universum, wird bei Millesi, wie er selbst es nennt, „egodätisch“. Noch so eine Stelle: „Die Maus mit der linken Hand zu bewegen, fällt mir gar nicht so leicht, es ist jedoch notwendig, denn die rechte habe ich mir an den Hals gebunden. Passiert ist mir das beim Versuch, eine Krawatte anzulegen. Ich folgte einer Anleitung in Form von Bildern, dabei muss mein Finger irgendwo in den Knoten geraten sein. Nunmehr suche ich nach der Auflösung, was sich als schwieriger herausstellt, als ich angenommen habe.“ (Millesi, 52) Im Anhang des Buches verweist Millesi auf das literarische Modell, dem er in seiner Tour durchs Apartment gefolgt ist, auf Xavier de Maistres Roman „Voyage autour de ma chambre / Reise durch mein Zimmer“ von 1794, der geschrieben wurde, als der Autor nach einem Duell unter Hausarrest stand. Erwin Wurms Hotel Rooms aus dem Jahr 2001 sind ihrerseits abenteuerliche Reisen in Räumen, in denen für den Moment des Aufenthalts verrückt und verrutscht und arrangiert wird, was Mobiliar und Accessoires hergeben. 1999 hatte er in Liverpools Hotel Adelphi zum ersten Mal damit experimentiert. Hanno Millesi wiederum fühlte sich von dieser Werkreihe Wurms explizit inspiriert: „Man hat zwei Stunden Zeit und fragt sich, was könnte ich jetzt damit anstellen.“ (Gespräch mit Hanno Millesi, 6.3.2023)
In seinem Text für „Eikon“ hatte Millesi einen Bezug hergestellt, der in ebendem Jahr 1998 einen ersten Widerhall in Wurms Werk findet. Es gibt also eine One Minute Sculpture, bestehend aus einer gezeichneten Handlungsanleitung und zwei Filzschreibern. Einer der Stifte ist mittels zweier Haken an die Wand geheftet, der andere steht im rechten Winkel ab, und die Logik liegt in der Anleitung: Think about Montaigne / Denk über Montaigne nach – eben dahingehend, dass man die Stirn an den Stift legt und ihn gleichsam als Antenne nimmt für die Kontaktaufnahme mit dem Philosophen. Michel de Montaigne, er lebte von 1533 bis 1592, ist so etwas wie der Hausphilosoph in der Wurm’schen Werkstatt: Er hat über die Welt geschrieben, indem er über sich geschrieben hat – was ja viele Künstler machen. Immer wieder wird er als Referenzfigur eingesetzt: Man kann sich zum Beispiel in einer One Minute Sculpture von 2002 auch Stifte auf die Schuhe stellen, abermals im rechten Winkel zur Standfläche abgesetzt, und wiederum über Montaigne nachdenken, über ihn und, wie es in der Arbeit angelegt ist, über seinen französischen Kollegen René Descartes. Es werden noch andere Denker aufgerufen, Baruch de Spinoza etwa oder Ludwig Wittgenstein, und speziell Theodor W. Adorno bekommt immer wieder sein Fett ab – bisweilen ganz buchstäblich, denn er wird aufgeblasen zu einem adipösen Angeber. Für den Moment aber Montaigne: Wenn es einem gelingt, es auf eine allgemeine Ebene zu heben, wenn er über die Oma nachdenkt, dann wird daraus etwas Interessantes. Wenn nicht, dann ist es gar nichts, denn keiner ist an der Oma interessiert. Zu Wurms Interesse an dieser Form von Weltwahrnehmung sagt wiederum Elisabeth von Samsonow, die studierte und promovierte Philosophin: „Dass Begriffe fest vertaut werden mit seinen Werkserien, ist ihm sehr wichtig – eine Tätigkeit, die Begriffe mit bestimmten Objekten in Verbindung bringt. Das ist eine philosophische Tätigkeit, und das macht er – das ist die Art Auskunft, die er über seine Werke gibt.“
„Man hat zwei Stunden Zeit und fragt sich, was könnte ich jetzt damit anstellen“: Samoa (Hotel Rooms), 2001. C-Print.
Überhaupt ist eine Lieblingsbeschäftigung, zu der die One Minute Sculptures einladen, Denken. Man kann das sozusagen von der Metaebene aus betreiben und über Denker nachdenken (die diesbezüglichen Denker sind Männer). Man kann auch eine Stufe weiter ansetzen und zum Beispiel über die Leere nachdenken: Think about the void. Dann ist man schon nahe dran an der alten, von den Alten der Antike entwickelten Erkenntnis, dass ein kontemplatives Leben der Reflexion auf die Sprünge hilft. Und dann geht es unverzüglich zu einer der schönsten Werkfolgen Wurms, den Instructions for Idleness von 2001. Die Anleitungen zum Müßiggang führen nicht unbedingt zum Nichtstun, auch wenn der Vorschlag Sleep for two months hautnah dahin führt. Man kann einen Joint vor dem Frühstück rauchen, auf der Hoteltoilette einschlafen oder einfach dumm dreinschauen. Es sind jeweils Selbstporträts, mit denen Wurm seine Instruktionen unterlegt, und er bemüht sich, in der Tradition der Physio- und Pathognomik, jeweils ein entsprechendes Gesicht zu machen. Im Kontext des Philosophischen – „er macht auf jeden Fall etwas, das Philosophinnen und Philosophen erregt“ (Samsonow) – werden Wurms Anleitungen somit zu Hilfestellungen für ein gelungenes Leben. Und wenn der Vorschlag einem der Lieblingsmotti im Kunstbetrieb folgt – „I would prefer not to“ von Bartleby, dem Schreiber, aus Herman Melvilles gleichnamiger Novelle –: umso besser.
Es bleibt nicht aus, dass die One Minute Sculptures Prominenz anlocken. Einmal wie Beckenbauer sein ist ein Arrangement aus zwei Orangen, samt der Pose, die der „Kaiser“ eingenommen hatte, als er ganz besonders präsent war im Vorfeld der Fußball-Weltmeisterschaft in Deutschland 2006. Beckenbauer also, an einer Mauer stehend, zwischen Wand und Körper das Obst. Sein Kommentar zu dieser für ihn offenbar eher unfreiwilligen Zusammenkunft: „Mit dem Essen spielt man nicht.“ (Erzählt von Erwin Wurm, GRID 2013)
Oder Frédéric Beigbeder, der französische Autor, den Wurm am Kaffeehaustisch aufnahm, Textmarker sind an der Denkerstirn befestigt. Beigbeder hatte im Jahr 2000 mit „99 Francs“ Aufsehen erregt, der Titel war der Verkaufspreis des Werkes – auf Deutsch hieß es „39,90“, der Betrag in D-Mark. Beigbeder war früher Werber, und ebendiese Branche hatte er entlarven wollen, „Mad Men“ zwischen Buchdeckeln. Im Sinn seiner Einblicke in die Abgründe des PR-Betriebs gibt es eine Passage, in der Beigbeder Slogans memoriert, gute Sprüche, Bindemittel zwischen Produkt und Konsum. „Just do it“, sagt der Autor, war „der beste in der Geschichte des Business.“ (Beigbeder, 47) Entwickelt wurde er 1988 für Nike, die Agentur waren Wieden + Kennedy in Portland, Oregon, doch angeblich stammte er von Gary Gilmore, an dem im Januar 1977 nach fast zehnjähriger Pause in den USA wieder die Todesstrafe vollstreckt wurde – verlangt vom Delinquenten selbst mit ebendiesen Worten (Punkfans kennen vielleicht den Song „Gary Gilmore’s Eyes“ von den „Adverts“ aus diesem Jahr).
Do It war dann auch der Titel einer Ausstellungsreihe, mit der Hans Ulrich Obrist auf seine Art Kunstgeschichte geschrieben hat. Erwin Wurm war 1996 dabei, als es losging, und mit der Arbeit, die er präsentierte, beginnt die Vorstellung der One Minute Sculptures auf seiner Website. Do It basierte auf Handlungsanleitungen, und eben darauf basierte auch Wurms Konzept: In eine Holzkiste, schlug er vor, sollte man sich legen, die Beine nach oben halten, sodass sie herausschauen und dabei den Deckel des Behältnisses balancieren: Hold this position as long as possible but not longer than one minute, fügt er hinzu, und damit war das Prinzip benannt. Die Idee von Do It entsprach einem Trend der 1990er, den der französische Kritiker Nicolas Bourriaud „relationale Ästhetik“ nannte. Gefordert war der Einbezug der sozialen, politischen, kommunikativen Umstände, gefordert war Teilnahme, Interaktivität, das Angebot zum Mitmachen. Böse Zungen nannten die Positionen, die dabei entstanden, „Dienstleistungskunst“, es wurde zu Yoga-Kursen geladen und Teestuben kamen in die Ausstellungen. Dass damit die Idee verengt wurde, idyllisiert, banalisiert, kann man sich denken. Im Rückblick hat sich Erwin Wurm seine Sympathie bewahrt: Ich bin einverstanden mit dem Ansatz von Bourriaud. Wichtig ist für mich die Frage: Was ist Skulptur in einem skulpturalen Verständnis? Was kann sie sein? Diese Frage muss immer in Bezug gesetzt werden zu den sozialen Fragen unserer Zeit – zum Beispiel zu Jugend, zu Gewalt, zu Bildern, zur Architektur, zur Fettleibigkeit, zu vielen Strängen und vielen anderen Dingen auch noch. (Artribune 2017, Übersetzung R. M.) Der Künstler nimmt teil an der relationalen Ästhetik mit seiner Art eines erweiterten Skulpturenbegriffs.
Legen Sie sich unter einen Baum, als ob Sie heruntergefallen wären: Das war der Vorschlag Wurms für die Handlungsanweisungen, zu denen die Kunsthalle Wien ab Jahresbeginn 2003 einlud. Am Karlsplatz wurden insgesamt 100 Schilder aufgestellt, beinhaltend ebenso viele Vorschläge. Es war ein typischer Wurm, der hier vorstellig geworden war, das Paradoxe streifend, eine weitere Übung im Unmöglichen arrangierter Absichtslosigkeit. Und das Prinzip seiner One Minute Sculptures war raumfüllend, platzanweisend geworden.
Doch die Erfahrung zeigte längst, dass die Leute, Paradoxie hin, Unmöglichkeit her, mitmachten. Die diesbezüglich signifikanteste Folge ist vielleicht Brothers & Sisters von 2002. Eingeladen von den Benediktinern im steirischen Admont, besonders durch seine Barockbibliothek eine der bekanntesten Abteien des Landes, inszenierte Wurm eine spezielle Gemengelage aus Zeitlosigkeit und Aktualität. Wer wollte aus dem Konvent, konnte sich also beteiligen und sich in One Minute Sculptures fügen: Schwester Ruth lehnt sich kopfüber an die Wand oder hantiert auf eine Art mit einer speziellen regionalen Form eines Gebäcks, dass man nicht viele schlechte Gedanken braucht, um einen Anflug von Obszönität zu verspüren. Pater Liborius steht im Kirchenraum, einen Apfel im Mund – ist es jener des Paradieses? Und Frater Winfried kniet im Habit auf dem Fußballfeld der angeschlossenen Schule, die Hände erhoben wie zur Anrufung seines Gottes. Es waren nicht viele, die mitgemacht haben, doch das Ergebnis war durchaus spektakulär.
Speziell pikant ist Bruder Winfrieds Pose, weil sie nicht nur kirchlich, sondern auch künstlerisch konnotiert war, und das auf allerkontroverseste Art. 2001 kam Maurizio Cattelan, Jahrgang 1960, Spezialist für realitätsnahe Plastik mit dem Fokus auf Provokation, mit einer Arbeit heraus, unschuldig „Him“ betitelt, die eine Gebetshaltung des Papstes Johannes Paul II. mit einer Knabenfigur verband, die eindeutig als der junge Adolf Hitler zu identifizieren war. Natürlich zog das seine Aufregung nach sich, der Italiener Cattelan wusste ein Lied zu singen von der überragenden Rolle der Kirche speziell in seinem Land. Damit nicht genug. In einer augenzwinkernden Geste der Appropriation nimmt sich Erwin Wurm dieser Arbeit an und stellt sie in eigener Gestalt für eine One Minute Sculpture nach – kniend, die Hände allerdings, anders als bei Cattelans Hitler, gefaltet vor der Brust, dabei eine Zitrone im Mund. Der Künstler bittet um Gnade ist sie betitelt, versehen mit einer Hommage: gewidmet Maurizio. Die beiden hatten sich 1998 in Milwaukee am Institute of Visual Arts kennengelernt und sich ihrer gegenseitigen Wertschätzung versichert. Er sagte zu mir „Oh, ich will dieses Stück haben“. Am Ende aber hat er nichts erworben, er hat es sich angeeignet. Dazu sagte er dann „Oh, Erwin, ich habe was von dir gebrauchen können“. Und so habe ich einmal von ihm etwas gebrauchen können. Ich gebrauchte etwas, nicht aus Rache, sondern weil ich es mochte. Ich machte ein Bild, das inspiriert war von „Him“, seinem Mini-Hitler. (CAP 2012, Übersetzung R. M.) Unterhalb jedes Bildes ist immer schon ein Bild. Dass sich christliche Ikonografie hineinmischt, ist obligatorisch bei zwei Jahrtausenden europäischer Religiosität – und dazu, dass man sich an ihr abarbeitet.
Im Sommer 2002 hatte Erwin Wurm eine Ausstellung am Centre national de la photographie in Paris. Die Einladung zeigt eine der One Minute Sculptures, die im südfranzösischen Cahors 1999 entstanden waren. Im Herbst gab er dazu einen Workshop an der ehrwürdigen, das Akademische aller Akademien repräsentierenden Hochschule, der École Nationale Supérieure des Beaux-Arts de Paris im sechsten Pariser Arrondissement. Unter den Zuhörenden war eine Studentin von der Nachbarakademie, der Designschule der Arts Décoratifs de Paris. Sie bereitete gerade ihre Abschlussarbeit vor und wollte den Künstler interviewen. 21. November 2002: Élise Mougin tritt in Erwin Wurms Leben. Sie ist 24 Jahre alt.
Unterhalb eines Bildes ist immer schon ein Bild: The Artist Begging for Mercy (Dedicated to Maurizio), 2002. C-Print.