„Eines Tages kam ihm im Sommeraufenthalte plötzlich die Idee, er sei zu dick, er müsse abmagern. Er begann nun, noch vor der Mehlspeise vom Tische aufzustehen, ohne Hut in der Sonnenglut des Augusts auf die Straße zu rennen und dann im Laufschritt auf die Berge zu steigen, bis er schweißüberströmt haltmachen mußte“: Sigmund Freud erzählt diese Geschichte in seinem Aufsatz „Bemerkungen über einen Fall von Zwangsneurose“ aus dem Jahr 1909, und er gibt allein im Titel zu verstehen, dass er das beschriebene Verhalten übertriebener Fitnessaktivitäten für ein wenig pathologisch hält. Dann nimmt die Geschichte eine für Freud typische Wendung: „Die Lösung dieses unsinnigen Zwangshandelns ergab sich unserem Patienten erst, als ihm plötzlich einfiel, zu jener Zeit sei auch die geliebte Dame in dem Sommeraufenthalte gewesen, aber in Begleitung eines englischen Vetters, der sich sehr um sie bemühte und auf den er eifersüchtig war. Der Vetter hieß Richard und wurde, wie in England üblich, Dick genannt. Diesen Dick wollte er nun umbringen … und darum legte er sich zur Selbstbestrafung die Pein jener Abmagerungskur auf.“ (Freud, 59) Sigmund Freud ist immer zwischen uns, meinte Erwin Wurm einmal, und auch hier mischt der Grand Old Man der Psychoanalyse sich ein, um aus Dick mehr zu machen als eine Sache des Umfangs. Im Anfang war nämlich das Wortspiel.
Zunächst aber ist es ein Spiel mit den Volumina und damit eine ernsthafte Frage der Bildhauerei. Die Inszenierungen von Dicksein gehören zu Erwin Wurms erfolgreichsten bildnerischen Äußerungen: Seine eigene Gestalt wird den plastischen Untersuchungen unterzogen, sein Künstlerfreund Jakob Gasteiger ebenso, und vor allem greifen sie aus auf jene beiden gleichsam existenziellen Phänomene, in denen das klein-, mittel- oder großbürgerliche Leben ganz bei sich ist – auf das Auto und das Haus. 2001 entwarf Wurm sein erstes Fat Car, ein Signaturwerk, nach wie vor steter Bestandteil von Ausstellungen. 2003 folgte das Fat House, nicht minder ein idiomatisches Stück eines Künstlers, für den tendenziell alles Bildhauerei ist. Denn schließlich, wie er im 2006er Katalog über den kugelrunden Künstler, der die Welt verschluckte / The artist who swallowed the world schreibt (dieser Katalog enthält übrigens einen sehr instruktiven Text des Wiener Philosophen Robert Pfaller, dem der Hinweis auf Sigmund Freuds Dick-Episode zu verdanken ist): Am Ende handelt die Kunst von der Schwierigkeit, mit der Welt zurande zu kommen – sei es mit den Mitteln einer Philosophie oder einer ausgewogenen Ernährung. Das Zitat ist so nahrhaft, dass es gleich auf dem Cover des Katalogs zu lesen ist. (Übersetzung R. M.)
Fahrbare Übergröße: Hot Dog Bus, 2015. Mischtechnik, 220 × 250 × 550 cm (Ausstellungsansicht, Public Art Fund, Brooklyn Bridge Park, 2018).
Seit dem Jahr 2000 hat die Art Basel eine Abteilung für tragbare Übergrößen. Die Kunstmesse in der schweizerischen Grenzstadt – also dort, wo Zollfreilager die Anlage einer Kunstsammlung durchaus erleichtern – begann seinerzeit, die Art Cologne, die alte Konkurrentin in Köln, in den Schatten zu stellen. Die deutsche Wiedervereinigung hatte an deren Nimbus als europäische Hauptstadt der Kunst ziemlich gekratzt. „Art Unlimited“, so der Name der Basler Abteilung, sollte die neue Relationalität der Werke, ihr Ausgreifen ins Soziale und Politische und ihr buchstäbliches Rahmensprengen berücksichtigen. Genauso sollte „Art Unlimited“ der Tatsache Rechnung tragen, dass Geld genug da war, um auch Werke verkaufen zu können, die über das Format einer Koje hinausgingen – nach dem unsterblichen Motto des Kölner Galeristen Max Hetzler: „Bild groß, viel Moos; Bild klein, kommt nichts rein.“ Die Bilder vor der Moderne waren, als Altäre oder Denkmale monarchischen Gottesgnadentums, eher groß und unbeweglich. Die Bilder der klassischen Moderne dagegen zeigten sich ebenso flexibel, wie sie von eher kleinem Ausmaß waren – schließlich war ihr Refugium, auch wenn die Avantgarden es nicht wahrhaben wollten, die Industriellen-Villa. Nun, in der Gegenwart, verband sich die Losgelöstheit von aller Lokalität mit dem Überborden der Dimension.
Zur „Art Unlimited“ musste man sich bewerben, es gab eine separate Halle und eine Extra-Broschüre dafür. Für 2001 wurde die Galerie Krinzinger vorstellig, das Werk, das sich in Übergröße präsentieren wollte, war eine neue Arbeit von Erwin Wurm: Fat Car. Es war so neu, dass die Abbildung im „Art Unlimited“-Katalog ein eher freihändig modelliertes, also noch ziemlich unfertiges Gebilde zeigt, das die Appetitlichkeit des später so fetten Wagens erst noch gewinnen muss. 2004 ist die Galerie wieder bei „Art Unlimited“ dabei, diesmal mit dem Pendant zum Auto. Man stellt also vor: Fat House. Die voluminöse Erscheinung mit den dicken Wülsten ist als Hütte problemlos identifizierbar, es hat weiße Wände, Türen, Fenster und ein rotes Satteldach. Es ist ebenso als Gesicht identifizierbar, nicht nur durch das Volumen, das ihm den Eindruck von Fettschwarten verleiht, sondern auch durch die anthropomorphe Anordnung der Öffnungen. Es ist ein gargantueskes Haus und erweckt den Eindruck, als würde es einen beim Betreten sogleich verschlingen; es erinnert an manieristische Schöpfungen, etwa im italienischen Bomarzo, aber auch an den österreichischen Chefmodernisten Adolf Loos, dessen Fassaden des Öfteren menschliche Antlitze aufrufen. Und Fat House ist ein sprechendes Haus: Im Inneren findet eine Videoprojektion statt, in einer Mise en abyme, als Bild im Bild, beginnen die Elemente der Architektur, sich zu bewegen, Töne auszustoßen und sich zu einer Rede zu formieren, die um die Reflexion kreist: Am I a House? So fragt sich also das Gebilde: Kann ein Haus fett sein? Bin ich mehr ein Kunstwerk als ein Haus? Und kann ein Kunstwerk fett sein? Nein, kann es nicht. Doch schließlich die Quintessenz: Vielleicht kann Kunst fett sein. Vielleicht macht mich gerade das zu einem Stück Kunst.
Was Wurm hier seiner Kreation in den Mund legt, ist die durchaus traditionelle Antwort der Moderne auf das Problem. Diese Antwort liegt im Singular, im Kollektivsingular Kunst. Ein einzelnes Werk, ein Stück bildnerisches Metier, ein Stück Meisterschaft oder Virtuosität kann nicht fett sein. Aber als kollektive Größe in der Einzahl, unter der sich alle vorstellen können, was sie sich vorstellen wollen, kann die Kunst alles sein – natürlich auch fett (wobei anzumerken ist, dass in der unmittelbaren Gegenwart etwas, das als Kunst firmiert, immer noch alles sein kann; das einzig Illegitime ist heute der Gebrauch des Wortes „fett“ – es könnte sich jemand angegriffen fühlen). Fat House ist eine von Wurms populärsten Schöpfungen geworden, es gibt diverse Versionen in verschiedenerlei Kontexten – im Stadtraum wie auf der grünen Wiese, und schließlich stehen Häuser überall. Der Hot Dog Bus, wie er 2015 etwa in New York aufgestellt worden war und einschlägig Essbares verteilte, auf dass die Konsumierenden bald ebenso aussehen wie das Gerät, das ihnen dienlich ist, stellt dann eine hybride Mischung dar aus fettem Haus und fettem Wagen. Im Jahr 2019 zuletzt hat das originale Fat House sich einen Ort erobert, der so beiläufig ist wie dann doch eine Auszeichnung: Die Österreichische Post hat eine Briefmarke mit ihm als Motiv herausgebracht, Wert: 1,75 Euro.
Von großer Dimension war auch das Projekt, das sich die Wiener Universität für angewandte Kunst ausdachte, um 2002/03 während der Renovierung ihrer Gebäude am Stubenring in der öffentlichen Wahrnehmung zu bleiben. „BIG-ART“ nannte es sich in aller Bescheidenheit und sollte stockwerkfüllend die Staubnetze dekorieren, die vor den Gerüsten angebracht waren. Erwin Wurm beteiligte sich mit einer fotografischen Inszenierung nach Art seiner One Minute Sculptures. Hoch oben auf einem Bücherregal, keiner weiß, wie er hinaufgekommen ist, sitzt Gerald Bast, Rektor des Hauses, auf einem Hocker und blickt dem Fotografen entgegen. Das ist es, und so wird es als Foto großformatig affichiert in der urbanen Umgebung. Nicht von ungefähr ist Wurm zu dem Projekt eingeladen worden. Seit ebendem Wintersemester 2002/03 ist er Professor und wird es bis zum Sommer 2010 bleiben. Er ist Professor an der Universität für angewandte Kunst (natürlich ist Brigitte Kowanz eine seiner Kolleginnen). Eingestiegen ist er in eine Klasse für Kunsterziehung, Bezeichnung „Gestaltungslehre – Bildnerische Erziehung“, und verlängert so seine eigene Ausbildung in die Lehre. Die Stelle war vorher interimistisch besetzt, seine Vorgängerinnen jeweils für ein Jahr waren Ingeborg Strobl und Lisl Ponger. Wurm übernimmt die Klasse nun fix, bis er zum Wintersemester 2005/06 jene für „Bildhauerei/Plastik/Multimedia“ übernimmt. Es ist eine freie Klasse, die Perspektive im Unterricht auf eine spätere Tätigkeit an Schulen fällt also weg. Wurm übernimmt diese Professur von Bernhard Leitner, der in den Ruhestand geht, ein Jahr später kommen noch die Studierenden der Bildhauerei-Klasse von Gerda Fassel, die ihrerseits emeritiert wird, hinzu, sodass sich ein ziemliches Sammelsurium an eigenen Leuten und jenen aus zwei anderen Klassen ergibt – in Qualität und vor allem auch Quantität ein Präzedenzfall, der heute indes bei siebzig bis hundert Studierenden pro Klasse so etwas wie normal geworden ist. Auch die Mitarbeitenden bei Wurm kommen aus den diversen Ställen, wie sie sich in der Zeit davor ergeben hatten: Von Gerda Fassel wird Rainer Wölzl übernommen, von Leitner sind es Nita Tandon und Johannes Steurer, dessen Liste an akademischen Titeln man sich vor Ort gern auf der Zunge zergehen ließ: Dipl.-Ing. Dr. rer. soc. oec. Dr. techn. Dr. phil, darüber hinaus Sound-Spezialist. Erwin Wurm selbst bringt Roman Pfeffer mit, seit einigen Jahren sein persönlicher und jetzt auch universitärer Assistent.
Erwin Wurm, Roman Pfeffer und ihr spezieller Draht zueinander: Gedankentransmitter (macht froh), Assistent und Künstler, 2007. C-Print.
Pfeffer, Jahrgang 1972, hat an der Akademie am Wiener Schillerplatz bei Gunter Damisch studiert. Er war in einer Malerei-Klasse, doch hat er sich einer schriftlichen Abschlussarbeit unterzogen, die einer ganz anderen Fragestellung nachging: „Skulpturale Behauptungen“. Erwin Wurm hatte seinen Anteil an Pfeffers Behauptungen, und so kam der Absolvent bei ihm vorbei, um ihm die Arbeit zu zeigen. Man kann sagen, er ist geblieben, Wurm lud ihn ein, bei den Vorbereitungen zu Fat Survival zu helfen, der Ausstellungstournee, die von der Grazer Neuen Galerie organisiert wurde und Stationen in Paris, Bologna und Karlsruhe hatte (die Umschlaginnenseite des Katalogs zeigt das im zweiten Kapitel erwähnte Foto von Wurm und Werner Schwab). Bis 2006 sollte Pfeffer Wurms privater Assistent bleiben – an der Angewandten arbeitet er bis heute. Als Abschiedsgeste rücken der Chef und sein bevorzugter Mitarbeiter in eine One Minute Sculpture mit dem Titel Gedankentransmitter ein, das schlichte Nebeneinander zweier Konterfeis, einander verbunden durch einen Füllfederhalter, der ihnen im Ohr steckt. Pfeffer hat sich von Wurm zum Teil in Arbeiten bezahlen lassen – „aus heutiger Sicht wunderbar“, sagt er, und wer wollte es bezweifeln. Die Tätigkeit an der Angewandten, so Pfeffer, „war für die Mitarbeiter super. Erwin war froh, wenn etwas passiert ist.“ Die Standardfrage des Professors hätte gelautet: „Wo geht’s hin?“ Jeden Dienstag traf sich die Klasse, pro Woche gab es „zwei, drei Präsentationen“ im Plenum, denen Einzelgespräche vorausgingen – man kann sagen, das eingeübte Programm an Akademien.
„Es gab schon Leute, die dann geweint haben. Ich für mich habe immer starken Zuspruch gespürt.“ Das sagt Angelika Loderer, seinerzeit Studentin in Wurms Klasse. Sie ist Jahrgang 1984 und kommt aus dem steirischen Feldbach, wo ihre Familie seit Generationen eine Kunstgießerei betreibt, die auch für Erwin Wurm arbeitet. Derart sozialisiert, weiß sie, was sie tut. Laut einer Umfrage des österreichischen Wirtschaftsmagazins „trend“ vom Oktober 2022 darf sie als „Beste unter 40“ im nationalen Ranking gelten. Sie ist Wurms Vorzeige-Absolventin, und tatsächlich hat er ihr damals schon, aus der Klasse heraus, eine Bronze-Arbeit abgekauft. 2012, ein Jahr nachdem sie mit ihrem Studium fertig geworden ist, hat sie dann eine Solo-Show auf Wurms Anwesen in Limberg, „nur für einen Tag“ breitet sie in Wurms Atelierräumen Bodenarbeiten aus. Was hat sie mitgenommen von ihrer Ausbildung? Angelika Loderer denkt ziemlich lange nach, dann kommt eine veritable Liste an Prädikaten: „Vertrauen – Vertrauen zu mir, Selbstvertrauen, Vertrauen zum Experiment.“ Das Gespräch geht in anderer Richtung weiter, dann kehrt sie zur Liste zurück. „Was habe ich noch gelernt: großzügiger denken, größer denken, ein Statement produzieren.“ Und abschließend ein Satz, den viele, die mit Wurm zu tun haben, unterstreichen werden: „Er hat mir das Gefühl gegeben: Warum nicht auch ich?“ (Gespräch mit Angelika Loderer, 7.3.2023)
Ihren Abschluss an der Angewandten macht Angelika Loderer im Jahr 2011. Professor Wurm war da schon Geschichte, das Diplom wurde ihr abgenommen von „TransArts“, einem Ausbildungsprojekt, das aus Wurms Klasse heraus vom Rektor entwickelt wurde. Ein Dreier-Gremium, bestehend aus Pfeffer, Nita Tandon und Stefan Hilge – „unser Handwerker“, sagt Roman Pfeffer –, teilt sich die Leitung, es werden Gastlehrende hinzugezogen, die Mischung aus drei Klassen, die sich eher unfreiwillig entwickelt hatte, als Wurm die Professur übernahm, ist auf ihre Weise institutionalisiert. Die jetzige Dreier-Konstellation erlaubt Phasen des Rückzugs, Pfeffers Turnus sieht etwa fünf Jahre Unterrichten, zwei Jahre Pause vor. „TransArts“ hat sich bewährt, die Klasse arbeitet unangefochten bis heute.
„Erwin wollte wissen, was eine Skulptur wirklich ist. Daher hat er diese kuriose Kunstform immer wieder mit Fragen gelöchert. Er hat die Grenzen der Skulptur so weit ausgetestet, dass sie seine ganze Vorstellungskraft und Kreativität in Besitz genommen hat. Fragt man Erwin heute, was sein Beruf ist, antwortet er, ohne mit der Wimper zu zucken: ich bin Bildhauer. Und fühlt sich frei, alle seine Ideen zu realisieren.“ Immer wieder habe ich hier auf das wunderbare Buch zurückgegriffen, das Élise Mougin-Wurm über ihren Mann geschrieben hat. Es ist hier allerdings, in der Übersetzung von Nathalie Hoyos und Heiner Georgsdorf, nur die Sprache zur Sprache gekommen. Die Text-Bild-Kombinationen, die Fließtext, Sprechblasen, Gezeichnetes, Skizziertes, Illustriertes und Fotografiertes in ein schier gesamtkunstwerkliches Layout bringen, führen bei diesen herausgelösten Zitaten ein eher beiläufiges Dasein. Die letzte Zeile aus der Anführung oben: „Und fühlt sich frei, alle seine Ideen zu realisieren …“ steht etwa ganz allein auf einer Seite, unterstützt von einer lapidaren Zeichnung, sie zeigt einen Pfeil auf einem Holzpflock, als wäre der ein Schild; die Aufschrift lautet „Ausstellung“. Dann muss man weiterblättern, und es kommen Abbildungen von Werken Erwins eben im Kontext von Ausstellungen. Es ist ein Kinderbuch, wie es im Buche steht. Estée, die Tochter, der es gewidmet ist, war neun, als es im französischen Original erschien. Womöglich wäre dann von neun bis 99 die Spanne an Lebensalter, für die es zur Lektüre geeignet ist.
Man hatte sich 2002 kennengelernt. Élise wollte Erwin interviewen für ihre Abschlussarbeit an der Pariser Ecole des arts décoratifs. Sie war „sehr schüchtern, und im Englischen war ich außer Übung. Ich war sehr konzentriert auf das, was ich sagen wollte.“ Jedenfalls kam man nicht zu Ende mit dem Gespräch, und Erwin lud die neue Bekanntschaft ein, zum Abendessen mitzukommen. Bei Thaddaeus Ropac in der Rue Debelleyme im Marais sollte es eine Vernissage geben, Elaine Sturtevant stellte aus. Da tauchte der langjährige Freund Erwin mit einer sehr jungen Frau auf. „Sie war nicht sehr freundlich zu mir“, erinnert sich Élise, die gerade gesundheitliche Probleme hatte und darauf verzichtete, zu rauchen und Alkohol zu sich zu nehmen. „Sie hielt mich für ziemlich langweilig.“ Die Dinge nahmen trotzdem ihren Lauf. Für zwei Jahre führte man eine Fernbeziehung, bis Élise Mougin 2004 zu Erwin Wurm in die Eiswerkstraße zog. Dort war die alte Familie wieder unter einem Dach, das Haus in zwei Hälften getrennt, Dorothee Golz bewohnte mit den Söhnen die vordere Hälfte, Erwin die hintere, es gab im ersten Stock eine Verbindung, dort befanden sich die Kinderzimmer. Laurin, der Ältere, hatte seines in Richtung Vater, Michael entsprechend in Richtung Mutter. In diese Situation brach nun eine weitere Person ein, die neue Partnerin.
23 Jahre Altersunterschied – „und noch ein halbes Jahr“, fügt Élise hinzu. Und zählt auf, welcher Probleme sie sich seinerzeit von Anfang an bewusst war: „Er ist doppelt so alt wie ich; er spricht kein Französisch, und ich spreche kein Wort Deutsch; er hatte eine sehr belastende Scheidung hinter sich, und wollte sich vielleicht nicht wieder auf lange Zeit binden; das Haus ist zweigeteilt, mit den Kinderzimmern als Kommunikationszone und der Ex-Frau auf der anderen Seite.“ Sowie, sehr nachvollziehbar: „Ich liebte Paris.“ Keine splendiden Voraussetzungen: „Es sah nicht so aus, als würde die Beziehung halten. Doch nach 21 Jahren lieben wir uns immer noch sehr.“
Und es gab eine Möglichkeit, das durchaus enge Nebeneinander zu entflechten. Erwin Wurm hatte ein Atelier in der Taborstraße im zweiten Bezirk bezogen und sich in der Zwischenzeit ein Haus in Niederösterreich zugelegt, es lag in einem Ort namens Niederschleinz und wurde ihm vermittelt von Elisabeth von Samsonow: „Ich wollte“, erinnert sie sich, „dass er in meiner Nähe ist.“ Die Freundin hatte ihrerseits eine Liegenschaft im benachbarten Hadres, sie erfährt, dass die dortige alte Schmiede zu verkaufen sei, und arrangiert ein Treffen mit einem Makler: „Ich wusste nicht, dass er schon solche kapitalistischen Muskeln hatte – die Schmiede war ihm zu klein.“ Also Niederschleinz, 25 Kilometer näher an Wien, ein ehemaliger Gutshof, langgezogenes Gebäude mit Hof: „Erwin hat es sofort gekauft und, wie er das macht, ungeheuer effizient umgebaut.“
„Künstler zu sein ist etwas speziell anderes, als Kunst zu machen“, sagt Élise, die sich als Grafikdesignerin versteht. Zwölf Jahre war sie in diesem Bereich tätig, sie hat vor allem für Museen, unter anderem für das mumok und das Belvedere in Wien und für das Centre Pompidou in Paris, gearbeitet. Als Grafikdesignerin „muss ich hier nicht meine eigenen Probleme lösen; ich fasse die Probleme von anderen ins Auge“. Unser Gespräch wird auf Englisch geführt, und sie sucht nach dem richtigen Wort, bis sie sagt. „When you are an artist you work on your predicament.“ Predicament heißt so etwas wie Dilemma oder Befangenheit in sich selber, und das scheint für sie ein Kennzeichen genuin künstlerischer Existenz. Dazu gehört auch eine Ökonomie: „Ambition auf Karriere, Geschäftsbeziehungen, das soziale Netzwerken und das Spiel mit dem Markt.“ (Gespräch mit Élise Mougin-Wurm, 20.3.2023, Übersetzung R. M.) Nicht Künstlerin zu sein hilft ihr dabei, im Metier ihres Mannes an vorderster Stelle zu agieren: den Internetauftritt zu betreuen, das Archiv zu überwachen, Mit-Geschäftsführerin des Betriebs zu sein, der als GmbH firmiert und Fat House Edition heißt – und natürlich mit den Museen und Ausstellungshäusern zu reden, Konzepte zu beratschlagen und insgesamt am Werk von Wurm mitzuwirken: „Zunächst dachte ich, ich würde mein Designatelier nur für einige Zeit schließen. Aber es ist so interessant und spannend, Teil der vielen verschiedenen und außerordentlichen Dinge zu sein, die er entwickelt.“ Seit 2010 trägt sie einen Doppelnamen, geheiratet wurde, da war sie schwanger mit Estée, in Limberg. Die Hochzeitsreise ging nach Venedig. Honeymooning im Hotel Danieli? – „Im Gritti.“
„Schon lange nicht mehr, wenn überhaupt, sagte die Frau an der Rezeption, hätte das mumok so viele Besucher gesehen. 1.200, 1.500 von ihnen gäben sich täglich die Drehtür weiter, und zweifellos liege das an Erwin Wurm.“ Das ist der Anfang eines Textes aus meiner Produktion, publiziert am 6. November 2006 auf der Internet-Seite von artmagazine.cc. Wohlweislich unterscheiden die Kunsthäuser nicht nach den jeweiligen Ausstellungen, wenn sie ihr Publikum zählen – die Wiener Secession unterlässt es mit guten ökonomischen Gründen, zu differenzieren zwischen jenen, die die oftmals spröden Präsentationen in den Hauptgeschossen besuchen, und den vielen eher touristisch Ambitionierten, die sofort in den Keller zu Gustav Klimts Beethoven-Fries verschwinden. So weiß man auch nicht zu hundert Prozent, ob der damalige Boom im mumok auf Wurm zurückzuführen war. Doch man kann es sich denken. Wurms Wiener Auftritt leitet seinen Welterfolg ein. Letztlich vollzog sich dieser Auftritt in fünf Folgen: Ein gemeinsamer Katalog mit dem Titel The artist who swallowed the world begleitet die folgenden Stationen von Wurms Tournee: September bis November 2006 im Ludwig Forum für internationale Kunst in Aachen; Oktober 2006 bis Februar 2007 im mumok unter dem Ausstellungstitel Keep a cool head; April bis August 2007 in den Deichtorhallen Hamburg unter Das lächerliche Leben eines ernsten Mannes, das ernste Leben eines lächerlichen Mannes; Juni bis August 2007 im Musée d’Art Contemporain de Lyon als Rétrospective sowie März bis Mai 2008 im Kunstmuseum Sankt Gallen wieder unter dem Titel des Katalogs.
Das Museum für zeitgenössische Kunst in Lyon hat es schon getroffen: Es war eine Retrospektive. Es wurde gezeigt, was in den eineinhalb Jahrzehnten seit Wurms Paradigmenwechsel um 1990 zusammengekommen war. Die Zauberworte einer aktuellen Kunst fanden sich in seinem Werk beispielhaft illustriert. Nennen wir deren fünf: Ereignis, Situation, Serie, Blow-up, Modell. Diese Beschreibungsmuster haben gemeinsam, dass sie sich über Gattungen hinwegsetzen. Fotos können ebenso gemeint sein wie Installationen, skulpturale Arbeiten wie Videoprojektionen, Performances wie Stage-Sets. Um Kunst zu produzieren, bedient man sich des für die spezielle Absicht geeigneten Mediums. Ein solches Medium ist oftmals und mit vielerlei Überlegung ausgestattet das konventionelle etwa einer Plastik. Genauso aber können die Objekte und Projekte, Artikulationen und Definitionen, die in der Gegenwart Kunst sind, vielteilige Mischformen sein; so verdanken sie sich der Collage und üben sich in Hybridität, sind Ergebnisse eines zeittypischen Samplings und bauen sich zu bühnenartigen Arrangements auf. Es gibt schlicht keine verbindlichen Medien mehr, die die Dinge der Kunst in der Fasson halten. Deshalb kann Erwin Wurm sie mit einem der traditionellsten Begriffe fassen, die es überhaupt gibt in den Angelegenheiten des Künstlerischen: Sie sind Bildhauerei, sie sind Sculptures.
Darüber hinaus sind sie, mit einem Ausdruck, der seit der Romantik, seit der Ästhetik von Friedrich Schlegel für die bildende Kunst in Gebrauch ist, nichts anderes als interessant. Donald Judd, der Veteran der Minimal Art, hat es in den 1960ern nochmals betont: „A work needs only to be interesting.“ Diesbezüglich ließ sich Erwin Wurm nichts vorsagen, und 2006 inszenierte er in Wien dabei ein spezielles Spektakel: Am Dach des mumok-Kubus saß kopfüber ein Haus. Was heißt, es saß, der First bildete einen Keil, der in den dunklen, von Lava-Platten markierten Baukörper hineingetrieben schien wie mit einer Axt. Es war eine Attacke, die durchaus unscheinbare Hütte nahm die Anmutung eines UFOs an, das sich in aggressiver Absicht die Menschenwelt vorgenommen hatte. Wenn ein Einfamilienhaus auf ein Museum trifft, kann es zu Risiken und Nebenwirkungen kommen – heute, wo Elitarismus und Populismus wohlfeile Kampfbegriffe geworden sind, gilt dies umso mehr.
Jedenfalls war damit für alle Aufmerksamkeit gesorgt. Wurms House Attack, vielfältig dokumentiert und kommentiert, scheint immer noch nachzuwirken. In einem Interview von 2018 mit dem „Kunstforum international“ klagt Rosemarie Schwarzwälder, vor Dekaden seine Galeristin, über „den damals gefragten Mainstream: In all den Jahren … war gerne Häuschenbauen auf Museumsdächern angesagt.“ (Kunstforum, Bd. 255, 2018) Die Strabag, Österreichs größte Baufirma, die die Attacke auf das mumok ins Werk gesetzt hatte, hat sich den Keil nach seinem Abbau einem eigenen Bauwerk aufsetzen lassen, ihrer slowakischen Zentrale in Bratislava im Jahr 2008. Und auf dem Dach des Wiener Hotels Daniel beim Hauptbahnhof sitzt seit 2012 ein Boot – ganz ohne Aggressivität, es biegt sich organisch der Trauflinie entgegen. Dass derlei Präsenzen Genörgel hervorrufen, versteht sich von selbst.
Mit einem Haus kann man einen Menschen erschlagen wie mit einer Axt (frei nach Heinrich Zille): House Attack, 2006 (Ausstellungsansicht, Keep a cool head, mumok, Wien). Mischtechnik, 5 × 10 × 7 m.
An der Wasserstelle: Misconceivable, 2007 (Ausstellungsansicht, Estuaire 2007, Nantes). Mischtechnik, 10 × 7,1 × 2,26 m.
Kurator der mumok-Schau war Edelbert Köb, der zum dritten Mal für eine wegweisende Wurm-Präsentation verantwortlich war. Quasi zum Dank sieht man Künstler und Kurator in inniger Geste verbunden, im Rahmen einer One Minute Sculpture, denn natürlich zieht sich dieses bildnerische Prinzip im Œuvre weiter. Obwohl es ihm sichtlich Mühe bereitet, vollführt Wurm, was der Titel verkündet: Carrying Edelbert Köb. Als wäre es nicht schon genug Aufwand, begleitet im Hintergrund ein Gemälde von Roy Lichtenstein die Prozedur, ein Werk aus dem Bestand des mumok. Be nice to your curator heißt eine ganze Folge von Sympathiebekundungen dieser speziellen Instanz des Kunstbetriebs gegenüber. Harald Kunde, der zur Zeit von Wurms Tournee das Aachener Ludwig Forum leitete, wird mit Schokolade gefüttert, Jérôme Sans wird, als wäre auch das nett gemeint, in die Hosentasche gegriffen, Gerald Matt, Leiter der dem mumok benachbarten Kunsthalle Wien, bekommt einen Kuss verpasst. Und Köb wird getragen. Im Jahr 2015 wird Wurm dann eine ähnliche Behandlung Tricia Paik angedeihen lassen, Kuratorin am Indianapolis Museum of Art.
Tragen bzw. Hochheben ist die schwerfällige Form von Levitation. Kein Wunder, dass es in Wurms Werk entsprechend auch die leichte, leichtfertige, erleichternde Version gibt. Levitate sind entsprechend Zeichnungen betitelt, genauso wie One Minute Sculptures, Bazon Brock wird dem Verfahren unterzogen, und im Video Tell von 2007/08 darf sich ein Paar im Auto so lange streiten, bis sie, die Fahrerin, den offensichtlich naheliegenden Ausweg findet und den Wagen einfach die Senkrechte einer Hausfassade hochlenkt. Kunst hat immer schon mit Magie zu tun, ein Gutteil ihrer Wirkung bedarf des Glaubens. Honoré de Balzac hat es in seiner Novelle über „Das unbekannte Meisterwerk / Le Chef d’oeuvre inconnu“ seinem Helden Frenhofer in den Mund gelegt: „‚Ja glauben!‘, sagte, wie aus einem Traum erwachend, der Greis. ‚Glauben muss man, glauben an die Kunst, und lange mit seinem Werk zusammenleben, um eine solche Schöpfung hervorzubringen.“ (Balzac, 241 – im französischen Original: „Oui, mon ami, répondit le vieillard en se réveillant, il faut de la foi, de la foi dans l’art, et vivre pendant longtemps avec son oeuvre pour produire une semblable création.“) In diesem Sinne ist eines der schönsten Werke Wurms der VW-Bus, der von einem Magier in Biegung versetzt wurde, der Telekinetically Bent VW-Van von 2006 samt per Mail übermitteltem Zertifikat des dafür zuständigen Mahesh Abayahani an der Seitenscheibe. Übersinnliches und Telekinetisches, Levitationen, Mentalismen, Parapsychologien etc. stellen ihrerseits Skulpturales in den Raum, jedenfalls dann, wenn sie sich in eine Sichtbarkeit hinein realisieren. An wem wäre es, derlei nicht in die Potenzialität dessen, dass alles Bildhauerei ist, einzubeziehen. Schließlich hatte ja auch in der Gegend, in der Erwin groß wurde, ein Komet der Kreativität auf die Sprünge geholfen. Und die Einleitung von Tom Wolfes bereits angeführter Invektive gegen die Kunst seiner Gegenwart namens „Das gemalte Wort / The Painted Word“ kulminiert im Satz: „Nicht ‚man glaubt es erst, wenn man es sieht‘, du Pfeife (im Original „you ninny“), sondern ‚man sieht es erst, wenn man es glaubt‘.“ (Wolfe, 9) Keine Kunst ohne Legenden.
Guru-Gunst: Telekinetically Bent VW-Van, 2006. Mischtechnik, 210 × 245 × 475 m.
Im Jahr 2002 brachte Erwin Wurm eine Zeichnung zu Papier, die eine recht einzigartige Form von Erhobenheit und Erhabenheit imaginiert: The artist and the gallerist führt in Wurms Paradedisziplin der Inszenierung von Senkrechter und Waagrechter zwei Gestalten vor, die sich eben in 90-Grad-Position zueinander befinden. Es sind zwei Männer, einer liegt, der andere steht, allerdings steht er, immerhin barfuß, auf einer Gesichtshälfte des Liegenden. Offenbar ist derjenige in aufrechter Haltung der Galerist, er trägt Anzug und Krawatte, der Künstler hat demgegenüber nichts zu bestellen. Die Machtverhältnisse scheinen zementiert, da helfen auch keine Sympathiebekundungen oder inszenierten Freundlichkeiten: Dieses krasse Visavis lässt sich auch per One Minute Sculpture nicht nivellieren.
Der Galerist ist männlich in Wurms grotesker Gegenüberstellung. Die Galerie, in der der Künstler in diesem Jahr 2002 eine Solo-Show hatte und die ihn seit 1986 vertritt, wird von einer Frau geleitet, Ursula Krinzinger. Damit mag sich die Frage nach dem Realitätsgehalt der Zeichnung erübrigen. Doch tatsächlich wird im Lauf der nächsten Jahre die Galerienfrage für Erwin Wurm dringlicher. Um es kurz zu machen: 2007 tauscht er seine Vertretung in Österreich aus und geht zu Thaddaeus Ropac. Für Ursula Krinzinger ist Wurms Wechsel bis heute eine Enttäuschung. Ihr ging es allzu abrupt und vor allem war es unerwartet: „Erwin Wurm kommt an einem Samstag lachend herein, drückt mir einen Brief in die Hand, sagt ‚lies das, ich komme wieder‘. Ich mache den Brief auf, und das war es.“ Immerhin kann man sich in die Augen sehen, und Ursula Krinzinger trägt es mit einer Art Humor: „Erwin hatte ein schlechtes Gewissen und hat mir Arbeiten überlassen. Für das Verlassen hat er mir was überlassen.“ Für die Gegenwart gilt: „Wir sehen uns, wir sprechen miteinander.“ (Gespräch mit Ursula Krinzinger, 31.5.2023)
Aus der Gurkerl-Perspektive: mit Thaddaeus Ropac in Limberg, anlässlich des Festes zu Erwin Wurms 60. Geburtstag, 2014.
Mit Ropac ist Wurm bei einem Galeristen gelandet, der als Global Player gilt. Seinerzeit hatte seine Galerie zwei Standorte: in Salzburg und Paris – mittlerweile sind zwei weitere hinzugekommen: in London und in Seoul. Die tägliche Arbeit stellte sich schon damals, laut Interview mit der Zeitschrift „frame“, Ausgabe Sommer 2007, ziemlich ausufernd dar: „In Salzburg haben wir ein Lagerhaus, das zweimal so groß ist wie das Gebäude, in dem sich die Galerie befindet. Weitere Lager sind in Paris, Köln und New York. Das Tempo plant man nicht, das holt einen ein. Man plant nur eine gewisse Verbesserung. Man will das Beste für Künstler machen, das ist ja der Schlüssel zum Erfolg, weil das auch das Beste für Sammler und Museen ist.“ (frame 20, 2007) Ab dem Jahr 2009 scheint Thaddaeus Ropac im einschlägigsten aller Kunstrankings, jenem von „Art Review“, unter den Top 100 der Einflussreichen auf. Was internationale Präsenz angeht, kann einem nichts Besseres passieren als Ropac.
Gemeinsam ist dem Galeristen und dem Künstler das Faible für Joseph Beuys. Was bei Wurm eher eine Hommage aus der Ferne geblieben ist, war bei Ropac ganz handfest. Er war vorstellig geworden beim Meister, 1982, als 22-Jähriger, und durfte tatsächlich mitarbeiten bei dessen großangelegten Projekten, bei den „7.000 Eichen“ der documenta 7 und bei den sogenannten „Hirschdenkmälern“ der Berliner „Zeitgeist“-Ausstellung – „als Assistent vom kleinsten Assistenten“, wie er heute sagt. Mehr als eine „Praktikantennähe“ sei nicht entstanden, doch die Verehrung blieb. Nach dem Anfang in Lienz 1983 ging Ropac mit seiner Galerie nach Salzburg. Ähnlich wie Ursula Krinzinger von Innsbruck aus mied er die Nähe zu Wien und fokussierte seinerseits München und insgesamt die Nachbarschaft zu Deutschland: „Ich war nie Teil der österreichischen Szene.“ Vielleicht auch deswegen hat es gedauert mit Wurm. Vor allem aber legt Ropac Wert auf die Feststellung: „Wenn Künstler eine zufriedenstellende Galerieverbindung hatten, haben wir uns nicht eingemischt.“ Und das schien ihm entsprechend gegeben. Bis zum Jahr 2007: „Es hieß damals, Erwin Wurm sei mit seiner Galerie nicht mehr so zufrieden und durchaus an einer Veränderung interessiert. Dann haben wir ihn kontaktiert.“ (Gespräch mit Thaddaeus Ropac, 3.3.2023) Der Hinweis darauf war vom Salzburger Sitz der Galerie gekommen, in Paris, wo Ropac lebt, wurde dann darüber diskutiert. Heute vertritt man den Künstler exklusiv – aber nur in den Ländern, in denen die Galerie Dependancen hat. Auf seine sehr diskrete Art formuliert Ropac es so: „Wenn die Künstler zufriedenstellende Verbindungen haben und uns den Raum in Großbritannien, Frankreich und Österreich geben, sind wir auch zufrieden.“ Abgerechnet, damit das schon einmal gesagt ist, wird in Anteilen von 50:50.
Die Zeitschrift Kunstjahr erklärte Erwin Wurm zum „Künstler des Jahres 2007“.
Pünktlich zur neuen Übersichtlichkeit fand sich Wurm seinerseits in einem Ranking wieder. „Die Zeitschrift, die Bilanz zieht“ namens „Kunstjahr“ erklärte ihn zum „Künstler des Jahres 2007“. Der wiederum revanchierte sich mit der Gestaltung des Covers zum Organ seiner Bejubelung. Man sieht ihn darauf in Manier der One Minute Sculptures mit obligatorischem Kurzzeitaccessoire. Statt etwaiger Freude hat er nun eine Banane im Gesicht, zwei der gelben Früchte stecken ihm unter den Achseln und eine weitere ragt phallisch zwischen seinen Beinen hervor. Man hat Wurm immer wieder in Hitparaden eingereiht. Seine Begeisterung darüber ist enden wollend. Dass er 2021 im Ranking von „ArtFacts“, der Kunstdatenbank im Internet, weltweit auf Platz 16 rangiert, positioniert zwischen Yayoi Kusama und Rosemarie Trockel, macht ihm jedenfalls dann doch nichts aus (die ewigen Spitzenreiter auf der Liste sind Andy Warhol, Pablo Picasso und Gerhard Richter).
Ich arbeite viel strategisch. Ich schaue, wo ich stehe, und versuche, mich zu verorten. Das sagt der Künstler zu den Diagrammen, die er immer wieder erstellt und insoweit öffentlich macht, dass sie in seinen Katalogen, beispielsweise des Kunstmuseums Bonn 2010 oder zur Biennale von Venedig 2017, publiziert sind. Es gibt einen Präzedenzfall für das Prinzip Diagramm, und allen, die sich mit der ästhetischen Moderne beschäftigen, wird es mehr oder weniger bewusst präsent sein. Im Jahr 1929 eröffnete in New York das Museum of Modern Art. Lange galt seine Sammlungs- und Ausstellungpolitik als das Nonplusultra zur Kunst des Jahrhunderts, und auch die Geschichten, die es über diese Kunst erzählte, wurden behandelt, als wären sie die Geschichte im Singular, die ultimative, die wahre, die einzig mögliche. Natürlich galt der Fokus allein dem Westen. In diesem Sinn skizzierte Alfred Barr, der Gründungsdirektor, im Jahr 1935 ein Diagramm, um dem Publikum seiner Ausstellung „Cubism and Abstract Art“ eine Schneise in den Wildwuchs dessen, was es alles an künstlerischer Bewegung gab, zu schlagen. Es beginnt mit den obligatorischen Stamm-„Vätern“ van Gogh – Cézanne – Gauguin – Seurat, dann eröffnet sich ein Magnetfeld von Begriffen und Pfeilen, Einflussbereichen und An- und Abstoßungen. Es ist wirr und verwirrend, was Barr an Tendenzen, deren Namen großenteils mit-ismus enden, aufzeichnet. Zum Ende hin folgt es dann wieder einer unerbittlichen Ordnung, denn die Zeit scheint alle Wunden zu heilen. Die Jahreszahlen am Rand geben beruhigend darüber Auskunft, dass nach einer Phase des heftigsten Durcheinanders wieder Übersichtlichkeit eingekehrt ist und sich in der Gegenwart von 1935 die Kunstwelt in die beiden Hälften der „Non-Geometrical Abstract Art“ und der „Geometrical Abstract Art“ fügt. Dass es noch was anderes gegeben hätte als Abstraktion, wird eliminiert. Aber es war ohnedies das Zeitalter der Eliminierung.
Bei Erwin Wurm schwelgt das Schaubild in bunter Assoziativität. Eigene Werke werden aufgerufen, durch ein Kästchen markiert; es kommen – hier beschrieben anhand des Diagramms, wie es das Begleitbuch zur Bonner Ausstellung 2010 zeigt – Begriffe aufs Papier, beschreibende wie Hülle, mahnende wie Kurzlebigkeit, das Werk umkreisende wie Körper und eine ästhetische Qualität benennende wie Ironie. Im Zentrum, auf das Linien radial zulaufen, das Wort Philosophen. Mindmap könnte man nennen, was hier zusammengestellt ist, ein Memo an sich selbst, ein Medium der Selbstvergewisserung. Das kann bisweilen eher zur Verwirrung als zur strategischen Ausrichtung beitragen. So ist 1999 bereits ein Blatt entstanden, übersät mit Dutzenden von Wörtern, aufgeschrieben im Hotel Adelphi in Liverpool und mit der sehr berechtigten Frage betitelt: Is it possible to transfer embarassment into a sculpture? Natürlich kann man auch Peinlichkeit zu einem Stück Bildhauerei machen, und wie das geht, zeigt das spätere, gerade kurz vorgestellte Diagramm, auf dem dann auch Formulierungen stehen wie soziale Skulptur oder psychologisches Subjekt. Diese Diagramme sind eine zeitgenössische Form des alten Disegno mit seiner Idee einer Grundlegung der bildnerischen Gedanken in deren Skizzierung.
Von Hermès zu House Attack, von Ironie zu Ikone: Untitled, 2006. Kugelschreiber und Farbstifte, 29,7 × 21 cm.
Ein weiteres der Wortgefüge Wurms aus den späteren 2000er-Jahren rankt sich um den Titel House Attack. Doch es gibt noch einen zweiten Eintrag auf dem Blatt, ebenfalls inszeniert als eine Art Magnet, auf den andere Begriffe zusteuern – zu sehen hier vis-à-vis auf Seite 219. Er lautet Hermes. 2008 war es zu einer Zusammenarbeit mit dem Modehaus gekommen, Véronique Nichanian, die Chefin der Herrenlinie von Hermès, war an ihn herangetreten – man hatte sich auf der Biennale von Lyon 2005 kennengelernt: Sie hat gefragt, ob es mich interessiert, eine künstlerische Interpretation der Hermèswelt zu machen. Ich habe zugesagt, unter der Voraussetzung, dass sie kein einziges Foto für Werbezwecke verwendet. (Parnass 2008) Es kommt zu schrägen Arrangements, die in der Konsequenz der One Minute Sculptures fotografisch festgehalten werden, Figuren, die aus der Hermès-Ausstattung, die sie am Leib tragen, ein wenig herausgewachsen scheinen – so der Anarchist genannte Herr im schicken grauen Mäntelchen, der barfuß auf dem Rücken eines Pferdes steht; oder jener Communist, der eine Hermès-Tasche zwischen die Zähne geklemmt hat, denn die Hände, um sie zu tragen, stecken in Hosentaschen. Und es kommt zu der Serie der Hermès Sculptures, Kleiderskulpturen mit geometrisch kubischem Innenleben, Quadern, denen Hermès-Mode übergezogen wurde und die Beine bekommen haben für eine Art Catwalk in der Galerie.
Wurm und wie er es mit der Mode hält, ist ein Dauerthema in der öffentlichen Wahrnehmung seiner Person und seiner Persona. Das Desaster mit der Palmers-Kampagne 1997 war da nur die Negativ-Folie, und spätestens mit der Appropriation seiner One Minute Sculptures in der Public Relation war eine Fragestellung in der Welt. Die Antwort in aller Pauschalität ist: Es muss Kunst sein. Die vielleicht aufsehenerregendste Aktion passiert 2009 mit Claudia Schiffer, und wie es sich gehört für jemanden, der die Modeaktivitäten durchaus mit spitzen Fingern anfasst, passiert es über Umwege. Erwin Wurm macht jedenfalls ein Shooting für die deutschsprachige Auflage von „Vogue“, Ausgabe November 2009. Ich habe vorher so viele kleinere Dinge gemacht. Dann habe ich damit aufgehört. Als Vogue bei mir anfragte, war ich eigentlich damit durch, aber sie waren hartnäckig und ließen sich auf Vorschläge ein. Ich hatte jedoch meine Bedingungen. Als Erstes, sagte ich, würde ich alltägliche Menschen nehmen wollen anstatt Models, aber wenn schon ein Model, dann entweder Claudia Schiffer oder Kate Moss. Sie fragten als Erstes Claudia und sie sagte sofort zu. Offenbar fand sie meine Arbeit gut. (Autre 2021, Übersetzung R. M.) So kommt es zu den Aufnahmen in einem gräflichen Anwesen in Niederösterreich. In sehr gediegenem Ambiente wird Claudia Schiffer Muse und Modell für die skulpturale Eine Minute: mit Besen zwischen den Beinen, mit durchgestreckter Wirbelsäule zwischen zwei Fauteuils oder auf einem Beistelltisch stehend, einen Stuhl balancierend, einen Kachelofen aus dem Rokoko neben sich. So griffig sich die Foto-Session anließ, sie ging nicht gut weiter: In einer zweiten Aktion hat Claudia Schiffer weiße Männerunterhosen an, wo ich Sachen hineingestopft habe. Sie macht klassische griechische Posen. Doch sie verbietet die Veröffentlichung: Jetzt habe ich da ein Riesenkonvolut an Arbeiten.
„Sie fragten als Erstes Claudia und sie sagte sofort zu. Offenbar fand sie meine Arbeit gut“: Untitled (Claudia Schiffer), 2009. C-Print.
Es war genau die Zeit, als „The September Issue“ in die Kinos kam, Filmstart Herbst 2009. Anna Wintour, die allmächtige Herausgeberin der amerikanischen „Vogue“, ließ sich die Dokumentation auf den Leib schneidern – in Reaktion auf den Spielfilm „The Devil Wears Prada / Der Teufel trägt Prada“, in dem sie von Meryl Streep persiflierend und dabei doch nur wenig übertreibend als Miranda Priestly verkörpert worden war. „The September Issue“ verfolgt nach, wie die letztlich 840 Seiten starke Renommier-Ausgabe von September 2007 hergestellt worden ist. Interessant daran ist weniger die Figur der Modezarin als die Innenansicht der Shootings, in denen Models, die von der Welt kaum mehr spüren als einen Hauch, in Situationen gebracht werden, die mit Fug als One Minute Sculptures durchgehen würden. In der hocharistokratischen Umgebung des Grand Trianon im Park von Versailles sieht man also Model Raquel Zimmermann zu, wie sie jene Form von Rokokokokotte gibt, die soeben Sofia Coppolas Film „Marie Antoinette“ wieder populär gemacht hatte – ein wenig schrill, bei allem höfischen Pomp ein Hauch von Punk. Vor allem ist Raquel Zimmermann ungeheuer dünn. In einem verstohlenen Augenblick wird ihr von der Kreativ-Direktorin (und heimlichen Hauptperson von „The September Issue“) Grace Coddington ein Törtchen in den Mund gesteckt – ein Moment von der Zeitlosigkeit einer Minute, die überhaupt nicht aufhören möchte.
Unter all den Menschen, die bereit sind, sich für Wurm in Position zu begeben, sich nackt in eine Blechtonne zu setzen wie der Volksschauspieler Karl Merkatz oder sich ebenfalls nackt bis zum Oberkörper auf einem Acker eingraben zu lassen wie der Theaterintendant Matthias Hartmann, um dabei sodann fotografiert und zur tragenden Figur eines Stückes Kunst zu werden, rückt 2009 ein spezielles Original vor die Kamera. Franz West ist Teil meiner Geschichte. Franz West also, ihm müssen in diesem Buch auf jeden Fall einige Zeilen gewidmet werden. Müsste gesucht werden nach dem Modell einer Wiener Künstlerfigur, West würde es abgeben. Geboren 1947 ebendort, Sohn eines serbischen Kohlenhändlers und einer Zahnärztin aus dem Wiener Judentum, aufgewachsen in dem Gemeindebau schlechthin, dem Karl-Marx-Hof, gerierte er sich lange Jahre als Faktotum und zuverlässiger Lieferant für Anekdoten aus dem Leben der Boheme. Er zog durch die Kaffeehäuser und Bars, in denen der Kunstbetrieb verkehrte, und versuchte, seine Arbeiten zu tauschen, gegen Geld, gegen Getränke, gegen Gemeinschaftsgefühl. Was am Tag entstand, sollte am Abend an die Interessierten gebracht werden – mit dem absehbaren Ergebnis, dass der Markt geflutet wird von West’scher Produktion, seitdem er berühmt ist. Fast alle haben dazu eine einschlägige Geschichte parat. Auch Erwin Wurm: West hätte ihn, wie er es so machte, gefragt, ob er ihm nicht etwas Geld geben könnte, er nannte 2.500 Schilling. Wurm ging zum Geldautomaten und überreichte ihm die 25 Scheine à hundert Schilling (er legte Wert auf ebendiese Zählung). Eine Stunde später kommt er mit einem Doppelliter Wein und einer mindestens zweieinhalb Meter hohen Arbeit. Wurm hat ihn nicht mehr, den echten West, das Werk geriet irgendwann an den Kunsthändler Cajetan Grill.
Porträt des Künstlers als Freund: Franz West, 2009. C-Print.
Einmal haben sie getauscht. Besser, sie haben kollaboriert. Im Atelier von West stehen zwei rosa Stühle, auf einem liegen Kataloge. Als Wurm ankommt, nimmt West einen Teil davon vom Stapel und legt ihn auf den zweiten Stuhl. Beide Künstler signieren je einen der Stühle, den das jeweilige Gegenüber dann bekommt. Dazu gibt es ein Zertifikat. Es ist eine der wenigen Zusammenarbeiten Wurms – es gibt sonst nur noch eine Kollaboration mit Sylvie Fleury, der Schweizer Künstlerin, deren Werk das Labelling von Modemarken aufnimmt, entstanden 2002 für eine Ausstellung bei Krinzinger. Vier One Minute Sculptures inszeniert Wurm mit West für das deutsche Kunstmagazin „monopol“. Der Ort ist Wests Atelier und der Aufwand eher gering. West balanciert Handtücher auf dem Kopf, lehnt sich gegen einen Besen, und einmal sitzt er einfach da, auf dem Boden. Alles Splendide des zu erheblichem Reichtum gekommenen Stars ist verpönt, das Milieu bleibt die Tristesse eines lange unterbelichteten Künstlerdaseins. Immerhin: Franz meinte, er hätte noch nie so gut ausgesehen. Nach den Aufnahmen seien sie dann ab und zu essen gegangen. 2012 ist West verstorben. Wurm sieht wenig Gemeinsames zwischen seiner und dessen Arbeit. Sie sind, notwendigerweise bei der Überschaubarkeit des Wiener Kunstbetriebs, Weggefährten: Schon an Neue Skulptur, der inaugurierenden Gruppenschau von Achille Bonito Oliva in der Galerie nächst St. Stephan 1982, waren sie beide beteiligt. Des einen Neigung zum Exzess hat der andere nie geteilt.
Die „Süddeutsche Zeitung“ mit Sitz in München entwickelte 2009 für ihr jeden Freitag beigelegtes Magazin eine dem Medienzeitalter entsprechende Form von Gesprächsrunde. Man besucht eine Stadt, mietet ein Lokal, lädt Menschen, die in dieser Stadt eine Rolle spielen, ein, lässt sie sich bis zur Sperrstunde miteinander unterhalten und setzt so allem internet-konformen Reißaus ein wenig Entschleunigung gegenüber. Ein gut und gern 20 Seiten umfassender Digest dessen, was alles beredet wurde, kommt dann im Heft zum Abdruck, inklusive den sparsam gesetzten Moderationen der SZ-Verantwortlichen. Natürlich ging der erste Besuch nach Wien, er fand statt am 4. Dezember 2009 und wurde dokumentiert in der Nummer 3/2010. Nach und nach tröpfelten die Eingeladenen ein im Café Engländer, einer der Traditionsgaststätten der kulturell Innovativen und Initiativen. Gegen 20 Uhr kommt als Letzte Gustav, die Elektronik-Musikerin, die sich gleich präsent macht mit dem unschlagbaren Diskussionsbeitrag: „Wisst ihr, was das Beste an Österreich ist? Die Wurst!“ Um 14:35 Uhr war der Erste der Eingeladenen eingetroffen. Es ist Erwin Wurm. Bis 16 Uhr wird er bleiben: So lang bin ich normalerweise nie in einem Kaffeehaus, sagt er heute dazu. Zum Satz von Gustav meint er: Der könnte von mir sein. Da sonst noch niemand da ist, spielt er sich mit den Leuten vom SZ-Magazin die Bälle zu. Wie es üblich ist, wenn man sich nicht kennt, wird über die Situation, in der man sich befindet, geredet – über Österreich (Da geht es doch nicht um Meinungsaustausch, da geht es um Rechthaben. Der Österreicher streitet gern und ist schnell beleidigt.) oder über das Kaffeehaus (Ich sitze nicht stundenlang bei einer Tasse Kaffee herum. Das freut mich nicht mehr, und Zeit habe ich auch keine. Heute gehe ich ins Fitnesscenter. Vielleicht eine Alterserscheinung). Dann ergibt es sich, dass Lotte Tobisch einlangt, man redet über ihren Zweitberuf als Erstinstanz: Sie organisiert den Opernball. „An und für sich war ich die falsche Besetzung. Ich tanze keinen Walzer. Um nichts auf der Welt, da wird mir schlecht. Und ich trinke keinen Alkohol und ich hasse Cocktailpartys.“ Darauf Wurm: Perfekt! Doch es hilft nichts, er muss weiter: Ich muss aufs Land. Hat mich gefreut, auf Wiedersehen.
Das Land hat einen Namen: Limberg. Bis heute ist es sein Rückzugsort, es ist Produktionsstätte und Sitz eines Unternehmens von mittelständischem Format. Es ist Showroom und Privatissimum für diejenigen, die dahin eingeladen werden und das dann bisweilen wortreich in die Öffentlichkeit tragen. Es ist nämlich auch Szenerie für eine Form quasijournalistischer Berichterstattung, die unvermeidlich ist bei einer Prominenz, wie Erwin Wurm sie mittlerweile besitzt. Man nennt diese Form der Berichterstattung Homestory, den klandestin tuenden Einblick in die Wohn- und Lebensverhältnisse eines VIP. Da kann es dann schon vorkommen, dass einer, der ganz intim dabei ist und den Käse reibt, damit der sich, wie der Künstler zitiert wird, „mit dem Pasta-Wasser zu einer sämigen Sauce verbindet“, von einem Limberg raunt, das „südwestlich von Graz“ liegt, „fast schon in Slowenien“. (F.A.Z., 1.2.2022) Das gibt es auch, doch das Limberg, in dem Erwin Wurm sein ansehnliches Anwesen hat, liegt in Niederösterreich, eine Stunde Autofahrt, das heißt etwa 70 Kilometer nordwestlich von Wien. Nach Slowenien wären es von hier aus gut deren 300. Auf dem Weg von Wien passiert man übrigens den „Heldenberg“, die nationalpatriotische Anlage mit seinen Dutzenden von metallenen Soldatenfiguren in Erinnerung an die reaktionäre Zerschlagung der Demokratie von 1848 – eine Form von Bildhauerei, von der man gern das Wissen mit nach Limberg nimmt, dass die Gegenwart sie überwunden hat.
Der „Verdauungskünstler“ (Wurm über Nitsch): Erwin Wurm schenkt Hermann Nitsch zum 80. Geburtstag eine Gurke. Erwin Wurm, Hermann Nitsch und Élise Mougin-Wurm, 2018.
Sich Häuser, Liegenschaften, wenn nicht gar Schlösser in Niederösterreich zuzulegen wird im Wiener Kunstbetrieb weithin gepflegt. Hermann Nitsch, der agile Aktionist, war einer der Ersten, als er ab 1971 Schloss Prinzendorf nahe der Grenze zu Tschechien zum Aufführungsort seines „Orgien-Mysterien-Theaters“ ausbaute. Dort leben und dort arbeiten waren Synonyme. Gleich in der Nähe haben sich Eva Schlegel und Carl Pruscha niedergelassen, zu Alois Mosbacher und Frenzi Rigling ist es nicht weit, Ursula Krinzinger hat hier ihr „Lesehaus“, und Elisabeth von Samsonow wohnt sowieso ums Eck. Dank ihr war Erwin Wurm zunächst in Niederschleinz fündig geworden. Von dort fuhr er öfter nach Limberg, es sind nur ein paar Kilometer, vor allem, weil es hier einen Bahnhof gibt. Gleich unterhalb der Station erstreckt sich, am Schleinzbach gelegen, das Areal, das sich um eine Schlossanlage mit Kern aus dem 13. Jahrhundert gruppiert. Müßig anzumerken, dass es eine Ruine war. Sie gehörte dem Stift Altenburg, einer Benediktinerabtei, und mit einer solchen Institution hatte Erwin Wurm schon in Admont Erfahrungen gemacht. Eigentlich wollte ich mir in Wien eine große Lagerhalle kaufen, gibt der Künstler für die früheste der Homestorys zu Protokoll, erschienen in seiner alten Wegbegleiterin an Kunstzeitschrift, in „Parnass“, Heft 4/2008, aufgeschrieben von der Herausgeberin Charlotte Kreuzmayr: Aber die haben mir alle nicht gefallen. Entweder lagen sie in schrecklichen Gegenden oder sie waren zu teuer. Das war dann schon mit ein Grund, mich für diese Anlage zu entscheiden. Ich habe hier viel Platz. Die Wirtschaftstrakte haben sicher 2.000 Quadratmeter und die Hallen sind bestens zum Arbeiten und Lagern geeignet. Dann hat mich immer auch gereizt, neue Kunst in alte Räume zu stellen oder auch mit alter Kunst zu kombinieren.
Das Ensemble, als das sich Limberg darbietet, ist von eklatanter Vorzeigbarkeit. Es gibt die Hallen, deren Bestand sich seit dem „Parnass“-Bericht ständig erweitert hat; es gibt den Wohntrakt um die Vierflügelanlage aus dem 16. Jahrhundert samt einem Wehrturm, in den sich die Herrschaftlichkeit zurückziehen konnte, sollte das Volk, der alte Lümmel, aufbegehren; und es gibt den weitläufigen Garten, wo Wurm Skulpturen platziert hat, wo ein Teich samt Schildkröte angelegt ist und wo Schafe grasen. Vielerlei Kunst ist in den Räumen zu sehen, in Kombination von alt und neu und in Kombination von Werken Wurms mit seiner Kollektion. Und wohnlich ist es allemal. Ein paar Bilder aus seiner Kindheit hängen an den Wänden. Sie passen nicht nur in ein Narrow House.