Jemanden als Global Artist zu bezeichnen beinhaltet natürlich die Frage, was das ist. Und was ist Global Art? Bevor sich diese Frage anhand von Erwin Wurms Liste an Ausstellungen, die er weltweit in den letzten Jahren bediente, wohlfeil, weil quantitativ, weil über die pure Aufzählung der Orte, beantworten lässt, sollte doch auch die neue Qualität, die damit entstanden ist, einen Blick wert sein. Ich beziehe mich in der folgenden Skizze auf die Arbeit von Hans Belting, bei dem ich vor vielen Jahren studiert habe und mit dem ich vor einigen Jahren – Belting starb Anfang 2023 – ein paar längere Gespräche führte. Der weltweit renommierte Kunsthistoriker hat ja einen bemerkenswerten Paradigmenwechsel vollzogen, auf eine Perspektive, in der der Westen nur noch eine von vier Himmelsrichtungen ist und nicht länger ein selbst ernanntes Nonplusultra.
„Wir im Westen müssen uns darauf einstellen, nicht die Kunstgeschichte aller Erdteile zu kennen, aber wir müssen die Darstellungen in unseren Museen umerzählen. Bisher war die Frage, ob ich die Kunst anderer Kulturen kenne, eine im Grunde ethnologische“, sagt Belting dazu. „Wenn es nun eben die neuen Medien gibt, dann gibt es Praktiken, die von vornherein allen zur Verfügung stehen und auch keine spezielle Geschichte haben, die sie mit dem Westen verbinden.“ Alle Geschichten, die man wo auch immer und für wen auch immer erzählt, haben sich einjustiert auf einem einzigen Level, auf Augenhöhe sozusagen. Man muss sich bewusst sein, wenn man künstlerisch arbeitet und sich künstlerisch präsentiert, dass es immer eigene, und das heißt im Weltbezug, lokale Dinge sind, mit denen man vorstellig wird. Die Herkunft wird wichtiger, weil sie sowieso mitbedacht wird; und sie wird zugleich unwichtiger, da sich die Provenienzen angleichen, da sich die Trennung in hier kanonisch oder dort exotisch, in hier von der Kunstgeschichte gedeckt oder dort von außen kommend nivelliert. „Die entscheidende Rolle spielt der Kunstmarkt“, sagt Belting: „Welche Künstler und Künstlerinnen werden zu Global Players unabhängig davon, wo sie herkommen? Auf der anderen Seite ist man schwerer in der Lage, die Arbeiten überhaupt zu beurteilen, so dass dann das Kriterium der Herkunft wieder eingeführt wird. Das ist nichts anderes als paradox: Zum einen herrscht das Geboren-da-oder-dort, zum anderen ist man durch Stipendien, internationale Kontakte oder andere Mobilitäten in vielen Weltgegenden zu Hause.“ Global Art ist so gesehen eine unablässige Demonstration von Eigenheiten, von Individualitäten und Idiosynkrasien, denen die Überzeugung abhandengekommen ist, eine sei wichtiger als eine andere – nicht, weil sie besser oder schlechter gewesen wäre, sondern weil sie aus einer bis dato privilegierten Weltgegend gekommen war. „Das Lokale ist der neue Begriff für die Auffassung Wir-im-Zentrum. Auch der sogenannte Westen stellt eine lokale Kultur dar. Und die kann man repräsentieren.“ (Gespräch mit Hans Belting, 27.6.2019)
Nehmen wir 2018. Erwin Wurm hatte Einzelpräsentationen unter anderem in der Schweiz, in Österreich und in den USA und ebenso in Südkorea und auf den Philippinen. Erwin Wurm nahm an Gruppenausstellungen teil in Wien, in Jerusalem, in Osaka, in Kapstadt, in Schanghai, in Salzburg, Graz und Osnabrück. Es sind immer genuine, ureigene, waschechte Wurms, die zur Präsentation gelangen. Doch der Fokus auf sie ist notwendig anders, er ist polyglotter, seit der Kunstbetrieb sich globalisiert hat und es zunehmend prekärer wird, ein bestimmtes fixes Verständnis, eine originäre Rezeptionshaltung anzunehmen. Noch einmal Belting: „Für wen ist das ein Problem? Ich glaube, das ist es für diejenigen, die sich früher für zum Zentrum gehörig hielten. Für die neue Sammlerschicht ist es das nicht. Die Herkunft markiert eher ein spezielles Sammlerinteresse: dass man Künstler oder Künstlerinnen protegiert, weil man sich über ihre Biografien mit ihnen identifiziert. Es ist eine polyzentrische Situation entstanden. Was zur Kunstgeschichte gehört, hat sich dadurch noch einmal verbreitert und verkompliziert.“
Ein solcher Ausstellungsbetrieb muss erst einmal bedient werden. Die Nabelschnur zu all den Häusern weltweit geht von Limberg aus. Der Ort, der früher Atelier hieß, ist längst zumindest Factory wie bei Andy Warhol, ist Werkstatt, Lager, Logistikzentrum, und der Künstler hat dort ein mehr als zehnköpfiges Team versammelt. „Studio“ nennen sie das Areal mit einem Begriff, der der Weitläufigkeit der Hallen nicht ganz gerecht wird. Sein Leiter ist Michael Wurm, Jahrgang 1992, der seit 2017, nach einem Wirtschaftsstudium und einer Ausbildung im Immobilienmanagement, amtiert. Das Angebot einzusteigen kam vom Vater. Zusammen mit Élise Mougin-Wurm ist er auch Geschäftsführer der Fat House Edition GmbH, die zuständig ist für die Multiples aus dem Hause Wurm, für Editionen und Artist-Proof-Ausgaben, für die der Künstler von der GmbH Tantiemen und Lizenzgebühren erhält; für Einzelstücke und die „Intellectual Property“ zeichnet Erwin Wurm selbst verantwortlich. Michael, der seinen Chef „Papa“ nennt, sieht, was er da macht, als einen „Familienberuf“ – der Bruder, Laurin, zwei Jahre älter, ist demgegenüber „sein eigener Chef und arbeitet nicht mit. Michael verrichtet seine Profession sehr diszipliniert, mit einem Nine-to-five-Ethos, das ihn jeden Werktag von seinem Wohnsitz in Wien nach Limberg bringt: „Mein Vater hat auch immer von neun bis fünf im Atelier gearbeitet.“
Die Skulptur House Big (2003, Mischtechnik, 5,4 × 10 × 7 m) ist im Park von Limberg aufgestellt, die Zackelschafe freuen sich, 2014.
Als Studioleiter hat Michael, unterstützt von Birgit Müller, den „Überblick über alles“ – „Ausstellungen, Zusammenarbeit mit Galerien, Produktion, Archiv, Mitarbeitende“. Wobei die Archiv-Arbeit in seinem Fall darauf konzentriert ist, „festzustellen, was wo ist, was geschickt wird und was zurückkommt“; Élise kümmert sich im Archiv mehr um die Historie, sie schreibt sozusagen die Kunstgeschichte. Nach sechs Jahren ist alles gut eingespielt: „Es wird entspannter, und mein Vater wird auch entspannter“, fügt Michael in aller Bescheidenheit hinzu, „herumärgern muss ich mich überhaupt nicht.“ Dass „alles sehr entspannt“ sei in Limberg, bestätigt Elisabeth von Samsonow mit denselben Worten. Was sich vor Ort zeige, sei „ein bewundernswert organisierter Betrieb“ – mit dem Künstler „als Direktor“. „Der Erwin macht zehn-, zwanzigmal so viel wie ich“; einmal habe sie bei Loderer, der bevorzugten Gießerei, zwei Skulpturen bestellt; bei Wurm seien es „siebzig“ gewesen. „Er ist diszipliniert und streng, er lässt nichts durchgehen.“ Hinzu kommen, wie sie es nennt, „stabile Produktionslinien“: Wurms spezielle Ästhetik des Hybriden, die bestehende Elemente aufbereitet und zu neuen Skulpturen kombiniert. Als wir uns in Samsonows Wiener Hinterhaus, 200 Meter von Wurms Wohnung in der Zirkusgasse entfernt, trafen, hatte der Künstler zum Beispiel gerade Stühle entwickelt, die er mit Kleidern bezog und sie dann abgoss – drei vertraute Dinge in seinem Werk, zusammengesetzt zu etwas viertem Neuen.
Zu Michaels, des Studioleiters, Agenden gehört ganz konkret: Anfragen bearbeiten; Ausstellungen vorbereiten; Exponate vorab auswählen, über die dann endgültig entschieden wird nach Präferenzen des Künstlers, Mitsprache der Galerien und Wünschen der Ausstellungshäuser; Fotos verwalten; Verträge abschließen; Produktion überwachen sowie die Häuser koordinieren. Der Aufwand ist eklatant genug, und es wird „auf jeden Fall immer mehr“. Das bedeutet aber nicht, dass Absagen an der Tagesordnung wären: „Wir haben so viel in unserem Lager, dass wir viele Ausstellungen bestücken können.“ Und produziert wird unermüdlich. (Gespräch mit Michael Wurm, 20.3.2023) Hört der Künstler auf seinen leitenden Mitarbeiter? „Ich sage weniger, was er nicht machen soll, als dass ich vorschlage, was er machen könnte.“ Die Icons zum Beispiel, auf die wir gleich zurückkommen, basieren auf einer Intervention von Michael, der meinte: „Mach doch mal was in Marmor.“ Dass das Material die Produktionskosten in die Höhe treibt, ist ihm sekundär: „Es ist nicht so, dass man Geld anhäufen sollte. Weil es ja wirklich gut läuft.“ Es ginge schließlich darum, „das Werk größer, interessanter, erstaunlicher zu machen“. Michaels Statements, er hat das ja auch studiert, haben Manager-Qualitäten. Man muss den Künstler selbst gar nicht mehr um Erklärungen bitten. Tatsächlich ist die Ökonomie eines Unternehmens wie jenes von Erwin Wurm in Michaels Worten umrissen – plastisch, als wäre es Bildhauerei.
Geld ist nicht alles. In diesem Sinn bemüht man sich penibel, die Verkäufe über die Galerien abzuwickeln. Darauf nochmals Michael Wurm: „Es ist ganz wichtig, dass die Galerien glücklich sind. Wir machen nichts, was das Verhältnis zu den Galerien gefährden könnte. Selbst wenn ein großer Anteil an die Galerie geht, machen die so viel für uns: das ist einfach unverzichtbar.“
Stuhl, Pullover, Abguss: Drei in Wurms Werk vertraute Dinge verbinden sich zu etwas Viertem, Neuem: Eames, 2023. Aluminium, Farbe, 77 × 68 × 61 cm.
Mit den Hauptgalerien, und hier ergreift Erwin Wurm selbst das Wort, rechnet man nach Maßgabe einer alteingesessenen, jahrzehntelang praktizierten, verbindlich gewordenen Zusammenarbeit von Produktion und Distribution ab. Andere Galerien, bei denen der Künstler hie und da ausstellt, bekommen weniger. Fallen, und das ist sehr oft so, Produktionskosten an, dann werden diese Kosten erst abgezogen und der Rest wird prozentual aufgeteilt. Wer die Arbeiten produziert bzw. die Produktion bezahlt hat, bekommt die abgezogene Summe dazu. Ich habe mit vielen Galerien zusammengearbeitet. Und jede will für eine Messe zwei, drei Arbeiten haben. Wenn du mit sechs Galerien arbeitest und die gehen alle zu sechs Messen pro Jahr, brauchst du eine Menge Arbeiten, die du nur für Messen produzieren musst. Und dann hast du noch keine Ausstellungen. Das ist echt gefährlich. Das habe ich zurückgefahren, arbeite nur noch mit drei großen Galerien zusammen und mache viele Museumsausstellungen. (Edition Die Presse 2015) Die drei großen Galerien sind (mit der Reihenfolge der Städte wie auf ihren jeweiligen Websites angeführt): seit 2007, wie schon beschrieben, Thaddaeus Ropac mit Dependancen in Salzburg, Paris, London und Seoul; seit 2010 Lehmann Maupin mit Sitzen in New York, Seoul, London, Palm Beach und Hongkong; seit 2019 Johann König mit Locations in Berlin und in Seoul. Alle drei sind sie im internationalen Business und bemerkenswerterweise sind sie alle in Südkoreas Hauptstadt vertreten, als wäre das die momentane Kapitale des Kunstbetriebs. Thaddaeus Ropac sieht in dieser Simultanität kein Problem, denn sie legen doch auf ganz verschiedene Weise Wert auf die Präsenz ebendort. „Der Künstler“, so Ropac, „kann immer entscheiden“, in welcher der Galerien er sich zeigt. Im Übrigen sei es generell gut, es wie Erwin Wurm zu halten und sich weltweit von drei Galerien vertreten zu lassen: Sein Zugpferd Georg Baselitz wäre zum Beispiel bei Gagosian in New York, bei White Cube in London und eben bei ihm, Ropac. Dass es dann doch immer noch und mehr denn je dieselben Metropolen sind, wo die dann immer selben Big Player beheimatet sind, steht zwischen den Zeilen.
Johann König, Jahrgang 1981, ist chronologisch und biografisch Wurms jüngster Galerist. Vor einiger Zeit ist König ins Gerede gekommen, speziell einige Künstlerinnen, die er vertreten hatte, haben die Galerie verlassen. König war in eine MeToo-Debatte geraten, er hätte Frauen belästigt und sich dabei auf sein spezielles Handicap herausgeredet: König ist fast blind, seit er als Kind mit einer Startschuss-Pistole hantierte, deren Pulver explodierte. Die Debatte ist noch nicht beendet, doch König hat in den letzten Monaten Rückenwind bekommen, seit sich herausstellte, dass die Autorin, die ihn in einem Artikel der deutschen Wochenzeitung „Die Zeit“ besonders inkriminierte, mit einem seiner Konkurrenten liiert ist (oder es, wie sie beteuert, war). Jedenfalls hatte der Konkurrent einen unmittelbaren Vorteil, als eine der König-Künstlerinnen, um die sie beide schon länger gerungen hatten, vollends zu ihm überlief. Erwin Wurm jedenfalls ist bei König geblieben.
Der Galerist hat, allein bedingt durch seine außerordentliche Sehschwäche, eine Affinität zum Skulpturalen. Das hat mit dem Taktilen zu tun, mit dem Appell zum Berühren, der von Dreidimensionalem natürlich stärker ausgeht als von Flachware. „Vor allem aber“, sagt Johann König, „ist Kunst im öffentlichen Raum oft skulptural.“ Kasper König, sein Vater, ist berühmt als Kurator für zeitgenössische Kunst, vor allem die alle zehn Jahre in gegebener Rivalität zur documenta stattfindenden „Skulptur Projekte Münster“ haben dem Prinzip auf die Sprünge geholfen. Skulptur im öffentlichen Raum ist antielitär, ist frei zugänglich, ist, man könnte sagen: demokratisch, und mittlerweile ist sie akzeptiert – nachdem sie, und Erwin Wurm hat es auf dem steirischen Schanzsattel einst hautnah erlebt, oft von Revierstreitigkeiten und Terrainsondierungen traktiert wurde. In diesem Sinn handelt Johann Königs Internet-Auftritt unter der Rubrik „Public Projects“ mit Hingabe von frei zugänglichen Objekten und Projekten. Beginnend mit House Attack auf dem mumok-Dach 2006 ist Erwin Wurm hier mit einer stattlichen Anzahl von Arbeiten vertreten. „Alle wünschen sich ein breites Publikum“, sagt der Galerist. Auch wenn die Kundschaft, diejenigen, die sammeln und kaufen, durchaus derjenigen entspricht, die auch die Kollegen und Kolleginnen anzulocken suchen, verfügt König über eine Art Alleinstellungsmerkmal. Es ist die ehemalige Kirche Sankt Agnes in Berlin-Kreuzberg, die zur Galerie umgebaut wurde und heute ein Publikumsmagnet ist: „An einem Samstag sind hier 1.500 Leute, am Galerienwochenende bis zu 4.000.“ (Gespräch mit Johann König, 11.5.2023) Denn auch das kann eine Galerie: Aktuelles und Sensationelles zeigen und dafür eben keinen Eintritt verlangen. 2019 war Wurm hier mit seiner Schau The Serious Life of a Ridiculous Man zu sehen – mit dabei damals die zündende Idee einer Textilarbeit, die dann, verändert, als Fastentuch Karriere machte.
Und dann die Icons, Erwin Wurm stellt sie in ihrer ganzen Monumentalität 2021 in der Salzburger Halle von Ropac aus, unter dem gelinde ironischen Titel Dignity. Und er stellt sie das Jahr darauf im kurzzeitig von Johann König in Wien betriebenen „Kleinen Haus der Kunst“ aus, dem ehemaligen Haupthaus des Österreichischen Verkehrsbüros vis-à-vis der Secession, das nun vor allem kulinarischen Zwecken dient – und, wie man in Wien gern hämisch hinzufügt, der Entourage eines ehemaligen österreichischen Kanzlers. Jedenfalls ist es ein Ort, der für die Nation, aus der Erwin Wurm stammt, in kultureller, touristischer oder gastronomischer Hinsicht repräsentativ ist. Und das sind auch die Motive, die die Icons vor Augen stellen. Der Künstler beschreibt es so: Die Bilder in der Ausstellung sind Klassiker des Wiener Würstelstandes, etwa Salzstangen, Debreziner Würste oder Semmeln. Diese sind alle in Marmor dargestellt. Der österreichische Würstelstand ist eine Institution, wo männliches und veraltetes Gedankengut weitergegeben wird, quasi eine nach hinten gerichtete Nahrungsmittelinstitution. Es hat mich interessiert, das aufzunehmen und zu untersuchen, was passiert, wenn ich diese Nahrungsmittel in Marmor darstelle, quasi eine Verdingung und Subjektivierung dieser Lebensmittel und dieser Gegenstände. (gallerytalk 2022) So verstanden sind sie das Gegenteil von Global Art. Sie dienen einer nationalen Identität zur Selbstverständigung, positiv oder negativ.
Als Arbeiten sind sie klassische Skulpturen und legen in ihrer materiellen und gattungskonformen Traditionalität eine tatsächlich neuartige Fährte in Wurms Werk. Sie passen in eine Phase, in der plötzlich auch Malerei auf dem Programm steht, in logischer Begrifflichkeit Flat Sculptures genannt, oder auch Keramiken, ihre Bezeichnung bei Wurm ist Dissolution. Die Icons sind Steinbildhauerei gleichsam aus dem Lehrbuch, und so funktioniert ihre Herstellung. Am Anfang steht die Zeichnung, das Disegno, immer schon die Gestaltungslehre für Ideen. Daraus entwickelt sich ein dreidimensionales Modell, früher Bozzetto genannt, heute dann doch eher ein 3D-Scan. Die Entwürfe im Raum werden nun dorthin geschickt, wo man immer schon fündig wurde auf der Suche nach dem geeigneten Stoff für die Umsetzung, nämlich tatsächlich nach Carrara; der Künstler – obwohl: Michelangelo war nie so mein Fall – macht es genau wie der Großmeister und sucht vor Ort nach dem geeigneten Stein, der nun aber kein weißer Marmor ist. Die Blöcke werden in Carrara grob gefräst und geschliffen und kommen dann, sieben bis acht Stück pro Transport, nach Limberg. Dort finden sie ihren Feinschliff. Und sie bekommen einen Sockel untergeschoben, der angepasst ist an die Statik der Skulptur, aber auch die Bedingungen des Ortes: Bei Johann König am Wiener Naschmarkt galt es etwa zu berücksichtigen, dass unter dem Galerieraum die U-Bahn fährt. Manchmal, es ist jedenfalls Michelangelos Lebensthema, mag der Stein nicht so, wie der Künstler es will: Es gibt dann die Möglichkeit, die nicht mehr ganz rohe Form nach Italien zurückzuschicken.
Zu den lapidaren Genüssen, die in den Icons dauerhafter als Erz geworden sind, gehören auch die in Essig eingelegten Gurken, die Gurkerl, mit denen der Künstler 2008 ein Selbstportrait gestaltet hatte. Das Bildnis war ein Stelenwald aus Sockeln, auf denen jeweils, gleichsam in Lebensgröße, eines der grünen Pickles saß, Reminiszenz an eine Kindheit, da man mit derlei Imbiss belohnt wurde. Lokaler, regionaler, könnte man sagen, geht es nicht. In das schier ewigkeitliche Material übersetzt, wird das am Ort Gewachsene, das Ureigene und Autochthone gekontert – die Verwendung von Marmor ist keine Protzgeste, sondern das ebenso aufwendige wie notwendige Dementi zum allzu Heimischen und Heimeligen, in dem, wie Sigmund Freud es herausgestellt hat, immer schon das Unheimliche lauert. Und so werden die Icons ikonisch: Genau das hat mich interessiert. Was passiert, wenn ich das mache. Was passiert, wenn ich eine Frankfurter Wurst aus Marmor mache. Und da passiert schon was. Es verändert sich radikal. Es wird absurd, es wird paradox. Die Wurst, die man nicht essen kann, wird zum Sinnbild, zur Ikone. Plötzlich erkennen wir diese einsam stehenden Würste als frühe Idole der europäischen, der asiatischen oder der afrikanischen Kultur. Plötzlich werden sie zu Idolen, zu minimalisierten Körperdarstellungen, Figurendarstellungen. (gallerytalk 2022) In den Würstchen, Gürkchen, Brötchen – den Würsteln, Gurkerln, Semmerln –, die nicht von ungefähr im Diminutiv daherkommen, sind typisch österreichische Gewohnheiten, Befangenheiten oder Engstirnigkeiten Wirklichkeit geworden. Die Brücken zu deren nichtösterreichischen Pendants dürfen dann alle selber bauen.
Solchen gewissermaßen monothematischen Präsentationen, die der Politik der Galerien, Neues zu zeigen, entsprechen, stehen Museumsausstellungen gegenüber, in denen Revue passiert, was in diesem Œuvre eben passiert ist. One Minute Forever, auf Serbisch Jedan minut zauvek, hieß eine Solo-Show in Belgrad mit einem Überblick über das, was bisher geschah – wobei das Bisher in den Jahren um 1990 beginnt. Sie war im Frühjahr/Sommer 2022 ausgebreitet im Museum of Contemporary Art von Serbiens Hauptstadt, einem beispielhaften Stück jugoslawischen Modernismus, einer Wabenarchitektur aus dem Geist der 1960er, mit Durchlässigkeiten über drei Stockwerke und zwischen drei parallel gesetzten Kompartimenten.
Dauerhafter als Erz: links: Honor (Icons), 2020. Bardiglio-Marmor, H 180 cm, 39 cm; rechts: Hope (Icons), 2020. Breccia-Pontificia-Marmor, 120 x 125 x 48 cm (Ausstellungsansicht, Dignity, Galerie Thaddaeus Ropac, Salzburg, 2021).
Mit der Handy-Kamera ist der Künstler durch seine Inszenierung gegangen. Hier eine Zusammenfassung dessen, was er aufnahm, und damit eine Art Liste der Exponate (die nachzuvollziehen sind auf Wurms Website unter Artworks): ein Beispiel der Drinking Sculptures, betitelt Willem de Kooning Dresser; eine Keramikarbeit aus der Dissolution-Reihe; eine großformatige Version eines Melting House, gewidmet Henry David Thoreaus ökologischer Utopie von „Walden“ – es ist betretbar, im Inneren ist das 2003er Video von einem der sprechenden Fat Cars projiziert; ein Kastenmann aus der Hermès-Serie; im unteren Geschoss sodann das Fat House, in dessen Innerem das Video, das es sprechend zeigt; angrenzend stockwerkübergreifend der Big Pullover, der gerade einmal Fastentuch war; eine weitere Drinking Sculpture; im Untergeschoss, auf heller Bodenplatte postiert, einige Beispiele der Performative Sculptures; Fotografien der One Minute Sculptures, in zwei verschiedenen Formaten, größer die in Taipeh im Jahr 2000 entstandenen, dazu, kleiner, die ganz frühen von 1997; zwei Stillleben aus dem Jahre 2020 mit schriller Kombination von Gemüse und Utensil – der Salatkopf mit Brille, die Schuhe mit Gurken; im zweiten Untergeschoss Beispiele aus der neuen Werkserie der Skins; das Selbstportrait als Gurken; der zum Möbel deformierte Mercedes alias German Couch; eine Art Digest des Narrow House in Gestalt eines einzigen daraus abgeleiteten Zimmers, in Fasson gehalten durch ein metallenes Gerüst; One Minute Sculptures als Handlungsanleitungen mit beigegebenen Objekten, mit denen zu hantieren ist, zum Teil in Anwesenheit von Performern; einige Beispiele für die Malereien der Flat Sculptures; Videoprojektionen, unter anderem 59 Positions; im Foyer schließlich knallrot und appetitlich angerichtet das Fat Car mit aktuellem Wiener Autokennzeichen, benachbart dazu der Caravan, der 2017 Bestandteil war von Wurms Auftritt auf der Biennale von Venedig.
In bunter Kombination werden Werke vorgestellt, aktuelle wie archivierte, auf den speziellen Ort hin angelegt, aber auch einem Fundus entstammend. Es ist ein Sampling, das hier stattfindet, wobei sich die Anleihen natürlich ausschließlich aus dem eigenen Bestand bedienen. Es ist retrospektiv und prospektiv in einem, denn das Gezeigte ist offen für Erweiterung. Es eröffnet Perspektiven für das Kommende. Als wäre Pandemie ein Fremdwort, hat Erwin Wurm 2022 insgesamt neun Soloausstellungen bedient, dazu kamen zwei Dutzend Beteiligungen an Gruppenschauen in diesem Jahr. Crisis? What Crisis? Der internationale Betrieb funktioniert unverdrossen.
Gruppenbild: Dissolution- Serie, 2018. Von links nach rechts: Peace Restrained, Double Navel, Double Ear Head, Mud Kiss, Noser.
One Minute Forever trägt der Künstler übrigens am eigenen Leib. Es ist der Text von einem der beiden Tattoos, die er hat. Der andere Text lautet Fußballgroßer Tonklumpen auf einem hellblauen Autodach, und auch das diente als Titel einer Ausstellung, 2017 am Universalmuseum Joanneum in Graz. Er liebt daran die Eingängigkeit: Du hörst den Satz, visualisierst ihn, und es ist eine Skulptur. Ich mag das. Ich pflanze ein Bild in die Hirne der Menschen wie in einer medizinischen Operation. Kaum ausgesprochen, und schon ist es in deinem Kopf. (GG 2018, Übersetzung R. M.) Dabei ist es, das ist ihm von jeher wichtig, ohne Pathos. Einfach da. Und als Tätowierung ist die medizinische Operation auch noch ganz buchstäblich wirksam. John Irving, der amerikanische Bestsellerautor, pflegt ebenfalls eigene Sätze auf seiner Haut zu tragen: „Princes of Maine, kings of New England“, heißt es da, ein Zitat aus seinem „The Cider House Rules / Gottes Werk und Teufels Beitrag“. Er sagt dazu: „Wie es sich für einen Schriftsteller gehört, sind es hauptsächlich Worte.“ (Irving, 25) Wie es sich für einen Bildhauer gehört, auch. Schließlich handelt es sich um Text Sculptures.
„Warum sind Sie in Österreich geblieben?“, fragt der Interviewer mit sehr nachvollziehbarem Interesse. Darauf der Künstler in deutlicher Bereitschaft, zur Antwort weit auszuholen: Ich habe mich schon oft gefragt, wo ich hingehen könnte, aber mir fällt nichts ein. Politisch ist Österreich bescheuert, kulturell hochinteressant. Ich hocke hier in Limberg, und ein paar Kilometer weiter haben sie die Venus von Willendorf gefunden, diese Venusfigurine, die fast 30 000 Jahre alt ist. So was gefällt mir. Ich mag die Art, wie die Menschen hier miteinander auskommen. Wir sagen uns den ganzen Tag Gemeinheiten und gehören am Ende trotzdem irgendwie zusammen. Ich habe mal eineinhalb Jahre in New York gelebt. Ein Albtraum. Der Stress, die Geschwindigkeit, keine Freundschaften, nur Gesinnungsgemeinschaften. Nein, ich brauche diese Gegend, den Scheißwinter, den Nebel, wenn mich alles nervt. Österreich ist mein Reibebaum. Hier ist sie wieder, die alte Einsicht, dass man Neighbourhoods braucht, Villages, Kieze oder Grätzel, wenn man es künstlerisch zu etwas bringen will – den Spagat zwischen dem Leben der Boheme mit seiner Enge und Übersichtlichkeit und der Tendenz zur Weite, zur Weltbewegendheit und polyglotten Existenz. Ich pendle zwischen dem Land und Wien, zwischen Familie und Einsamkeit, Stille und Geschäftigkeit. Ich brauche beides, die Geborgenheit und die Eskapaden, und funktioniere nur, weil ich dieses Hintertürchen habe. (SZ-Magazin, 18.11.2016)
Sein Land hat ihm das Bleiben auf seine Weise gedankt. So gehört Erwin Wurm seit dem Jahr 2013 zu den Unsterblichen des „Österreichischen Kunstsenats“. Er ist sogar, als Nachfolger von Brigitte Kowanz, einer von dessen Vizepräsidenten (momentan haben nur Männer die drei Ämter des Präsidiums inne). Bedingung, aufgenommen zu werden, ist die Verleihung des „Großen österreichischen Staatspreises“ an verdienstvolle Persönlichkeiten des künstlerischen Lebens. Es gibt sie offenbar selten genug, jedes Jahr findet nur eine Aufnahme statt, und sie erfolgt turnusmäßig zwischen den Sparten Literatur, Musik, Architektur und bildende Kunst. Wie in der Académie française sitzt man im Kunstsenat auf Lebenszeit. Vorangegangen aus der Sparte bildende Kunst war ihm 2009 die unermüdliche Kombattantin Brigitte Kowanz. Sie war auch „sehr aktiv“ tätig für Wurms Aufnahme, sagt Christian Ludwig Attersee, Mitglied seit 1997, der seinerseits des Kollegen Inaugurierung gefördert hatte. Im Vierjahresrhythmus, in dem die bildende Kunst Berücksichtigung findet, sind 2017 Renate Bertlmann, Jahrgang 1943, und 2021 Martha Jungwirth, Jahrgang 1940, hinzugekommen. Wurms Würdigung „kam zur richtigen Zeit“, fügt Attersee hinzu. (Gespräch mit Christian Ludwig Attersee, 30.3.2023) Tatsächlich ist Wurm einer der Jüngsten in dieser genuinen Ehrenlegion. Diverse Gratifikationen sind dem Staatspreis vorangegangen und hinterhergefolgt. Nennen wir deren zwei (die Initialzündung, der Otto-Mauer-Preis von 1984, war schon Thema): 1993 der Preis der Stadt Wien für Bildende Kunst, Abteilung Bildhauerei (Brigitte Kowanz bekam ebendiesen Preis 1991), 2015 der Würdigungspreis des Landes Steiermark für bildende Kunst (Brigitte Kowanz kommt aus Wien).
Matthias Hartmann vom Burgtheater fragte mich, ob ich ein Stück schreiben würde. „Ich weiß, du kannst schreiben, ich kenne einige Sachen von dir. Schreib etwas, schreib ein Theaterstück“, sagte er. Am Ende tat ich es. Schon 2007, als Hartmann Intendant des Schauspielhauses Zürich war, hatte es eine Zusammenarbeit gegeben, eine „Hamlet“-Inszenierung stand auf dem Programm, die Wurm mit Fotografien in der Gestalt von One Minute Sculptures begleitete: Vom Plakat leuchtete ganz dem Stück entsprechend ein Totenschädel, dem zwei Bananen aus den Augenhöhlen getrieben waren; fürs Programmheft gab es den im Acker eingegrabenen Intendanten oder die beiden Akteure Michael Ransburg und Mike Müller liegend in den Straßen Zürichs – aufeinander, der eine nackt, der andere in Casual Wear. Nun also etwas Selbstverfasstes. Wortskulptur nannte er das Elaborat, das 2013, zum dreißigjährigen Jubiläum der Galerie Ropac, in deren Villa Kast in Salzburg zur Aufführung kommen sollte. Inszeniert von Hartmann, mittlerweile Intendant in Wien, war es ein Dreipersonenstück mit der jungen, gerade am Burgtheater angekommenen Anna Hofmann sowie den gestandenen Burg-Mimen Nicholas Ofczarek und Oliver Masucci. Geprobt wurde während der Öffnungszeiten der Galerie, parallel zum Schauspiel prangten passenderweise Großformate von Gilbert & George an den Wänden. Die Bühne war ein Podest mitten im Raum, sparsam bestückt mit zwei Sofas und zwei Monitoren, die Agierenden wechselten in bedächtiger Bewegung, ständig redend, hin und her.
Das Kleine im Großen, das Große im Großen, das Große im Kleinen und das Kleine im Kleinen. Eine Wortskulptur, 2013 (Dramaturgie: Matthias Hartmann, mit Anna Hofmann, Nicholas Ofczarek und Oliver Masucci, Galerie Thaddaeus Ropac, Salzburg).
„Es hatte sich herumgesprochen und die Leute kamen“, erinnert sich Thaddaeus Ropac. „Bei der Generalprobe waren alle Künstler und Künstlerinnen der Festspiele da. Wer Deutsch sprach, war da.“ Premiere war schließlich im Juli, und da gibt man sich traditionell in Salzburg das Stelldichein. Ein Erziehungsdrama oder Flugdrama, so der Untertitel, kam zur Aufführung. Insgesamt ging es, als wären es „Gullivers Reisen“, um das Kleine im Großen, das Große im Großen, das Große im Kleinen und das Kleine im Kleinen. Man könnte sagen, es war eine Art Publikumsbeschimpfung, wobei eindeutig die Kollegen- und Kolleginnenschaft mit ins Gebet genommen wurde. Das hörte sich dann so an: Hermann Nitsch als einer der wesentlichen Verdauungskünstler der 2. Republik, als sprechende Skulptur. Als gehende, als verdauende, als furzende Skulptur. Immerhin, der deutsche Enthüllungsjournalismus vom „Spiegel“ ließ es sich nicht nehmen, dreiseitig über das Ereignis zu berichten: „Erwin Wurm ist ein berühmter Bildhauer aus Österreich“, so stand zu lesen: „Er ärgert sich über den Kunstbetrieb, dem er seinen Wohlstand verdankt. Jetzt hat er seinen Zorn aufgeschrieben. Diese Wortskulptur beschreibt sein Dilemma.“ (Der Spiegel, 22.7.2013)
Ich werde es nie wieder tun. Ich sage Ihnen warum. Es ist eine ganz andere Welt, bevölkert von sehr komplizierten Menschen. Ich bin überhaupt nicht davon überzeugt, Kunst und Theater zu vermischen. Tatsächlich finde ich, dass es eine schreckliche Kombination abgibt. (CAP 2021) Die Menschen im Theater mögen kompliziert sein. Die Rezension des „Spiegel“ schwelgt demgegenüber eher in der Reduktion von Komplexität, denn daraus einen performativen Widerspruch abzuleiten, dass man kritisiert, wovon man profitiert, ist doch ein wenig schlicht in der Argumentation. Erwin Wurm hat es jedenfalls ausprobiert. Die Frage ist nur, ob es gut ist, fügt er heute hinzu. Ich bezweifle, ob es gut ist. Wurms Arbeit ist in vielerlei Hinsicht theatralisch, sie lebt von der Bereitschaft zu Auftritten und der Inszenierung von Ausstellungsräumen als Bühnen. Es ist ein „Staging a picture“, was bei ihm oftmals passiert. Hybride, Mischformen aus diversen Bereichen, sind seine Arbeiten ebenfalls. Doch um Skulpturen zu bleiben ist die Referenz auf den Kunstbetrieb, so stellt sich heraus, unabdingbar. Es war also weniger eine Qualitäts- als eine Institutionenfrage, die für Wurm das Scheitern signalisierte. Es war ein Experiment.
Kunst muss es sein. In deren Sinn hat der Künstler durchaus Versuche unternommen, ihren Begriff zu strapazieren. Das Land, in dem er nichts unversucht lässt, sich wohlzufühlen, hat ihn mit Prominenz genug ausgestattet, um ihm allerlei Orientierungsfelder für Gratwanderungen abzuzirkeln. Im Folgenden in aller Kürze eine Reihe an Aktivitäten, in denen Erwin Wurm seine besondere Bildhauerei in Beziehung setzt zu den Erwartungen, den Einladungen und Angeboten, die an ihn anbranden. Es sind allenfalls Beispiele, deren vier, kurz skizziert, und sie spielen sich jeweils in Österreich ab.
Da ist das Prinzip Kunst im öffentlichen Raum, von jeher eine Domäne seines Arbeitens. 2011 hatte er, eingeladen von der privaten „Salzburg Foundation“, im Furtwänglerpark gleich hinter der Weltarchitektur der Kollegienkirche fünf Stelen aufgestellt. Seine Signaturstücke, die Gurken, stehen nun Spalier, nicht in Originalgröße wie bei seinem Selbstportrait, sondern menschengroß, ein Defilee an kulinarischer Aufmerksamkeit. Das Projekt, an dem sich im selben Jahr auch Manfred Wakolbinger und Brigitte Kowanz beteiligten, hat mittlerweile die Verantwortlichkeit gewechselt: In ebendem Jahr 2011 ist der „Walk of Modern Art“ in den Besitz des deutschen Firmenkonsortiums Würth übergegangen. Besteht der Salzburger Spaziergang aus dreizehn in der Stadt verteilten Objekten, so hat das Prinzip in der Nähe von Graz eine Konzentration erfahren, in der sich fast achtzig von ihnen zum „österreichischen Skulpturenpark“ verdichten. 2003 war er eröffnet worden, und gern einmal passieren solche Versammlungen von malerisch verteilten Kunstwerken in Nachfolge einer Gartenschau – so ist auch die bedeutendste Präsentation zur Gegenwart, die documenta, entstanden. Erwin Wurm ist, als Einziger, mit drei Arbeiten vertreten: mit der Metallarbeit Bunker, gefertigt bereits 1987, sowie, einander vis-à-vis, einer Version des Fat House samt Video im Innenraum und einem Fat Car samt gläserner Garage.
Alte Meister: Thomas Bernhards autobiografische Schriften, mit Aquarellen von Erwin Wurm. Residenz Verlag, Salzburg, 2019.
Da ist das Prinzip Design. Die One Minute Sculptures waren unter anderem auch Einladungen, Dinge am Körper zu befestigen. Darin ähneln sie in ihrem Kurzzeitmodus den Accessoires, die man gemeinhin länger an sich befestigt, den diversen Tragbarkeiten, wie Schmuck sie bietet. 2014 hat Wurm für dessen 200-jähriges Firmenjubiläum mit dem Wiener Juwelier Köchert zusammengearbeitet und in den edlen Materialien Weißgold, Smaragd, Tsavorit und Peridot einen Anhänger gestaltet. Während man die ersten beiden Kostbarkeiten nicht erklären muss, ist es bei den letzteren angezeigt: Peridot ist ein grünlicher Schmuckstein aus der Gegend des Roten Meeres, Tsavorit kommt aus der Familie der Granate mit ebenfalls grünlicher Färbung. Mit diesen farblichen, vom Smaragd ebenfalls betonten Facetten von Grün bedarf es dann beim Motiv des Anhängers wiederum keiner Erklärung. Der Titel des Objekts ist natürlich Gurke. Zahlreiche Kolleginnen und Kollegen Wurms haben sich ebenfalls an Köcherts Jubiläumsedition beteiligt: Hubert Scheibl etwa, Hans Weigand und Elke Krystufek. Oder Eva Schlegel: Sie hat einen „Schlagring“ mit Zacken aus Weißgold und Füllung aus Rubin entworfen. Und Erwin Wurm ist mit dem Beitrag für Köchert auf seine Art zurückgekehrt zur künstlerischen Umgebung damals 1980 in der Knöllgasse, zur Goldschmiederei.
Da ist das Prinzip Illustration. 2019 bringt der Salzburger Residenz-Verlag eine Neuausgabe von Thomas Bernhards „Autobiografischen Schriften“ heraus. Dass die fünf Bände, in der Reihenfolge ihrer zwischen 1975 und 1982 erfolgten Publizierung „Die Ursache“, „Der Keller“, „Der Atem“, „Die Kälte“ sowie „Ein Kind“, nicht bei Suhrkamp, des Großautors Haus-und-Hof-Verlag in Frankfurt, erscheinen, sondern in Bernhards Heimatstadt Salzburg, ist nur logisch. Zwar ist auch die österreichische Provinz allenfalls „jenes tödliche Element auf tödlichem Boden“. (Bernhard, Die Ursache, 45) Doch nachdem seinerseits „in jedem Wiener … ein Massenmörder“ steckt (Bernhard, Heldenplatz, 118), ist Bernhards „Vermaledeiungssuada“ (Sigrid Löffler) so oder so ganz bei sich. Kein Wunder, dass Erwin Wurm zu Bernhard etwa dies zu sagen hat: Ich liebe ihn und habe alle seine Bücher gelesen … Leider habe ich ihn nie getroffen, ich war zu jung. Aber er ist ein Bezugspunkt für mich. (CAP 2021, Übersetzung R. M.) Und so hat der Künstler die Erinnerungstexte des Schriftstellers mit Illustrationen versehen, mit Aquarellen, die um Bernhards Konterfei kreisen, die Hommagen sind an die Person und das gewisse Erratische, das sie stets ausgemacht hat. Die Ausgabe wurde gereiht unter die „15 schönsten Bücher Österreichs 2019“. Hier noch die gewissermaßen historische Erklärung Wurms zu seinem Faible für Bernhard: Österreich war 700 Jahre lang Monarchie und ist immer noch eng verbunden mit der katholischen Kirche. Der österreichische Charakter ergibt sich aus diesem Zusammenhang. (CAP 2021) Wer, wenn nicht Bernhard, brächte dies auf den Punkt.
Und da ist das Prinzip Ausstattung. Im Frühjahr 2023 ist der neue Flagship-Store von Louis Vuitton in Wien eröffnet worden – zum Leidwesen derer, die Kulinarik mit Essen verbinden, in Räumen des gehobenen Feinkost- und Delikatessenhauses Meinl am Graben. Peter Marino, New Yorker Architekt und Gestalter der Läden des Luxuslabels, war auch für Wien verantwortlich. Er ist ein Freund Wurms und hat ihm 2023 auch eine Soloschau in den Räumen seiner Art Foundation in Southampton auf Long Island gewidmet. Zum Flagship-Store trug Wurm nun acht seiner Malereien bei, sie sind spektakulär platziert an der vollverspiegelten Rückseite des Zylinders, der die neue Wendeltreppe umfängt. Peter Marino wusste genau, wo die Arbeit hinkommen soll, und hat die Fläche vorgegeben. Fünfzehn mal fünf Meter groß. Die Größe der Bilder, die Titel waren mir überlassen. Wir haben fünf Vorschläge entworfen, mit verschiedenen Größen der Leinwände, verschiedenen Namen, die einen mit einem rosa, die anderen mit einem gelben Hintergrund. Das haben wir ihm geschickt. Die waren sehr begeistert und haben dann die gelbe Wand gewählt. Aus den anderen Entwürfen werden fünfzehn mal fünf Meter große Flaggen gemacht, die vor den großen Louis-Vuitton-Megastores aufgehängt werden, außerdem soll eine Tasche daraus produziert werden. (Falstaff Living 2023)
Man könnte derlei Engagements inkriminieren als allzu deutliche Koketterie mit dem allzu gehobenen Lifestyle. Auf die entsprechend naheliegende Frage: „Was bedeutet für Sie Luxus?“, gestellt von Stefan Musil für „Falstaff Living“, sagt Wurm indes Folgendes: Für mich bedeutet Luxus, wenn ich von meiner Kunst gut leben kann. Dass ich eine wunderbare Familie, mit meiner Tochter und meinen Söhnen, obwohl sie schon erwachsen sind, ein gutes Auskommen habe. Das ist Luxus. Die Reise in die Südsee machen wir nicht, aber wir fahren nach Griechenland. Auch das ist Luxus, dass ich mir die Zeit nehmen kann, drei Monate im Sommer nach Griechenland zu fahren. Und Luxus ist, dass ich – ich bin jetzt 68 – immer noch arbeiten darf, und zwar genau das, was mich freut. Das ist der größte Luxus überhaupt.
Estée Mougin-Wurm und Peter Marino bei der Eröffnung der Ausstellung Skins, Thaddaeus Ropac, Paris, Marais, 2022. Die beiden stehen vor der Arbeit Haut (Flat Sculpture), 2021. Öl und Acryl auf Leinwand, 240 × 180 × 4,5 cm. Peter Marino ist der Gestalter des Wiener Vuitton-Shops.
Drei Monate im Jahr verbringt der Künstler, wenn es geht, begleitet von der Familie, auf Hydra. Die Insel in der Ägäis, dem Peloponnes vorgelagert, ist natürlich ein Traumziel, bevorzugt für Kunstschaffende, und schon Leonard Cohen gehörte einst ein Haus, um dort mit Marianne Ihlen einen Lebensabschnitt und ein unsterbliches Lied hervorzubringen. Erwin Wurm kam nach Hydra über seinen Galeristen. Thaddaeus Ropac besitzt eine Liegenschaft auf der Insel, „zunächst privat, jetzt für die Galerie“, und ein Besuch dort ist vor allem für diejenigen vorgesehen, die Ropac vertritt. „Ich selbst bin dort nie, weil ich die Zeit nicht habe.“ Als er einmal länger verweilen wollte, ist er „nach drei Tagen“ nach Salzburg zurückgeflogen. Um es an nichts mangeln zu lassen, gibt es ein Schiff samt Crew im Hafen, das die Gäste beispielsweise in Piräus abholt, um sie auf das autofreie Eiland zu bringen. In seinem Understatement spielt Ropac das Anwesen ein wenig herunter, doch es ist eine Villa mit drei Terrassen, und Erwin Wurm hat den Aufenthalt immer sehr genossen: Drei Tage wirken wie eine Woche, es fällt alles von dir ab. So ging er auf die Suche nach etwas Eigenem. Er wurde fündig, die Lage seines Anwesens mit Blick aufs offene Meer und über den Hafen ist ziemlich unübertrefflich. Aber auch schwierig, und die Arbeiten, die hier entstehen, sind entsprechend aufwendig, zu Fuß oder per Esel, zu transportieren. Malereien machen es da einfacher, die ersten Flat Sculptures, die Buchstabenbilder mit den adipös gewordenen Lettern, die so simpel zu verstehen wie diffizil zu entziffern sind, entstanden hier, mit Blick auf Meer und Mythologie.
Die New Yorker Fotografin Martien Mulder hat die Situation per Kamera festgehalten und in „Inside“, dem Magazin des „Wall Street Journal“, publiziert. Man kann auf Wurms Website unter Periodicals einen Blick auf die große Szenerie werfen. Es gibt noch weitere, nicht zum Genre der Homestory passende Fotos aus Mulders Serie. Sie zeigen den Künstler bei der Arbeit, am Tisch vor dem Fenster, die Kleinformate vor sich, die Tochter Estée blickt ihm über die Schulter, und schließlich wird die Tagesproduktion zum Trocknen auf die Terrasse geräumt. Der Künstler darf arbeiten, und zwar genau das, was ihn freut. Das ist der größte Luxus überhaupt. Der Ort darf schon ein wenig zu dieser lustvollen Existenz beitragen.
Martien Mulders Kampagne für „Inside“ liefert noch ein weiteres Interieur. Es befindet sich in der Zirkusgasse im zweiten Wiener Bezirk und ist Wurms Großstadtdomizil. Man sieht dem Loft die einst industrielle Nutzung der Räume noch an, der 1928 gegründete Herrenausstatter Licona hatte hier seine Produktionsstätte. Anfang des neuen Jahrtausends ging er in Konkurs, nach den diversen daraus resultierenden Verfahren zog 2010 schließlich der Künstler ein, samt der Familie, die gerade mit Élise und der 2011 geborenen Tochter entstand. Öffentlich, wie Homestorys es machen, sind dadurch einige Stücke aus Wurms Sammlung geworden. Man sieht auf Mulders Aufnahmen unter anderem ein Großformat von Georg Baselitz sowie, als Fond für ein Fat Car en miniature, eine Fotografie des Düsseldorfer Becher-Schülers Elger Esser: Sie zeigt eine Landschaft an der Loire, exakt die Gegend, in der Élises Onkel ein Weingut besitzt. Erwin Wurm hat seine Frau einmal mit einem Geburtstagsgeschenk überrascht, und es ist ebenfalls zu sehen: ein Porträt von ihr, gemalt von Francesco Clemente, einst „Transavanguardia“-Pionier und heute längst Weltkünstler in New York. Der Clemente lässt sich seine Porträts immer vorab bezahlen. Es könnte sein, dass sich die Leute darauf nicht erkennen. Alles andere ist alles andere, und das soll es für dieses Buch auch bleiben. In den 1980ern war die New Yorker Künstlerin Louise Lawler mit ihren Innenaufnahmen von Apartments bekannt geworden, in denen sich Mobiliar mit Klassikern der Moderne abwechselte, beispielhaft das Ehebett unter einem Flaggenbild von Jasper Johns. Man konnte das seinerzeit als „Institutionenkritik“ verbuchen, als Demaskierung der Wohn- und Sammelpraxis der Reichen. Homestorys, um etwas Positives zu sagen, stehen in dieser Tradition. Doch den Ruch von Kolportage hatte das schon damals.
„Obwohl meine Auswahl von Brigitte Kowanz und Erwin Wurm sowie die architektonische Erweiterung anfangs zum Teil umstritten waren, wurde der Österreich-Pavillon von der internationalen Presse von ‚New York Times‘ bis ‚Artforum‘ unter die zehn besten gereiht. Auch wurden Ausstellungen in bedeutenden Museen für Erwin Wurm und Brigitte Kowanz angebahnt. Im Ranking des ‚Kunstkompass‘ wurde Brigitte Kowanz durch die Teilnahme an der diesjährigen La Biennale Arte als einzige Österreicherin unter die ‚100 Stars von morgen‘ gewählt. Erwin Wurm nimmt derzeit Rang 50 unter den ersten 100 Künstler:innen weltweit ein, als bestgereihter Österreicher. Mein Vertrauen in die von mir nominierten Künstler, ihre Erweiterung des Skulpturenbegriffs in die reale und materielle wie virtuelle und immaterielle Dimension, die Erweiterung in die Publikumspartizipation, in die Performance, in die neuen Medien und den Datenraum haben sich als richtig erwiesen. Ihre Innovationen kamen international zur Geltung und haben die Kartografie der Kunst verändert. Mehr wollte ich nicht erreichen und bin glücklich und dankbar, dass uns das gelungen ist.“ Das ist das Fazit, das Christa Steinle im Rahmen einer Matinee im November 2017 zog, als es darum ging, die Biennale von Venedig dieses Jahres aus österreichischer Sicht Revue passieren zu lassen. Christa Steinle, die erste Doktorandin von Wilfried Skreiner und langjährige Leiterin der Grazer Neuen Galerie (mit der zusammen ich 2005 eine Ausstellung in der Frankfurter Schirn Kunsthalle kuratiert habe und seither befreundet bin), war die für den Auftritt des Landes auf der Biennale Verantwortliche, die „Kommissärin“, wie man in Österreich sagt.
Das soeben fertiggestellte Porträt von Élise im Studio von Francesco Clemente in New York, November 2017.
Das Land laboriert an der Tatsache, dass es für seine Präsentationen im nationalen Pavillon der venezianischen Giardini noch nie ausgezeichnet worden ist. Kein „Goldener Löwe“ sprang bisher heraus. Die Deutschen dagegen, und es ruft wie im Fußball Neid hervor, ziehen mit einer Trophäe nach der anderen ab (2017 wird es gleich deren zwei für den besten Pavillon und für ein künstlerisches Lebenswerk geben). Der Biennale-Auftritt ist entsprechend Chefsache, sie wird ministeriell beaufsichtigt. Der für die Vergabe, die im Jahr 2015 erfolgte, Zuständige war Josef Ostermayer, eine kulturell bewanderte, ohne Funktionärsallüren agierende Ausnahmeerscheinung an Minister. Die Meriten 2017 wird dann sein Nachfolger ernten, Thomas Drozda.
Man hatte das Prozedere geändert. Ein Gesamtpaket sollte geschnürt werden, wer sich für den kuratorischen Posten bewarb, sollte gleich eine oder mehrere künstlerische Positionen mit im Gepäck haben. Christa Steinle wurde also vorstellig in Wien, nannte Erwin Wurm, und der Minister freute sich, nannte dann, einen weiteren Trumpf aus dem Ärmel ziehend, auch noch Brigitte Kowanz, und der Minister freute sich noch einmal. 400.000 Euro Gesamtbudget waren zu verwalten, was in keinem Verhältnis steht zu den Gesamtkosten; dieselbe Summe noch einmal musste also anderweitig lukriert werden. Auf wundersame Weise gelang es. Eva Schlegel, die im Jahr 2011 Kommissärin war (und Markus Schinwald zeigte), bestätigt, dass es bei ihr genauso ablief.
Erwin Wurm hat sich mit Bemerkungen zum politischen Status quo Österreichs nicht immer zurückgehalten. Schon 2007 wurde er auf etwaige Konsequenzen angesprochen, in einem Interview in der Zeitschrift „frame“: „Glauben Sie, dass Ihnen diese politischen Statements einmal auf den Kopf fallen könnten? Dass Ihnen das z. B. auf lange Sicht die Teilnahme an der Biennale Venedig verbaut?“ In dieser Frage war eine Einladung zum Opportunismus gleich mitformuliert, doch Wurms verspielt ikonoklastische Antwort geht so: Darüber denke ich nicht nach. Und wenn es so wäre, dann würde ich es trotzdem machen. Aber das mit der Biennale ist auch so eine Sache. Dieser unsägliche österreichische Pavillon von Josef Hoffmann gehört abgerissen, man sollte ein Café daraus machen, für Kurgäste. (frame 20, 2007) Dann hat ihn die Einladung in den Pavillon doch ereilt. Was folgte, war der schlimmste Umstand einer Ausstellung meines Lebens.
Denn Wurm hatte sich mit Brigitte Kowanz, der altvertrauten Weggefährtin und für den Moment Mitbewerberin um die Ordnung nationaler Repräsentanz, überworfen. Wurm war von Peter Weibel, der in den 1990ern Kommissär war und mit Christa Steinle eng zusammenarbeitete, zugesagt worden, den Innenraum des Pavillons zu bespielen. Brigitte Kowanz würde hingegen in die „architektonische Erweiterung“, wie es im Abschlussbericht heißt, rücken, ihre Lichtarbeiten also in einem Zusatzbau ausbreiten. Natürlich war von vornherein eine gewisse Hierarchie der Räume gegeben, Wurm war situiert am angestammten Ort, während Kowanz für „Interventionen“, wie man es dann nannte, zuständig war. Ich habe von Anfang an gesagt, ich möchte entweder nicht oder allein im Pavillon. So ist es dann auch gekommen, wenn auch in aller Unzufriedenheit. Wenn sie etwas anderes gewollt hätten, hätte es etwas anderes gegeben. Ich bin keiner, der seine Vorstellungen durchdrückt. Das Problem war, dass die Brigitte dann die Feminismus-Karte gezogen hat. Ich war plötzlich der Macho. Und die Christa Steinle war in der Position, es befrieden und es aushalten zu müssen. Das Foto zum offiziellen Galadinner am 11. Mai 2017 im Hotel Excelsior am Lido – es gab Spargelrisotto, Seeteufel und Schokoladenparfait: Schrecklich! – zeigt dann den großgewachsenen Künstler in der Mitte, die Kollegin und die Kommissärin in seinen Armen haltend. Und tatsächlich, das sagt auch Wolfgang Häusler, Galerist von Brigitte Kowanz, wird sich das Zerwürfnis im Verlauf der Biennale wieder legen.
Der vielbeschworene Innenraum des österreichischen Pavillons, den Wurm also bespielte, sah eine Abfolge von Angeboten, One Minute Sculptures in Szene zu setzen. Speziell ein Wohnwagen stand zur Verfügung, der allerlei Verlockungen vorsah, den Kopf oder den Arm durch die Außenwand zu stecken und das obligatorische Inventar des Campens, Tisch und Gartenstuhl, zu nutzen, um Körperteile darauf abzulegen. Just about Virtues and Vices in General war der theologisch angehauchte Titel. Der eigentliche Clou von Wurms Auftritt indes war im Außenraum abgesteckt, wo als Point de Vue für alle, die sich dem Gebäude näherten, vor dessen Fassade ein Kastenwagen platziert war. Wurm-üblich von waag- auf senkrecht gestellt, balancierte er auf seiner Fahrerkabine, turmartig reckte er sich in die Höhe und lud tatsächlich ein, ihn zu besteigen. War man dank einer metallenen Treppe dort angekommen, wo sich im Alltag die Hecktüre, hier allerdings eine Aussichtsplattform befand, lud eine Handlungsanleitung ein: Stand Quiet and Look Over the Mediterranean Sea. Mehr als einen Zipfel von der Lagune bekam man dort, wo man stand am Pavillon in den Giardini Pubblici in Venedig, allerdings nicht zu fassen. Unverzüglich wurde Wurms forsche Paradoxie interpretiert als Beitrag zur ökologischen Problematik. Bleibt noch nachzutragen, dass es bei der ein Fazit ziehenden Matinee im November 2017 zwei Ansprachen gab, die die Beteiligten würdigten. Die Laudatio auf Brigitte Kowanz hielt Peter Weibel. Jene auf Erwin Wurm hielt Bazon Brock.
Just About Virtues and Vices in General (One Minute Sculptures), 2017. Mischtechnik (Ausstellungsansicht, Österreichischer Pavillon, 57. Internationale Biennale di Venezia, Venedig).
Seit Langem schreibt Wurms Werk einen Subtext zur Philosophie. Montaigne, Descartes, Spinoza, die Helden der Neuzeit, sind ihm stets einen Verweis wert, und als jemand, der in Wien sozialisiert ist, hat er seinen eigenen Blick auf Ludwig Wittgenstein. Das gestattet ihm womöglich nicht ganz ernst gemeinte Bezugnahmen wie Wittgenstein’s Alphabetical Curvature of Space for the Resolution of Flatulence von 2005 oder Wittgenstein’s Grammar of Physical Education 2013, das sowohl als Bodenarbeit vorliegt als auch per Video, das dokumentiert, wie man sich der Bodenarbeit als Plateau für Aktionen bedient. Wittgenstein ist ihm ein Anlass für jene Liebhaberei am Denken, die die Moderne als Dilettantismus oder Amateurhaftigkeit denunziert hat. Auch dafür macht Wurm einen Philosophen aus, und mit ihm hat er ganz explizit seine Händel: Mit Adorno gibt es keinen Raum für Zynismus. Seine Schriften handeln von tiefen, seriösen Wahrheiten, die man nur äußern kann, wenn man ein Lächeln vermeidet. Das heißt, man kann über die schwierigen Angelegenheiten nur mit ernstem Gesicht reden, mit Pathos. Ich denke, Pathos macht die Menschen klein. (Photographs 2020, Übersetzung R. M.) Theodor W. Adorno ist der Pate des Pathos. Und wenn Wurm, es ist hier öfters zur Sprache gekommen, etwas meidet, ist es der Weg in die Unausweichlichkeit. Wurm rächt sich, indem er den Meisterdenker der Frankfurter Schule durchaus ins Groteske zieht (den Joke mit den Frankfurtern als „Teekessel“ von Würstchen und Denkern hat er sich allerdings entgehen lassen – den gibt es beim Karikaturisten Manfred Deix): etwa indem er ihn, 2006 bei Adorno als Oliver Hardy in „The Bohemian Girl“, ins Kugelrunde aufbläst. Die Philosophie jedenfalls ist als Prädikat oder Pejorativum treue Wegbegleiterin des Wurm’schen Werks.
Nun hat sich die Philosophie gewissermaßen revanchiert, und der Künstler ist selber Gewährsfigur geworden. Davor lag aber noch eine Einladung in konventioneller Richtung. Für Fichte, die Ausstellung, die er 2015 für das Kunstmuseum Wolfsburg einrichtete, lud Wurm einen aufstrebenden Exponenten des Faches zu einem Katalogtext ein. Fichte lebt ja vom Vexiereffekt zwischen dem Baum und dem Namen eines Vertreters des deutschen Idealismus, und so sollte es Markus Gabriel sein, der über Wurm schrieb. Gabriels unter dem Label „Neuer Realismus“ bekannt gewordenes Plädoyer für Komplexität geht von einer Vielfalt an Welten aus, die so real sind wie alle diejenigen, die jeweils für sich ihre jeweilige Welt konstruieren. Es gibt keinen Grund, so Gabriel, an ihrer Triftigkeit und damit sowieso an ihrer Vorhandenheit zu zweifeln. Alle diese Welten haben ihre Realität im Plural. Oder, wie der knallige Titel des Buches, das ihn 2013 zum Shootingstar machte, es auf den Punkt bringt: „Warum es die Welt nicht gibt“ – die Welt im Singular. Man möchte es der Kunst, die nach wie vor in der Einzahl schwelgt, gern hinter die Löffel schreiben.
Gabriel wurde Bestandteil einer speziellen Inszenierung einer One Minute Sculpture, die Erwin Wurm für das SZ-Magazin realisierte. Jedes Jahr wird deren Nummer 46 künstlerisch gestaltet (das dazugehörige Interview kam schon öfter hier zur Sprache), und 2016 sorgte dafür Erwin Wurm. Er verabreichte Nudelskulpturen in Form einer Handvoll Spaghetti, die nun auf Oberflächen verteilt wurden, auf Leinwänden von Bildern, auf den Kalotten von Köpfen, auf den Reliefs von Gesichtern. Mit den Bildtiteln Da ist der Philosoph und Das ist das Wesen durfte sich Gabriel zweimal vorstellen, einmal saß die Portion auf ihm wie ein Haarkranz, das andere Mal klebte sie ihm vor der Nase, sodass die Brille verrutscht war. Von Wesenhaftigkeit war eher nicht die Rede.
Eine seiner neuesten Publikationen, 2021 erschienen, widmet Gabriel der „Macht der Kunst“. Erwin Wurm spielt darin eine prominente Rolle für die Darlegung dessen, was der Philosoph „Sinnfelder“ nennt, Welten in ihrer Vielfalt, ganz und gar plausibel für diejenigen, die sich die Felder abstecken. Namentlich bezieht sich Gabriel auf die One Minute Sculptures: „In der Tat ist keine Ein-Minuten-Skulptur vollendet, solange die verwendeten Materialien … nicht in der vom Publikum vorgegebenen Form dekonstruiert werden. Jedenfalls gibt es immer Platz für eine andere Interpretation … Die Interpretationen, in einem notwendigen Sinne verstanden, um wiederum die Autonomie der Kunst zu begreifen, sind allerdings weder theoretische Konstruktionen noch gelehrige Kommentare zu diesem oder jenem Werk. Interpretationen sind jedes Mal Beispiele von Performances, Aufführungen.“ (Gabriel, 48) Und dann zieht Gabriel noch eine Konklusion, die höher gegriffen für einen Bildhauer nicht sein könnte: „In diesem Sinn gibt es keinen Unterschied zwischen Wurms Skulpturen und Rodins Denker.“ Wer wollte da nicht mitphilosophieren.
„Ich denke, Pathos macht die Menschen klein“: Wittgenstein’s Grammatik der Leibesübungen (Performative Sculptures), 2013. Performance während der Ausstellungseröffnung Wittgenstein’s Grammatik der Leibesübungen, Thaddaeus Ropac, Paris, Pantin, 2013.
Adorno as Oliver Hardy in the Bohemian Girl (1936) and the Burden of Desperation, 2006. Acrylharz, Farbe, Stoff, 71 × 142 × 67 cm.
Zwei Seiten aus dem SZ-Magazin, Nr. 46, 2016: Da ist der Philosoph (Nudelskulpturen), 2016. C-Print.