AUSBLICK

Eine der instruktivsten Personality-Geschichten, die auf Erwin Wurms Website, Rubrik Periodicals, zu lesen sind, entstammt einem Gespräch mit Peter Morgan für das Londoner „FAD Magazine“. Morgan, Commander of the British Empire, ist bekannt, ja berühmt als Autor des Binge-Watching-Klassikers „The Crown“, davor hatte er Drehbücher unter anderem für Stephan Frears’ „The Queen“ oder Ron Howards „Frost/Nixon“ geschrieben. Morgan war in Wien verheiratet mit Lila Schwarzenberg, und es hatte sich ergeben, dass er der Nachbar von Wurm war. Die Freundschaft, die daraus entstand, hält an, auch wenn Morgan mittlerweile in London lebt. Wenn er seine Kinder in Österreich besucht, trifft man sich. So ergab sich die Unterhaltung für die „FAD Magazine“-Ausgabe von Februar 2019.

Einer der Dialoge, die sich absolut auf Augenhöhe und nicht im üblichen Frage-Antwort-Modus entwickeln, geht so: Manchmal habe ich den Traum, dass ich nichts anderes tue als arbeiten und mich um nichts anderes kümmern muss. Aber weil ich, als ich als Künstler anfing, Angst hatte, nicht genug zum Leben zu haben, überkommt mich immer noch das Gefühl, dass ich nicht genug verdient habe, um mit der Arbeit aufzuhören. – Aber das hast du doch. – Nein, habe ich nicht. – Doch, hast du. – Nein, habe ich nicht. – Ich sage dir, das hast du. Ich sage es dir. Wir sitzen in dieser Wohnung, die könntest du verkaufen, und … – Na gut, das ist wahr. – Ich sage, das hast du. Aber du bist abhängig von bestimmten Erwartungen an deinen Lebensstil. – Stimmt. – Du könntest leicht aufhören. Du könntest sofort aufhören. Du hast genug an Werk. – Stimmt, ich habe genug an Werk. – Du bist getrieben von einer Macht. Es ist wichtig, dass du das einsiehst. – Die Sache ist: Ja. Ich habe vielerlei Werkgruppen jetzt, und ich könnte aufhören. Aber ich habe weiterhin das Verlangen, besser zu werden und mein Werk weiterzutreiben. – Warum arbeitest du immer noch? – Ich liebe es. Das ist mein großes Problem. (Übersetzung R. M.)

Im englischen Original steht einsilbig das Wort „work“, wenn es um eine konkrete Arbeit und um das Œuvre generell geht; und ein wenig geht es auch darum, dass, greift man noch ins Lateinische aus, „Arbeit“ sowohl als „opus“ zu begreifen ist als auch als „labor“, dass Arbeit also einen Beigeschmack von Aufwand, wenn nicht gar von Leiden hat. Von all dem hat Erwin Wurm ein Lied zu singen, und tatsächlich erinnert das Wortgefecht des Dialogs an die „Si!“-„No!“-Kaskaden zwischen Don Giovanni und dem Großkomtur in Mozarts Oper. Letztlich ist es ein Verhängnis von schlicht anthropologischer Dimension: der Spagat zwischen Sich-Verwirklichen und Sich-Verausgaben.

Mit Peter Morgan in der Wiener Wohnung. Das Gespräch wurde im FAD Magazine veröffentlicht (Februar 2019, London).

Dass der Künstler alles andere als retrospektiv unterwegs ist, hat sich bei den Gesprächen zu diesem Buch oftmals gezeigt. Die Zukunftsperspektive steht im Vordergrund, und der Fond an Erinnerung, auf dem sie aufbaut, gestaltet sich dadurch etwas unscharf. Auch die Vergangenheit, das steht schon bei Augustinus, ist in Gestalt der „Memoria“ ein Modus der Gegenwart, wie es die „Expectatio“ ist, die Erwartung im Hier und Jetzt in Hinblick auf das Kommende. Wir mussten uns entsprechend mehrmals über ein Thema beugen, um dem, was da einst war, auf die Schliche zu kommen. Gut, dass es Freunde und Weggefährtinnen, Kollegen und Kombattantinnen gibt, die Zusätzliches parat hatten. So ist es mindestens prekär, Erwin ein Fazit abzuverlangen, jetzt, da er mitten im Leben steht. Doch vielleicht hat ein Fazit ja Estée, die Tochter, und jedenfalls daran erinnert sich der Vater präzise. Hier also seine Antwort auf die Frage, was sein „stolzester Moment“ bis dato gewesen sei: Ich erinnere mich an einen lustigen Moment, als meine kleine Tochter ihre Kindergarten-Kinder zu uns mit nach Hause brachte. Sie war fünf damals, und als alle daherkamen, sagte sie nur: ‚Schaut, das ist Erwin Wurm.‘ Das war brillant. (Autre 2021, Übersetzung R. M.)

Man geht so oder so mit der Zeit. Der Künstler hat in den letzten Jahren entsprechend versucht, seinen Skulpturenbegriff auf Existenzweisen in der Digitalität zu erweitern. 2021 hat Erwin Wurm also ein NFT, ein Non-Fungible Token, auf den Markt gebracht: Mein Sohn ist mir damit in den Ohren gelegen, der ist so ein Nerd, der sich wahnsinnig dafür interessiert, und mein Galerist aus Berlin hat gesagt, er macht eine Ausstellung nur mit NFT. Das ist zwar eher nicht meine Welt, aber es hat gut funktioniert. (Innovator 2022) Mit dem Sohn ist der ältere gemeint, Laurin, der selbstständig ist auf dem Bitcoin-Sektor. Laurin hat sich eine eigene Existenz aufgebaut durch Handel mit NFT, Kryptowährungen und Aktien. Das hat bis jetzt sehr gut funktioniert und es scheint, dass es gut weitergehen wird. Es erinnert mich ein bisschen an meine Situation mit Anfang 30, wo ich schon ganz okay unterwegs, aber in keiner Weise absehbar war, wie sich das in Zukunft entwickelt. Und mit dem Galeristen ist Johann König gemeint, der mit seinem Podcast „Was mit Kunst“ ohnedies im Digitalen unterwegs ist. Zusammen haben sie Breathe In, Breathe Out herausgebracht, und wenn es nicht ein hoffnungsloser Anachronismus wäre, könnte man es Video nennen. Es ist die Computersimulation eines roten Porsche 911, der sich, als würde er durchs Einatmen Volumen gewinnen, aufplustert zur adipösen Fat-Car-Monstrosität, um dann, per Ausatmen, zurückzuschrumpfen ins Normalmaß eines PKWs. Das Ganze dauert 15 Sekunden, ist herrlich absurd und gewinnt zusätzliche Dynamik durch den Eindruck einer Kamerafahrt die Längsseite des Autos entlang. Die Szenerie gestaltet sich in der Virtualität einer Wiese, wodurch noch der Komplementärkontrast von Rot und Grün ins Spiel kommt, alles digital, alles zu unendlicher Präsenz tendierend, und, um es marktkompatibel zu machen, für 24 Stunden als Verkaufsgut abrufbar. 461-mal ist es binnen des Kalendertages des 31. August 2021 erworben worden, der Preis war 1.000 Dollar, nach dem aktuellen Kurs 861 Euro. Anders als bei den diversen NFT-Versuchen, Minimalanteile eines Originals loszuschlagen, das in per Pixel definierte Einzelkompartimente aufgelöst worden ist, hat man hier zum Mindesten einen echten Wurm, einen ganzen, eine weitere Demonstration seiner Kunst der Kombinatorik. Mit einer Materialität ist nicht zu kalkulieren. Aber jedenfalls mit einer potenziell globalen Aufmerksamkeit.

Dann gibt es Experimente mit Augmented Reality. 2021 ist für ein Projekt im vorarlbergischen Dornbirn eine App entwickelt worden, die den Stadtraum mit virtuellen Zutaten des Künstlers versetzt. Blickt man, wie das heutzutage geschieht, auf die Welt durch das Handy, dann überlagern sich dabei die Ausschnitte der Wirklichkeit, die man fokussiert, mit Motiven des Wurm’schen Panoptikums. Man sieht den Künstler in Levitation, ganz Magier auf einem fliegenden Teppich; er steht beim Foto einfach mit im Hintergrund; es fliegt eine überdimensionierte Banane durch die Straße; oder ein Stapel Orangen zaubert sich herbei. Die Tauglichkeit von Wurms Arbeiten für die Selfie-Generationen – Christa Steinle hatte es schon bei der Biennale-Präsentation betont – rückt abermals in den Fokus. Im Jahr 2022 wird Eva Schlegel an der Dornbirner Veranstaltung im öffentlichen Raum partizipieren und per digitaler Anwendung luftige Kugeln im virtuellen Raum verteilen – Blasen für die Bubbles-Generationen. Und Wurms New Yorker Galerie Lehmann Maupin stellt das Augmented-Reality-Konzept 2022 bei ihrer Teilnahme an der Kunstmesse Frieze Seoul vor: Ghost erscheint, eine geisterhafte Figur, die, blickt man durchs Smartphone, vor Augen tritt, drei Meter hoch.

Und die Zeit geht so oder so mit. 2008 hatte es eine Kooperation mit der Hamburger „Zeit“ gegeben, in der der Künstler dem Feuilleton des Wochenblatts 44 Vorschläge. Eine soziale Skulptur beigegeben hatte. Es muss damals durchaus lustig zugegangen sein in der Redaktion, gemeinsam hatte man sich „Gemeinheiten“, wie man das auf der Website nannte, ausgedacht, „44 Versuche, die Grenzen der Political Correctness zu markieren und planvoll zu überschreiten“. Schon 2003 hatte es im Rahmen der One Minute Sculptures Tendenzen in diese Richtung gegeben. So steckt in einer fotografisch dokumentierten Umsetzung der Instructions on how to be politically incorrect im Restaurant der Galerist Cajetan Grill seiner Kollegin Teresa Hohenlohe den Kopf in den Ausschnitt. Die anderen, die mit aufs Foto geraten sind, scheinen sich wenig darum zu scheren. Das war bei der „Zeit“-Kampagne anders: „Es tut mir leid um die Bäume“, empörte sich jemand per Leserbrief, von „einem vollendeten Wiener Schmarren“ war ebenso die Rede. Doch Wurm und die Leute von der „Zeit“ hatten es sichtlich auf Kontroverse angelegt: Unter den 44 Invektiven gegen die Mainstream gewordene Sensibilität waren Grundsätzlich kein Vorspiel oder Bevorzugen Sie Robbenfellschuhe eher die harmlosen.

Frühstück im Grünen: Breathe In, Breathe Out, NFT Video Stills, 2021.

Müßig anzumerken, dass die Sensibilität, die damals schon spross, sich fünfzehn Jahre später facettiert hat. So ist Erwin Wurm auf die Aktion, die seinerzeit bereits ein wenig aus der Fasson geraten schien, wieder angesprochen worden – von Uzomah Ugwu, einer New Yorker Autorin und LGBTQ+-Aktivistin, die das Magazin „Arte Realizzata“ herausgibt. Sie meint es gut mit ihm, nur die Eingangsfrage zielt auf die damaligen Aktivitäten, und es geht eher um die One-Minute-Sculptures-Folge als um die ohnedies nur auf Deutsch vorliegenden Zeitungs-Inserts. Der Künstler sagt dazu: Die Folge „How to be politically incorrect wurde gemacht als Antwort oder als Reaktion auf George W. Bushs Kontrollwahn und seine Unterdrückung von bestimmten Menschengruppen. Sein Slogan – War on Terror – war ein Desaster, weil er die Beziehungen zwischen verschiedenen Ländern, Gesellschaften und Religionen nachhaltig beschädigte … Statt zu lernen und das Gespräch zu öffnen, wurde es zunichtegemacht. (Es folgt im Layout ein Absatz, der Text geht weiter.) In den letzten zwei Jahrzehnten haben sich die Inhalte ganz intensiv geändert. (Abermals ein Absatz.) Eine Korrektur wurde sehr nötig, denn auf einmal waren wir in der Lage zu erkennen, dass der Gebrauch der Sprache mittlerweile schlecht gealtert ist. Oft waren es Dummheit, Ignoranz oder gleich Rassismus, die uns haben weitermachen lassen. (Arte Realizzata 2022, Übersetzung R. M.) Das ist nichts anderes als eine Distanzierung. Der Jargon hat sich in der Tat intensiv geändert.

Entsprechend ist Sensibilität angezeigt, wenn schon nicht in erster Linie bei Bildern, so jedenfalls bei Texten, die sie begleiten. Das intensivste, ursprünglichste, in jede Gewohnheit der Kunstrezeption eingegangene Text-Bild-Verhältnis wird in den Titeln greifbar, und hier stellt der Künstler nunmehr seine Überlegungen in Richtung einer Aktualisierung an. 1994, als die Arbeit konzipiert wurde, unterlagen Jakob und sein Pendant Jakob fett gewiss noch keinem Bodyshaming, doch mittlerweile können der Einsatz des Adipösen und vor allem seine Benennung Verstimmungen hervorrufen. Um dem vorzubeugen, war eine Ausstellung 2020 im Kunstraum Dornbirn, die eine Auswahl seiner Fat Sculptures brachte, mittlerweile als Big betitelt. Es hat also Umwidmungen gegeben, und das notorische Fat Car zum Beispiel dimensioniert sich neu als Car Big. Die Erkennbarkeit, die Signaturhaftigkeit für Wurms genuine Bildhauerei blieb dem drallen Ding ohnedies erhalten.

Derlei betrifft auch den Superstar aller Superstars. Gerade hat Taylor Swift viele ihrer Lieder neu aufgenommen, um die Rechte an ihnen, die sie einst an ein Musiklabel abgetreten hatte, wiederzugewinnen. „Better Than Revenge“, ein Song von ihr aus dem Jahr 2010, kam etwa zur Neueinspielung. Der Refrain geht ursprünglich so: „She’s not a saint and she’s not what you think. She’s an actress – But she’s better known for the things that she does on the matress.“ Man weiß, was gemeint war damals, doch das lässt sich heute, nach Harvey Weinstein und MeToo, nicht mehr so sagen. Es gibt also jetzt „Better Than Revenge – Taylor’s Version“ (die erste Version war auch von ihr – sie legt Wert auf die Eigenhändigkeit ihrer Lieder), und da hört sich die zweite Zeile des Refrains nunmehr so an: „He was a moth to the flame, she was holding the matches.“ Dieser Reim ist auf jeden Fall unrein. Rein dafür ist die Moral.

Nathan Zuckerman, der verhinderte Held von Philip Roths Schriftsteller-Roman „Exit Ghost“, ist das Alter Ego seines Autors. Beide sind sie Jahrgang 1933, gehen ihrer Profession in New York nach, sind jüdisch und kämpfen mit dem Älterwerden. Zu seinem 70. Geburtstag wird Zuckerman von den Nachbarn zum Essen eingeladen. „Sie prosteten mir mit Champagner zu und schenkten mir einen dunkelbraunen Pullover aus Lammwolle … Dann baten sie mich, eine kleine Rede darüber zu halten, wie es war, siebzig zu sein. Nachdem ich ihren Pullover angezogen hatte, erhob ich mich von meinem Platz am Kopf der Tafel und sagte: ‚Es wird eine kurze Rede sein. Stellen Sie sich das Jahr 4000 vor.‘ Sie lächelten, als wäre ich im Begriff, einen Witz zu erzählen, und so fügte ich hinzu: ‚Nein, nein. Stellen Sie es sich vor. Ganz im Ernst. In allen Dimensionen und allen Aspekten. Nehmen Sie sich ein bisschen Zeit.‘ Nach einigen Augenblicken ernsten Schweigens sagte ich leise: ‚So ist es, wenn man siebzig ist‘, und setzte mich wieder.“ (Roth, 50/51) „Exit Ghost“ ist eines von Erwin Wurms Lieblingsbüchern. Auf seine Art findet er sich wieder in Roths Protagonisten. Es ist genial: die Fähigkeit, die Realität einfach auszublenden und in einer Traumwelt zu leben. Das kenne ich auch. Es ist eine Hilfestellung fürs Älterwerden: zu erfahren, so kann man auch damit umgehen. Man muss nicht in Bitterkeit verfallen. Dabei wird Zuckerman von der Realität natürlich immer wieder eingeholt. Speziell das Alter ist eben nicht auszublenden.

De Profundis hatte der Künstler im Winter 2012/13 eine Ausstellung in der Wiener Albertina betitelt, die sich mit der Problematik auf wahrlich profunde Weise auseinandersetzte. Er hatte Freunde und Kollegen vor die Kamera gebeten, alle waren sie mehr oder weniger nackt bei den Aufnahmen, und es war ihnen anzusehen, dass sie ihre besten Jahre nicht mehr vor sich hatten. Auch sie, allesamt Männer, waren Alter Egos. Auf dem Cover des Katalogs rückte Hermann Nitsch seinen stattlichen Bauch in den Fokus, doch Wurms Mise en Scène war dezent genug, die versammelten Leiblichkeiten mit Akzenten zu retuschieren, die er mit Pinsel und Farbe den Fotografien hinzufügte. Die Mischtechnik, die dabei zum Einsatz kam, gab dem beabsichtigten Memento mori eine Art Kommentar mit. So waren nicht nur Dokumente dieser Körper zu sehen, sondern sie wurden Monumente, Denkmale ihrer selbst und der Hinfälligkeit, auf die sie speziell und auf die alle zusteuern. Der Titel ließ Oscar Wildes langen offenen Brief an den ehemaligen Liebhaber, den er in den späten 1890ern aus dem Gefängnis schrieb, Revue passieren. De Profundis ist darüber hinaus der Anfang von Psalm 130 in der Übersetzung des Hieronymus, auf Deutsch: „Aus der Tiefe rief ich, Herr, zu dir.“ Der Katalog zur Ausstellung listet die 25 Namen auf, die mitmachten bei Wurms Reise in die Abgründe, die einem bevorstehen – alphabetisch von Attersee über Hartmann, Wakolbinger und West bis zu Wurm, dessen Konterfei im Adamskostüm die Revue beschließt. Alle haben zugesagt. Zum Dank bekamen sie einen ganz irdischen Genuss präsentiert: Der Künstler lud sie ein ins Restaurant „Taubenkobel“ im burgenländischen Schützen am Gebirge.

In der Wiener Albertina (und im Kunstmuseum Luzern) hatte es 2018 eine weitere Ausstellung gegeben. Sie zeigte Zeichnungen, denen sich der Künstler in den letzten Jahren ohnedies verstärkt widmet. Doch Peace & Plenty, so der Titel, wandte sich einer speziell autobiografischen Facette zu, denn sie kreiste um Erwin Wurms wiederkehrende Begegnung mit dem Asthma. Er ist besonders allergisch auf Katzen, doch eine Attacke ist jederzeit möglich. Eine besonders gravierende ereilte ihn, als er in der Karibik Urlaub machte, im „Peace & Plenty Resort“ in Georgetown auf den Bahamas. Die Asthma-Aquarelle sind bisweilen Selbstporträts, und sie rücken oftmals Zigaretten in den Fokus, als Pars pro Toto eines problematisch werdenden Luftholens: Du kannst einatmen, aber nicht mehr ausatmen. Das hat die „New York Times“ nicht davon abgehalten, in ihrem „Style Magazine“ Buchtipps für den Sommer 2018 mit Arbeiten wie Me with Asthma oder Headless Asthma zu illustrieren. Die Darbietung Wurms, so scheint es die NYT zu verstehen, verlängert die Atemnot in einen allgemein menschlichen Zustand.

„Altern als Problem für Künstler“ ist ein Vortrag betitelt, den Gottfried Benn in dem Jahr 1954 hielt, als Erwin Wurm geboren wurde. Wenn ein Problem unausweichlich wird, bleibt einem nichts anderes übrig, als sich ihm zu stellen. Auf vielfältige Weise reflektiert Benn entsprechend die Tatsache, dass er damals zügig auf die siebzig zuging. Der Literat tröstet sich mit Jungverstorbenen und mehr noch mit der Tatsache, wie alt viele von den Exponenten des Kulturellen geworden sind: Tizian 99, Michelangelo 89, Frans Hals 86; George Bernard Shaw 94, Knut Hamsun 93, Goethe 83; Giuseppe Verdi 88, Richard Strauss 85 usw. Ein wenig Selbststilisierung kommt vor, die alte, seit Benns Verstrickungen in die NS-Barbarei für ihn unausweichlich gewordene Option darauf, sich täuschen zu dürfen. Und er fragt, wie es ist, wenn man „so senil geworden ist, daß über ihn Bücher erscheinen … in denen er analysiert, systematisiert, katalogisiert wird“. Angesichts dieser, wie Benn es treffend nennt, „Vivisektion“ bleibt ihm nur die Ironie: „Er ist erkannt und nun erkennt er sich selbst, zum ersten Male erkennt er sich selbst, bisher war er sich völlig unbekannt, so alt mußte er werden, um sich zu erkennen.“ (Benn, 365) „Erkenne dich selbst“ war das Motto des Heiligtums von Delphi. Wer es meistert, wird sich dabei zum Orakel. Und wird analysiert, systematisiert, katalogisiert in Büchern wie dem vorliegenden.

Untitled (Hermann III), (De Profundis), 2012. Acryl auf C-Print (nach einem Porträt von Hermann Nitsch).

Untitled (Manfred II), (De Profundis), 2012. Acryl auf C-Print (nach einem Porträt von Manfred Wakolbinger).

Das Älterwerden: Toll ist es nicht. Dem Londoner Kulturmagazin „Dante“ gab Erwin Wurm im Frühjahr 2013 – nächstes Jahr bin ich sechzig – ein Interview, in dem er sich über die Arbeiten an De Profundis Gedanken machte: In der Werbung sieht man nur junge Leute, junge schöne Frauen, schöne Männer. Niemand zeigt ältere Leute, und ich fand es so interessant, diese Körper zu sehen und auch ihre Genitalien zu sehen … und so sieht man eine vollkommen andere Haltung bei diesen Menschen … Alt werden und den Körper von der sogenannten Jugendlichkeit in etwas anderes, Neues zu transformieren: das fand ich großartig. Nachfrage: „Gibt es ein Leben nach dem Tod für Sie?“ Nur durch die Kunst und die Kinder. (Dante 2013, Übersetzung R. M.) Das sagte Wurm zu „Dante“, dem Magazin. Es gibt dann noch Dante, Alighieri, den Dichter. Und auf den lässt es sich für den Künstler wunderbar berufen: Die Welt als Commedia sehen.

Asthma Double, 2016–2017. Aquarell und Wachsmalstift auf Papier, 42 × 29,7 cm.