Oregon City, Oregon,
14. Oktober 1851
Die Sonne ging über der steilen Klippe auf, die Oregon City im Osten begrenzte. Ihre ersten Strahlen glitten über die Masten eines Schoners, der auf dem Willamette River im Westen vor Anker lag.
Nora fröstelte im Frühnebel am Fluss, als sie dafür sorgte, dass alle Vorräte und Werkzeuge im Wagen festgebunden waren, während Luke ihre vier verbliebenen Ochsen einspannte.
Nach fünfeinhalb Monaten gemeinsamer Reise mussten sie kaum noch miteinander reden, um ihren Wagen startklar zu machen. Sie arbeiteten zusammen wie die Räder eines Uhrwerks. Jede wusste genau, was sie zu tun hatte. Selbst Amy erledigte ihre Aufgabe, ohne dass man es ihr sagen musste. Eifrig fütterte sie das einzige Huhn, das die lange Reise überlebt hatte, sowie den Hahn und die beiden Hennen, die sie gestern gekauft hatten.
Ihre Routine wirkte genauso beruhigend wie das Klirren der Ketten und das Stampfen der schweren Hufe – nicht nur auf Nora, sondern offenbar auch auf das Baby. Die kleine Nattie schlief im Tragetuch an Noras Brust, ohne auch nur einmal aufzuwachen.
Nora konnte kaum fassen, dass sie das alles morgen nicht noch einmal machen mussten. Wenn alles gut ging, würden sie auf ihrem eigenen Land aufwachen, wo auch immer das sein mochte. In ihre Vorfreude mischte sich ein Anflug von Sorge.
Es waren nicht die Gefahren in diesem neuen Land, die ihr Angst machten, und auch nicht die harte Arbeit, die nötig war, um es zu bewirtschaften. An beides hatte sie sich auf der zweitausend Meilen langen Reise von Missouri nach Oregon gewöhnt. Aber im Wagenzug waren stets Mitreisende da gewesen, um ihnen aus der Klemme zu helfen, wenn es Schwierigkeiten gab. Doch nun würden sie auf sich allein gestellt sein.
»Bist du so weit?« Luke streckte ihr die Hand entgegen und half ihr vom Wagen. Sie hielt Noras Hand noch ein wenig länger fest, als würde sie ihre Sorgen spüren. Schließlich drückte sie sanft Noras Finger, ließ dann los und bückte sich, um einen Blick in das Tragetuch zu werfen. Mit einer Fingerkuppe fuhr sie so zärtlich über den dunklen Flaum auf Natties Kopf, dass Nora innerlich dahinschmolz.
Nora straffte die Schultern und hob ihr Kinn an. Es würde schon alles gut gehen, denn sie hatten immer noch einander. »Ich bin so weit.«
Gemeinsam machten sie sich auf den Weg zu den Garfields, die auf dem hölzernen Bürgersteig warteten, um dem Schlamm auf der Hauptstraße zu entgehen.
»Seid ihr sicher, dass ihr nicht hierbleiben wollt?« Bernice warf ihnen einen hoffnungsvollen Blick zu.
Luke schaute Nora an und überließ es ihr zu antworten – und vielleicht auch, eine Entscheidung zu treffen.
Nora brauchte nicht lange darüber nachzudenken. Sie wusste, wie Luke sich ihr Leben vorstellte, und sie teilte diesen Traum. Entschieden schüttelte sie den Kopf. »Wie ich schon sagte, das Stadtleben ist nichts für uns.«
»Nicht für immer. Nur bis zum Frühling«, sagte Bernice. »So machen es die meisten von uns. Wir könnten alle mit den Buchanans und Emmy nach Süden reisen und unsere Claims in der Nähe voneinander abstecken.«
Das hörte sich wunderbar an, denn es würde bedeuten, dass Amy ihre beste Freundin, Hannah Garfield, nicht aufgeben musste.
Die beiden Mädchen standen etwas abseits und waren ins Gespräch vertieft. Amy zeigte ihrer Freundin gerade irgendetwas – vermutlich das hölzerne Fohlen, das Luke gestern Abend im Hotel für sie geschnitzt hatte.
Ein schmatzendes Geräusch entstand im Schlamm, als Luke ihr Gewicht von einem Fuß auf den anderen verlagerte. »Es kommen fast jeden Tag mehr Auswanderer in Oregon an. Wenn wir bis zum Frühling warten, wird das beste Land schon vergeben sein.«
Natürlich wusste Nora, dass das nur ein Teil des Grundes war. Während die Garfields bei Freunden überwintern würden, die vor zwei Jahren nach Oregon gekommen waren, kannten Luke und Nora niemanden in dieser Gegend. Wenn sie den Winter über hierbleiben wollten, müssten sie sich einem der Zeltlager am Rande der Stadt anschließen. Dort würde es keinerlei Privatsphäre geben und das stellte mehr als eine Unannehmlichkeit für Luke dar.
Außerdem war ein kaltes, feuchtes Zelt im Winter nicht der richtige Ort für ein neugeborenes Baby, und nachdem Nora fast ein halbes Jahr lang in einem beengten Wagen gelebt hatte, wünschte auch sie sich ein eigenes Zuhause.
Sie trat auf den hölzernen Bürgersteig, um ihre Freundin zum Abschied zu umarmen.
Aber Bernice war offenbar noch nicht bereit, aufzugeben. »Hast du darüber nachgedacht, mit den Mädchen hierzubleiben, während Luke loszieht, um einen Claim abzustecken?«
Luke hatte ihr dieses Angebot ebenfalls gemacht, aber Noras Antwort war die gleiche gewesen, die sie jetzt auch Bernice gab. »Nein.«
»Nein, du hast nicht darüber nachgedacht oder …?«
»Lass sie in Ruhe, Frau.« Jakob stupste den Arm seiner Gattin an. »Eine Frau hat ihrem Ehemann zu folgen. Weißt du nicht mehr, was in der Heiligen Schrift steht? ›Dränge mich nicht, dich zu verlassen und umzukehren. Wohin du gehst, dahin gehe auch ich, und wo du bleibst, da bleibe auch ich.‹«
Nora hatte Mühe, ernst zu bleiben und ihre Mundwinkel nicht zu einem Grinsen zu verziehen. Offenbar ahnte Jacob nicht, worauf sich diese Bibelstelle wirklich bezog. »In der Tat«, sagte sie mit einem ernsten Nicken. »Luke ist mein Zuhause. Ich werde ihm folgen, wo immer er auch hingehen möchte.«
Luke warf ihr einen fragenden Blick zu. Offenbar hatte sie Noras ausdruckslose Miene durchschaut.
»Ich erkläre es dir später«, flüsterte Nora.
Bernice biss sich auf die Unterlippe, sagte aber nichts. Stattdessen seufzte sie und umarmte Nora herzlich, wobei sie darauf achtete, das schlafende Baby zwischen ihnen nicht zu wecken. »Pass gut auf dich und die beiden Kleinen auf.«
»Das werde ich«, sagte Nora. Im Flüsterton fügte sie hinzu: »Luke wird ebenfalls gut auf uns aufpassen, das weißt du, oder?«
Bernice seufzte erneut. »Ich weiß.«
Luke schüttelte Jacobs Hand und nahm höflich den Hut ab, als sie Bernice zunickte. »Dann heißt es jetzt wohl Abschied nehmen.«
»Nein!« Amy begann zu weinen. Sie klammerte sich mit einem Arm an Hannah und mit dem anderen an Bernice fest.
Luke erstarrte. Sie hatte weniger beunruhigt ausgesehen, als sie sich einer Klapperschlange oder einem reißenden Fluss gegenübergesehen hatte. Doch mit den Tränen der Mädchen konnte sie nicht umgehen. »Äh, es ist ja nicht für immer, richtig?« Sie warf erst Nora, dann Jacob und Bernice einen flehenden Blick zu.
»Nein, ist es nicht.« Bernice streichelte Amys zierlichen Rücken. »Wir werden euch besuchen, wenn wir im Frühling losziehen.«
»Wir werden euch sagen, wo sich unser neues Zuhause befindet, wenn wir in die Stadt zurückkommen, um den Standort unseres Claims beim Grundbuchamt anzumelden«, sagte Luke. »Dann müsst ihr nicht das ganze Tal nach uns absuchen.«
Amy war offenbar immer noch nicht überzeugt, dass sie einander wiedersehen würden. Sie klammerte sich weiterhin an Bernice und Hannah fest.
»Na, siehst du? Vielleicht bringen wir dir sogar ein paar Süßigkeiten mit, wenn du versprichst, ein artiges Mädchen zu sein«, fügte Bernice hinzu.
Schließlich hob Amy ihr Gesicht, das sie in Bernice’ Schürze vergraben hatte. »Zitronenbon’s?«, murmelte sie.
Bernice kicherte. »Ja, Zitronenbonbons.«
Amy wischte sich über die Wangen. Schließlich ließ sie Bernice und Hannah los und schob ihre kleine Hand stattdessen in Lukes. Nach einem letzten Blick zurück ließ sie sich von Luke zu Masern führen, die am Wagen angebunden war.
Als Nora ihnen folgte, konnte sie nicht umhin, ebenfalls einen Blick zurückzuwerfen.
Bernice starrte ihnen mit besorgter Miene hinterher. Einen Arm hielt sie um ihre Tochter geschlungen, als hätte sie Angst, Hannah würde ihnen nachlaufen.
Noras Blick fiel auf einen Gegenstand, den Hannah fest umklammert hielt. Es war das Holzfohlen, das Amy ihr geschenkt haben musste.
Ein Kloß setzte sich in ihrem Hals fest, doch Nora schluckte ihn hinunter und wandte sich Luke und ihrer Zukunft zu.
Als Nora sich zu ihnen gesellte, musterte Luke sie aufmerksam. »Geht es dir gut? Wenn du das Angebot der Garfields annehmen und doch lieber hierbleiben möchtest …«
»Wohin du gehst, dahin gehe auch ich.« Nora nahm Luke die Peitsche ab, um jegliche Diskussion zu beenden.
Luke atmete fast unmerklich auf. »In Ordnung. Dann lass uns aufbrechen.« Sie band das Pferd los und hob Amy in den Sattel. »Was war daran vorhin eigentlich so lustig?«
Nora lachte. »Scheinbar kennt sich Jacob nicht sehr gut mit der Heiligen Schrift aus.«
»Ach, und du schon?«, fragte Luke.
»Oh ja. Meinem Vater zufolge ist die Bibel das einzige Buch, das eine Frau lesen darf.«
Lukes Kiefermuskeln traten stärker hervor, als sie die Zähne zusammenbiss. »Amy und Nattie dürfen später einmal jedes Buch lesen, das sie lesen möchten.«
Nora wusste das zu schätzen, aber sie hatte das Gefühl, dass Amy nur an Büchern interessiert sein würde, die von Pferden handelten. »Wenn Jakob das Wort Gottes besser kennen würde, wüsste er, dass es in der von ihm zitierten Stelle nicht darum geht, dass eine Frau immer ihrem Ehemann folgen sollte.«
»Ach nein?«
Grinsend schüttelte Nora den Kopf. »Es war ein Versprechen, das eine Frau einer anderen gegeben hat.«
Das Knarren von Maserns Sattel durchbrach die plötzliche Stille. Die Stute stampfte mit einem Huf.
»Nun …« Luke räusperte sich und senkte ihre Stimme, sodass nur Nora sie hören konnte. »Irgendwie passt das wohl.«
Nora wusste, dass Luke noch immer nach den richtigen Worten suchte, um sich selbst zu beschreiben, jetzt, da Nora wusste, dass sie kein Mann war. Keiner der beiden Begriffe schien zu ihr zu passen. Doch das machte Nora nichts aus. Ob sie nun Mann, Frau, beides oder etwas ganz anderes war, für Nora war Luke der Mensch, den sie liebte. Erst gestern hatte sie sich – und Luke – das zum ersten Mal eingestanden, doch schon zuvor war ihr klar gewesen, dass sie ihr überallhin folgen würde.
Sie drückte Lukes Arm und ließ die Peitsche knallen, um die Ochsen anzutreiben. »Lass uns nach Hause gehen.«
* * *
Die Reise nach Südwesten ging nur langsam voran. So sehr sich Nora auch darauf freute, ihr Ziel zu erreichen, so dankbar war sie doch für das schleichende Tempo, denn ihr Körper schmerzte noch von Natties Geburt vor gerade erst einer Woche. Gut, dass man Ochsen nicht vom Kutschbock aus mit Zügeln lenkte, sondern während man neben dem Wagen herging. Nach langem Sitzen auf dem ungefederten Wagen war ihr nicht zumute.
Ihre Ochsen schienen auf der schlammigen Straße um jeden Schritt zu kämpfen. Die beschwerliche Reise nach Oregon hatte sie zermürbt. Leider konnten sie jetzt nicht mehr auf die beiden Ersatzochsen zurückgreifen und die Zugtiere immer wieder auswechseln.
Luke hatte Dornröschen in Oregon City verkauft und das Geld, das sie für ihn bekommen hatte, dazu verwendet, Lebensmittel zu kaufen. Da sie erst spät im Jahr angekommen waren, mussten sie bis zum Frühjahr warten, um Gemüse anzupflanzen, und würden bis dahin von ihren Vorräten leben müssen.
Der Wagen knarrte und ächzte unter dem zusätzlichen Gewicht von Mehlsäcken, Kartoffeln und Pökelfleisch, sodass sie noch langsamer vorankamen.
Zumindest gab das gemächliche Tempo Nora ausreichend Gelegenheit, sich umzusehen.
Auf beiden Straßenseiten wuchs Wald, der so dicht war, dass Nora auf den ersten Meilen kaum den dunstverhangenen Himmel sehen konnte. Dann lichtete sich der Wald ab und zu und gab den Blick frei auf Stoppelfelder mit abgeerntetem Weizen. Einige waren gerodet, während andere von Farn überwuchert und mit Baumstümpfen übersät waren.
Nora warf Luke einen fragenden Blick zu und deutete mit dem Peitschenende auf die Felder. »Ich frage mich, was dort wohl passiert ist.«
Luke richtete sich in den Steigbügeln auf, um es sich näher anzusehen. »Ich bin mir nicht sicher. Ich habe gehört, dass letztes Jahr viele Männer ihre Farmen verlassen haben, als man am Rogue River Gold gefunden hat. Vielleicht sind einige nicht zurückgekehrt.«
Nora konnte sich nicht vorstellen, ihr Zuhause für ein derartiges Glücksspiel zu verlassen. Aber im Grunde hatte sie genau das getan. Sie hatte einen Fremden geheiratet und sich in der Hoffnung auf eine bessere Zukunft einem Wagenzug angeschlossen.
Schweigend setzten sie ihren Weg fort. Je weiter sie kamen, desto holpriger und kurvenreicher schien die Straße zu werden.
Als es bergab ging, stießen die Ochsen ein eifriges Muhen aus und fielen in einen Trab.
»Brr! Langsamer, Aschenputtel!« Nora versuchte, den Wagen um ein Schlammloch herumzulenken, schaffte es aber nicht rechtzeitig.
Ein Rad holperte über das Schlammloch, sodass die Hühner hinten auf dem Wagen protestierend gackerten.
Dann machte die Straße eine weitere Kurve und der Fluss tauchte vor ihnen auf.
Ach, das hätte ich mir eigentlich denken können. Nur die Aussicht auf Wasser und womöglich einer Ruhepause konnte die Ochsen dazu bringen, schneller zu laufen.
Als sie vor ein paar Stunden Oregon City verlassen hatten, waren sie vom Fluss abgebogen und hatten eine höhergelegene Straße genommen, um den Sumpf und die vielen Bäche südlich der Stadt zu meiden. Jetzt waren die Zugtiere sicher durstig.
Das Baby wachte auf und begann sofort zu weinen.
Nora streichelte ihr lächelnd den Kopf. »Die Ochsen sind wohl nicht die Einzigen, die Durst haben.«
»Lass uns hier eine Weile ausruhen.« Luke stieg vom Pferd und hob Amy aus dem Sattel. »Ich werde unseren Jungs etwas Wasser holen. Du setzt dich einfach und ruhst dich aus.«
Das ließ sich Nora nicht zweimal sagen. Vorsichtig setzte sie sich auf einen großen Stein am Wegesrand und knöpfte ihr Mieder auf, um das Baby zu stillen.
Lukes Wangen liefen rot an. Rasch schnappte sie sich zwei Eimer vom Wagen und eilte zum Fluss. Amy war ihr dicht auf den Fersen.
Was war das denn? Nora starrte Luke hinterher und blickte dann auf ihren entblößten Busen hinab. Oh. Sie konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Vor Natties Geburt hatten sie eine wundervolle Nacht miteinander verbracht und Luke hatte jeden Zentimeter ihrer Brüste geküsst und doch war sie jetzt bei deren Anblick errötet.
»Gütiger Himmel«, flüsterte sie dem Baby zu. »Dein Papa ist unglaublich süß.«
Natürlich antwortete Nattie nicht. Stattdessen saugte sie gierig an einer Brustwarze.
Nora gab ein erschrockenes Quieken von sich. »Autsch. Ich schätze, du hast dieses süße und sanftmütige Naturell nicht geerbt, Kleines.« Dann erstarrte sie und legte eine Hand auf Natties Rücken. Hatte sie das eben wirklich gesagt?
»Ist alles in Ordnung?«, rief Luke vom Flussufer.
»Mir geht es gut«, rief Nora zurück. »Nattie war ein wenig zu erpicht darauf, an ihr Essen zu gelangen, das ist alles.«
Luke antwortete nicht. Vermutlich war sie zu sehr damit beschäftigt, nicht erneut rot zu werden.
Lächelnd streichelte Nora den Rücken des Babys. War es wirklich so verwunderlich, dass sie sich wünschte, Luke wäre der Vater ihrer Kinder? Sie war einfach zu süß.