Hamilton Pferderanch,
Baker Prairie, Oregon,
16. Oktober 1851
Seit zwei Tagen hallten Axtschläge beinahe ohne Unterbrechung durch das Tal.
Als sie schließlich verstummten, schien das Geräusch immer noch durch Noras Kopf zu dröhnen.
Das Krachen eines umstürzenden Baumes ließ sie zusammenzucken, obwohl sie es erwartet hatte.
Das Fällen von Bäumen für ihre Blockhütte war eine gefährliche Aufgabe. Nora hielt jedes Mal den Atem an, bis Luke endlich mit den Ochsen und dem Baumstamm an ihrem Lagerplatz auftauchte.
Als das Klirren der Ketten Lukes Rückkehr ankündigte, nahm Nora die Feldflasche, um ihr Wasser zu bringen.
Amy ließ ihr Holzpferd fallen und sprang von ihrem Platz neben dem Zelt auf.
»Nein, Amy«, rief Nora. »Bleib hier.«
Amy schob schmollend die Unterlippe vor. »Aber ich will Papa helfen!«
»Die Stämme sind groß und gefährlich, und Papa arbeitet mit sehr scharfen Werkzeugen. Das ist kein Job für kleine Mädchen.«
Frustriert ließ sich Amy neben dem Zelt nieder.
Luke führte die Ochsen zum Holzstapel, löste die Ketten und rollte den neuen Baumstamm zu den anderen. Ihr Hemd war durchgeschwitzt und klebte an ihrer Brust, und sie hatte die Ärmel hochgekrempelt. Die Muskeln in ihren Unterarmen traten deutlich hervor, als sie sich mit einer Hand auf den langen Stiel ihrer Axt stützte und sich mit der anderen über die Stirn fuhr. Ihre Wangen waren von der schweren körperlichen Arbeit gerötet, und ihr Hut fehlte, sodass Nora ihr kurzes, schwarzes Haar sehen konnte, das in wilden Wellen in alle Richtungen abstand.
Einfach hinreißend.
Einige Augenblicke lang stand Nora nur da, umklammerte die Feldflasche und bewunderte das Bild, das Luke ihr bot.
War es falsch, dass sie zu ihr hinübergehen, Lukes Hals küssen und tief ihren Duft einatmen wollte?
Nora schüttelte den Kopf über sich selbst. Zweifellos fand Luke ihren Zustand weit weniger angenehm als Nora ihren Anblick. Sie konnte sich vorstellen, wie heiß es Luke unter der Bandage geworden sein musste, mit der sie ihre Brüste flach band. Trotzdem versuchte sie nicht, Luke vorzuschlagen, sie auszuziehen.
Rasch ging sie zu ihr und reichte Luke die Feldflasche.
»Danke.« Luke trank die Hälfte des Wassers in großen Schlucken und sah aus, als hätte sie sich den Rest am liebsten zum Abkühlen über den Kopf geschüttet.
Noras sinnliche Gedanken schwanden augenblicklich und sie wollte Luke nur noch helfen. Während sie auf dem Oregon Trail unterwegs gewesen waren, hatte jede von ihnen klare Rollen und Aufgaben gehabt, doch jetzt lastete die meiste Arbeit auf Lukes Schultern – Schultern, von denen eine vor sieben Wochen von einer Kugel getroffen worden und kaum verheilt war.
Luke beteuerte ständig, dass es ihr gut ging, aber nachdem sie stundenlang die Axt geschwungen hatte, geriet ihr gleichmäßiger Rhythmus ins Stocken und sie massierte sich die Schulter, wenn sie glaubte, dass Nora gerade nicht hinsah.
Nora hatte sich noch nie so hilflos gefühlt. Aber wie sie eben zu Amy gesagt hatte, war das kein Job für ein Mädchen, es gab also nichts, was sie tun konnte. Hoffnungsvoll sah sie hinüber zu dem Holzstapel. »Haben wir schon genug Stämme für die Hütte?«
Luke musterte den Stapel und dann den Ort, den sie für die Blockhütte gewählt hatten. Er lag auf einer Anhöhe, wo sie vor Überschwemmungen der umliegenden Flüsse und Bäche sicher sein würden. »Wir sollten genug für die Wände haben. Tut mir leid, aber die Hütte wird klein und einfach werden und nur ein Stockwerk haben. Im Frühjahr baue ich dann ein größeres, besseres Haus mit Holzboden, aber dafür brauche ich mehr Zeit, als ich im Moment habe. Mit ein paar Männern könnte ich die Hütte innerhalb einer Woche hochziehen, aber ein Mann allein braucht mindestens zwei, vielleicht sogar drei Wochen, und falls der Regen einsetzt, bevor das Dach fertig ist …«
»Hör auf, dich zu entschuldigen. Ein kleines, einfaches Haus tut es völlig für den Anfang.« Nora legte eine Hand auf Lukes Arm. Die Muskeln unter ihren Fingern waren angespannt, entweder von der harten Arbeit oder von dem Druck, ihr Haus fertigstellen zu müssen, bevor der regnerische Winter in Oregon begann. »Kann ich dir irgendwie helfen?«
Luke schüttelte sofort den Kopf. »Ich muss noch mehr Bäume für das Dach fällen und mich dann beeilen, die Stämme zu entrinden, denn wenn ich noch länger warte, wird die Rinde noch schwerer zu entfernen sein. Du hast schon genug damit zu tun, dich um die Tiere zu kümmern, zu kochen und für die Kinder zu sorgen.« Sie legte eine Hand auf Noras, die noch immer auf ihrem Arm ruhte, und leerte die Feldflasche. Zärtlich küsste sie Nora und warf dann einen Blick in das Tragetuch, in dem Nattie schlief, bevor sie die Ochsen wendete und das Gespann zurück in Richtung des Wäldchens lenkte.
Nora ließ sich auf einen der Baumstämme sinken. Der süß-würzige Duft von frisch geschnittenem Zedernholz wehte zu ihr herauf, doch diesmal wirkte er nicht beruhigend. Gesprächsfetzen gingen ihr durch den Kopf. Kein Job für ein Mädchen. Ein Mann allein.
Ihr schwirrte der Kopf, als sie versuchte zu verstehen, was sie daran störte. Sie war in einer der wohlhabendsten Familien in Boston aufgewachsen und hatte nie körperliche Arbeit verrichten müssen. Für ihren Vater und ihre Brüder waren Frauen kaum mehr als nutzloses Beiwerk, das man je nach Bedarf herumzeigen oder ignorieren konnte.
Selbst im Wagenzug waren bestimmte Aufgaben als Männerarbeit angesehen worden und Nora hatte das nie infrage gestellt. Sie wusste, dass Frauen nicht die Kraft oder das Geschick besaßen, eine Axt zu schwingen und einen Baum zu fällen.
Andererseits … Sie starrte Luke hinterher. Vielleicht aber doch.
Ja, aber Luke ist anders. Sie hielt inne und fragte sich, was Luke so anders machte. Lag es daran, dass sie ihren Körper gestählt und sich handwerkliche Fähigkeiten angeeignet hatte, um als Mann durchzugehen? Oder eher daran, dass sie die Erwartungen und Einschränkungen, die die Gesellschaft Frauen auferlegte, nicht für sich akzeptierte?
Falls Letzteres der Fall war, konnte Nora diese gesellschaftlichen Anforderungen dann ebenfalls zurückweisen und einfach alles tun, was nötig war?
Vor sechs Monaten hätte sie sich nicht vorstellen können, dass sie jemals in der Lage sein würde, ein Ochsengespann zu führen, zweitausend Meilen zu Fuß zurückzulegen oder einen Mann zu erschießen – und doch hatte sie all das getan. Luke hatte sie gelehrt, an sich selbst zu glauben. Nicht ein einziges Mal hatte sie ihr die Peitsche aus der Hand genommen, um das Führen des Ochsengespanns zu übernehmen, nicht einmal bei den gefährlichsten Flussüberquerungen. Nie hatte sie Nora gesagt, dass ein Mann es besser machen würde.
Warum war jetzt plötzlich alles anders, nur weil sie in Oregon angekommen waren? Vielleicht würde es sich mit den vor ihnen liegenden Aufgaben genauso verhalten wie mit dem Führen eines Ochsengespanns. Traditionell mochten sie als Männerarbeit gelten, aber wenn keine Männer da waren, wer sollte sie dann erledigen?
Luke konnte nicht alles allein machen. Das sollte sie auch nicht müssen.
Nora erhob sich vom Baumstamm, ging auf das Zelt zu und schleppte die Wiege, die Luke für Nattie gebaut hatte, und eines ihrer Werkzeuge zu dem Holzstapel. »Amy? Komm bitte her. Ich habe eine wichtige Aufgabe für dich.«
Noch bevor sie den Satz zu Ende gesprochen hatte, war Amy an ihrer Seite. »Kann ich Papa helfen?«
»Ähm, nein, du wirst mir helfen.«
»Oh.« Amy sah einen Moment lang enttäuscht aus, aber dann straffte sie ihre schmalen Schultern. »Bauen wir die Hütte?«
Erstaunlich, wie selbstverständlich das bei ihrer Tochter klang, so als hätte sie nicht den geringsten Zweifel daran, dass sie beide einer solchen Aufgabe gewachsen wären. Nora beschloss, sich ein Beispiel an ihr zu nehmen. »Ja. Nun ja, ich werde die Stämme entrinden.« Oder es zumindest versuchen.
»Ich auch!« Amy rannte auf einen der Baumstämme zu.
»Nein, Amy.« Nora biss sich auf die Lippe, bevor sie ihr sagen konnte, dass das kein Job für ein kleines Mädchen war. Sie würde sich bemühen, so etwas nie wieder zu ihr zu sagen. »Ich brauche dich für eine noch wichtigere Aufgabe.«
Mit großen Augen starrte Amy sie an.
»Du musst auf deine Schwester aufpassen.« Sie legte das Baby in die Wiege und deckte es mit ihrem Schal zu. »Kannst du das tun?«
Amy nickte eifrig. Sie hob einen Ast auf und setzte sich neben die Wiege. Mit einer Hand schaukelte sie das Baby, während sie mit der anderen den Stock umklammert hielt, als wollte sie damit jeden Angreifer in die Flucht schlagen.
Gerührt beugte sich Nora zu ihr hinab und küsste sie auf die Stirn. »Ich danke dir. Du bist mir eine große Hilfe.« Jetzt würde sie beweisen müssen, dass auch sie bei dem Vorhaben, eine Hütte zu bauen, eine Hilfe sein konnte.
Sie hatte Luke dabei zugesehen, wie diese das Stück Holz, das sie für den Bau der Wiege verwendet hatte, mit dem Zugmesser entrindet hatte. Das Entrinden eines ganzen Baumes konnte nicht viel anders sein. Sie betrachtete das Werkzeug. Es bestand aus einer dreißig Zentimeter langen Klinge und je einem Holzgriff an beiden Enden. Luke hatte es über das Werkstück zu sich herangezogen und die Rinde war auf den Boden gefallen. Es hatte leicht ausgesehen.
Du schaffst das! Nora stellte sich neben einen Stamm und zog das Werkzeug an der Zeder entlang. Ein winziges Stück Rinde brach ab.
Da sie nicht aufgeben wollte, versuchte sie es noch einmal mit mehr Kraft. Diesmal blieb die scharfe Klinge in einem Stumpf stecken, wo Luke einen Ast entfernt hatte. Mit einem Ruck löste sie das Zugmesser aus dem Holz und starrte auf den widerspenstigen Baum hinab.
Lektion Nummer eins: Das Entrinden war nicht so einfach, wie es aussah.
Außerdem war ihr Winkel ungünstig, da sie neben dem Baum stand und sich ständig bücken musste. Luke hatte sich auf das Holzstück gesetzt, als sie an der Wiege gearbeitet hatte. Das war ihr ein Leichtes, da sie eine Hose trug.
Verflixter Rock! Sie starrte das Kleidungsstück düster an, dann sah sie zu Amy und zuckte mit den Schultern. Das war das Gute daran, keine Nachbarn zu haben – es gab weit und breit niemanden, der einen Blick auf ihre Beine erhaschen konnte, wenn sie diese entblößte. Sie holte eine Decke aus dem Wagen und breitete sie über den gefällten Baum. Dann zog sie ihren Rock und den Unterrock hoch, schob die Säume hinter ihre Schürzenbänder und setzte sich rittlings auf den Stamm.
Mal sehen, wer sturer ist: der Baum oder ich.
Sie setzte das Zugmesser an einer Stelle ohne Aststümpfe an, zog es zu sich her und schälte ein handtellergroßes Stück Rinde ab. Nicht hervorragend, aber schon viel besser.
Entschlossen packte sie die Griffe fester und machte weiter.
* * *
Anstelle der dünneren Stämme, deretwegen Luke losgezogen war, hatte sie den perfekten Baum für den Firstbalken gefunden, der auf den Giebel-Enden sitzen und die Last des Daches tragen sollte. Es war eine schöne Zeder, stark, lang und gerade, mit nur geringfügiger Verjüngung und wenigen Ästen, was das Entrinden erleichtern würde.
Zedern waren schwieriger zu finden, aber sie waren widerstandsfähiger gegen Fäulnis als Kiefern oder Tannen. Sicherlich konnten sie die Hütte noch viele Jahre oder gar Jahrzehnte nutzen, vielleicht als separate Küche für das Haupthaus, das sie nächstes Jahr bauen würde.
Aber bevor sie so weit vorausdenken konnte, musste sie weitere Bäume fällen. Das Entrinden würde wohl bis morgen warten müssen. Mit jedem Tag, der verging, würde die Rinde schwieriger zu entfernen sein, aber sie hatte keine andere Wahl.
»Komm schon, Rosenrot! Beeil dich, Aschenputtel!« Sie führte die Ochsen aus dem Hain und über die Prärie.
Von dem Hügel, auf dem sie ihr Lager aufgeschlagen hatten, stieg kein Rauch auf.
Lukes Magen gab ein enttäuschtes Knurren von sich. Sie hatte länger als gedacht gebraucht und hatte deshalb gehofft, Nora würde das Abendessen fertig haben, wenn sie zurückkam.
Aber als sie den Hügel hinaufschritt und die Ochsen zu dem flachen Stück Land führte, das sie von Steinen und Wurzeln befreit hatte, kniete Nora nicht neben dem Feuer. Sie saß rittlings auf einem der Baumstämme, ihren Rock um die Hüften und das Zugmesser in den Händen.
»Nora!« Der Anblick des rasiermesserscharfen Werkzeugs in Noras Händen versetzte Luke einen Stich in die Brust. Sie ließ die Peitsche fallen und eilte zu ihr hinüber.
Nora hielt mitten in der Bewegung inne. Ihre Haube war ihr vom Kopf gerutscht und hing nun an einem Band um ihren Hals. Ihr feuerrotes Haar hatte sich aus seinem Knoten gelöst und fiel in ungebändigten Wellen auf ihre Schultern herab. Als sie aufblickte, war ein entschlossenes Funkeln in ihren grünen Augen.
Einen Moment lang stockte Luke der Atem. Mein Gott, Nora war wunderschön. Und verdammt unachtsam, erinnerte sie sich streng. Sie trug nicht einmal Handschuhe! Himmel, sie hätte einen Finger verlieren können! »Verflixt, Nora! Was machst du denn da?«
»Ich entferne die Rinde«, antwortete Nora.
Amy saß in der Nähe im Gras und schaute zu ihnen herüber.
Luke atmete tief durch und versuchte, ihre Angst in den Griff zu bekommen, um nicht laut zu werden. »Das sehe ich«, sagte sie so ruhig wie möglich. »Aber das hättest du nicht tun müssen. Ich hätte das schon gemacht.«
»Wann denn bitte, Luke?« In Noras Stimme schwang ein Anflug von Wut mit.
»W-was?«
»Wann hättest du es getan? Es gibt hier so viel zu tun.« Nora wedelte mit dem Zugmesser, sodass Lukes Herzschlag in ihren Ohren dröhnte. »Du kannst nicht alles machen.«
Die Worte trafen Luke wie ein Schlag. Nora glaubte nicht, dass sie es schaffen würde, ein Haus zu bauen und eine Familie zu versorgen? »Ich kann es. Das schwöre ich dir. Ich …« Gütiger Himmel, jetzt zitterte auch noch ihre Stimme. Das wirkte nicht sonderlich überzeugend.
»Nein, Luke, das kannst du nicht.« Nora sprach jetzt leiser, aber ihre Worte trafen Luke tief. »Es bleibt nicht genug Zeit, um mehr Bäume zu fällen und die Rinde zu entfernen, bevor es dunkel wird, und du kannst nicht zwei Dinge gleichzeitig tun. Es ist zu viel für einen Mann allein.«
Luke hielt inne und sah sie an. Betrachtete Nora sie noch immer als Mann oder als jemanden, der genauso gut wie ein Mann für sie und die Mädchen sorgen konnte?
Nora legte das Messer beiseite, schwang ihr Bein über den Stamm und zog ihren Rock zurecht. Sie ging zu Luke und griff nach ihrer Hand.
Luke sah auf ihre verschränkten Finger hinab. Der Anblick versetzte ihr einen weiteren Stich ins Herz, der diesmal noch schmerzhafter war.
Noras Knöchel waren aufgeschürft von der Baumrinde und ein langer Kratzer zog sich quer über ihren Handrücken. Womöglich stammte er von einem Ast, den Luke nicht vollständig entfernt hatte.
»Oh, Nora«, flüsterte Luke. Zärtlich hob sie erst die eine, dann die andere Hand an ihre Lippen und hauchte jeweils einen Kuss darauf. Es war alles ihre Schuld. Ihre Ehefrau sollte sich nicht genötigt fühlen, auch noch ihren Teil der Arbeit zu übernehmen. »Es tut mir leid.«
»Das muss dir nicht leidtun. Ich habe mir schon oft die Knöchel an einem Waschbrett aufgerieben. Das hier ist auch nichts anderes.«
»Doch, das ist etwas völlig anderes«, sagte Luke. »Das war mein Job, nicht deiner. Ich hätte …«
»Was hättest du tun sollen?« Nora entzog Luke ihre Finger und stemmte beide Hände in die Hüften. »Dem Tag mehr Stunden hinzufügen? Dich zu Tode schuften, während ich herumsitze, das Feuer hüte und mich um die Kinder kümmere, weil das die Aufgaben einer Frau sind? Ist es das, was du willst?«
Luke schluckte und starrte sie an. »Äh. Nein?« In ihren Ohren klang es eher wie eine Frage, denn sie wusste nicht, was sie darauf antworten sollte. Sie rieb sich den Nacken. »Nein«, wiederholte sie, diesmal mit mehr Nachdruck. »Das will ich nicht. Aber was bleibt uns denn anderes übrig?«
Nora deutete auf den Stamm, dessen Rinde sie entfernt hatte. »Lass mich meinen Teil tun.«
»Du trägst schon mehr als genug bei. Du sollst nicht auch noch meine Arbeit machen müssen.«
»Was macht es denn bitte zu deiner Arbeit?«, fragte Nora. »Die Tatsache, dass ich eine Frau bin und du … nun ja, dass du du bist?«
»Nein, natürlich nicht. Es ist nur … Du hast noch nie mit einer Axt oder einem Zugmesser gearbeitet. Ich schon.«
Seufzend griff Nora nach Lukes Hand und zog sie zu einem der Baumstämme hinüber, wo Amy nicht mithören konnte. Vorsichtig setzte sie sich neben Luke. »Du hast doch gesagt, dass Amy und Nattie jedes Buch lesen dürfen, das sie interessiert, oder?«
»Ja, natürlich. Was hat das damit zu tun?«
»Werden sie auch jede Arbeit machen dürfen, die sie erledigen möchten? Oder nur die Aufgaben, die man für Frauen für angemessen hält?« Herausfordernd hielt Nora ihrem Blick stand. »Sieh dir Amy an.«
Luke sah zu dem Mädchen hinüber.
Die fast Vierjährige saß im Gras. Auf ihrem Schoß lag griffbereit ein Ast, als wäre er ein Speer oder ein Gewehr, während Nattie neben ihr in der Wiege schlief.
»Ähm, was macht sie da?«
»Sie beschützt ihre kleine Schwester«, sagte Nora mit dem Anflug eines Lächeln. »Welche Aufgabe wird sie wohl bevorzugen, wenn sie älter ist: den Eintopf umrühren oder einen Baumstamm entrinden?«
Luke fuhr sich mit der freien Hand über das Gesicht, konnte aber ihre Angst nicht wegwischen. »Ich will nur nicht, dass ihnen etwas passiert«, flüsterte sie.
»Dann bring ihnen bei, wie man es macht, ohne sich zu verletzen. Bring es mir bei. Ich möchte lernen, wie man eine Hütte baut, Feuerholz spaltet und allein auf einem Pferd reitet. Ich möchte in der Lage sein, beizutragen, was nötig ist. Meistens wird es vermutlich das Kochen, Melken und Waschen sein, während du die Männerarbeit übernimmst, aber ich möchte die Möglichkeit haben, mehr als das zu tun.«
Möglichkeiten. Das war einer der Gründe, warum Luke im Alter von zwölf Jahren beschlossen hatte, sich die Haare abzuschneiden und Männerkleidung anzuziehen. Sie hatte sich gewünscht, mehr Möglichkeiten zu haben und ihre eigenen Entscheidungen treffen zu können. Wenn sie Nora und den Mädchen diese Freiheit geben konnte, sollte sie es tun, ohne Rücksicht auf ihren albernen Stolz zu nehmen.
Nora zog Lukes Hand auf ihren Schoß und umschloss sie mit beiden Händen. »Nur weil ich dir helfe, bedeutet das nicht, dass du versagt hast. Wenn wir das gemeinsam machen, wird es uns nicht weniger bedeuten, sondern mehr.«
Luke fuhr sanft über die gerötete Haut an Noras Fingerknöcheln. Himmel, sie hatte eine Frau geheiratet, die mit Worten umgehen konnte. Sie war klug und fähig. Wenn Luke es ihr beibringen würde, könnte sie innerhalb kürzester Zeit einen Stamm vermutlich besser und schneller entrinden als Luke. »Na schön. Ich werde es dir beibringen«, sagte Luke schließlich. »Unter einer Bedingung.«
»Und die wäre?«
»Dass du dabei Handschuhe trägst.«
Nora schenkte ihr ein verlegenes Grinsen. »Abgemacht.«
* * *
An diesem Abend, nachdem Nora das Baby gestillt und Luke Amy eine Gute-Nacht-Geschichte über Maserns Abenteuer erzählt hatte und beide Mädchen endlich eingeschlafen waren, saßen sie am Feuer und versorgten gegenseitig ihre Wehwehchen.
Das Pfefferminzöl, das Nora in Lukes schmerzende Muskeln einmassierte, brannte auf ihren wunden Händen, aber sie wollte nicht aufhören. Sie fuhr mit ihren Handflächen an Lukes kräftigen Unterarmen entlang, streichelte die Narbe, wo eine Kugel Lukes linken Oberarm gestreift hatte, und schob dann einen Finger unter das ärmellose Unterhemd, um die zweite Narbe an ihrer Schulter zu berühren. Schließlich beugte sie sich hinab und küsste den abgenutzten Flanellstoff direkt über Lukes Herz.
»Nora.« Ihr Name klang wie ein heiseres Keuchen. »Was machst du da?«
Nora lächelte und küsste sie sanft auf die Lippen. »Nicht das, was du denkst. So sehr ich dich auch liebe und begehre, der Gedanke, so kurz nach Natties Geburt Beischlaf zu haben, ist ungefähr so verlockend, wie den ganzen Weg zurück nach Missouri zu laufen.« Nach ihrer hitzigen Diskussion von vorhin ging es ihr einfach darum, sich zu versichern, dass ihre Beziehung in Ordnung war und sie beide die gefährliche Reise nach Westen überlebt hatten. »Obwohl … Nun ja, du hast nicht entbunden. Ich könnte …« Sie strich mit den Fingerkuppen Lukes Bauch entlang nach unten.
Ein weiteres Keuchen entfuhr Luke. Sie bedeckte Noras Hand mit ihrer eigenen und hielt sie fest. »Nein. Ich möchte warten. Wenn wir es gemeinsam machen, wird es uns mehr bedeuten.«
Nora grinste sie an. »Verwendest du etwa meine eigenen Worte gegen mich?«
»Gegen dich? Niemals!« Luke küsste sie mit einer Zärtlichkeit, die Nora zutiefst berührte. »Jetzt gib mir die Salbe und lass mich deine Hände versorgen.« Sie wischte das Pfefferminzöl mit einem feuchten Lappen von Noras Fingern, dann verteilte sie die Salbe auf ihren wunden Knöcheln und ihren Handflächen.
Mit einem zufriedenen Seufzen streckte sich Nora neben dem Feuer aus und schloss die Augen, um Lukes sanfte Berührungen zu genießen. Sie spürte noch, wie Luke ihre Finger streichelte, dann schlief sie ein.
Natties lautes Weinen weckte sie einige Zeit später.
Benommen schlug Nora die Augen auf und versuchte, sich aufzusetzen. Allmächtiger, jeder einzelne Muskel in ihrem Körper schmerzte.
»Bleib hier.« Luke drückte sie sanft zurück ins Gras. »Du hast überall Salbe an den Händen. Ich werde Nattie holen.« Sie duckte sich ins Zelt.
Schon nach wenigen Momenten verstummte Natties Weinen, und auch Amy, die sich mürrisch darüber beschwert hatte, von ihrer Schwester geweckt worden zu sein, schien wieder einzuschlafen.
Nora lächelte. Offenbar wirkten Lukes sanfte Berührungen nicht nur auf sie beruhigend.
Luke kam mit Nattie auf dem Arm aus dem Zelt. Sie streckte Nora das Baby entgegen. Erst dann schien ihr wieder einzufallen, dass Noras Hände mit Salbe bedeckt waren. Sie zögerte und hielt Nattie weiterhin von sich weggestreckt.
Sobald Nattie den Kontakt zu Lukes warmem Körper verlor, begann sie wieder zu weinen.
»Äh, sie kann doch nicht schon wieder Hunger haben, oder?« Luke starrte hilflos auf das Baby hinab.
»Nein. Ich glaube, daran liegt es nicht.«
Luke hob Nattie in die Höhe und schnupperte an ihrer Windel. »An der Windel liegt es auch nicht.«
»Vermutlich hat sie sich bloß einsam gefühlt.« Nora wollte gerade die Salbe abwischen und Nattie nehmen, als Luke das Baby wieder an ihre Brust legte, wobei sie ihr Köpfchen sanft mit einer starken Hand abstützte.
»Nicht weinen, Kleines«, flüsterte Luke. »Deine Mama ist hier. Äh, und ich auch.« Behutsam schaukelte sie das Baby auf und ab.
Nattie hörte auf zu weinen. Sie bekam einen Schluckauf und spuckte dann prompt Milch auf Lukes Schulter.
Luke starrte sie mit großen Augen an. Der Schein des Lagerfeuers offenbarte, dass sie die Nase rümpfte.
Vielleicht lag es daran, dass Nora völlig übermüdet war. Sie brach in Gelächter aus. Als die arme Nattie dann erneut zu weinen begann, wischte sie sich schnell die Hände an ihrer Schürze ab und griff nach ihr.
Luke ging auf die Knie und legte ihr das Baby in die Arme.
Nora wischte Nattie mit einem Zipfel ihrer Schürze das Gesicht ab, schmiegte sie dann an ihre Brust und flüsterte ihr beruhigend zu.
Luke setzte sich neben sie, legte eine Hand auf Natties kleinen Rücken und streichelte ihn mit den Fingerspitzen. »Geht es ihr gut? Sie ist doch nicht krank, oder?«
Mit einem leisen Seufzen kuschelte sich Nattie an Noras Busen und schlief ein.
»Nein. Das glaube ich nicht. Babys spucken ständig. Bis Amy ein halbes Jahr alt war, hatte ich niemals ein sauberes Kleid an.«
Jetzt gab auch Luke ein erleichtertes Seufzen von sich. Sie saß so dicht neben Nora, dass die nackte Haut ihres Arms Nora streifte. Ihr Blick war immer noch auf Nattie gerichtet, als müsste sie sich davon überzeugen, dass das Baby wirklich nicht krank war.
Nora streckte ihre freie Hand aus und streichelte Lukes Arm. »Es geht ihr gut. Deinem Hemd allerdings nicht.«
Mit zwei Fingern zog Luke das schmutzige Unterhemd von ihrer Haut weg. »Ja. Ihrem auch nicht.« Sie zeigte auf Natties langes, weißes Kleidchen, das Nora nach oben umgeschlagen hatte, um die Beine des Babys vor der kühlen Nachtluft zu schützen.
»Oh. Ich gehe sie umziehen.« Nora wollte nicht, dass Nattie Fieber bekam, weil sie in feuchten Kleidern schlief.
Luke zögerte. Dann schüttelte sie den Kopf. »Nein, lass mich das machen.«
Nora blickte zu ihr hinüber und musterte ihr Gesicht im Schein des Feuers. Vielleicht lag es nur an den flackernden Schatten, aber Luke wirkte beinahe ängstlich. »Bist du dir sicher, dass du das machen möchtest?«
»Ja. Nur weil du eine Frau bist und ich … ich bin, heißt das nicht, dass du ständig das Wickeln und Kleiderwechseln übernehmen musst. Wir haben uns doch darauf geeinigt, die Arbeit untereinander aufzuteilen, oder?«
»Ja«, sagte Nora mit einem Kloß im Hals.
Luke stand auf, nahm ihr vorsichtig das Baby ab und trug es zum Planwagen, wo sie ihre Kleidung zum Wechseln aufbewahrten. Schon nach einer Minute steckte sie ihren Kopf wieder am Ende des Wagens ins Freie. »Ähm, wie kriege ich sie in das Kleid? Ich will ihr nicht die Ärmchen brechen.«
Kichernd erhob sich Nora. »Soll ich es machen?«
Einen Moment lang setzte Luke zu einem eifrigen Nicken an, doch dann schüttelte sie stattdessen den Kopf. »Bring mir bei, wie man es macht.«
Wenn es so etwas wie die perfekte Ehe gäbe, dachte Nora bei sich, dann hatte sie diese eindeutig gefunden.