Hamilton Pferderanch,
Baker Prairie, Oregon,
30. Oktober 1851
»Ja! Ja, so ist es gut. Ein bisschen höher. Nein, weiter links. Ja!«
Nach dem dritten Versuch, die Tür im Schein einer Kerosinlaterne anzubringen, hing sie endlich in den Angeln. Luke hatte diese aus Leder angefertigt, was hoffentlich halten würde, bis sie durch Metallscharniere ersetzt werden konnten.
Sie strahlten einander an. Hand in Hand standen sie da und betrachteten die Tür, die Fensterläden, das Dach aus Zedernschindeln und den Rest der Blockhütte. Ihr Zuhause.
Tränen brannten in Noras Augen. Sie wischte sie weg.
»Sehen wir es uns nur von außen an oder gehen wir hinein?«, fragte Luke in belustigtem Tonfall.
Bevor Nora antworten konnte, setzte ein leichter Regen ein.
Es war, als hätte das Wetter den Moment abgewartet, an dem sie ihre Hütte fertiggestellt hatten.
»Gütiger Himmel«, sagte Nora, als Luke ihr die Tür aufhielt. Sie sprach im Flüsterton, um die Mädchen nicht zu wecken, die bereits neben dem gerade erst fertiggestellten Kamin schliefen. »Wir hatten großes Glück.«
»Ja.« Luke küsste Nora sanft auf den Mund, während sie zusammen im Türrahmen standen. »Unglaubliches Glück.«
Gemeinsam betraten sie die Hütte. Luke schloss die Tür und zog die Schnur, die mit dem Riegel verbunden war, nach drinnen, sodass niemand hereinkommen konnte.
Nora sah sich in der Stube um. Sie war so winzig, dass sie diesen Namen eigentlich kaum verdiente, aber sie gehörte ihnen.
Sie hatten noch keine Möbel, abgesehen von Natties Wiege und dem Regal, das zwischen zwei Holzbalken klemmte und auf dem ihre Blechteller, Tassen, ein Topf und eine Kaffeekanne standen. Amy schien es nicht zu stören, dass sie kein Bett hatte. Sie schlief zusammengerollt unter ihrer Decke auf dem festgestampften Erdboden.
Luke stand dicht hinter Nora, als diese die Decke um Amy herum feststopfte und in die Wiege spähte. Dann schlichen sie auf Zehenspitzen am Kamin vorbei zu der Öffnung in der Trennwand. Es gab noch keine Tür, aber ein alter Mehlsack bot ihnen etwas Privatsphäre.
Ihre verbeulte Waschschüssel stand auf einem Regal. Nora wusch sich als Erste und schlüpfte dann unter die Decke.
Morgen würde Luke ein Bettgestell bauen, aber fürs Erste hatten sie eine Matratze, bestehend aus einem mit Stroh gefüllten Sack, einfach auf den Boden gelegt.
Nora lehnte sich mit dem Rücken an die zusammengerollte Decke, die ihnen als Kopfkissen diente. Im fahlen Licht der Laterne konnte sie beobachten, wie Luke ihr den Rücken zuwandte und die Verbände um ihren Oberkörper löste, die ihre Brüste abbanden. Rasch wusch sie sich und zog sich dann das Nachthemd über den Kopf.
Als Luke sich umdrehte, nahm Nora ihr ledergebundenes Tagebuch auf den Schoß und tat so, als wäre sie in ihren letzten Eintrag vertieft. Sie wollte nicht, dass Luke sich verlegen fühlte.
Das Stroh raschelte, als Luke neben ihr unter die Decke schlüpfte. »Du kannst hinschauen«, sagte Luke leise und deutete auf ihren Körper. »Ich vertraue dir.«
Ein Ansturm von Liebe und Dankbarkeit schnürte Noras Brust zu. Sie griff nach Lukes schwieliger Hand und küsste ihre Finger, dann ihre Lippen.
Mit einem fast lautlosen Stöhnen zog Luke sie auf sich hinab.
Grundgütiger!
Lukes Kuss ließ Nora ihre schmerzenden Muskeln für eine Weile vergessen. Alles, was sie spürte, waren die starken Arme, die sie hielten, und die weichen Lippen auf ihren eigenen.
Schließlich wich Luke schwer atmend zurück. »Du hast mich fast vergessen lassen, dass du noch warten solltest, bevor wir …« Sie biss sich auf die Lippe und sah sich um, als suchte sie nach einer Ablenkung. In ihrem beinahe leeren Schlafzimmer gab es keine und so fiel ihr Blick auf Noras Tagebuch, das noch immer offen auf ihrem Schoß lag. Rasch drehte sie den Kopf und sah woanders hin.
Nora berührte mit den Fingerkuppen Lukes glatte Wange, drehte sanft Lukes Kopf und lächelte sie an. »Du kannst hinschauen.« Sie deutete auf das Tagebuch. »Ich vertraue dir nämlich auch, weißt du?« Damals, als sie in Tess’ Bordell gewohnt hatte, hätte sie beinahe auf eines der anderen Mädchen eingeschlagen, als dieses sich in Noras Zimmer geschlichen und ein paar Seiten aus ihrem Tagebuch gelesen hatte. Doch Luke gegenüber verspürte sie weder Scham noch das Bedürfnis, sich zu schützen.
Sie blickten einander an. Lukes Augen wirkten im fahlen Licht der Laterne, die neben ihnen an einem Pflock hing, wie das reinste Silber.
»Danke«, flüsterte Luke.
Nora küsste sie erneut, aber nur kurz, um keine von ihnen mit unerfülltem Verlangen zu quälen. Sie lag in Lukes Armen und blätterte durch das Tagebuch.
Gemeinsam lachten sie über den Eintrag, in dem Nora beschrieb, wie sie gelernt hatte, Brot zu backen. Leider hatte sie zu viel von dem Backpulver-Ersatz verwendet, den sie am Saleratus Lake gefunden hatten, und am Ende war ihr Brot grün wie Klee gewesen.
Sie blätterte weiter zurück, bis zu dem Tag, an dem sie sich dem Wagenzug angeschlossen hatten, dann noch eine weitere Seite zurück. Moment!
Sie ließ ihren Finger über das Datum gleiten. Hastig zählte sie die Tage seit dem letzten Eintrag.
Seit sie Oregon City verlassen hatten, war sie nicht mehr dazu gekommen, Tagebuch zu führen. Jeden Abend hatte sie etwas über die Ereignisse des Tages schreiben wollen, aber jedes Mal war sie eingeschlafen, bevor sie ihre Stahlfeder in das Tintenfass tauchen konnte.
»Was ist?«, fragte Luke beunruhigt.
»Wenn ich mich nicht irre, ist heute das sechsmonatige Jubiläum unseres Hochzeitstags.«
Luke starrte auf das Tagebuch, dann zu Nora. »Sechs Monate«, flüsterte sie, als könnte sie nicht fassen, wie viel sich seitdem verändert hatte. »Alles Gute zum sechsmonatigen Hochzeitstag, Liebling.«
»Dir auch, mein Herz.«
Sie küssten sich erneut, und Nora wunderte sich, wie es sein konnte, dass sich jeder von Lukes Küssen noch besser anfühlte als der vorherige.
Abrupt wich Luke zurück und beendete den Kuss. »Oh Himmel! Hätte ich dich vorhin über die Türschwelle tragen sollen? Ich meine, dies ist unser erstes richtiges Zuhause, seit wir geheiratet haben. Es tut mir leid, dass ich völlig vergessen habe, dich –«
»Nein«, sagte Nora. »Es wäre sicher romantisch gewesen, aber mir war es lieber, dass wir beide gemeinsam über die Schwelle unseres Hauses getreten sind.«
Luke schien einen Moment lang darüber nachzudenken. Schließlich glättete sich die Falte auf ihrer Stirn. »Du hast recht. Das hat mir auch gefallen.« Sie ließ sich zurück auf die Strohmatratze sinken und fuhr mit den Fingerspitzen über den Tagebucheintrag, der ihren Hochzeitstag beschrieb. »Hättest du
damals, als du zugestimmt hast, einen Fremden zu heiraten, jemals gedacht, dass wir … so enden würden?« Luke deutete auf sie beide und die Decke, die sie sich teilten.
»Im Bett?«, fragte Nora mit einem leisen Lachen. »Ja, ich war fest entschlossen, dass es passieren würde. Denn wenn nicht, hättest du die Ehe nach unserer Ankunft in Oregon annullieren lassen können. Eine Zeit lang habe ich wirklich geglaubt, dass du das vorhättest, zumal du in unserer Hochzeitsnacht nicht mit mir, sondern mit Tess das Bett geteilt hast.«
»Nein, das meinte ich nicht. Ich spreche davon, dass wir uns verliebt haben«, sagte Luke.
Nora schüttelte den Kopf. »Niemals. Ich hätte nicht gedacht, dass ich überhaupt fähig bin, so tief zu lieben. Nicht nach allem, was ich durchgemacht habe.«
»Das hätte ich von mir auch nicht geglaubt.«
Nora legte ihr Tagebuch beiseite, bettete den Kopf auf Lukes Schulter und ließ ihre Hand zwischen Lukes kleinen Brüsten ruhen, um ihren Herzschlag zu spüren. Wie hatte Luke bloß glauben können, dass sie nicht fähig war, zu lieben – und im Gegenzug geliebt zu werden. Luke hatte unglaublich viel Liebe zu geben.
»Und nur damit du es weißt«, fügte Luke leise hinzu, »ich habe in unserer Hochzeitsnacht nicht mit Tess das Bett geteilt. Ich meine … ich, äh, habe in ihrem Bett geschlafen, aber nicht … Du weißt schon. Ich habe sie nur im Arm gehalten.«
Nora hob ihren Kopf von Lukes Schulter und starrte sie an. »Du …? Aber warum? Ich meine, ich hätte es nie erfahren, wenn du ein letztes Mal ihre Gesellschaft genossen hättest.«
Luke blinzelte, als wäre ihr ein solcher Gedanke nie in den Sinn gekommen. »Ich
hätte es gewusst. Ich habe dich an diesem Tag geheiratet, deshalb wollte ich natürlich mein Ehegelübde respektieren und dir treu bleiben, auch wenn ich nicht die Absicht hatte, unsere Ehe je zu vollziehen.«
Himmel, sie hatte wirklich den ehrenhaftesten Menschen der Welt geheiratet. Nora konnte ihr Glück noch immer nicht fassen.
»Ich … ich konnte nur der Versuchung nicht widerstehen, sie ein letztes Mal im Arm zu halten«, fügte Luke in einem noch leiseren Flüsterton hinzu. Mit roten Wangen starrte sie in die Dunkelheit im hinteren Teil des Schlafzimmers. »Tess war meine einzige Freundin, und der Gedanke daran, sie womöglich niemals wiederzusehen, hat mich traurig gemacht. Ich war davon überzeugt, dass es für mich das letzte Mal sein würde, dass ich ihr oder überhaupt irgendeiner Frau nahe sein kann. Ich hätte nicht gedacht, dass ich je wieder einer genug vertrauen würde, um sie so nah an mich heranzulassen. Oder ihr gar mein Geheimnis zu verraten. Ich dachte, es wäre das allerletzte Mal.«
Lukes schmerzerfüllter Tonfall zerriss Nora das Herz. Ihr ganzes Leben lang hatte Luke ihre Mitmenschen auf Abstand gehalten, selbst Tess, und ihre Einsamkeit hinter einer rauen Schale versteckt.
»Es war aber nicht das letzte Mal.« Nora schlang ihren Arm fest um Luke und legte den Kopf auf ihre Brust. »Ganz und gar nicht. Du wirst mich für den Rest unseres Lebens im Arm halten können.«
Luke schlang beide Arme um sie. »Genau das habe ich auch vor.«
Ein Gefühl der Geborgenheit durchströmte Nora. Lukes Herzschlag beruhigte sich unter ihrem Ohr. Das rhythmische Klopfen machte sie schläfrig. Gerade als sie dabei war, einzuschlafen, kam ihr ein Gedanke, und sie richtete sich ruckartig auf.
»Was ist los?« Luke setzte sich ebenfalls auf. »Alles in Ordnung?«
»Oh nein!« Mit zitternden Fingern griff Nora nach dem Tagebuch, schlug den letzten Eintrag auf und zählte noch einmal die Tage, die seither vergangen waren. Ja, sie hatte recht gehabt.
Heute war der 30. Oktober. »Amy hat morgen Geburtstag und wir haben kein Geschenk für sie!«
Einen Moment lang saß auch Luke da wie versteinert. Dann schlug sie die Decke zurück und marschierte zur Ecke, wo sie den Rest des Leders abgelegt hatte, aus dem sie die Türscharniere gemacht hatte. Sie nahm ihr Messer zur Hand und begann, an einem Stück Leder herumzuwerkeln.
Schnell gesellte sich Nora mit der Laterne zu ihr, damit Luke genug Licht hatte.
Es dauerte nicht lange, bis Luke das Messer wegsteckte und mit einem stolzen Grinsen ein seltsames Gebilde aus Lederriemen in die Höhe hielt.
»Ähm, was ist das?«
»Steigbügel!« Luke schob zwei Finger durch die Schlaufen an den unteren Enden der beiden Lederriemen. Sie sahen aus, als würden Amys kleine Füße genau hineinpassen. »Amys Beine sind zu kurz für meine Steigbügel, aber wenn ich das hier am Sattelhorn befestige, hat sie eigene Steigbügel. Was hältst du davon?«
Die Kindersteigbügel verschwammen vor Noras Augen, als ihr die Tränen kamen. Sie schlang beide Arme um Luke. »Sie wird sich sehr freuen. Danke, danke, danke.« Mit jedem Wort drückte sie Luke einen Kuss auf die Lippen.
Lachend erwiderte Luke jeden Kuss. »Gern geschehen. Ich konnte doch nicht zulassen, dass unsere Tochter kein Geschenk zu ihrem Geburtstag bekommt.« Dann verstummte sie schlagartig.
Auch Nora erstarrte. Es war das erste Mal, dass Luke Amy oder Nattie als unsere Tochter
bezeichnet hatte. Na ja, ein paarmal hatte sie es vielleicht schon gesagt, aber nur, wenn Jacob oder jemand anderes vom Wagenzug dabei war und sie den Schein wahren mussten. Aber jetzt waren sie allein, und niemand sonst konnte hören, was Luke sagte. Luke tat nicht
nur so, als wäre Amy ihre gemeinsame Tochter. Sie empfand es tatsächlich so – und Nora erging es genauso.
Luke presste sich die Faust auf den Mund. »Äh. Ich meine, ähm …«
»Unsere Tochter«, sagte Nora, bevor Luke sich korrigieren konnte. »Genau das ist sie. Nattie auch, und das ist das beste Geburtstagsgeschenk, das du den Mädchen je machen kannst.«
Diesmal war es Luke, der Tränen in die Augen traten. Rasch fuhr sie sich mit dem Ärmel über das Gesicht. »Ich weiß nicht so recht.« Sie lachte, aber ihre Stimme bebte vor Rührung. »Ich habe das Gefühl, dass Amy lieber ein Pferd geschenkt bekäme.«
Nora schüttelte entschieden den Kopf. »Du bist tausendmal besser als ein Pferd.«
»Vor sechs Monaten hätte ich gesagt, dass es nichts Besseres als ein gutes Pferd gibt, aber jetzt habe ich dich.« Luke schluckte. »Dich und unsere Töchter.«
Im Licht der Laterne schaute Luke sie mit so viel Zärtlichkeit und Liebe an, dass Nora die Knie weich wurden. Sie nahm Lukes Hand und zog sie zurück auf die Strohmatratze und unter die Decke.
Zwar mochte Tess diejenige gewesen sein, mit der Luke ihre Hochzeitsnacht verbracht hatte, aber jetzt war Nora die Glückliche, die Luke in den Armen halten durfte – heute Nacht und für den Rest ihres Lebens.
# # #
Wenn Ihnen diese Kurzgeschichte gefallen hat, könnten Sie auch die anderen Bücher aus Jaes beliebter Oregon-Reihe interessieren. In Band 1 von Westwärts ins Glück
nimmt Nora den Heiratsantrag eines Fremden an, um ihrem Leben als Prostituierte zu entfliehen und ihrer kleinen Tochter einen Neuanfang im fernen Oregon zu ermöglichen. Sie ahnt nicht,
dass ihr Angetrauter eine Frau ist, die als Mann lebt, und dass sie auf der langen Reise nicht nur ihr Leben, sondern auch ihr Herz verlieren könnte.