Seday Academy, nächster Mittag
Als Cey nach dem Aufwachen und einer ausgedehnten Dusche Lee in seinem Behandlungsraum aufsuchte, fühlte sie sich bereits wieder wesentlich fitter.
»Mindestens noch achtundvierzig Stunden schonen«, ordnete der Seday-Arzt dennoch streng an, nachdem er ausgiebig ihre Werte studiert hatte. »Du kannst deinen Seday-Unterricht besuchen und meinetwegen auch eine Runde durch den Wald joggen oder wieder dein mentales Training erteilen. Aber alles nur mit halber Kraft, verstanden? Sonst kann sich dein Körper nicht wieder vollständig regenerieren und du riskierst unter anderem einen mentalen Aussetzer.«
Sich mit Zachriel anzulegen, während sich ihr Verstand gerade verabschiedete, war keine besonders angenehme Vorstellung, also brummte Cey eine widerwillige Bestätigung.
Zusammen gingen sie zum Gemeinschaftsraum. Xyen und Nathan saßen bereits auf ihren Plätzen und das Frühstück war auch schon angerichtet. Es gab belegte Brötchen, diverses Obst und süße Croissants, in den Tassen dampften Tee und Kaffee, und für jeden stand ein großes Glas mit Lees obligatorischem Gesundheitsshake bereit.
Ceys Blick heftete sich jedoch automatisch auf den großen Fernseher, der an der Wand hing und auf dem für gewöhnlich mit abgeschaltetem Ton Nachrichten liefen. Nun war dort eine Landkarte zu sehen mit einem Kreis, dessen Mittelpunkt das Cheyenne Mountain Operation Center bildete.
Sahim hatte diese Karte bereits am Vortag auf dem Rückweg erstellt. Ausgehend von der Zeit, als sie die SMS versandt hatte bis hin zu Zachriels Aufkreuzen, musste er sich irgendwo innerhalb dieses Radius aufgehalten haben. Wo genau sich sein Versteck befand, war damit natürlich noch lange nicht geklärt, er konnte ja auch aus einem völlig anderen Grund in der Gegend gewesen sein oder hatte seinen Unterschlupf schon längst wieder gewechselt. Trotz dieser offenen Fragen war die Kreisfläche in Segmente unterteilt und unterschiedlich schraffiert. Wächter, Dämonen, Seday und die menschliche Polizei würden jeden Stein umdrehen, um mögliche Spuren zu finden. Spuren, die ein Mann wie Zachriel leider nur zu exzellent zu vernichten vermochte …
»Cey, ich verhungere!« Nathan schob mit dem Fuß auffordernd ihren Stuhl zurück und machte ein übertrieben flehentliches Gesicht. Erst jetzt fiel Cey auf, dass sich Lee längst gesetzt hatte, während sie wohl mindestens eine geschlagene Minute auf den Fernseher gestarrt hatte.
»Sorry.« Sie glitt auf ihren Stuhl und nippte an ihrem Gesundheitsshake, in Gedanken immer noch sehr weit weg. Weil Nathan neben ihr jedoch ungeachtet seines vorherigen Gemaules keineswegs zu essen anfing, sondern stattdessen stärker und stärker herumhampelte, drängte sie all ihre Sorgen und Überlegungen für den Moment zurück. »Was ist?«
»Hm, Xyen hat mir gestern verboten, euch noch auszufragen, aber vielleicht erzählst du uns jetzt von Anakim und Bethor? Und diesem Zirkus?«
Mit hartem Blick sah Cey in die Runde. »Der Direktor und die Zuschauer haben es verdient, so zu enden, wie es geschehen ist!«
»Ich habe den entsprechenden Polizeibericht gelesen.« Xyen trank einen Schluck Kaffee und fuhr bedächtig fort: »Anakim und Bethor hätten die zuständigen Behörden über die entführten Artisten informieren können.«
Cey schnaubte lediglich.
»Oder sie hätten Nikara und der dann uns informieren können.«
Jetzt schwieg Cey lieber und Xyen seufzte leise.
»Ich kannte Lochlan.« Nathan zerkrümelte nachdenklich ein Stück seines Croissants auf dem Teller. »Er war noch nie besonders nett.«
»Es war schlimmer als nicht besonders nett, richtig?«, brummte Lee und griff damit jene Formulierung auf, die Cey selbst benutzt hatte, als Lee und sie in ihrem Zimmer die Meldung zum zerfleischten Zirkusdirektor auf ihrem Fernseher gesehen hatten.
»Ja.« Trotzig schob Cey die Unterlippe vor. »Und ich werde Anakim und Bethor nicht für ihr Handeln anklagen! Aber wenn sie erneut derart eigenmächtig handeln, werden sie zu Keon in euer Bootcamp einziehen. Können wir das Thema jetzt beenden?«
»Fürs Erste«, schränkte Xyen ein, während Nathan gleichzeitig »Sicher« sagte. Er grinste schief. »Sprechen wir doch stattdessen über Thorn. Was genau hat er gemacht, Cey? Tat es …« Nathan zögerte kurz. »Tat es weh?«
»Nein. Ich schätze, seine Fähigkeit ähnelt in gewisser Weise der von Kjell.«
Xyen hatte diesen bemerkenswerten Seday vor einigen Tagen aufgesucht. Er war ein Gedankenleser und Bewusstseinssperren stellten für ihn nur ein beschränktes Hindernis dar. Offenbar war es so, dass die innere Welt einer Person immer in abgewandelter Form auf den äußersten Part ihres Selbst projiziert wurde, weswegen es für manche Wesen keinerlei Rolle spielte, wie mächtig eine mentale Abwehr war. Denn diese konnte genauso gut als Ausgangspunkt für mentale Spielchen genutzt werden wie ein vollkommen ungeschützter Geist.
»Dieser Scheiß nervt«, verkündete Cey laut und Lee, Xyen und Nathan gaben ihr vollkommen recht.
»Thorn hat EvolutionGenius umgebracht, oder?«, hakte Nathan nach.
»Ich nehme es an.« Dass Thorns Gabe bei Menschen ebenfalls funktionierte, fand Cey nicht mehr ganz so bemerkenswert. Viele J’ajal-Fähigkeiten beschränkten sich zwar ausschließlich auf Angehörige ihrer eigenen Spezies, aber sie selbst konnte ja zum Beispiel durchaus menschliche Präsenzen wahrnehmen. Und Xyen konnte menschliche Gefühle beeinflussen, wenngleich weitaus weniger stark als bei J’ajal.
»Bei EvolutionGenius war es aber etwas anderes als bei dir, Resic, Okadias und Sablo, nicht wahr?«
»Ja.« Der furchtbarste Albtraum versus der tollste Traum … Was davon wirklich schlimmer war, war schwer zu sagen. Ein Grauen, dem man unbedingt entrinnen wollte, oder eine Illusion, die dermaßen süchtig machen konnte, dass man alles aufgab, um zu bleiben.
»Du hast dich befreit, aber es hat eine Weile gedauert«, äußerte Nathan nachdenklich und Cey stellte mit einem Knall ihr Glas zurück auf den Tisch. Wollte er etwa andeuten …?
»Nathan«, sagte Xyen scharf und der zuckte zusammen. Sein Blick suchte irritiert den ihren, doch Cey schaffte es nicht, ihm länger als eine einzelne Sekunde in die Augen zu sehen. Was hätte alles anders laufen können, wenn sie Thorns Verlockung schneller erkannt, sich schneller daraus gelöst hätte?
»Nein, verdammt, so hab ich das doch nicht gemeint! Cey!« Nathans Tonfall schwankte zwischen Reue und Entrüstung. »Das war kein Vorwurf. Du bist die Einzige, die sich überhaupt jemals hat befreien können, das hat Thorn selbst gesagt. Bitte, glaub mir. Ich wollte dich nicht verletzen.«
Zeitgleich zu seinen Worten zog Nathan sie auf seinen Schoß und seine Finger strichen sanft über ihr Gesicht.
»Schon gut, ich glaube dir«, murmelte Cey. Sie war wirklich zu empfindlich, was all diese beschissenen Ereignisse anging. Sie holte einmal tief Luft und sah wieder auf. »Tut mir leid. Worauf wolltest du hinaus?«
Nathan blickte unschlüssig zu Xyen und Lee und dann wieder zu ihr. »Ich wollte wissen, was genau das für eine mentale Kreation war, die Thorn für dich erschaffen hat. Aber du musst nicht antworten.«
Cey zupfte verlegen am Saum von Nathans Shirt herum. Es stand für sie außer Frage, ihren Freunden alles zu Thorn zu erzählen, was sie wusste. Schließlich war es sehr gut möglich, dass sie ebenfalls mal von ihm angegriffen wurden. Dann allerdings mit einem auf sie persönlich zugeschnittenen Traum. Dieses Detail mussten sie also keineswegs wissen. Cey hatte Resic nicht danach gefragt, was er erlebt hatte, und er sie ebenfalls nicht. Aber ihre Beziehung war ja auch vollkommen anders als das, was sie mit Lee, Nathan und Xyen verband.
»Es war mein Geburtstag«, sagte Cey mit fester Stimme und ohne noch einen Hauch verlegen zu sein. »Ich habe ihn noch nie gefeiert. Ich meine, ich weiß den Tag ja gar nicht. Jisuho hat mir ein paarmal eine Feier angeboten, aber irgendwie wollte ich das auch nicht. Unbewusst hätte ich es aber wohl doch sehr schön gefunden. Es war schön! Und das war Thorns Fehler – er hat es zu perfekt gemacht.«
»Verstehe.« Nathan zog sie noch ein Stückchen enger an sich, schwieg kurz und wandte sich dann an Xyen und Lee. »Verraten wir ihr, was jeder im Team schon seit Wochen fett im Kalender markiert hat?«
»Den fünfundzwanzigsten Juli«, erwiderte Xyen ruhig, während Cey verwirrt von einem zum anderen sah. »Wir werden es ausprobieren. Jahr für Jahr wieder, bis wir eine Variante gefunden haben, die für dich passt.«
»Was ausprobieren? Etwa eine … eine Geburtstagsparty?« Mit klopfendem Herzen schielte Cey zu ihrem Mentor und sie wusste wirklich nicht, was sie von der Idee halten sollte. Würde sie sich freuen? Oder wäre ihr eher zum Heulen zumute, weil sie Jisuhos Angebot stets ausgeschlagen hatte und niemals mit ihm zusammen feiern würde?
»Am fünfundzwanzigsten Juli haben wir uns zum ersten Mal getroffen. In Esth Heaven«, erklärte Nathan gedehnt. »Und Jay hat bereits darum gebeten, dass es keinen atemberaubenden Sprung von einer Brücke geben soll. Schade, oder?«
Cey fiel immer noch nichts ein, was sie hätte sagen können. Ihr gesamtes Dasein war stets außergewöhnlich gewesen und von Sekunde zu Sekunde wurde es nur noch gefährlicher und bizarrer. Aber auch irgendwie normaler. Wenn das nicht der seltsamste Widerspruch schlechthin ist …
Ein doppeltes Piepsen gefolgt von einem einfachen riss Cey aus ihren Gedanken. Hastig zog sie ihr Smartphone aus der Tasche. Das Display leuchtete lila auf und nun beeilte sie sich noch mehr, sich auf jener Webseite einzuloggen, die sie mit ihren Brüdern teilte. Cey las den ersten Satz, bevor eine bodenlose Angst in ihr aufwallte, die es ihr unmöglich machte weiterzulesen.
»Cey, was ist das für eine Nachricht?« Xyen blickte sie besorgt an und sein Geist umschloss ihr Bewusstsein, um sie zu beruhigen.
»Das … es ist …« Erst im dritten Anlauf gelang Cey eine vernünftige Antwort. »Zane hat geschrieben. Er sagt, er würde mal das wiederholen, was Kaiden ihm erklärt hat.« Und sie traute sich nicht, es sich anzusehen. Wenn die Verletzungen des Grafen nun noch verheerender waren als ursprünglich gedacht? In den letzten Stunden hatte sie es nicht ein einziges Mal gewagt, intensiver an ihren Bruder zu denken, um nicht vor Furcht durchzudrehen. So wie jetzt.
»Gib mir das Handy.« Fordernd streckte Lee die Hand aus. Er würde Kaidens medizinisches Kauderwelsch tatsächlich am besten verstehen. Aber was, wenn es da gar nichts groß zu verstehen gab? Wenn klar war –
»So wird es nur schlimmer, Cey!« Xyen blickte sie mahnend an und bedeutete ihr, Lee das Smartphone zu reichen. Sie gehorchte, nachdem sie mit zitternden Fingern einen Befehl eingetippt hatte, der den Text von jener Sprache, die nur die Ihrigen verstanden, in Englisch verwandelte.
»Wenn es schlechte Nachrichten sind, will ich sie gar nicht wissen!«, verlangte Cey mit belegter Stimme. Eine total bescheuerte Vorgabe, denn wenn Lee schwieg, würde das ja ebenfalls alles sagen.
»Dein Bruder lebt«, verkündete Lee, kaum, dass er die Zeilen überflogen hatte. »Sein Zustand ist immer noch sehr ernst und es kann noch dauern, bis er wieder bei Bewusstsein ist. Aber er wird wieder gesund werden. Kaiden konnte den Pfeil in einer aufwendigen Operation entfernen. Aufgrund der Art der Lungenverletzung wird vermutlich eine weitere OP nötig sein, das steht derzeit noch nicht fest. Auf jeden Fall ist der Graf im St. Christopher Medical Center in West Whiard derzeit gut untergebracht und Kaiden, Zane und Ten passen gemeinsam mit einem halben Dutzend vertrauenswürdiger menschlicher Mediziner auf ihn auf. Wenn es ihm soweit besser geht, dass er entlassen werden kann, werden sie ihn in unser Anwesen in West Whiard oder in die Kaserne bringen. Sollte es ihm dann wieder schlechter gehen, können sie ihn sofort wieder zurückverlegen. Sie haben für alle Fälle vorgesorgt.«
Er lebt … Cey fühlte sich, als würde ihr eine zentnerschwere Last von den Schultern genommen. Er lebt und wird wieder gesund! Das war alles, was zählte.
»Danke.« Sie nahm ihr Handy wieder an sich. Um endlich etwas zu essen war ihr trotz ihrer immensen Erleichterung noch viel zu flau im Magen, aber sie leerte den Rest ihres Gesundheitsshakes. »Ich brauche ein bisschen Bewegung«, sagte sie und stand auf.
»In Ordnung.« Xyen lächelte sie liebevoll an. »Wir sehen uns dann später. Was deinen Seday-Unterricht betrifft-«
Cey presste sich die Hände auf die Ohren. »Egal, was du sagen willst, verschiebe das bitte ebenfalls auf später!«
Nathan lachte. »Irgendwann später möchte ich aber auch eine Runde mit dir zocken, Cey.« Er deutete auf den Bildschirm in der Ecke. »Wir haben schließlich immer noch nicht ausgetestet, wie sich Kierans Swords mit Wurfsternen spielt.«
Jetzt musste auch Cey lachen. »Spielt sich genau wie die alte Version: Du wirst heillos unterliegen.«
»Hey! Bislang war es nahezu ausgeglichen.« Während Nathan sich noch vollkommen empört gab, schlüpfte Cey bereits grinsend nach draußen. Four war ihr Schatten und begleitete sie durch die Gänge der Academy. Eigentlich hatte sie ja an die frische Luft gewollt, aber gerade als sie den letzten Treppenabsatz erreichte, trat ihr jemand in den Weg. Ihr Politik-Lehrer Rayen.
»Cey, wohin läufst du denn? So lange warst du doch nicht weg, um vollkommen die Orientierung zu verlieren! Da geht es lang! Auf jetzt, deine Prüfung beginnt gleich.«
»Welche Prüfung?«, hakte sie verdutzt nach.
»Sehr witzig! Du hast deine Mails jawohl gelesen.« Rayen machte eine scheuchende Handbewegung und Cey blickte hilflos zu Four.
»Ich habe deine Academy-Mails sicherlich nicht gelesen«, erwiderte dieser lautlos, teils belustigt, teils ernst. »Und du weißt, du musst nicht teilnehmen. Ich kann jederzeit eine Entschuldigung für dich aussprechen, die Xyen bestätigen wird. Dann kannst du die Prüfung zu einem späteren Zeitpunkt nachholen.«
Gar keine Prüfung abzulegen, stand demnach aber offenbar nicht zur Debatte. Cey verzog das Gesicht. »Rayen, willst du nicht einfach ein Durchgefallen notieren und die Sache hat sich erledigt?«
Als Antwort erhielt sie einen mehr als kritischen Blick. »So leichtfertig würdest du deinen Abschluss verschenken?« Und statt diese Aussage genauer zu erklären, zeigte er erneut in Richtung der Klassenräume. »Jetzt komm schon.«
Warum Cey letztendlich mit Rayen mittrabte, wusste sie selbst nicht. Vielleicht, weil sie keine Lust auf einen Streit mit ihm hatte. Das Zimmer, das sie betraten, war leer, keine Ahnung, wo ihre Mitschüler gerade steckten.
»Freie Platzwahl.« Rayen deutete auf die Tische mit ihren integrierten Terminaldisplays und Cey nahm seufzend genau in der Mitte Platz, während Four an die rückwärtige Wand huschte.
»Du hast genau eine Stunde Zeit, um eine Wahlrede vorzubereiten. Du möchtest die neue Bürgermeisterin von Fallton werden, aber deine Konkurrenz ist stark. Jane Doe hat bereits viele Stimmen einheimsen können, weil sie versprochen hat, sich für strengere Strafen für alle Gesetzesbrecher auszusprechen. Zudem wird sie das Budget des Police Departments aufstocken, um insbesondere in Problemvierteln die Polizeipräsenz drastisch zu erhöhen. John Doe setzt sich hingegen für eine verbesserte Wirtschaftsinfrastruktur sowie mehr Schulen, Arbeits- und Ausbildungsplätze ein.«
Rayen tippte auf dem Terminal an seinem Lehrertisch herum und auf Ceys Display erschienen Steckbriefe und Ergebnisse einer fiktiven Wahlumfrage. Er reichte ihr noch einen Block und einen Stift. »Viel Erfolg! Die Zeit läuft.«
Die ersten zehn Minuten tat Cey nichts, außer die bereitgestellten Informationen zu lesen und auf ihrem Stift herumzukauen. Über dreißig Prozent aller Wähler waren angeblich vollauf von einer absoluten Überwachungsstadt überzeugt.
In einem der von Jane Doe als Problemviertel betitelten Stadtteile, dem Vergnügungsviertel im Norden, befand sich die Table Dance Bar von Vala, einer menschlichen Freundin von Cey. Natürlich ging es in dem Gebiet mal heiß her, aber so unsittlich und gewalttätig wie diese erfundene Jane Doe das beschrieb, war es keinesfalls. Cey hatte eher das Gefühl, es sollte prinzipiell alles verboten werden, was auch nur den Hauch von Gefahr oder Spaß versprach.
Und John Doe redete offenbar gerne über eine schillernde Zukunft, ohne im Mindesten zu erklären, wie diese gerecht über die verschiedenen sozialen Schichten hinweg realisiert und finanziert werden sollte. Fast die Hälfte der Wähler konnte er dennoch überzeugen. Und womit sollte sie selbst überzeugen?
Cey seufzte einmal mehr. Sie war keine Politikerin und würde auch nie eine sein. Sollte sie also genau das schreiben?
Meine lieben Bürgerinnen und Bürger,
wählt mich bitte nicht!
Cey setzte den Stift ab und starrte zu Rayen, der an seinem Tisch saß und konzentriert irgendwelche Texte über das Terminal bearbeitete. In einer ihrer Stunden hatte Rayen Vorschläge von ihr für ein neues nordkoreanisches Oberhaupt verlangt. Cey hatte zunächst niemanden benennen wollen, weil sie sich analog wie jetzt für zu unfähig hielt, in diesem heuchlerischen politischen Machtgebaren mitzumischen. Rayen hatte das jedoch nicht gelten lassen und erklärt, sie müsse sich entscheiden. Möglicherweise würde die Entscheidung falsch sein, doch ohne Entscheidung würde auf jeden Fall ein noch desaströserer Politiker an die Spitze gelangen.
Natürlich war das Ganze nur ein Gedankenexperiment gewesen, aber ihre bislang notierte Antwort würde Rayen gewiss genauso wenig akzeptieren wie ihr Verhalten während der Korea-Diskussion. Und hatten die Menschen von Fallton nicht mehr verdient als das, was Jane und John durchsetzen wollten?
Cey strich den letzten Satz durch, bis man ihn nicht mehr lesen konnte, dann begann sie erneut.
Meine lieben Bürgerinnen und Bürger,
wählt mich bitte nicht!
Ich bin mir sicher, ohne Ihre Mithilfe werde ich definitiv die Falsche für dieses Amt sein! Ich kann Ihnen nicht alles versprechen, was Sie gerne hören möchten, aber ich kann Ihnen versprechen, dass ich Sie niemals anlügen werde. Ich wäre die ungewöhnlichste Bürgermeisterin, die es je gegeben hat. Politische Ränkespielchen und Intrigen interessieren mich nicht. Was mich interessiert sind Sie – und diese Stadt!
Ich bin durch zahllose Kontinente gereist, habe an so vielen unterschiedlichen Orten gewohnt. Manchmal für Monate, manchmal nur für einige Tage. Ich habe mich nirgendwo zuhause gefühlt, nirgends fand ich das, was wirklich von Bedeutung ist. Und das sind nicht Straßen oder Mauersteine, keine Bar oder irgendein vernageltes Fabriktor. Wir alle sind es! Wir bestimmen darüber, ob eine Stadt nur eine Stadt ist oder weit mehr.
Jeder von uns wünscht sich Verbesserungen und jeder von uns hat andere Vorstellungen, welche genau das sein könnten. Die Frage ist – können wir einander zuhören und Kompromisse finden? Können wir gemeinsam für unsere Heimat, für unser Zuhause kämpfen?
Als Bürgermeisterin würde ich ein Expertengremium berufen, mit Vertretern für nur jeden erdenklichen Bereich. Wirtschaft, Finanzen, Familie, Umwelt. Meine Aufgabe sehe ich nicht darin, einer dieser Experten zu sein, sondern für Toleranz und Fairness am Runden Tisch zu sorgen. Glauben Sie mir, ich habe Erfahrung darin, gegen jene Egoisten vorzugehen, die nur ihr eigenes Wohl im Sinn haben!
Ich liebe diese Stadt und bin bereit mein Bestes zu geben! Was ist mit Ihnen? Sind Sie bereit, Ihr Bestes zu geben? Sind Sie bereit, mich zu unterstützen?
Cey schrieb und schrieb und war völlig erstaunt, als Rayen irgendwann neben ihrem Platz auftauchte und sie bat, den Stift wegzulegen. »Die Zeit ist um.« Zufrieden beäugte der Lehrer die gefüllten Blätter. »Das sieht doch schon mal sehr gut aus«, lobte er. »Ich habe schon befürchtet, du schreibst lediglich etwas wie Wählt mich bitte nicht!«
Cey starrte das oberste Blatt an, aber nein, man konnte ihren ersten Versuch wirklich nicht mehr lesen. Als sie wieder aufsah, schien Rayen Mühe zu haben, sich ein Schmunzeln zu verkneifen. Warum konnten ihre Seday-Lehrer sie nur so verdammt gut einschätzen? An sämtlichen früheren Schulen hatte sie nie derlei Probleme gehabt und selbst nach fast einem Jahr an der Academy war das für Cey immer noch gewöhnungsbedürftig.
Sie stand energisch auf. »Viel Spaß beim Bewerten.«
»Oh, ich werde das keineswegs bewerten! Zidaz wird deine Rede und die deiner Mitschüler ausgewählten Bewohnern von Fallton zeigen. Ich bin schon sehr gespannt auf die entsprechenden Rückmeldungen.«
Was ist das nur wieder für eine seltsame Prüfung? »Hat der Direktor nichts anderes zu tun?«, rutschte es Cey heraus.
Rayen lachte. »Keine Sorge, er freut sich schon seit Wochen darauf. Deswegen nimmt er die Auswertung ja auch höchstpersönlich vor.«
Wie beruhigend … Cey verabschiedete sich hastig, bevor ihr noch eine sehr drastische Bemerkung über die Verrücktheit der Seday entschlüpfen konnte. Vor der Tür wandte sie sich an Four. »Kein Unterricht mehr heute.« Eine weitere Überraschung ihrer Lehrer, weil sie ihre Mails nicht gelesen hatte, vertrug sie echt nicht.
Four nickte. »Okay, ich gebe es weiter.« Er zückte sein Handy und tippte eine knappe Nachricht ein. Und dann, endlich, konnte Cey an die frische Luft.