Kapitel 8

Cey verließ das Academy-Gelände und hielt zielstrebig auf den See mit dem kleinen Wasserfall zu, der ihr Lieblingsplatz in diesen Wäldern war. Four folgte ihr getreulich und Nine hatte sich ihnen ebenfalls angeschlossen, die beiden ließen sie jedoch zum Glück in Ruhe.

Am Ufer angekommen setzte sich Cey auf einen Stein – neben Sahim, der offenbar schon eine ganze Weile dort hockte und finster aufs Wasser starrte. Echo lehnte in einigen Metern Entfernung an einem Baum und lächelte ihr kurz zu, bevor er seine Aufmerksamkeit wieder auf die Umgebung richtete.

»Wie geht’s Nikara?«, erkundigte Cey sich und schmiegte sich an ihren Bruder. Er legte mit einem leisen Seufzen einen Arm um sie.

»Besser. Aber als Lee heute Morgen bei uns vorbeigesehen hat, meinte er, Nikara sollte lieber noch einen Tag im Hotel bleiben. Was für ihn auch okay war, er wollte einige Dinge am Computer überprüfen. Delta ist bei ihm.«

Kurz sah Cey in Sahims Bewusstsein die Erinnerung aufblitzen, wie Nikara und Delta sich über einen Laster unterhielten, der angeblich in der Nähe von Cheyenne Mountain gesichtet worden war. Ein Laster voll mit bezaubernden blau-weißen Akelei-Blüten … Ausgerechnet Blumen! Ob die irgendetwas mit Zachriel oder seinen Verlorenen zu tun haben?

Cey zog sich aus dem Bewusstsein ihres Bruders zurück, als weitere Bilder aufblitzten, die allesamt ein und dieselbe Person zeigten. Zoe, eine junge Frau mit weinrot lackierten Fingernägeln und braunen schulterlangen Haaren, von denen einige Strähnen modisch platinblond gefärbt waren. Meist trug sie die Haare zu zwei straffen Boxer Braids geflochten, sodass man die Musiknoten erkennen konnte, die unter und hinter ihr linkes Ohr tätowiert waren. Immer hatte sie ein keckes, selbstbewusstes Lächeln auf den Lippen und die dunkelblaue Kellnerinnenuniform stand ihr ausgesprochen gut.

»Sie ist stark!«, erinnerte Cey ihren Bruder und sich selbst. Ihre Gedanken wanderten zu ihrem Sohn. »Meinst du …«, fragte sie stockend. »Meinst du, er hat sich um Tesfayes Verletzung gekümmert?«

»Er hat viel zu viel in ihn investiert, um Tesfaye einfach verbluten zu lassen.« Sanft legte Sahim seine Hand auf ihre. Kurz herrschte Stille, dann verkündete ihr Bruder betont munter: »Ich habe mit Nyim telefoniert. Und soll dich lieb grüßen! Gestern durften er und Surani ganz allein ein Gebäude sprengen und er ist wahnsinnig stolz darauf, wie toll das geklappt hat.«

»Zane bekommt also Konkurrenz.« Cey musste grinsen. Nach Zachriels Angriff auf die Dämonen-Wächter-Schule hatten sie sämtliche Kinder von dort evakuiert. Kein Ort der Welt schien momentan sicher genug für sie zu sein und eine Zeit lang hatten sie die Kids deshalb ständig ihre Position verändern lassen. Das war jedoch äußerst zermürbend und für junge Wesen, die sich selbst und ihre besonderen Fähigkeiten nur teilweise unter Kontrolle hatten, stellte nun mal nicht nur Zachriel eine Gefahr dar. Sondern im Prinzip jeder Mensch und jeder J’ajal.

So war die Entscheidung letztendlich auf die Dämonenhochburg in der Nähe von Miami gefallen. Diese war als militärisches Sperrgebiet getarnt und nicht nur der mit Stacheldraht bewehrte Metallzaun und die zahllosen Minenfelder hielten jeden noch so neugierigen Besucher fern. Sondern vor allem die mentalen Suggestionen, die jedem unautorisierten Eindringling in den Verstand gewoben wurden, sorgten dafür, dass niemand in den Kern des Gebiets vorstoßen konnte.

Menschen und gewöhnliche J’ajal wurden wahnsinnig und starben, lange bevor sie zu einer ernsthaften Bedrohung werden konnten. Selbst für Cey und ihresgleichen war es anstrengend sich dort zu bewegen.

Die dämonischen Einflüsterungen betrafen natürlich nicht ihre Kids, außer mal in abgeschwächter Form zu Trainingszwecken. Surani, Nyim und all die anderen konnten auf dem Gelände ausgelassen spielen und toben, unter den wachsamen Augen jener Geschöpfe, welche die Dunkelheit zur Genüge kannten und sich dennoch sofort für jedes Wächter- und Dämonenkind zerreißen lassen würden.

Voller Liebe dachte Cey noch eine Weile an Nyim. Sie hoffte so sehr, ihn bald wieder in die Arme schließen zu können! »Was glaubst du, was Xyen, Nathan oder Jay als Kinder gespielt haben?«, rätselte sie laut. »Haben sie auch Häuser in die Luft gesprengt?«

Sahim schnaubte. »Klar. Vor allem Xyen und Jay! Die haben doch vermutlich schon als Babys Gesetzestexte gewälzt.«

»Da habe ich anderes gehört«, murmelte Echo im Hintergrund, aber als Cey sich neugierig zu ihm umwandte, starrte er bereits wieder zwischen die Bäume. Vielleicht hätte sie ihn explizit nach seiner Andeutung gefragt, wenn in diesem Moment nicht Sahims Handy geklingelt hätte.

»Ja?«, meldete er sich knapp. Cey vernahm Nikaras Stimme, allerdings konnte sie nicht alles verstehen, was ihr Freund zu sagen hatte. Sahims Augen wurden groß und größer. Um ihn nicht abzulenken, verzichtete sie jedoch darauf sich wieder stärker mit seinem Bewusstsein zu verbinden. Ihr Bruder würde ihr ohnehin gleich verraten, was los war. Und das tat er dann auch.

»Einer der Suchalgorithmen, die wir zusammen mit Nathan und einigen anderen verfasst haben, hat Nikara ein ungewöhnliches Vorkommnis gemeldet. Es betrifft ADX Florence.«

»ADX Florence?« Cey kramte rasch in ihrem Gedächtnis, warum ihr der Name vertraut vorkam. Handelte es sich dabei nicht um ein Bundesgefängnis, das den Super Maximum Security-Standard erfüllte und somit als eine der sichersten Haftanstalten der Welt galt?

»Jep«, bestätigte Sahim, der ihren Gedanken gefolgt war. »Und es liegt in Colorado! Deutlich innerhalb des Radius um Cheyenne Mountain, den wir gezogen haben.«

»Was genau ist dort passiert?« Ceys Anspannung wurde so groß, dass sie es nicht mehr auf dem Stein aushielt und aufsprang.

»Bis jetzt nichts weiter als zwei recht clevere, aber dennoch gescheiterte Schmuggelversuche und eine ebenfalls gescheiterte Bestechung innerhalb relativ kurzer Zeit. Offenbar hegt jemand großes Interesse an einigen der derzeitigen Insassen und möchte diese befreien.«

Zachriel oder irgendwelche Bandenmitglieder beziehungsweise Familienangehörige …? Cey rieb sich über die Stirn. Das Problem war, es passierten jeden Tag so viele kriminelle Verbrechen und natürlich stand nicht jedes davon mit ihren Feinden in Verbindung. Sie brauchten unbedingt noch weitere Informationen.

»Nikara und Delta sind schon dabei.«

Abwesend nickte Cey, davon war sie bereits ausgegangen. Sollte tatsächlich jemand Waffen oder Ähnliches unbemerkt an den Wärtern vorbei in die Zellen bringen wollen, gab es allerdings Experten, die vielleicht etwas von der Angelegenheit gehört hatten und die sie unbedingt ebenfalls befragen sollten.

»Resic. Und seine Hayran«, kommentierte Sahim ausdruckslos.

»Wage es nicht, mich noch einmal um Hilfe zu bitten!«, wiederholte Cey seufzend die letzten Worte, die der Wächter ihr an den Kopf geknallt hatte.

Jetzt feixte Sahim. »Machst du ja auch nicht, Schwesterlein! Ich werde ihn um Hilfe bitten. Und die wird er uns gewähren, versprochen!« Er stand auf und streckte als Abschiedsgruß Zeigefinger und Mittelfinger in die Luft. »Adios! Ich sag dir Bescheid, was sich aus der Sache noch ergibt. Check du doch so lange mal deine Academy-Mails.«

Cey streckte ihrem vorlauten Bruder die Zunge heraus und der verschwand nach einem letzten Augenzwinkern mit Echo von der Lichtung.

Langsam machte sich auch Cey gefolgt von Four und Nine auf den Rückweg. Hausaufgabenaufträge oder die Ankündigung weiterer Prüfungen würde sie sich garantiert nicht ansehen, aber sie wollte sich gerne vergewissern, dass es demjenigen gutging, den Zachriel namentlich während seiner kleinen Ansprache erwähnt hatte – Veyron alias Ryan, der für sie inzwischen klar zur Familie zählte.

Weil sie sich Zeit ließ, bis sie wieder in der Academy war, traf sie genau ein, als die Kantine ihre Pforten öffnete. Zunächst war es noch recht leer, doch Cey musste nicht allzu lange warten, bis sie ihre Freunde inmitten eines Pulks hereinströmender Schüler entdeckte.

»Sky. Jari.« Freudig winkte sie Blondchen, die ein abgewetztes Buch in der Hand hielt, und dem eins neunzig großen Mathegenie zu. Die beiden lenkten ihre Schritte umgehend in ihre Richtung.

»Hey, dieses Mal hast du die Welt aber schnell gerettet«, begrüßte Jari sie strahlend. »Schön, dass du wieder da bist!«

Die Welt war noch keineswegs gerettet, aber Cey sparte sich diesen niederschmetternden Hinweis. Stattdessen suchte sie mit ihrem Blick erneut die Menge der eintretenden J’ajal ab. Und da war er auch schon - Sheilas kleiner größerer Bruder. Er trug ein komplett weißes Outfit, was seine dunkle Haut betonte, und klobige Boots, die er nur sehr nachlässig zugeschnürt hatte. Dazu die teils ausrasierten, teils zickzackförmig geflochtenen Haare … seine Vorliebe für ein gangstermäßiges Aussehen hatte sich also nicht urplötzlich gelegt. Cey musste lächeln.

Zusammen mit Veyron kam nun auch Teagan auf sie zugetrabt, der Freerunner aus L.A., der ebenfalls Landons Schützling war. Seine Gesichtsfarbe sah inzwischen ganz annehmbar aus und seine Schritte wirkten sicher. Dennoch würde Teagan aufgrund seiner Lortisol-Abhängigkeit immer Schwierigkeiten mit seiner Gesundheit haben. Vermutlich folgte ihm deshalb Shade, einer von Landons Männern, der Veyron genauso wenig aus den Augen ließ wie Four sie selbst.

»Hey, wie geht’s dir?« Cey boxte Veyron spielerisch auf den Arm und der Sechzehnjährige grinste.

»Prima! Wusstest du, dass es derzeit allein für die Schüler über zwanzig verschiedene Kampfkurse gibt? Weil ich noch kein mentales Training und so absolvieren muss, hat Landon für mich arrangiert, dass ich gleich mehrere besuchen darf. Es ist total spannend …«

Sie holten sich gemeinsam ihr Essen, setzten sich an einen Tisch und Cey ließ sich von ihren Freunden auf den neusten Stand bringen. Es missfiel ihr nach wie vor, dass Landon Veyrons Mentor geworden war, aber zumindest momentan schien es für den Teenager recht gut zu passen. Und für Teagan ebenfalls. Sky und Jari waren bei der Unterhaltung wesentlich stiller als üblich, was nicht weiter verwunderlich war.

Schließlich fasste sich Cey ein Herz, sah die beiden direkt an und erkundigte sich leise: »Und wie geht es euch wirklich?«

Wie genau Rush gestorben war, hatten Sky und Jari gewiss nicht erfahren. Und auch nicht, welche Rolle sie selbst dabei innegehabt hatte. Trotzdem mussten die beiden nun damit klarkommen, dass jemand aus ihrem Team, ein Freund, niemals wieder zurückkehren würde.

Jari seufzte schwer. »Nun ja, wir versuchen uns abzulenken.« Ein kleines Lächeln blitzte auf seinen Lippen auf. »Zumindest zum Teil funktioniert das auch. Dank dir! Wir sind bereits am Packen für den Umzug in ein gemeinsames Zimmer. Ab nächster Woche musst du dann in einen anderen Gebäudetrakt, wenn du uns besuchen willst.«

Also hatte Tajyno tatsächlich mit Alec und Zidaz gesprochen, wie sie ihn in Fallton gebeten hatte. Cey freute sich für Jari und Sky über den vorgezogenen Umzug weg aus der unmittelbaren Nähe ihres Mentors hin in jenen Academy-Bereich mit weit mehr Privatsphäre, in dem die Schüler normalerweise erst nach dem dritten Trimester zusammen mit ihren Freunden wohnen durften.

»Und …« Sky deutete selig auf das Buch neben ihrem Tablett, das den Titel Atlanta, the most beautiful City in the World trug. »Ich darf meine Schwester Danica besuchen! Zwar nicht sofort, aber in den nächsten Trimesterferien, sofern ich alle Prüfungen bestehe und bei sämtlichen J’ajal-relevanten Themen mit sehr gut abschneide.«

Die Academy-Richtlinien schrieben vor, dass nur Schüler der höheren Trimester ihre Familien zweimal im Jahr für einen einzelnen Tag besuchen durften – und selbst das nur unter Aufsicht und nur wenn man zuvor ein akzeptables Verhalten bewiesen hatte. Man musste seine J’ajal-Fähigkeiten vollkommen unter Kontrolle haben und bereit sein, sich vor allen und jedem als gewöhnlicher Mensch auszugeben.

Sky hätte sich eigentlich mindestens noch ein weiteres Trimester lang gedulden müssen, bis sich ihr sehnlichster Wunsch erfüllte. Tajyno hatte diesbezüglich also wirklich ein großes Zugeständnis gemacht und Cey nahm sich fest vor, sich entsprechend bei dem Seday-Anführer zu bedanken.

»Sieh mal!« Vor Aufregung und Vorfreude röteten sich Blondchens Wangen, was die junge Frau noch attraktiver erscheinen ließ. Nicht wenige Köpfe hatten sich zu ihnen umgewandt, doch Sky hatte keinen einzigen Blick für mögliche Verehrer übrig. Vollkommen fokussiert deutete sie auf den Stadtplan in der Mitte des Buches. »Hier lebt meine Familie. Und das dort ist das Savannah College of Art and Design, das ich vor meiner Wandlung besucht habe. Und hier …«

Ceys Blick verschwamm. Sie sah nicht mehr, auf welchen Punkt Sky als Nächstes tippte, hörte nur noch undeutliches Gemurmel statt detaillierte begeisterte Ausführungen. Da war etwas an diesem Plan … ein Gedanke zupfte an ihrem Bewusstsein, doch noch konnte sie ihn nicht ganz greifen. Dabei war es unfassbar wichtig, das spürte sie tief in ihrem Innersten. Was war bloß so besonders an Skys Heimatstadt … ?! Was –

»Cey!« Jemand stieß sie mit dem Ellenbogen an. Cey blinzelte, verzog kurz das Gesicht und lehnte sich rasch zur Seite, bevor Teagan sie erneut berühren und ihr dadurch unbewusst Schmerzen zufügen konnte. Einmal mehr verfluchte sie im Stillen Astan und die jahrelang qualvoll antrainierten Reflexe.

»Ja, was gibt’s?«

Teagan sah sie irritiert an. »Ich habe dich schon zweimal gefragt, ob du weißt, wo Dragon steckt? Landon wollte uns dazu nichts Genaues sagen.«

Auch Sky, Jari und Veyron spitzten höchst interessiert die Ohren. Cey hatte allerdings keine Ahnung, was sie antworten sollte. Wenn Landon und auch Alec und Tajyno niemandem verraten hatten, dass Dragon nun Mitglied bei den Hayran war, würden sie es wohl kaum begrüßen, wenn sie diese Neuigkeit herumposaunte.

Und klar konnte sie die Seday in gewisser Weise verstehen. Ein Wechsel vor dem Academy-Abschluss war schließlich keineswegs vorgesehen und selbst danach würden die Seday alles tun, um niemanden an eine verfeindete Organisation zu verlieren.

Cey wollte ja auch keineswegs andere Schüler dazu ermutigen, Dragon nachzueifern. Ihre Freunde anlügen würde sie aber sicherlich auch nicht. So ein Mist, warum ist das alles nur wieder so verworren und kompliziert?

»Ähm … also …«, startete Cey wenig geistreich. Da senkte sich Fours Hand auf ihre Schulter. Ihr Schatten hatte seine zurückgezogene Position aufgegeben, um zu ihnen an den Tisch zu treten.

»Cey kann zu diesem Thema leider nichts sagen«, bemerkte er ruhig.

»Hm.« Jari schielte vorsichtig zu Four und blickte dann erneut zu Cey. »Es gibt diese Gerüchte, dass ihr wieder aneinandergeraten seid, du und Dragon. Und weil er doch schon mal mit einem Messer auf dich losgegangen ist …« Er stoppte kurz, aber die Neugier siegte. »Dragon ist nicht zufällig im Bootcamp gelandet?«

»Kein Kommentar«, wiederholte Four schlicht und zog sich wieder zurück, während sich Cey über die Stirn rieb. Sie fragte sich, wer wohl diesen Blödsinn mit der angeblichen Bootcamp-Strafe herumerzählt hatte.

»Ich mochte Dragon«, bemerkte Teagan nachdenklich. »Er war zwar auch anstrengend, aber im Grunde ein recht netter Kerl.«

»Wieso redest du in der Vergangenheitsform?«, fuhr Sky Teagan zornig an. »Wo immer er ist, er lebt jawohl noch!«

Eine Bemerkung, die alle nun unweigerlich an Rush denken ließ. Unverkennbar huschte Trauer über die Gesichtszüge ihrer Freunde und Cey spürte einen Stich mitten in der Brust.

»Macht euch keine Sorgen um Dragon«, versicherte sie hastig. »Er ist soweit okay und er ist nicht allein. Wie genau sein Leben weiterverläuft, liegt ganz bei ihm. Irgendwann sehen wir ihn vielleicht wieder.«

Das war vermutlich weit mehr, als sie hätte sagen sollen, doch Cey wollte einfach nicht, dass ihre Freunde sich unnötige Gedanken machten.

Bevor einer in der Runde etwas erwidern konnte, tat es jemand anderes – Mat, ein fieser, zweiundzwanzigjähriger Schüler, dessen Augen in einem unnatürlichen Gelbton verfärbt waren. Er hielt ein leeres Tablett in den Händen, welches er offenbar zur Abgabe hatte bringen wollen.

»Irgendwann sehen wir ihn vielleicht wieder«, äffte er Cey nach. Logisch, dass er ausgerechnet ihre letzten Sätze mitbekommen hatte. »Du solltest dich echt schämen, Cey!«, ergänzte Mat vorwurfsvoll. »Wie kannst du nur dafür sorgen, dass jemand von uns wegen dir im Bootcamp landet?«

»Niemand ist wegen mir-«, startete Cey genervt, bevor sie wieder abbrach. Wenn auch nicht Dragon, so hatte sie ja sehr wohl Keon in das abgelegene Seday’sche Areal inmitten der Anden geschickt. »Ich muss los«, wechselte sie abrupt das Thema und erhob sich. »Habe jede Menge Mails zu lesen.«

Auch Jari stand umgehend auf und Mat verzog sich zum Glück mit einem letzten abfälligen Schnauben. »Wir müssen ebenfalls los. Das Triathlon-Training wartet. Und zwar eine komplette Runde heute – Laufen, Schwimmen und Radfahren.« Er stöhnte.

Sky griff nach seiner Hand und versuchte Jari anzuspornen, obwohl sie selbst nur mäßig motiviert aussah. »Wir schaffen das schon!« Und dann ergänzte Blondchen etwas, das Cey die dämlichen Mails sofort wieder vergessen ließ. »Landon hat doch vorhin auf dem Gang einen gutgelaunten Eindruck gemacht, er wird uns beim Training also schon nicht allzu sehr triezen.«

»Landon ist hier?«, vergewisserte sich Cey ungläubig. »Und er ist beim Training mit dabei?«

»Was sollte er sonst machen?« Jari, Veyron, Teagan und Sky blickten sie allesamt erstaunt an, doch statt zu antworten, wandte Cey sich lautlos an ihren Schatten.

»Four, hat Landon schon was aus Frederick MacLennan herausbekommen?« Sie ging nicht wirklich davon aus, denn das hätte Xyen ihr doch sofort mitgeteilt. Und wie erwartet schüttelte Four den Kopf.

»Meines Wissens hat das Verhör noch keinerlei Ergebnisse gebracht.«

»Und was macht Landon dann hier?« Wut stieg in Cey auf. War Landon nicht klar, was auf dem Spiel stand? Das Triathlon-Training konnte ja wohl auch jemand anderes beaufsichtigen.

»Eine Pause?«, schlug ihr Schatten vor und blickte sie ernst an. »Cey, wie Landon seinen Job erledigt, wirst du schon ihm und Tajyno überlassen müssen.«

Höchst eindringlich nachzuhaken würde aber gewiss nicht schaden. »Ich begleite euch«, sagte Cey entschlossen zu ihren Freunden. Und weil diese sie – dem Ausdruck in ihren Gesichtern nach zu urteilen – eh gerade für zumindest ein klein wenig durchgeknallt hielten, konnte sie auch gleich noch eine weitere Frage stellen. »Darf ich mir dein Atlanta-Buch ausleihen, Sky? Ich möchte mir das alles noch mal in Ruhe ansehen!«

Blondchen öffnete überrascht den Mund, ehe sie nickte. »Okaaay.« Sie dehnte dieses eine Wort übermäßig lang und aus dem klein wenig durchgeknallt war wohl ein definitiv durchgeknallt geworden, aber das war Cey egal. Sie steckte das Buch ein und brachte gemeinsam mit ihren Freunden ihr Geschirr weg.

Anschließend zogen sie sich schnell in ihren jeweiligen Zimmern um und Cey platzierte Skys Buch auf ihrem Schreibtisch.

Vor der Academy trafen sie wieder zusammen und das Gespräch drehte sich nun ausschließlich um das anstehende Training. Geleitet wurde es von Delam, Yatoh würde den Schwimmpart überwachen, der für Jari und Sky nach wie vor die größte Schwierigkeit darstellte, Tosa war für das Radfahren zuständig und Landon für die Laufstrecke.

Nur diese war für Teagan vorgesehen, der gesamte Triathlon wurde noch als zu anstrengend für ihn erachtet, was den jungen J’ajal mächtig zu wurmen schien. Auch Veyron sollte sich vorläufig aufs Laufen beschränken, denn noch besaß er nicht die Kondition eines vollständig gewandelten J’ajals.

»Seid doch froh«, murmelte Jari. »Mir würde ein Drittel des Ganzen vollauf reichen!«

»Ich mache aber gerne Sport«, protestierte Teagan, bevor er die Stirn runzelte. »Glaube ich zumindest …« Er hatte bei der Erwachung sein komplettes Gedächtnis verloren und Cey verspürte unweigerlich Mitleid, sie konnte sich in etwa ausmalen, wie ätzend das sein musste.

Als sie ihren Freunden durch das Eingangstor von Area XV4 folgen wollte, das einer der wachhabenden Seday bereits bei ihrem Näherkommen geöffnet hatte, schüttelte dieser strikt den Kopf.

»Tut mir leid, heute Abend dürfen nur die Teilnehmer des Triathlons in den Wald!«

Was ihr jegliche Möglichkeit nehmen würde, mit Landon zu sprechen … Cey sah sich rasch um, aber noch bevor Four oder Nine, der sich nun ebenfalls wieder zu ihnen gesellt hatte, etwas sagen konnten, entdeckte sie auf der anderen Seite des Zauns Yatoh und Tosa, um die sich bereits einige Schüler gescharrt hatten. Offenbar würden sie die jungen J’ajal zum Ausgangspunkt der Triathlon-Strecke geleiten.

»Ich helfe bei der Schwimmaufsicht«, sagte Cey zu den Wachen und deutete auf Yatoh. Einer von ihnen schien sich mental bei Yatoh zu vergewissern, dass das stimmte, denn dieser sah urplötzlich in ihre Richtung und lächelte.

Gleich darauf durfte Cey passieren. Zwar hätte sie auch explizit auf den weißen Stein ihres Ayaros, der von zwei nur noch minimal grauen Ringen umrahmt wurde, verweisen können, was ja bedeutete, dass sie das Gelände verlassen durfte, wann immer sie wollte. Aber sich dann in der Nähe der Triathlon-Teilnehmer aufzuhalten, anstatt sonst wohin zu verschwinden, hätte bestimmt jede Menge Nachfragen mit sich gebracht. Da war es so wesentlich praktischer.

»Hi«, grüßten Yatoh und Tosa sie freundlich. »Danke, dass du hilfst.«

»Wir sind vollzählig«, ergänzte Yatoh in die Runde. »Alle bereit? Alle passend angezogen?«

Er sah nicht zu Sky, dennoch verdrehte diese die Augen. »Ich habe einen neuen Designer-Bikini aus Nizza«, murmelte sie. »In schwarz. Kein bisschen durchsichtig! Und trotzdem extrem schick.« Cey musste grinsen.

Sie machten sich auf den Weg zum Kingston River und als Tosa an einer Weggabelung die Gruppe aufteilte, stellte Cey mit Unbehagen fest, dass ihre Taktik wohl doch einen Haken besaß. Während Tosa mit einem Teil der Schüler weiter geradeaus zur Mountainbike-Strecke gehen würde, sollte sie mit Yatoh, Sky, Jari und einigen anderen zu jener Stelle im Wald traben, wo sich der Fluss über eine steile Felskante in ein natürliches Becken ergoss. Veyron, Teagan und das letzte Drittel der Schüler hingegen sollten nach links zu Landon marschieren.

Zwar galt es heute für die meisten Schüler, die gesamte Triathlon-Strecke zu absolvieren, aber die sportlichen Herausforderungen waren in unterschiedlicher Reihenfolge zu bewältigen. Delam, der neben der stillen Unterstützung von Shade sowie einem Dutzend weiterer Schatten mal hier und mal da nach dem Rechten sehen würde, hatte sich sicherlich etwas bei diesem Vorgehen gedacht, für Cey war es aber alles andere als optimal.

»Kommst du?« Jari war stehen geblieben und sah fragend zu ihr zurück, weil sie sich unschlüssig noch keinen einzigen Zentimeter von der Weggabelung entfernt hatte. Cey spähte zwischen die Bäume, Landons Präsenz war gar nicht mehr weit entfernt.

»Ich komme gleich nach«, versprach sie und düste in die entgegengesetzte Richtung davon.

»Aber Cey, wir sollen doch …«, rief Jari ihr noch hinterher, bevor er seufzend aufgab.

Mit vor der Brust verschränkten Armen stand Landon auf einer kleinen Anhöhe und musterte eindringlich die Schüler, die unter seinem Kommando bereits mit diversen Aufwärm- und Dehnübungen angefangen hatten. Mehrere in einer Linie platzierten Äste sollten wohl den Start der Rennstrecke markieren und Ceys Miene verhärtete sich, als ihr scharfer Blick ein silbriges Schimmern in einem Busch ganz in der Nähe des Starts erfasste – Stacheldraht. Landon und seine scheiß Überraschungen!

»Denkt daran, wer ihr seid«, tönte Landon laut. »Und wo ihr seid! Das hier ist keine Vergnügungsübung. Rennt nicht nur mit den Beinen, sondern nutzt auch euren Kopf. Seid schnell und achtet immer genau auf den Weg. Noch fünfzig Liegestütze, dann geht es los!«

Unter allgemeinem Stöhnen kamen die jungen J’ajal der Aufforderung nach und Cey schob sich dichter an Landon heran.

»Was machst du hier?«, zischte sie leise. »Warum bist du nicht in Fallton?«

Landon antwortete nicht, sondern warf stattdessen lediglich einen Blick auf seine Uhr. »Nur eine Stunde laufen – das ist echt nichts! In euren nächsten Trimestern werdet ihr noch ganz andere Aufgaben bewältigen müssen. Wer also noch ein einziges Mal stöhnt, der kann was erleben!«

Nett wie immer …

»Landon, die Gefahr wird immer größer!«, startete Cey einen erneuten Versuch. Sie hielt ihre Stimme nach wie vor gedämpft, was ihr ungemein schwerfiel, aber sie wollte weder Veyron noch Teagan oder einen der restlichen Schüler beunruhigen mit dem, was da gerade in der Welt draußen vor sich ging. »Verstehst du nicht, wie wichtig-«

Fassungslos brach Cey ab, als Landon nun einfach zu der Linie aus Ästen schritt. Sie hatte mit einem Streit gerechnet, damit, dass Landon sie anraunzte, mit Ausreden oder vielleicht sogar mal zur Abwechslung mit einer vollkommen logischen und nachvollziehbaren Erklärung für sein schräges Verhalten. Stattdessen ignorierte er sie, als wäre sie pure Luft.

Cey hatte es bereits für schlimm gehalten, von diesem Mann belogen zu werden oder mitansehen zu müssen, wie er ihre Freunde schlug und erniedrigte. Aber das hier war erneut eine Steigerung - es war unerträglich! Zoe und Tesfaye erlitten vielleicht in dieser Sekunde unvorstellbare Qualen und Landon interessierte sich nur dafür, ob Liegestütze korrekt ausgeführt wurden?

»Rücken gerade halten! Noch fünf … vier …«

Ceys Augen verfärbten sich tiefrot und ihre Fäuste ballten sich ohne ihr Zutun.

»Nicht!« Nine trat vor sie und versperrte ihr die Sicht auf Landon. »Yatoh, Sky und Jari waren auf dich.« Sein Tonfall und seine Miene waren ganz weich, als er fast unhörbar leise ergänzte: »Du hast es versprochen, Cey! Geh zu ihnen.«

Wie unfassbar schwierig es doch sein konnte, einfach nur ruhig zu atmen und nicht loszustürzen. Niemanden zu zerfleischen. All diese Wut, all diese Angst nicht aus ihrem Innersten zu entlassen, bis sich der schmerzende Sturm endlich wieder gelegt hatte.

Cey presste die Zähne so fest aufeinander, dass es beinahe ihren Kiefer gesprengt hätte. Mit einem harten Ruck fuhr sie herum, drängte sich an Nine und an Four vorbei und lief zurück.

»Du musst dich nicht auf Landon verlassen«, sagte Letzterer, während die beiden Seday ihr folgten. »Verlass dich auf uns. Es wird zurzeit alles getan, was nur irgendwie möglich ist!«

Cey wagte es nicht, auch nur einen einzigen Zweifel zuzulassen, der womöglich tausend weitere nach sich gezogen hätte. Stattdessen verbannte sie jeglichen Gedanken an Zachriel aus ihrem Bewusstsein.

Nach einem kurzen Spurt kam sie am Flussbecken an, zog sich schweigend Schuhe und Hose aus, sodass sie nur noch mit ihrem Bikini und Shirt bekleidet dastand. Als Yatoh, der sich zusammen mit den Schülern oben auf der Felskante befand und offenbar bereits auf sie gewartet hatte, ihr eine mentale Anweisung erteilte, watete sie bis zu den Oberschenkeln ins eisige Wasser.

In den folgenden Minuten konzentrierte Cey sich darauf, dass jeder Schüler, der ins Wasser sprang, auch wiederauftauchte. Ihr entging kein einziges Strampeln, keine umherspritzenden Wassertropfen, kein hektisches Atemholen. Sobald der- oder diejenige jedoch in einen halbwegs regelmäßigen Schwimmrhythmus verfallen war und dem Ablauf des Kingston Rivers aus dem Becken folgte, wo eine Handvoll weiterer Seday am Flussufer auf die Sicherheit der jungen J’ajal achteten, entschwanden sie auch vollständig Ceys Aufmerksamkeit.

Sie war also voll bei der Sache und trotzdem kein bisschen. Wann genau Sky gehüpft war oder Jari sie passiert hatte, wie zufrieden die beiden mit ihren Leistungen und wie schnell sie gewesen waren – Cey hatte keine Ahnung. Die Gesichter der Schüler verblassten, ihre Stimmen und Rufe ebenso. Minuten dehnten sich zu Stunden aus und doch schienen es erst wenige Sekunden gewesen zu sein, als Yatoh ihr schließlich mitteilte, dass das Training beendet sei.

Mechanisch zog Cey sich wieder an und vermutlich wäre sie auch genauso mechanisch zurück zur Academy gelatscht, wenn sie nicht doch noch etwas gehörig aufgerüttelt hätte. Und zwar war es Teagan, der sich plötzlich aufgelöst und mehr als zappelig an ihrer Seite einfand.

»Du hast es doch auch schon gehört? Es ist aber nicht so schlimm wie bei mir, oder? Wie war denn deine Wandlung, Cey? Wann denkst du, wird es Veyron wieder besser gehen?«

Mit einem Schlag kehrten alle von Ceys Sinnen in doppelter Stärke zurück – sie sah Dutzende erschöpfte Schüler, die von Tosa und Delam den Weg entlang zur Academy gescheucht wurden, spürte nicht nur Fours und Nines Blicke deutlich auf sich, sondern auch jene von Yatoh. Sie roch die erdige Waldluft, hörte das Rauschen der Blätter im Wind, das Knacken von Zweigen, Vogelschreie und natürlich das aufgeregte Getuschel aus zahlreichen Kehlen. Und immer wieder fiel der gleiche Name: Veyron.

»Was ist mit ihm?« Ceys Herz krampfte sich zusammen und ihre Stimme klang so bestürzt, wie sie sich fühlte.

»Na, er ist nach der Hälfte des Laufs zusammengebrochen! Erst haben wir gedacht, er wäre vielleicht in diese versteckte Matschgrube getreten und hätte sich verletzt. Aber es ist irgendeine mentale Sache. Landon hat ihn sofort zurück nach Area XV4 bringen lassen. Wir mussten dann weitermachen. Dabei wäre ich viel lieber mit ihm gegangen, um zu helfen. Was, wenn es bei ihm so schrecklich ist wie bei mir vor ein paar Wochen?«

Die hässlichen Erinnerungen verdüsterten Teagans Gesichtszüge und Ceys Herzschlag geriet noch mehr aus dem Takt. Veyron ging es nicht gut und sie hatte nicht einmal etwas davon mitbekommen. Und dabei wollte sie doch für ihn die J’ajal-Schwester sein, die er in Sheila nun mal nicht haben konnte. Cey blieb stehen und wartete auf jene, die den Schluss des Zugs bildeten – Yatoh. Und Landon.

»Es waren immer noch nicht die Zeiten, die wir gerne sehen würden«, beschwerte dieser sich. »Die Klasse wird durch das Training zwar besser, aber vermutlich wird der Triathlon dennoch eine einzige herbe Enttäuschung!«

Weil sich die Seday nur wenige Meter entfernt von Veyron und ihr aufhielten, war es Landon bestimmt nicht entgangen, was sie besprochen hatten. Offenbar wollte er sie jedoch erneut ignorieren. Er wich bereits vom Pfad ins Unterholz aus, um an ihr vorbeizulaufen.

Cey holte tief Luft. »Bitte«, sagte sie. Mehr nicht. Ob es nun daran lag, dass Teagan ebenfalls stehen geblieben war, an Yatohs hochgezogenen Brauen oder an dem verzweifelten Ausdruck in ihren eigenen Augen ließ sich nicht feststellen, aber Landon rieb sich seufzend über das Kinn.

»Veyron ist in den besten Händen. Er wird ärztlich betreut von Personen, die schon unzählige Wandlungen begleitet haben. Ich verstehe, wie gerne du bei deinem Freund sein würdest, Teagan, aber momentan kannst du ihm nicht helfen. Überlasse das uns. Oder bei wie vielen J’ajal-Wandlungen hast du bereits professionelle Unterstützung geleistet? Weißt du, an welchem exakten Punkt du eingreifen und wann du die Natur schlicht machen lassen musst? Welches Zutun zu viel und was zu wenig wäre?«

»Nein, Sir«, bekannte Teagan unbehaglich und senkte den Kopf. Landons bohrender Blick wanderte von ihm zu Cey. Und selbstverständlich konnte sie auch keine andere Antwort geben. Natürliche J’ajal-Wandlungen waren das Letzte, womit sie sich auskannte.

»Weißt du, wie genau meine Verhör-Fähigkeiten funktionieren? Welches Zutun zu viel und was zu wenig wäre?«, wiederholte Landon fast exakt seine vorherigen Worte, dieses Mal jedoch lautlos.

Cey zuckte zusammen, denn noch nie hatte Landon sie auf diese Weise angesprochen. Und statt zuzugeben, wie unvertraut seine Gabe ihr im Grunde genommen war, schwieg sie erneut.

Landon genügte das offenbar als Antwort. »Gut. Dann lasst uns jetzt weitergehen. Sobald ihr nämlich wieder in Area XV4 seid, muss ich zurück, um beim Beseitigen der … hm … kleinen Spezialitäten der Rennstrecke zu helfen. Nicht, dass sich dort in der Nacht ein Tier verletzt.«

Jetzt klappte Cey der Mund auf. Sie hatte noch nie mitbekommen, wie Landon seine Fallen für die Schüler wieder beseitigte, aber tatsächlich hatte sie auch noch nie etwas von einem Tier gehört, das durch die Anwesenheit der Seday in diesen Wäldern zu Schaden gekommen wäre. Offenbar gab es trotz ihrer nun fast einjährigen Verweildauer an der Academy noch einiges, was ihrer Wahrnehmung bislang völlig entgangen war.

»Man kann sehr viel daraus lernen, wen man sich selbst als Gegner erwählt. Wie man ihn betrachtet und wie man auf ihn reagiert …«, gerieten Cey die Worte ihres Lehrers Blaze aus dem USF-Kommandoführungskurs wieder in den Sinn. Sie setzte sich genau wie die anderen wieder in Bewegung, doch ihre Gedanken kreisten weiterhin um die Frage, ob sie einige Geschöpfe dieses Planeten unbewusst zu einseitig beurteilte.

»Landon?« Delam, der bereits ein gutes Stück vor ihnen marschiert war, drehte sich um und hob die Hand. Anscheinend wollte er etwas mit seinem Seday-Kollegen besprechen und dieser beschleunigte sein Tempo, um zu ihm aufzuschließen. Der Abstand zwischen Teagan und Cey hatte sich ebenfalls vergrößert und Yatoh nutzte die Ungestörtheit, um sanft Ceys Arm zu berühren. »Alles in Ordnung? Du hast dich heute bei der Aufsicht wesentlich stiller verhalten als beim letzten Mal.«

Cey verzog das Gesicht, denn wie immer schmerzte sie die Berührung eines anderen J’ajals, der weder ihr persönliches Abzeichen trug noch sie mental vorwarnte.

»Ja … nein … ist kompliziert«, murmelte sie als wenig hilfreiche Antwort. Sie seufzte, weil es sie selbst nervte, wie oft sie zurzeit wieder jenes Wort benutzte, von dem Xyen behauptete, es wäre ihr absolutes Lieblingswort. Kompliziert.

Vielleicht sollte sie zumindest endlich eine Sache deutlich angenehmer gestalten. Cey warf einen Blick über die Schulter zu Nine und Four, die ihr immer noch wachsam folgten und ihr liebevoll zulächelten, dann wandte sie sich zurück und straffte sich.

»Yatoh, wenn du mich anfasst, könntest du das bitte auf folgende Weise tun?« Sie berührte kurz den Geist des Sedays. »Ist eine lange Geschichte. Xyen hat herausgefunden, wie es statt völlig ätzend doch ganz okay sein kann.«

Für einen Moment sah Yatoh sie erstaunt an, ehe der Ausdruck in seinem Gesicht sehr nachdenklich wurde. »Deswegen also.« Ohne weiter auf seine Bemerkung einzugehen, blickte der Seday nun ebenfalls flüchtig zu Four und Nine. Dass Cey generell lieber eine gewisse körperliche Distanz wahrte und ihre Schatten da auch sehr rigoros wurden, wenn sich ihr jemand dennoch aufzudrängen versuchte, war kein Geheimnis. Und vermutlich hatte jeder Seday außerhalb von Xyens Team seine eigenen Rückschlüsse gezogen, was der Grund für ihre tiefe Abneigung gegen engen Kontakt sein könnte.

Welche Überlegungen Yatoh angestellt hatte, verriet er nicht. Stattdessen erkundigte er sich ruhig: »Darf ich es Tosa sagen? Für unser gemeinsames Konditionstraining finde ich das schon sehr wichtig …«

»Ja«, erwiderte Cey nach kurzem Zögern. Dann verschränkte sie trotzig die Arme vor der Brust. »Die gesamte Academy muss es aber nicht gleich wissen!«

»Das würde mir auch mindestens eine Million Minuspunkte beim Training einbringen. Und selbst wenn nicht«, Yatoh berührte erneut sanft ihren Arm und zwar mit geistiger Vorwarnung, »würde ich das nicht rumtratschen, Cey.«

Cey gab ihre alberne Haltung sofort auf. »Ja, ich weiß.« Beinahe waren sie schon wieder am Tor von Area XV4 angekommen, da wagte Cey sich sogar noch ein Stückchen weiter aus ihrer üblichen emotionalen Deckung hervor. »Vielleicht machen wir ja doch mal ein Wettschwimmen.«

Yatohs Mundwinkel zuckten. »Ich freue mich schon darauf! Und wer gewinnt, behalten wir definitiv für uns. Das wird mindestens die Hälfte der Leute hier vor Neugierde platzen lassen und für wochenlanges Rätselraten sorgen.«

Cey konnte nicht verhindern, dass in ihr nun eine diebische Vorfreude erwachte. Mit einem Grinsen verabschiedete sie sich von Yatoh.

Nachdem sie auf den Stufen der Academy noch ein paar Sätze mit Jari und Sky gewechselt hatte, die dort auf sie gewartet hatten – ihre Freunde waren mehr als platt, aber soweit zufrieden mit dem Verlauf des abendlichen Trainings -, ging sie in ihr Zimmer. Eine rasche Dusche später stand Cey in bequemen Schlabberklamotten vor ihrem Schreibtisch und blätterte ziellos durch Skys Atlanta-Buch.

»Hey. Lust auf eine Runde Zocken?« Nathan hatte den Kopf noch nicht richtig durch die Tür gesteckt, als Cey bereits heftig nickte. Um diese quälende Leere in sich zu betäuben, um nicht pausenlos an Veyron, Zoe oder Tesfaye zu denken und der Versuchung zu widerstehen, doch noch höchstpersönlich nach Fallton zu marschieren und Frederick MacLennans Gehirn bei weiterer mangelnder Kooperation zu Mus zu zermalmen, dafür war eine Runde Kierans Swords bestens geeignet. Mit einem Knall klappte Cey das Buch zu und ohne einen Blick zurückzuwerfen, trat sie aus der Tür.