Wenige Stunden später in einem Flugzeug über dem Atlantik
»Kleines, wenn du so fasziniert von Atlanta bist, muss ich dir leider sagen, wir sind hier vollkommen falsch.«
Delta, der zwischen ihr und Echo saß, deutete auf das Buch in Ceys Schoß und anschließend aus dem kleinen Fenster. Scheinbar endlos breitete sich der Ozean unter ihnen aus, was sich jedoch trotz der fehlenden Wolkendecke kaum noch erkennen ließ, weil die Dämmerung längst eingesetzt hatte.
»Ich bin kein bisschen fasziniert von Atlanta«, murmelte Cey. Sie wusste auch gar nicht, warum sie Skys Buch überhaupt mitgenommen hatte. Vielleicht, damit sie das blöde Ding zerreißen und darauf herumtrampeln konnte, sollte sich herausstellen, dass sie sich geirrt hatte. Schließlich waren sie ja nicht deshalb unterwegs, weil sie haargenau wusste, was auf sie zukam. Sie folgte vielmehr ihrer Intuition, ohne auch nur einen einzigen hieb- und stichfesten Beweis zu haben. Den Beweis dafür, wie sie Zachriel endgültig vernichten konnten.
Es fröstelte Cey, als sie an die Mutmaßungen ihrer Freunde dachte, was dieser bestialische Mann in Washington D.C. am Independence Day vorhaben könnte. Niemals durfte geschehen, dass Zachriel klammheimlich oder auch völlig offen die Macht übernahm, dass seine Marionetten die wichtigsten Ämter in den Staaten und womöglich sogar bald überall auf der Welt bekleideten.
»Was geht dir gerade durch den Kopf?«, erkundigte sich Delta und stupste sie sachte an.
»Wie hoch der Preis sein darf, den es kostet, um ihn aufzuhalten.« Cey war nicht so naiv zu glauben, sie müsste einfach nur diese Reise hinter sich bringen und das wäre es dann. Es würde keine Verluste, keine Schmerzen, keine Schwierigkeiten mehr geben. Sich einem skrupellosen Mörder hinzugeben, um einen anderen skrupellosen Tyrannen zu stoppen – was würde das letztendlich mit ihr anstellen?
»Wir werden dir unsere Meinung dazu sagen, wenn es so weit ist«, bemerkte Echo mit fester Stimme und Cey musste unweigerlich lächeln. Sie war sich sehr sicher, die beiden Männer würden noch weitaus mehr tun, als nur einen schlichten Kommentar abzugeben.
Xyen hatte sich eindringlich mit ihnen unterhalten, bevor sie aufgebrochen waren. Ein Gespräch, das sie nur am Rande mitbekommen hatte, weil sie zu abgelenkt gewesen war, sich ihrerseits von Sahim und Nikara zu verabschieden. Und weil die tiefen, blutigen Kratzer auf Xyens Nacken sie immer wieder zum Schlucken gebracht hatten.
»Nikara hat deinen Seday nicht vollständig abgemurkst, was Zachriel auf jeden Fall getan hätte. Du wirst uns also nicht anmeckern!«, hatte Sahim ihr knallhart erklärt und sie hatte tatsächlich kein einziges Wort zu der Verletzung gesagt.
Bitte lass mich rechtzeitig in Washington sein!, sandte Cey stumm in die Weite des Himmels hinaus. Mit Tajyno hatte sie sich darauf geeinigt, dass seine Leute mit der Erstürmung der Metro-Station so lange warten würden, wie sie konnten. Höchstens jedoch bis zum Tagesanbruch des Nationalfeiertags. Sollte Zachriel sich früher zeigen oder es verdächtige Aktivitäten geben, mussten sie natürlich entsprechend vorzeitig handeln.
Innerlich fühlte Cey sich wie zerrissen. Denn im Hinblick auf Zoe und Tesfaye wäre es ihr am liebsten, ihre Freunde würden keine einzige Sekunde auf sie warten. Für einen Sieg würde es jedoch mehr benötigen als eine exzellente Vorbereitung, taktisches Geschick und eine tollkühne Unerschrockenheit.
Was wir brauchen, ist ein Wunder! Cey schloss für einen Moment die Augen.
»Spielen wir was«, entschied Echo und packte eine abgespeckte Reiseversion von Anachrony aus. »Wenn ich richtig mitgezählt habe, wie oft ich gegen jemanden bei diesem Spiel gewonnen habe, liege ich gut achthundert Runden vor dir in Führung, Cey.«
»Wieso zählen denn Runden, in denen wir gar nicht zusammengespielt haben?«, erkundigte Cey sich stirnrunzelnd. »Hat doch nichts mit mir zu tun, wenn deine sonstigen Mitspieler ihre Karten falsch einschätzen. Und zwischen uns ist das Verhältnis mehr als ausgewogen. Verrät mir mein fotografisches Gedächtnis.«
»Papperlapapp.« Delta schnappte sich ihr Buch und verstaute es grinsend im Aufbewahrungsnetz ihres Vordersitzes. Dann reichte er ihr von Echo einige Karten weiter. »Wenn wir alle Runden zählen, fühlst du dich mehr angespornt. Und bevor du fragst, wann wir überhaupt so viel Zeit zum Spielen hatten – war eben immer sehr langweilig, wenn du uns nicht gerade besucht hast.«
Auch Echo grinste, obwohl Cey doch sehr stark zweifelte, dass die Missionen von Jisuho und seinen Vertrauten jemals langweilig gewesen waren. Diese hier würde es auch keinesfalls werden.
Cey seufzte leise. »Dann hole ich den Rückstand wohl besser mal auf.«
Und so spielten sie, spielten und flogen. Zwischendurch schliefen Delta und Echo auch mal, allerdings nur abwechselnd, sodass immer einer auf sie achten konnte. Nach Sonnenaufgang döste selbst Cey eine Weile und natürlich tauschte sie immer wieder Nachrichten mit Nikara, Sahim und einigen anderen der Ihrigen aus.
Als sie schließlich endlich, endlich auf dem nordafrikanischen Kontinent ankamen, war es aufgrund der langen Flugzeit und der Zeitverschiebung erneut Mittag, wie bei ihrem Aufbruch aus der Academy.
»Bin immer noch achthundert Runden in Führung«, merkte Echo fröhlich an, während sie an einem Security-Schalter darauf warteten, an die Reihe zu kommen. Und es stimmte, da sie im Flugzeug alle etwa gleich oft gewonnen hatten, hatte sich an der Gesamtzahl nichts groß geändert. Cey sparte sich den Hinweis, dass sie die Rechenweise dennoch nach wie vor für sehr fragwürdig hielt, rückte auf und zeigte ihren Pass und das Visum vor.
Nachdem auch Delta und Echo kontrolliert worden waren, holten sie ihr Gepäck und stellten sich erneut in einer langen Schlange an. Ceys Laune sank mit jeder Sekunde, die sie unnötig am Flughafen verbringen mussten. Die Zollbeamten waren wohl ausgerechnet heute sehr penibel. Unbewusst tastete Cey nach den Genehmigungen in ihrer Tasche, die sie sich bereits im Vorfeld besorgt hatten.
Zum Glück gab es dann auch keine Probleme, als Echo und Delta den Beamten ruhig die entsprechenden Papiere für die mitgeführten Schusswaffen reichten. Ein ausgedehnter Check, dass diese entsprechend der Vorschriften gesichert transportiert worden waren, danach war alles gut. Bei Cey allerdings …
»Was denn?«, knurrte sie gereizt, als zwei der Zollbeamten wild auf Arabisch zu tuscheln anfingen. Ihr Wächterschwert, das sie in ihrer Tasche verstaut hatte, war anscheinend gar nicht per se das Problem, woran hakte es also?
Die Männer wirkten überrascht, dass sie nicht nur Englisch sprechen konnte, sondern auch die Landessprache beherrschte. Doch dann wandte sich der Ältere der beiden entschieden an Delta und Echo: »Keine Einreiseerlaubnis für diese Frau mit dieser Waffe.«
Bei der abschätzigen Betonung des Wortes Frau dämmerte Cey, was sie falsch gemacht hatte. Da hätte es noch nicht einmal der Tatsache bedurft, dass die Zollbeamten demonstrativ mit Echo und Delta sprachen anstatt mit ihr, obwohl es doch um sie ging. Die Gleichberechtigung der Geschlechter war in vielen Nationen ein sehr viel heikleres Thema, als sie es aus den Staaten gewöhnt war, das wusste Cey selbstverständlich. Bereits Astan hatte ihnen schmerzhaft eingetrichtert, wie sie sich an die verschiedenen kulturellen Lebensweisen der Menschen anzupassen hatten, um nicht aufzufallen, und wie sie diese dann sogar zu ihrem Vorteil nutzen konnten.
Für Ausländer galten ohnehin oft eh wieder andere Regeln, die Zollbeamten hätten also durchaus mit einem milden, unverständigen Kopfschütteln akzeptieren können, dass es nun mal auch Frauen gab, die eine Waffe trugen – beziehungsweise in ihrem Fall ja sogar nur transportierten. Denn das Schwert war als Ergänzung einer privaten Sammlung deklariert worden, welche in einer in Dämonenhand befindlichen Villa im Osten des Landes aufbewahrt wurde.
Aber ja, das Risiko an besonders rückständige und intolerante Beamte zu geraten, hatte natürlich bestanden und so wäre es sinnvoll gewesen, das Schwert einfach auf Deltas und Echos Namen einzutragen, wie sie das auch oft bei ihren Brüdern tat, wenn sie zusammen reisten. Hatte Cey aber leider in der Hektik des Aufbruchs versäumt und von ihren Freunden hatte ebenfalls niemand daran gedacht, weil sie mit ihren eigenen Aufgaben beschäftigt gewesen waren.
Es kostete Cey große Mühe, die Klappe zu halten, als Delta und Echo nun freundlich, aber gleichzeitig sehr bestimmt mit den Beamten sprachen und auf die einwandfreien Papiere hinwiesen. Die logischerweise keineswegs einwandfrei waren, denn in der Kürze der Zeit wären gar keine offiziellen Genehmigungen mehr möglich gewesen und so hatten sie Blanko-Vorlagen genutzt und einige kleine Eintragungen in diversen Computer-Datenbanken geändert, die selbst einer intensivieren Überprüfung zumindest theoretisch standhalten sollten. Jetzt eine erneute Änderung durchzuführen, würde aber leider mehr als auffallen und war deswegen keine Option.
Die Vorgesetzten, die Echo schließlich zu sprechen verlangte, waren der Aussage der Zollbeamten nach alle sehr beschäftigt und deswegen unabkömmlich und die Männer beharrten ihrerseits darauf, die Diskussion abseits in einem geschlossenen Raum weiterzuführen oder eben das Schwert zurückzulassen.
»Wie wäre es damit, das Schwert zu benutzen? Und zwar gleich hier und jetzt?«, rutschte es Cey heraus, weil sie echt keine Geduld mehr hatte. Ganz sicher würde sie mit den Beamten nirgendwohin gehen, die Gefahr, dass diese auf noch verrückteres Zeug bestehen würden, wie zum Beispiel ihre nicht vorhandenen Fingerabdrücke zu checken und diese mit den gespeicherten Daten ihres Passes abzugleichen, war viel zu groß.
Ceys Augen drohten sich rot zu verfärben und sie senkte rasch den Blick, bevor sie abrupt wieder aufsah. Zu allem Überfluss näherten sich nun nämlich zwei Gestalten, die ihr keineswegs unbekannt waren. Ihr letztes Aufeinandertreffen hatte alles andere als schön geendet. Dass es hier inmitten des Flughafens zu einem Gemetzel kommen konnte, wurde also immer wahrscheinlicher.
Blitzschnell traf Cey eine Entscheidung. »Ich lasse mein gesamtes Gepäck inklusive Schwert hier und nehme es später mit nach Washington. Ein einziger Kratzer irgendwo an meinen Sachen – und diese Typen werden sich niemals wieder Gedanken zum Thema Frau machen müssen.«
Cey hatte Englisch gesprochen und zwar so leise, dass nur Delta und Echo sie gehört haben sollten. Sie überließ es den beiden, ihre Warnung angemessen für die Zollbeamten zu formulieren, und trat stattdessen mit ausdrucksloser Miene den beiden Neuankömmlingen entgegen. Ohne ihr Schwert fühlte sie sich irgendwie unwohl, aber ungefährlich war sie deswegen ja noch lange nicht.
Der Vordere der beiden hob die Hand – vermutlich, um Cey eine zu verpassen. Und tatsächlich zuckte gleich darauf ein fürchterlicher Schmerz durch Ceys gesamten Körper. Zu viel für ihre ohnehin schon bröckelnde Beherrschung.
»Töte ihn«, zischte eine innere Stimme. Und Cey nickte mit einem diabolischen Lächeln auf den Lippen.
***
Zur selben Zeit in Washington D.C.
»Was Cey wohl gerade macht?« Nathan lehnte neben Xyen im fünften Stock am Fenster des großen Büroraumes, welchen sie zuzüglich zu drei weiteren auf derselben Etage gemietet hatten.
Bis auf die verschlissenen Teppichböden und einige abgeblätterte Versicherungslogos an den Wänden waren die Räume vollkommen kahl. Doch die unfreundliche Atmosphäre war mehr als vernachlässigbar, wenn man den exzellenten Blick auf jenes Areal bedachte, unter dem sich höchstwahrscheinlich ihr Feind verbarg. Als alternatives Quartier mit genauso gutem Blick hätten sie kurzfristig höchstens noch eine aufgegebene Zahnarztpraxis beziehen können und das hatte Xyen sofort abgelehnt, obwohl die Praxisräume wohl deutlich besser in Schuss gewesen wären.
Sahim, der einen Laptop an einer Steckdose anschloss und zusammen mit Nikara der Grund dafür war, warum der womöglich längere Aufenthalt in ausgerechnet einer Arztpraxis nun mal nicht in Frage kam, blickte spöttisch auf.
»Was wird sie schon machen? Vermutlich lässt sie sich die Haare stylen oder sitzt ganz brav irgendwo in einer Ecke und strickt einen pinken Pullover mit viel Glitzer. Was sie eben so üblicherweise treibt.«
»Genau das macht mir ja Sorgen«, murmelte Nathan, ohne auf Sahims beißende Ironie einzugehen.
»Denk nicht nach!« Sahims Augen verengten sich verärgert. »Der Sinn dahinter, warum sie uns nichts gesagt hat, ist genau das – wir wissen es nicht, stellen keine Überlegungen an und können somit auch nichts verraten! Hab ich dir schon ein Dutzend Mal erklärt.«
Xyen hätte sich normalerweise bereits sehr viel früher in den Zoff eingemischt, doch er hatte noch eine Mail auf seinem Handy gelesen. Jetzt steckte er es zurück in seine Tasche.
»Hört auf damit«, verlangte er streng und wechselte sogleich das Thema. »Nathan, die Einladungen wurden bestätigt. Du, Four und Seven und ein Teil von Alecs und Landons Team werdet morgen zusammen mit Tajyno und Callan an den Feierlichkeiten im Weißen Haus teilnehmen.«
»Toll«, erwiderte Nathan so begeistert, als wäre er zu hundert Jahre Minenzwangsarbeit abkommandiert worden. Das Risiko, dass dem Präsidenten etwas geschah, war schlicht zu groß, deswegen war von Anfang an klar gewesen, eindringliche Warnungen genügten nicht und sie mussten selbst ebenfalls vor Ort sein.
Der Nationalfeiertag würde mit einem opulenten Frühstück starten, an dem zahlreiche Regierungsvertreter teilnahmen. Der Präsident plante eine Rede, die live im Morgenfernsehen übertragen werden würde, und anschließend war die Reihe an diversen Abgeordneten, einen Toast auf die Nation und ihre Bürger auszusprechen. Entsprechend früh würde im Weißen Haus ein reges Gewimmel einsetzen. Tajyno hatte mit Mason Kibera telefoniert und durch ihn eine Anpassung der Gästeliste erreicht.
»Du weißt, warum wir die Gruppen so aufgeteilt haben.«
Kampffertigkeiten im physischen und mentalen Bereich waren natürlich erörtert worden. Aber nach der verheerenden Konfrontation im Cheyenne Mountain Komplex war es zum Beispiel mehr als fraglich, welches Level für den geistigen Schutz überhaupt ausreichen konnte. Denn Jay hatte unter Zachriels Einfluss seine Waffe ja auch auf jemanden gerichtet, den er überhaupt nicht hatte anvisieren wollen. Und Jay besaß längst ausgezeichnete mentale Sperren, wie Cey und ihre Geschwister mehrfach bestätigt hatten.
Nichtsdestotrotz würde Zachriel mit Sicherheit jede noch so geringe Nachlässigkeit ausnutzen, um alles über Cey in Erfahrung zu bringen und ihr dadurch zu schaden. Dass sie endlich wussten, wo er steckte, konnte nämlich einerseits sehr wohl an ihren intensiven Nachforschungen und ihrer Hartnäckigkeit liegen.
Es konnte aber genauso gut sein, dass es Zachriel einfach gar nicht mehr juckte, weil seine Pläne ohnehin kaum noch zu durchkreuzen waren, und er deswegen keine Energie mehr darauf verschwenden wollte, seine Spuren derart perfekt zu verwischen wie bisher.
Oder aber Möglichkeit Nummer drei – und diese war es, die Xyen für die wahrscheinlichste hielt - das Ganze war mal wieder eine sadistische Falle. Jenem Zweck gewidmet, endlich mit der Vergangenheit aufzuräumen, Astans unverzeihlichsten Fehler auszubügeln - den Fehler in Form einer jungen J’ajal, die sich einfach nicht ihrem zugedachten Schicksal fügen wollte -, bevor Zachriel sich dann vollkommen einer mehr als düsteren Zukunft verschrieb.
Und genau deshalb mussten sie sich nicht nur unter Berücksichtigung ihrer Kampffertigkeiten bestmöglich platzieren, um gegen dieses Ungeheuer bestehen zu können. Es gab den ersten Trupp, dem Xyen selbst angehörte, und eine zweite Einheit unter Landons Kommando. Im Weißen Haus hingegen würden Ungereimtheiten Nathan mit am schnellsten auffallen, schließlich konnte er sich nun mal ausgesprochen gut in den gehobenen Kreisen bewegen, die dort verkehren würden. Ihn also mit in den Untergrund zu nehmen, wäre völlig unlogisch gewesen.
»Ja, ich weiß«, knurrte Nathan. »Aber gefallen muss es mir ja noch lange nicht.«
Womöglich hätte er sich weiter beschwert, wenn in diesem Moment nicht Jay den Raum betreten und Sahim scharf gemustert hätte. »Da möchte dich jemand sprechen.«
»Mhm.« Sahim wirkte nicht im Mindesten überrascht, sondern grinste Jay stattdessen schelmisch an. »Hat einer deiner Männer jetzt etwa Kopfschmerzen?«
Jay schnaubte und erteilte offenbar gleichzeitig eine mentale Anweisung, denn gleich darauf stürmten vier junge J’ajal ins Zimmer. Xyen, dessen Haltung sich nach den ersten Worten seines Sicherheitsoffiziers unweigerlich gestrafft hatte, entspannte sich wieder etwas, schließlich kannte er alle Gesichter.
Das rechts war Hailey, eine kleine und zart gebaute Dämonin mit langen dunklen Locken, die schmerzsüchtig war. Dicht an ihrer Seite hielt sich Bran, ihr dämonischer Beschützer. Seine Haut war mokkafarben, die Haare trug er sehr kurz geschoren und er besaß eine ausgesprochen muskulöse und kräftige Statur.
Der Besonnenste der Gruppe war zweifellos Seph, der Mitglied im Rat der Wächter war und aus Prinzip in fast allen Belangen gegen Cey stimmte. Dennoch hatte sie ihn gerade wegen seiner Besonnenheit bereits zeitweise als ihren Stellvertreter eingesetzt. Wobei sich Xyen nach wie vor unschlüssig war, was diese Charaktereigenschaft wohl wirklich aussagte. Bei Dämonen und Wächtern wusste man schließlich nie.
Der Letzte, der den Raum betrat und dabei immer wieder feixend über die Schulter zu Two sah, welcher gemeinsam mit Eight den Eingang des Hauses bewacht und die außergewöhnlichen J’ajal nun nach oben geleitet hatte, war Esclados. Ein Wächter, der mittelalterliche Klamotten liebte, mal zu Cey, mal zu ihren Gegenspielern und mal zu jemand ganz anderem hielt und über unglaublich starke mentale Fähigkeiten verfügte.
Seph und Esclados neigten die Köpfe und murmelten etwas in der Sprache der Wächter, worauf Sahim ebenfalls mit geneigtem Kopf eine Antwort gab.
Interessiert musterte Xyen das Bewusstsein der vier Neuankömmlinge. Nikara und Sahim gaben sich zur Tarnung wieder einmal als kürzliche Ves’ris-Absolventen aus, die den Seday allerdings angeblich mehr zugeneigt waren als den eigenen Leuten. Vor allem, weil sie andauernd so verrückte Aufträge erhielten wie diese oder jene Person abzumurksen. Bevor sie tatsächlich wechselten, wollten Sahim und Nikara aber erst herausfinden, wie sehr sie den Seday vertrauen konnten. Und das ließ sich ja wohl am besten im realen Leben testen …
Dass irgendetwas an der Geschichte nicht stimmte, war vermutlich jedem aus Alecs und Landons Team klar, aber weil Tajyno diese Erklärung abgegeben hatte, hakten sie nicht weiter nach. Zum Glück, zumindest bezogen auf Landon konnte Xyen sich nämlich sehr gut vorstellen, wie er jedem Wächter und Dämon kurzerhand ein Ayaro ums Handgelenk ketten würde, sollte er je erfahren, dass die jungen Leute den Gesetzen sämtlicher Organisationen zum Trotz noch nie eine J’ajal-Schule besucht hatten und es hier keineswegs darum ging, die Bereitschaft für einen freiwilligen Wechsel zu fördern.
Der silberne Totenkopf, das mentale Erkennungszeichen der Ves’ris, war für Xyen nicht schwer aufzuspüren. Und weder bei Esclados noch bei Bran, Hailey oder Seth konnte er auf den ersten Blick Anzeichen für eine Fälschung erkennen, obwohl er ja wusste, dass die Symbole nicht echt waren. Beeindruckend! Vor allem, weil vier meist recht unvernünftige Geschöpfe nun doch eine gewisse Voraussicht bewiesen hatten.
»Wir sind bei Lee«, dröhnte Bran mit lauter Stimme, ohne sich mit einer Begrüßung oder gar einer Erklärung für ihren Besuch aufzuhalten. Er und Hailey wirbelten herum und waren schon wieder weg.
»Hi«, sagte Nathan gedehnt und gleichermaßen vorsichtig wie fasziniert blickte er zwischen Esclados und Two hin und her. »Was hast du mit ihm gemacht?«
»Ich zeige es dir gerne.« Esclados Grinsen wurde breiter und Nathan zuckte zurück, obwohl der Wächter anscheinend bislang noch überhaupt nichts getan hatte. Und dabei sollte es auch gefälligst bleiben.
»Stopp!« Xyen hob mahnend die Hand. »Statt hier irgendwelche Spielchen zu veranstalten, sagt uns lieber, warum ihr hier seid.« Er musterte dabei insbesondere Sahim, denn von allein wären die Dämonen und Wächter wohl kaum in ausgerechnet diesem Gebäude aufgekreuzt.
»Sie sind wegen der großen Party hier«, erwiderte Ceys Bruder ungerührt.
»Jep. Ist so langsam doch recht öde in eurem Bootcamp geworden«, ergänzte Esclados und gähnte dabei demonstrativ. »Außerdem ist Brycen vor Kurzem angereist und kann somit selbst ein Auge auf Keons tadelloses Verhalten haben. Und ich kann endlich wieder Leichen produzieren.«
Er trat ans Fenster – was Nathan veranlasste, ein gutes Stück abzurücken – und spähte hinaus. Xyens Augen verengten sich und er holte bereits tief Luft, um sehr entschieden seine Meinung über unangekündigte, mordlüsterne Besucher kundzutun. Da sagte Sahim eilig: »Nur er wird uns begleiten. Die anderen nicht. Das ändert nichts an unserem abgesprochenen Vorgehen.«
»Finde ich schon«, mischte Jay sich ein. »Es ändert sogar sehr viel, sollte plötzlich ein gesamtes Team unter heftigsten Migräneattacken leiden.«
Esclados verdrehte die Augen. »Deine Seday übertreiben wie immer maßlos, Sahim. Das war nur eine klitzekleine Ranke, die sich um Twos mentales Schild gewunden und ein winziges bisschen zugedrückt hat. Er hat sich sogar gleich halbwegs passabel dagegen gewehrt.«
Das Lob machte Two sichtlich stolz, wohingegen Sahim insbesondere der erste Teil von Esclados Formulierung so gar nicht zu passen schien.
»Meine Seday? Spinnst du?« Er wäre Esclados beinahe an die Gurgel gesprungen, ließ es dann aber doch sein, was vermutlich an dem unisonen Räuspern von Jay und Xyen lag. Widerwillig wandte Sahim sich wieder zu ihnen um. »Wir brauchen ihn.«
»Selbstverständlich braucht ihr mich.« Esclados reckte das Kinn und weil sie der fehlenden Absprache zum Trotz auf keinen noch so geringen Vorteil verzichten konnten, deutete Xyen jetzt nach unten.
»Spürst du die Präsenz von Zachriel? Oder seinem Gefolge?« Weder Sahim, Nikara, Xyen selbst oder einem anderen Seday war das bislang gelungen.
»Ähm …« Esclados Überheblichkeit schwand wieder. Was man ihm außerdem zugutehalten musste, war seine vollkommene Ehrlichkeit. »Nein. Wenn es nach meiner Wahrnehmung ginge, ist da unten alles verlassen.«
»Üben wir«, bestimmte Sahim und ohne näher darauf einzugehen, was sie üben würden, zog er Esclados in eine Ecke.
Seph, der bislang überhaupt nichts gesagt hatte, legte den Kopf schief, als Nikara in diesem Moment den Raum betrat. »Hallo, Maestro. Wir haben überall in der Stadt unsere … hm, Päckchen platziert. Wann genau soll das Feuerwerk denn jetzt starten?«
»Idiot!«, zischte Nikara. »Das wollten wir doch draußen besprechen.«
Das kleine, amüsierte Zucken von Sephs Mundwinkel bewies Xyen zweifellos, dass der Wächter sich nicht rein versehentlich verplappert hatte. Sephs Gefühle zu studieren war dafür keineswegs notwendig.
»Was für PÄCKCHEN?« Jays Stimme erklang eine Oktave höher als sonst und Xyen rieb sich unwillkürlich über die Schläfen. Ganz ohne Esclados dunkle, geistige Ranken verspürte er nun nämlich ebenfalls ein dumpfes, schmerzhaftes Pochen.
»Sag es nicht!«, verlangte Nikara herrisch und die Spitzen seiner rot-blau-grünen Punkfrisur schienen sich zu recken, was den Dämonenanführer noch größer und aggressiver wirken ließ.
Aber Seph lächelte lediglich und erklärte: »Es handelt sich natürlich um Bomben. Genügend, um die gesamte Stadt dem Erdboden gleichzumachen. Washington ist wirklich lange genug die Hauptstadt gewesen. Was haltet ihr von Honolulu als neue? Ist doch auch viel besseres Wetter dort.«
So viel zum Thema wächterische Besonnenheit …