Kapitel 13

Süden von Washington D.C., ca. zwanzig Meter unter der Erde

»Scheiße, was ist das?«, fluchte Five, der bereits einige Schritte vor ihnen über den Bahnsteig in eine große Halle gelaufen war, in der ohne ihre Taschenlampen allumfassende Schwärze geherrscht hätte.

Sämtliche Pistolen waren schussbereit erhoben und Cey, Sahim, Nikara und Esclados hatten ihre Schwerter gezogen. Zumindest vorerst zeigten sich aber weder Zachriel noch einer seiner Verlorenen. Dafür waren überall metallische, etwa ein Meter hohe Sockel zu erspähen, auf denen wiederum etwa einen Meter breite, einen Meter lange und zwei Meter hohe, mit schwarzen Tüchern verhangene Quader platziert waren.

»Sollen das Zachriels Exponate für sein Museum sein?«, rätselte One.

»Ich spüre …« Three runzelte konzentriert die Stirn und lüpfte entgegen Jays hastig ausgesprochener Warnung eine Ecke des schwarzen Tuchs am vordersten Quader. Er keuchte laut auf, bevor er das gesamte Tuch mit einem Ruck herunterriss. Zum Vorschein kam ein Glaskasten, der offenbar bruchsicher und schallisoliert war. Denn im Inneren stand ein Mann - bekleidet lediglich mit einem sackartigen, groben Hemd -, der verzweifelt mit den Fäusten gegen das Glas trommelte, den Mund weit aufgerissen. Doch nicht der geringste Laut drang nach außen.

»Verdammt, du hättest eine versteckte Falle auslösen können«, knurrte Jay, aber dann ging er rasch auf den Glaskasten zu. »Wie bekommt man dieses Ding nur auf?«

Cey hatte inzwischen ein weiteres Tuch von einem Quader gezogen und Sahim, Lee, Echo und Six deckten die restlichen ab. Es waren über ein Dutzend Männer und Frauen jeglichen Alters und jeglicher Hautfarbe, die Zachriel hier auf diese perverse Art zur Schau stellte. Manche schlugen ebenfalls wild gegen die Glasscheiben, andere saßen apathisch zusammengekauert am Boden. Um sich hinzulegen, war viel zu wenig Platz.

Xyen verspürte rasenden Zorn.

»Ich glaube, man muss hier-«, murmelte Jay, als Three ihm plötzlich die Hand wegschlug.

»Nicht! Es ist weitaus schwieriger, meine mentale Intelligenz-Fähigkeit bei diesen Menschen einzusetzen als bei J’ajal. Aber ich denke, dieser Mann ist keineswegs ein freundlicher Zeitgenosse. Was meinst du, Cey?«

»Mhm?« Die junge J’ajal sah von einem der Sockel auf, den sie in den letzten Sekunden intensiv gemustert hatte.

Noch bevor sie Threes Frage beantworten konnte, deutete One auf den bulligen, etwa vierzigjährigen Kerl, vermutlich mexikanischer Herkunft, der in Xyens unmittelbarer Nähe eingesperrt war. »Ich kenne sein Gesicht von einem Fahndungsfoto! Pacorro Palomares. Er gehört zur Mara Salvatrucha, ist in mehrere Morde verwickelt und war wohl eine recht große Nummer im Drogen- und Prostitutionshandel. Vor einigen Wochen hat er es angeblich mit Hilfe verschiedener Gangmitglieder geschafft aus dem Gefängnis zu fliehen.«

Als Pacorro sich jetzt umwandte, erkannte Xyen eindeutig die Tattoos auf dessen Handrücken. Jeweils ein M und ein S und die Zahl 13, welche allesamt die Zugehörigkeit zur Mara Salvatrucha bekundeten.

Fünf weitere Männer und zwei Frauen wurden von Xyen, Jay und seinen Männern nach kurzer Überlegung und dem Zurateziehen ihres fotografischen Gedächtnisses als gesuchte Verbrecher identifiziert, womit die Wahrscheinlichkeit äußerst hoch war, dass dies auch für die anderen Menschen galt.

»Wirtschaftsminister«, sagte Cey gedehnt.

»Bitte was?« Jay warf ihr einen irritierten Blick zu, während es Xyen bereits dämmerte.

»Das hier sind keine unschuldigen Opfer, es sind aber auch nicht Zachriels Verbündete, die seinen Unmut erregt haben und deswegen eingesperrt wurden. Sondern es sind jene, die er wie auch immer als zukünftige Politiker einsetzen will.« Sein Blick suchte den Sockel neben sich ab und schließlich entdeckte er eine winzige, verschnörkelte Inschrift. »Justizminister.«

»Jemand von der Mara Salvatrucha als Justizminister?«, bemerkte Lee mit einem Ächzen. »Das ist doch verrückt!«

Diese Meinung teilten sie alle. Jay begutachtete rasch seine Uhr. »Wir werden uns später damit befassen. Wir müssen jetzt weiter.«

Insgesamt hatten sie sich gewiss nicht länger als drei, vier Minuten aufhalten lassen, dennoch war es natürlich immens wichtig, auf das richtige Timing zu achten, damit Landons Einsatz auch die beabsichtigte Wirkung erzielte.

Sie ignorierten einen alten Treppenaufgang, checkten sorgfältig und immer mit doppelter Sicherung ein paar kleinere, verwaiste Räume zu ihrer Rechten, welche früher wohl zur Aufbewahrung von Putzutensilien oder Ähnlichem gedient hatten, derzeit jedoch keinen offensichtlichen Zweck erfüllten. Dann gingen sie zurück durch die Halle zu den Bahngleisen. Wenn sie ihnen ein Stück durch einen Tunnel und um eine Biegung folgten, müssten sie in einen Bereich gelangen, wo die Bahnen früher gereinigt und gewartet worden waren.

Kaum waren Xyen und der Rest des Trupps in das alte Gleisbett gesprungen, da flammten plötzlich überall um sie herum Deckenlichter auf. Gleich darauf waren auch verärgerte Stimmen zu vernehmen und das Knirschen von Schritten. Es war zu spät, um sich zu verstecken, zumal es ohnehin kaum Deckungsmöglichkeiten gab und sowohl das Loch oben in der Wand als auch die heruntergezogenen Tücher von den Glaskästen schnell auffallen würden.

Zum Verstecken sind wir aber auch nicht hier! Mit grimmiger Befriedigung befolgte Xyen Jays Handzeichen und die anderen taten es ihm gleich. Sie bauten sich im Tunnel rechts und links nahe der Biegung auf, völlig lautlos und mehr als bereit. Sehnen traten vor Anspannung hervor und Xyen meinte ein Prickeln auf der Haut zu spüren, das davon kündete, wie Cey und ihre Freunde sich für einen geistigen Angriff wappneten. Doch dieser blieb aus.

»Er hat so lange kein einziges Wort über diese Knackis verloren und jetzt sollen wir unseren Gästen plötzlich Geschenke-« Der hagere Mann, der als Erster um die Biegung trat, bekam keine Chance seinen Satz zu beenden. Eight schoss ihm eine Kugel mitten in den Schädel. Sein glatzköpfiger Kumpan starb nur einen Sekundenbruchteil später durch Ceys Schwert. Blut spritzte und zwei Körper sackten zu Boden.

Eigentlich hätte die J’ajal sich zurückhalten statt nach vorne drängen sollen und Jay setzte bereits zu einer Ermahnung an, als Eight triumphierend verkündete: »Zwei Arschlöcher weniger. Wir sind ein gutes Team, Cey!«

Ihre Wangen färbten sich rot und ihr Blick blieb zwei, drei Sekunden an Eight hängen, während Jay etwas Unverständliches brummte. In Eights Emotionen keimte etwas auf, was Xyen besorgte, aber noch bevor er sich näher damit befassen konnte, senkte Cey rasch den Blick und bückte sich nach einer der beiden handtellergroßen Geschenkschachteln, die den Toten aus den Fingern geglitten waren.

»Nein!«, sagte Jay scharf. »Ich sehe mir das zuerst an.«

Dieses Mal hielt sich Cey an seine Anweisung und ließ die Schachtel ungeöffnet. Sahim, der die zweite aufgehoben hatte, drehte diese unschlüssig in den Händen, übergab sie aber nach einem kurzen Zögern genau wie Cey an Jay.

»Ist euch klar, was sie gesagt haben?« Cey zeigte auf die Leichen. »Geschenke für unsere Gäste. Damit hat sich Zachriel bestimmt nicht auf die Verbrecher in den Glaskästen bezogen. Sondern auf uns. Er weiß, dass wir hier sind. Und er weiß auch genau, wo wir sind.«

»Das haben wir einkalkuliert«, erwiderte Xyen ruhig, weil sich die Anspannung seiner Leute bei Ceys Worten zunehmend vergrößerte. Tatendrang, Entschlossenheit, aber auch Sorgen und Befürchtungen ließen sich unschwer aus ihren Mienen und ihrer Haltung ablesen. All das war mehr als nachvollziehbar, schließlich war eine Planung, egal wie oft sie besprochen wurde, immer noch etwas vollkommen anderes, als nun wirklich mit Zachriels geballter Aufmerksamkeit konfrontiert zu werden.

Jay sagte zumindest vorerst nichts, was vermutlich daran lag, dass er einen Sicherheitsabstand von einigen Schritten zu ihnen eingenommen hatte und sehr, sehr behutsam die erste Schachtel öffnete. Er blinzelte, sah zu Xyen und dann zu Cey, Sahim, Esclados und Nikara. Er öffnete auch die zweite Schachtel und unverhohlener Hass verzerrte für einen Moment seine Gesichtszüge.

»Was ist drin?« Nikaras Tonfall verbot jegliche ausweichende Antwort und Xyen nickte Jay zu. Was immer es war, sie würden es den jungen Leuten ohnehin nicht ersparen können. Sie konnten lediglich die Zeit verkürzen, in der die grausamsten Vorstellungen die vier J’ajal quälten, genährt aus den furchtbaren Erlebnissen ihrer Kindheit.

Langsam kippte Jay die erste Schachtel so, dass sie den Inhalt sehen konnten. Es war eine braune Haarsträhne, in der sich zusätzlich einige hellblonde Haare befanden. One fluchte und Sahim wurde aschfahl im Gesicht. »Die ist von Zoe.«

Er war jetzt nicht mehr aufzuhalten, jagte auf Jay zu und riss ihm die zweite Schachtel förmlich aus der Hand. Er schluckte, mehrmals, zuerst vor Wut, dann vor Erleichterung, was wiederum Schuldgefühle wachrief. »Ein abgetrennter Finger. Aber der ist nicht von Zoe.«

»Zeig her!« Jetzt war es Nikara, der ihm die Schachtel aus der Hand riss. Der Dämonenanführer sagte nichts, aber seine Aura verdunkelte sich und seine Augen färbten sich tiefrot. Einen Wimpernschlag später leuchteten auch jene von Cey, Esclados und Sahim im tiefsten Rot. Nikara ließ die Schachtel fallen und fuhr herum, um mit aufgebrachten Schritten durch den Tunnel zu stapfen. Sie alle setzten sich wieder zügig in Bewegung.

»Er will euch zum Ausrasten bringen!«, beschwor Five den Dämonenanführer. »Er will-«

»Wissen wir«, fauchte Esclados an Nikaras Stelle. »Belehrt ihr uns nicht über diesen Wichser!«

Na das läuft ja großartig. Xyen biss die Zähne aufeinander. An so vielen USF-Einsätzen war er nun schon beteiligt gewesen, aber kaum ein Gegner hatte es jemals geschafft, sie derart leicht an den Rand des psychischen Wahnsinns zu drängen wie Zachriel. Immerhin rasten Cey und die anderen trotz ihres Zorns nicht kopflos davon, worüber Xyen mehr als dankbar war. Er bemerkte jedoch sehr wohl, wie sich ihre Hände um die Griffe ihrer Schwerter gekrampft hatten. Kein gutes Zeichen.

»Sieht nicht so aus wie auf den Fotos und Zeichnungen, die wir auftreiben konnten«, bemerkte Six leise, als sie den rückwärtigen Teil der Station erreichten. Die Gleise verschwanden in einem hölzernen Podest, es gab Mauern, wo keine hätten sein sollen, und dafür schien Zachriel weitere unterirdische Bereiche neu erschlossen zu haben. Ein langer Gang tat sich vor ihnen auf und es gab so viele Türen, dass nur schwer abzuschätzen war, was sich dahinter verbarg.

»Mehrere J’ajal«, zischte Esclados und deutete mit der Schwertspitze auf die dritte der Türen. Irgendwo dort musste sich früher die Technikzentrale befunden haben, wenn Xyen sein Orientierungssinn nicht trog.

Jay bedeutete seinen Leuten Stellung zu beziehen. Eight und Three würden die erste Tür sichern, Five und Six die zweite. Lee und Echo flankierten den Anfang des Gangs, wo auch Delta, Two und Nine bleiben sollten, während One, Xyen und Jay selbst zu jener Tür schlichen, auf die Esclados gewiesen hatte. Dabei achteten sie akribisch darauf, dass weder Cey noch einer ihrer Freunde sich erneut vordrängeln konnten.

Nach einem Nicken von Jay trat One die Tür auf und gemeinsam stürmten sie hindurch. Von fünf Kerlen fuhren vier verdutzt herum. Die Männer trugen Gürtel mit Granaten und es waren allesamt Verlorene, was ein rascher Blick auf ihr Bewusstsein und die fehlenden Zugehörigkeitssymbole bewies.

Offenbar hatten sie soeben einige opulente, mit schwarzem Leder bezogene Sessel von dem Holzfußboden auf einen dicken, weißen Teppich rücken wollen. Zahlreiche Kameras und Scheinwerfer waren darauf gerichtet. Der Raum wirkte zum Teil wie ein riesiges Fernsehstudio und zum Teil wie eine finstere Szenerie aus dem Mittelalter. Hinter den Sesseln hingen nämlich zwei Kreuze an der Wand. Und daran gekettet hingen … Xyen knurrte unwillkürlich.

Er hatte Nikara versprochen, sie würden Bethor und Anakim finden. Und das hatten sie. Die Körper der beiden Dämonen wirkten beinahe unversehrt, bis auf einige Blessuren im Gesicht und dem fehlenden Zeigefinger an Anakims linker Hand. Ihre Haut glänzte, als wären sie mit irgendetwas eingerieben worden. Was auch den fehlenden Geruch erklärte. Denn tot waren diese beiden nicht erst seit ein paar Stunden. Um das zu beurteilen, reichte Xyen seine medizinischen Grundkenntnisse durchaus aus.

Schüsse aus Jays und Ones Pistolen peitschten durch den Raum und einer der Verlorenen sackte in sich zusammen. Xyen selbst kam nicht mehr zum Schießen, weil eine unsichtbare Faust brachial gegen seinen mentalen Schild drosch. Der Druck war so heftig, dass Xyen aufkeuchte und zur Seite wankte, doch noch hielten seine geistigen Schutzbarrikaden und verhinderten Schlimmeres.

One und Jay stöhnten ebenfalls schmerzerfüllt auf und Xyen war klar, welcher der verbliebenen Verlorenen für diesen mentalen Angriff verantwortlich sein musste – derjenige, der im Gegensatz zu seinen Kumpanen so gar nicht verwundert über ihr Aufkreuzen zu sein schien. Ein Mann, der wie ein Wikinger anmutete, langhaarig war, mit einem teils geflochtenen Bart und einem milchig verfärbten Auge. Thorn.

»Ihr hättet nicht kommen sollen«, sagte er ausdruckslos, während die anderen Verlorenen grollend ihren toten Freund am Fußboden musterten, ehe sie die Handgranaten von ihren Gürteln zogen und gehässig grinsend die Splinte entfernten.

»Ich hole jetzt Zoe. Ihr wollt sie ja bestimmt begrüßen. Wenn ihr dann noch lebt.« Und damit wandte Thorn sich einer breiten, satinierten Glasschiebetür auf der linken Seite zu.

Statt seinem drängte nun ein anderer, fremder Geist brachial gegen Xyens mentalen Schutzschild. Er konnte ihn abwehren, doch es kostete ihn enorm viel Konzentration.

Seine Pistole richtete sich nicht so sicher, wie er es sich gewünscht hätte, auf einen der Verlorenen. Durfte er einen Schuss riskieren? Die Granaten würden explodieren, sobald die Verlorenen sie losließen. Je nach Bauart blieb womöglich nur eine einzige Sekunde, um den Bügel zurück an die Granate zu drücken und sie dadurch wieder zu sichern. Das Ausschalten einer dieser Mistkerle konnte also auch ihren eigenen Tod bedeuten.

One und Jay zögerten ebenfalls, nur für eine einzige Sekunde, aber diese genügte, damit ihre Gegner erneut einen mentalen Angriff starten konnten. Und dieses Mal übersah Xyen irgendetwas. Urplötzlich fing sein gesamter Körper nämlich zu zittern an.

»So … verdammt … kalt!« Auch Jay und One bibberten und schafften es nicht mehr, die Verlorenen kontrolliert mit ihren Waffen anzuvisieren.

Im Allgemeinen froren J’ajal nicht so leicht und niemals zuvor hatte Xyen das Gefühl gehabt, als würden sich kleine Eisstücke durch seine Adern schieben. Jetzt aber wurde ihm schwarz vor Augen vor lauter Kälte und er musste blinzeln, während einer der Verlorenen hämisch lachte.

»Ist was nicht in Ordnung?« Er lachte erneut, ein mehr als boshafter Laut, der dann jedoch in ein Würgen überging.

Als Xyen wieder blinzelte, verschwanden die schwarzen Punkte aus seiner Sicht. Esclados und Cey standen nun bei ihm, Nikara und Sahim neben Jay und One.

»Ist was nicht in Ordnung?«, wiederholte Esclados scheinheilig die Frage des Verlorenen, mit einer Stimme wie ein Reibeisen, das Gänsehaut verursachte.

»Sorry«, murmelte Cey und rieb sich über die Stirn. »Ich konnte nicht gleich … es ist …«

Sie starrte durch den Raum und sah offenbar Dinge, die Xyen verborgen blieben. Nikara starrte ebenfalls durch den Raum und woran sein Blick hängenblieb, war offenkundig. Sein Schwert sirrte durch die Luft, noch bevor irgendjemand ihn stoppen konnte. Präzise durchtrennte die Klinge Haut und Muskeln genau am Gelenk und die Hand eines Verlorenen fiel mitsamt der Granate zu Boden.

»Scheiße!« Geistesgegenwärtig kickte One die Granate weg und diese kullerte unter einen der Sessel. Xyen packte Cey und schirmte sie mit seinem Körper ab, alle anderen wichen hastig von selbst zurück.

Es knallte ohrenbetäubend, der Sessel wurde völlig zerfetzt, Kamerastative stürzten um und das Glas weiterer Scheinwerfer ging zu Bruch. Ein Loch im Holzboden klaffte auf und enthüllte eine stählerne Platte, der Xyen vielleicht mehr Aufmerksamkeit geschenkt hätte, wenn sein Trommelfell nicht so sehr geklingelt und weniger Chaos geherrscht hätte.

»Jemand verletzt?«, erkundigte Jay sich hektisch. Zum Glück war das nicht der Fall. Esclados hielt nach wie vor einen der Verlorenen in Schach und Xyen beeilte sich, dem Mann die Granaten abzunehmen, bevor er sich doch noch aus dem mentalen Bann des Wächters lösen konnte.

Er tapte die Bügel rasch mit Klebeband an den Granatenhohlkörper, weil die Splinte sonstwo herumlagen und er auf jeden Fall vermeiden wollte, dass noch mehr von den Dingern losgingen. Dabei behielt er den Verlorenen mit der abgetrennten Hand sorgsam im Blick, der jedoch keine akute Gefahr mehr darstellte. Zuckend und schreiend lag er am Boden und umklammerte seinen Armstumpf, aus dem ein stetiger Strom Blut quoll.

Nikara ging zeitgleich auf den Letzten des Trios zu und statt anzugreifen, wich der Verlorene Schritt für Schritt zurück. Nackte Panik beherrschte ihn und die Granaten in seinen Fingern schien er völlig vergessen zu haben. Die Aura des Dämonenanführers hatte sich inzwischen so sehr verdunkelt, dass es Xyen schwerfiel, in ihm noch den jungen Mann zu erkennen, der Ceys loyaler Freund war, fröhlich mit Nathan über Schuhe quatschte und stolz seinen außergewöhnlichen Fuhrpark pflegte.

Eine Wand stoppte den Fluchtversuch des Verlorenen. Mit dem Rücken dagegen gepresst stand er da und Nikara näherte sich ihm, bis sich ihre Gesichter beinahe berührten.

»Ich sehe ihn in deinen Augen. Ich spüre ihn in deinem Geist«, flüsterte der Verlorene entsetzt und Nikaras Mundwinkel verzogen sich zu einem grausamen Lächeln.

Six und Eight, die inzwischen ebenfalls in den Raum gestürmt waren, bewegten sich umsichtig auf das ungleiche Gespann zu und nahmen dem Verlorenen mit einem raschen Griff die Granaten ab, um sie ebenfalls mit Klebeband zu sichern. Der Mann leistete keine Gegenwehr.

Nikara jedoch wirbelte herum, starrte die beiden Seday für einen Moment so finster an, als wären sie ebenfalls Feinde, und holte dann mit seinem Schwert aus. Er trieb es tief in die Brust des Verlorenen, wobei er das Herz jedoch absichtlich verfehlte. Stöhnend und wimmernd brach der Verlorene in die Knie.

»Es reicht!«, erklärte Jay schroff, doch Nikara hörte ihn offenbar nicht. Die Kralle seines Zeigefingers schnellte hervor und genüsslich kratzte er dem Verlorenen damit über das Gesicht und hinterließ eine blutige Spur.

»Ich sagte, sofort Schluss damit!« Jay wollte auf Nikara zugehen, aber Sahim und Esclados traten ihm in den Weg.

»Sie haben Anakim und Bethor getötet. Niemand von diesen Maden hier unten hat ein gnädiges Schicksal verdient!«

Bislang hatte es wunderbar oder zumindest einigermaßen funktioniert, dass Wächter und Dämonen sich Jays Führung untergeordnet hatten. Aber in diesem Moment war es offenbar mehr, als sie schaffen konnten.

Der Verlorene stöhnte gequält und hob die Arme, um sich nun doch noch fahrig gegen Nikara zu wehren. Mit einem hässlichen Knacken brach erst ein Knochen, dann ein zweiter. Der Mann lebte jedoch immer noch. Und wenn es nach Nikara ging, würde das wohl auch noch eine ganze Weile so bleiben. Er braucht dringend Unterstützung, um aus dieser Abwärtsspirale wieder rauszukommen! Kurzerhand erschoss Xyen den Verlorenen unter Esclados mentaler Kontrolle, bevor der Wächter auf eine ähnliche Idee wie Nikara kommen konnte. Den Verlorenen mit dem Armstumpf erledigte er ebenfalls. Und statt an Nikara selbst wandte Xyen sich entschieden an Cey. »Sag ihm, dass er aufhören soll.«

»Wieso?« Sie neigte den Kopf und schien mit ihren Gedanken immer noch woanders zu sein. Hass und Trauer beherrschten sie, mit Logik musste er ihr also gar nicht erst kommen. Von daher wies Xyen nicht darauf hin, wie sehr Nikara das schadete, was er gerade tat, sondern beschränkte sich auf ein einziges Wort. »Bitte.«

Sie sah zu Nikara, Sahim und Esclados, sagte jedoch nichts. Dann blickte sie zu Eight. Als Xyen ihm auffordernd zunickte und dieser nach einem kurzen Stirnrunzeln die Bitte wiederholte, seufzte Cey. »Nikara, Sahim, Esclados, wer auch immer, murkst den Kerl ab. JETZT!«

Keiner der drei tat es, aber als Jay nun Sahim und Esclados zur Seite schob, stellten sie sich ihm nicht erneut in den Weg. Jay erschoss den Verlorenen.

»Was ist los?« Xyen musterte Cey, deren Blick inzwischen auf Sahim ruhte. Die Trauer in ihren Emotionen nahm von Sekunde zu Sekunde zu.

»Hey.« Sachte strich er ihr über den Arm. Xyen wusste, dass sie eigentlich keine Zeit für eine solche Geste oder ein Gespräch hatten – Six und One waren bereits wachsam durch die halb geöffnete satinierte Glasschiebetür gehuscht, Esclados setzte dazu an ihnen zu folgen und er sollte das ebenfalls tun. Dennoch erschien ihm gerade nichts wichtiger, als die Situation mit Cey zu klären. »Wie kann ich dir helfen?«

Ihre Schultern sackten nach unten. »Zachriel«, murmelte sie. Für Xyen fühlte es sich an, als hätte er einen Faustschlag mitten in die Magengrube erhalten. Nur weil er dieses Monstrum bislang nicht gesehen hatte, bedeutete das ja nicht zwangsläufig, dass er untätig geblieben war.

»Er hat mental mit dir gesprochen?«, fragte er scharf. Kein Wunder, dass Cey so abgelenkt gewesen war.

Sie nickte und ihre Finger krampften sich noch heftiger um ihr Schwert. »Ich habe die Wahl … oder … oder er hat die Wahl …« Sie verstummte und Sahim kam mit gefurchter Stirn auf sie zu gestapft. Cey schaffte es nicht, ihm in die Augen zu sehen.

»Warte«, bat Xyen Sahim, ehe dieser etwas sagen konnte. Und weil Cey vermutlich niemals laut aussprechen würde, was genau geschehen war, wandte er sich mental an sie. »Weder du noch Sahim werdet irgendetwas wählen! Ich werde es nicht zulassen! Ist das klar?«

Er sprach so bestimmt, wie er nur konnte. Ein winziges Lächeln huschte über Ceys Lippen und ihre aufgewühlte Aura beruhigte sich etwas. Sie blickte jedoch immer noch zu Boden, als sie ihm ebenfalls lautlos antwortete. »Zachriel hat eine Rakete auf Garth City ausgerichtet, die in wenigen Minuten automatisch starten wird. Sie lässt sich nur mit einem einzigen Code deaktivieren, den niemand außer Zachriel kennt. Er hat ihn auf einen Zettel geschrieben, diesen in eine Kapsel gesteckt und Zoe musste ihn gestern schlucken. Sahim soll ihr den Bauch aufschlitzen, um da ranzukommen. Oder ich. Oder wir lassen es und ertragen, dass zehntausende Menschen unsretwegen sterben werden. Und dass Zoe Sahim für immer hassen wird, weil ihre gesamte Familie, ihre Freunde und Kollegen und jeden, den sie jemals in Garth City gekannt hat, ausgelöscht wurde …«

Xyen wurde schlecht. Wie war es nur möglich, dass eine solche Verderbtheit in Form eines einzelnen J’ajal überhaupt existierte?

Bevor er etwas erwidern konnte, drängte Jay Nikara an ihnen vorbei in Richtung Tür. Xyen hatte nicht mitbekommen, was sein Sicherheitsoffizier zu dem Dämonenanführer gesagt hatte, aber irgendwie war es ihm gelungen, ihn ein Stück weit aus der Dunkelheit zurückzuholen.

»Er schließt sich Nine, Delta und Two an«, verkündete Jay knapp. Three, der neben Lee in der Tür zum Gang stand, zuckte zurück, als Nikara an ihm vorüberschritt. Es war vermutlich nichts besonders Schönes, was Threes Fähigkeit ihm derzeit über das Bewusstsein des Dämonenanführers verriet. Nikara hielt kurz inne, starrte Three aus schmalen Augen an, verschwand dann jedoch ohne einen Ton zu verlieren aus der Tür heraus.

»Übergib sie uns, verdammt, sie bricht doch gleich zusammen!« Das war Ones Stimme, die durch die Glasschiebetür zu ihnen herüberschallte, und sie alle fuhren herum. Langsam, Schritt für Schritt, traten Esclados, One und Six rücklings zu ihnen zurück in den Raum. Pistolenmündungen und Schwertspitze waren auf jene gerichtet, die nun folgten.

Thorn, der gleich neben der halb geöffneten Schiebetür stehen blieb, die Hände vor dem Bauch gefaltet und das Gesicht so ausdruckslos wie zuvor. Eine Handvoll menschlicher Söldner sowie Verlorene - schwer bewaffnet mit MGs -, die sofort ausschwärmten.

Und schließlich Zachriel, der im Türrahmen stehen blieb und missbilligend mit der Zunge schnalzte. »Ihr habt meine Einrichtung ruiniert!«

Warum sich keiner mehr von ihnen zu rühren, geschweige denn anzugreifen wagte, lag weniger an den auf sie gerichteten MGs als an der jungen Frau, die Zachriel vor sich herbugsierte, seine Arme fest um ihren Körper geschlungen. Zoe. Sie wirkte so schwach, dass sie ohne den zusätzlichen Halt vermutlich gar nicht erst hätte laufen können.

Außer einer etwa fingerlangen, hässlichen Wunder an der Schulter konnte Xyen auf die Schnelle keine weitere Verletzung erkennen, diese schien sich jedoch entzündet zu haben. Zoes Augen glänzten fiebrig, das Gesicht war blass und mit Schweiß bedeckt. Womöglich war das Fieber aber auch ein Segen, denn Zoe schien kaum etwas von ihrer Umgebung oder dem, was passierte, mitzubekommen.

»Lass. Sie. Sofort. Frei.« Sahim bebte am gesamten Körper und seine Stimme war noch eisiger als jene Kälte, die Xyen vor einigen Minuten verspürt hatte.

»Oh, das möchte ich liebend gerne tun«, beteuerte Zachriel. »Wirklich! Aber bitte legt doch zuerst eure Waffen nieder. Nicht, dass sich die arme Zoe am Ende noch eine verirrte Kugel einfängt. Das wäre ganz und gar nicht in meinem Sinne.«

Sein Blick bohrte sich in den von Cey. Die junge J’ajal zeigte keine Blöße, keine Angst, keine Wut. Ihr Gesicht hatte sich in eine ebensolch ausdruckslose Maske verwandelt wie jenes von Thorn. Ruhig öffnete sie die Hand und ihr Schwert polterte zu Boden. Auch Esclados und Sahim legten ihre Schwerter nieder.

Nachdem Xyen einen raschen Blick mit Jay gewechselt hatte, sicherten sie, Six, Eight, One, Lee und Three ihre Pistolen und platzierten sie in einiger Entfernung am Boden. Sämtliche ihrer Ersatzwaffen und die Granaten überließen sie nach einer entsprechenden Aufforderung ebenfalls ihren Gegnern.

Die Verlorenen tasteten sie der Reihe nach grob ab, nahmen den Wächtern noch Wurfsterne, die Zündschnur und Dolche weg und brachten alles in den Gang hinter Zachriel. Anschließend teilten sie und die Söldner sich auf, die Hälfte blieb in ihrer Nähe, während die anderen in den Hauptflur eilten. Der Letzte von ihnen knallte die Tür lautstark ins Schloss, wodurch nicht mehr erkennbar war, was sich draußen abspielte.

»Wer war das denn?« Begeistert starrte Zachriel auf den Leichnam mit den gebrochenen Knochen, dem Loch in der Brust und den Kratzern im Gesicht, den er anscheinend bislang nicht genauer betrachtet hatte. »Etwa du, meine liebe Cey?«

Als sie nicht antwortete, seufzte Zachriel enttäuscht. Sahim hielt es offenbar nicht mehr länger aus und wollte auf Zoe zugehen, doch Cey packte ihn blitzschnell am Arm und hielt ihn fest.

»Hast du es ihm gesagt?« Zachriel grinste breit. »Oder hast du bereits selbst entschieden?«

»Das wird nicht notwendig sein.« Mit diesen Worten erlosch das Licht im gesamten Raum. Xyen hatte bereits länger nicht mehr auf die Uhr gesehen, er wusste also nicht, ob Landon planmäßig gehandelt oder ob Cey ihn mental informiert hatte, früher einzuschreiten. Tatsache war, Landon musste die EMP-Waffe aktiviert haben, die Resic ihnen nach gutem Zuspruch – diese Formulierung stammte von Sahim und besagte sicher etwas vollkommen anderes, als sie vermuten ließ - ausgeborgt hatte.

»Scheiße, was ist jetzt los?«, brüllte einer der Söldner.

»Blaze«, gab Sahim fauchend das Signal, was aber mehr als überflüssig war. Xyen hatte die Position, an der er eben noch gestanden hatte, längst verlassen. Die anderen sollten das ebenfalls getan haben, aber statt auf sie zu achten, fokussierte Xyen seine geistige Kraft ganz auf das Verstecken seiner J’ajal-Präsenz und das Erzeugen einer anderen. Was man mit höchster Konzentration jetzt noch von ihrer Gruppe aufschnappen konnte, war – Cey. Und sie war überall.

Dort, wo Jay gestanden hatte. Bei Sahim. Bei Esclados, One, Three, Eight und Lee. Auch neben Xyen selbst schien sie sich zu bewegen. Jeder von ihnen trug dazu bei, jene zu schützen, auf die es Zachriel am meisten abgesehen hatte. Zumindest beschränkt auf seine geistige Wahrnehmung sollte das für einige Verwirrung sorgen, wenngleich seine Augen ihm natürlich die Wahrheit verraten würden, sobald es irgendwo wieder Licht gab. Also agierte Xyen, ohne zu zögern.

Er hatte sich genau gemerkt, wo welcher Söldner und Verlorene zuletzt gewesen war. Schritte scharrten, Flüche erklangen, jemand schrie schmerzerfüllt auf. Da trafen Xyens Hände auf einen Widerstand, auf einen Rücken oder eine Brust, es war völlig gleich. Seine J’ajal-Krallen, Waffen, die ihm immer blieben, schnitten tief in Fleisch. Der Mann brüllte so grell auf, dass es in Xyens Ohren wehtat, und gleich darauf explodierte irgendwo doch wieder etwas, vermutlich eine von diesen verdammten Granaten.

Xyen wich jedoch nicht zurück, sondern holte erneut mit seinen Krallen aus. Er traf, wurde dann aber selbst gepackt und zu Boden geworfen. Jemand kniete auf ihm, eine Klinge ratschte quer über seinen Oberschenkel und für einen winzigen Moment ließ Xyen sich von dem brennenden Schmerz ablenken. Als er das kalte Metall einer MG auf seiner Stirn spürte, riss er den Kopf blitzschnell zur Seite und bäumte sich auf. Er schaffte es, seinen Gegner abzuwerfen und drosch seine Faust in dessen Seite. Der Mann keuchte, Xyen grub seine Krallen dort hinein, wo er die Kehle vermutete … und das Keuchen verwandelte sich ein Röcheln, das kurz darauf verstummte.

Schwer atmend richtete Xyen sich wieder auf und versuchte sich zu orientieren. In der vollkommenen Finsternis nicht gerade leicht. Just in dem Moment, als er es wieder auf die Füße geschafft hatte, kippte der gesamte Boden weg. Wo sich soeben noch ein stabiler Halt befunden hatte, war plötzlich nichts mehr. Xyen stürzte in einen Abgrund und versuchte noch während des Falls instinktiv seinen Kopf zu schützen. Er knallte hart auf irgendwelches Holz, die Luft wurde ihm aus den Lungen gepresst und irgendetwas Metallisches prallte auf seiner Schulter auf.

Für ein paar Sekunden verlor er wohl auch die Besinnung. Vielleicht waren es sogar mehr als nur ein paar Sekunden, denn als er blinzelte, weil er sanft geschüttelt wurde, schimmerten plötzlich überall um ihn herum neonfarbene Knicklichter. Es waren jene spezielle Lichter, die geschädigte J’ajal-Gewebezellen sichtbar machen konnten. Zerstreut lagen sie zwischen unzähligen zerborstenen Kisten, Sesseln, Stativen und dem sonstigen Zeug, das mit ihnen in die Tiefe gefallen war.

Zachriel musste beim Ausbau seines Verstecks besondere Böden beziehungsweise Decken installiert haben, solche, die sich nach unten öffnen ließen wie ein horizontales, zweiflügeliges Tor. Oder besser gesagt wie eine riesige Fallgrube. Mit einem rein mechanischen Mechanismus, denn Strom gab es ja aktuell nicht mehr.

»Ersatztaktik Nummer zwei oder drei oder hundert … Zachriel hat immer unfassbar viele Ausweichpläne …«, geriet Xyen eine von Ceys endlosen Warnungen in den Sinn. Shit, verdammter!

Er spukte Staub und etwas Blut aus, weil er sich bei dem Sturz irgendwo auf die Innenseite seiner Wange gebissen haben musste.

»Jay …« Xyen versuchte sich aufzurichten. Sein Oberschenkel schmerzte wie die Hölle und als er den Blick dorthin lenkte, sah er nicht nur die erwartete Schnittverletzung, sondern auch ein Stück Holz, das sich tief hineingebohrt hatte.

»Langsam.« Jay, der aus einer Platzwunde über der Augenbraue blutete, stützte seinen Rücken. »Das sieht nicht besonders gut aus.«

Interessierte Xyen aktuell nicht im Mindesten. Sein Blick suchte erneut den Raum ab. Sahim hatte er bereits zuvor erspäht. Der junge J’ajal hatte Zoe in sein Wächtercape gehüllt und hielt sie zärtlich in seinen Armen fest. Lee war bei ihnen und injizierte der Menschenfrau etwas aus einer Spritze.

Am anderen Ende des Raums entdeckte Xyen jetzt Three, der bewusstlos am Boden lag. Eight – oder auch jemand anderes – hatte ihn in die stabile Seitenlage gebettet und saß neben ihm. Six und One schleiften die Leiche eines Söldners zu einem Haufen weiterer Leichen und beugten sich dann leise miteinander sprechend über die toten Verlorenen und Menschen.

Hoch aufgerichtet hingegen stand Esclados in der Mitte des Raumes und obwohl seine Kleidung gleich an mehreren Stellen blutdurchtränkt war, konzentrierte er sich noch immer darauf, multiple J’ajal-Präsenzen von Cey zu erzeugen und durch die Gegend springen zu lassen. Vom Boden über die betonglatten Wände hinweg über die nach unten hängenden Flügel der Decke bis hin zu dem kleinen Vorsprung, der vor der satinierten Glastür erhalten geblieben war. Fast hätte Xyen den Wächter angeraunzt, damit aufzuhören, aber seine Wut rührte vor allem daher, weil er die Besonderheit der mit Holz verkleideten Bodenstahlplatten übersehen hatte.

»Wo sind die anderen?«, erkundigte er sich knapp bei Jay.

»Nikara, Delta, Five, Nine, Echo und Two sind ebenfalls durch eine wegklappende Decke gestürzt und sind in einem Raum ähnlich dem unseren gefangen. Es geht ihnen aber soweit gut.«

»Und Landon?« Der letzten Rest Hoffnung verpuffte, als Jay grimmig den Kopf schüttelte.

»Sie sind noch irgendwo über uns, aber Zachriels Leute haben sie festgesetzt. Nur Landon ist wohl ein Durchbruch gelungen … und seitdem hat niemand mehr etwas von ihm gehört.«

»Was ist mit Cey?« Unwillkürlich hielt Xyen den Atem an.

»Tut mir leid«, erwiderte Jay leise. »Von ihr haben wir auch nichts gehört.«

»Lass mich das mal ansehen.« Lee hatte sich in der Zwischenzeit erhoben und war zu ihnen herübergekommen. Nun tastete er vorsichtig Xyens Oberschenkel ab und trotz der nur sehr behutsamen Berührung zuckte Xyen vor Schmerz zusammen.

»Es scheint keine Arterie verletzt zu sein. Ich muss dieses Holzbruchstück entfernen. Wird allerdings ziemlich wehtun. Denn wenn ich dir ein starkes, schnell wirksames Schmerzmittel verabreiche, wirkt sich das auf jeden Fall auf dein Gehirn aus.«

»Mach einfach«, bat Xyen seinen Freund. Einen klaren Kopf zu bewahren war ihm wesentlich wichtiger, als in einen schmerzgedämpften Nebel versetzt zu werden. Er schloss die Augen, presste die Zähne fest aufeinander und stöhnte dennoch, als Lee das Holz mit einem raschen Ruck entfernte. Der feste Druckverband, der dann folgte, brachte allerdings bereits eine gewisse Linderung.

»Danke.« Xyen sah auf und wollte noch etwas ergänzen, doch in diesem Moment wurde er mit seinen schlimmsten Befürchtungen konfrontiert. Mit denen, die so grässlich waren, dass er sie bislang gar nicht richtig hatte zulassen wollen.

»Nein!«, zischte Eight, was natürlich nicht das Geringste änderte.

Auf dem verbliebenen Vorsprung der Decke stand Zachriel und starrte spöttisch zu ihnen herab. Seine Nase war gebrochen und das gesamte Gesicht blutverschmiert. Die Narbe auf der linken Seite fluoreszierte im Schein der Knicklichter, das zu ihm heraufdrang und ihm ein noch grauenerregenderes Aussehen verlieh.

Neben ihm hatte sich Thorn aufgebaut, der jetzt wieder eine Doppelaxt in den Händen hielt. Die Schneide ruhte im Nacken einer knieenden Gestalt, die sich die Kapuze des Capes so tief ins Gesicht gezogen hatte, dass nur einige lange dunkle Strähnen hervorlugten.

»Ceeey!« Sahim ließ Zoe von seinem Schoß gleiten und sprang auf. »Wenn du ihr auch nur ein Haar krümmst, du perverses Arschloch -«

»Nicht doch«, unterbrach Zachriel geradezu sanft. »Das war recht beeindruckend, was ihr da versucht habt. Aber jetzt will Cey dir etwas sagen. Oder, meine Süße?«

Als sie schwieg, verstärkte sich der Druck der Axt auf Ceys Nacken und sie krümmte sich noch weiter nach vorne, um nicht enthauptet zu werden. Wie zum Hohn klaffte dadurch ihr Umhang auf und zeigte das Shirt mit dem Schriftzug Winner.

Xyens Herz drohte zu zerbersten. Keine einzige Sekunde länger durfte er dieses makabre Treiben zulassen. »Es reicht!« Er erhob sich und sein verletztes Bein knickte kurz weg, doch es gelang ihm, das Gewicht rechtzeitig auf das gesunde zu verlagern. »Du wirst sie niemals wieder zu etwas zwingen! Und niemand wird Zoe aufschlitzen.«

Sahim, der eben noch mit Hilfe seiner Krallen hatte versuchen wollen, an der betonglatten Wand hinaufzukraxeln, fuhr herum. Er starrte zu Zoe, zu Cey, und wieder zurück.

»Lass nicht zu, dass Zachriel Sahim vor eine furchtbare Wahl stellt«, hatte sie ihn an der Academy gebeten. Er hatte ihr sein Wort gegeben und er würde es halten.

Nur mit seinen Fingern erteilte er One und Six, die noch immer bei den Leichen der Verlorenen und Söldnern standen, einen Befehl. Unauffällig begannen die Seday sich Millimeter für Millimeter zu bewegen. Jeder der beiden hatte sich zuvor eine MG genommen, die sie derzeit noch hinter ihrem Rücken verbargen. Aufgrund der schlechten Schussposition war es möglich, dass sie Zachriel verfehlten, und es war ebenfalls möglich, dass sie Thorn nicht rechtzeitig genug auszuschalten vermochten und er Cey tötete.

»Es gibt Schlimmeres, als nicht mehr zu sein!«

Das hatte Xyen so oft von der J’ajal gehört und er hatte immer gedacht, er wüsste, wovon sie sprach. Aber erst jetzt, in diesem Moment, verstand er es wirklich. Und er würde sie Zachriel, diesem sadistischen Scheusal, nicht überlassen. Selbst wenn das hieß sich von ihr verabschieden zu müssen und sich damit selbst eine namenlose Qual zuzufügen.

»Es reicht?« Zachriel lachte. »Hatten wir das nicht schon mal?« Abrupt wurde er sehr nachdenklich. »Wisst ihr, eine Sache hat Astan nie kapiert. Und zwar wie einfach es gewesen wäre, Cey gefügig zu machen, wenn er nur ihre größte Schwäche konsequenter genutzt hätte.«

»Mitgefühl ist niemals eine Schwäche!«, erklärte Lee mit fester Stimme.

»Ach, das meine ich doch gar nicht.« Ungeduldig winkte Zachriel ab. »Klar hat Cey eine Schwäche für alle möglichen bedauernswerten Kreaturen wie euch zum Beispiel. Und was dabei besonders auffällt - egal welchen schmerzhaften Strafen sie bereits ausgesetzt war, sie hat es trotzdem immer wieder getan. Sie lässt zu, dass jemand ihr etwas bedeutet. Sie liebt. Und liebt wieder. Und wieder. Anscheinend kann sie gar nicht anders. Was aber, wenn da keiner mehr wäre, den sie lieben könnte? Keine Freundin, kein Bruder, kein Lover, eben absolut niemand? Was würde das wohl aus einem Geschöpf wie ihr machen?«

Zachriels Worte riefen eine panische Furcht in Xyen hervor. Er spürte mit untrüglicher Gewissheit, dass Zachriel etwas herausgefunden hatte, was er niemals hätte herausfinden dürfen.

»Cey, ich glaube, ich habe dir noch nicht verraten, was für eine fantastische Fähigkeit dein Sohn hat! Sie ist nicht so erstaunlich, wenn man bedenkt, wie die meisten Jahre seines Lebens ausgesehen haben, und ist leider auch noch nicht voll entwickelt. Aber nachdem Thorn sich des kleinen Tesfayes angenommen hat … ach, erlebe es am besten selbst, was sie können!«

Zachriel schnippte mit den Fingern und der Junge mit regenbogenfarbenen Augen trat an seine freie Seite. Er streckte die Hand aus, um an Ceys Kapuze zu zupfen. Und womöglich wäre doch noch alles anders gekommen. Unter jeder Menge verdrehter Gefühle wie Verachtung und Feindseligkeit entdeckte Xyen nämlich auch einen winzigen Funken Sehnsucht. Kindliche, wahre und ehrliche Sehnsucht nach einer Mutter, über die Tesfaye vermutlich nur Lügen gehört hatte und die er niemals hatte kennenlernen dürfen. Doch diese Mutter drehte sich nun weg und vergrub sich noch tiefer in ihrem Cape.

Der Regenbogen in Tesfayes Augen leuchtete auf, begann sich zu drehen, schneller und immer schneller. Und noch bevor er stoppte, fühlte Xyen, wie sie angekrochen kam. Sie, die sich an Cey hängte und sie Stück für Stück auseinandernahm. Die etwas vollbrachte, was kein Leid und keine Qualen je geschafft hätten. Sie … die Einsamkeit.