Fort Meade, Hauptquartier der NSA
Der Morgen begann so vielversprechend. Cey hatte gut geschlafen, was eine wahre Seltenheit war, die Sonne schien warm vom wolkenlosen Himmel und der Kaffee aus der Bäckerei an der Ecke schmeckte einfach nur köstlich. Und dann das.
»S-Tragon wurde geschnappt«, verkündete Braydon Shadd, ihr Chef, kaum dass sie sich an ihrem Schreibtisch neben ihrer molligen Kollegin Tierra Vale niedergelassen hatte.
»Das ist doch toll«, setzte Cey zu einer Erwiderung an. Schließlich hatte der Hacker für einige Aufregung gesorgt. Mit einem ausgeklügelten Virus war es ihm gelungen, sämtliche Sicherheitsvorkehrungen des Committee of Global Security zu umgehen und in die persönlichen Daten des Vorsitzenden Mason Kibera einzudringen. Sie selbst hatte fast einen ganzen Monat mit diesem Fall verbracht, hatte sogar mit dem FBI zusammengearbeitet. Nun spürte sie einen Anflug von Stolz, weil sie dazu beigetragen hatte, die Welt ein wenig sicherer zu machen. »Weiß Agent Tenley schon-«
»Hm?«, unterbrach Braydon sie. Er starrte sie an, als würde er sie überhaupt nicht kennen und sich insgeheim fragen, wie, zum Henker, sie in dieses Gebäude gekommen war. Dann zuckte Braydon die Schultern, schob mit dem Zeigefinger seine Nickelbrille zurecht und sagte: »Jedenfalls, gut gemacht, Tierra! Weiter so.«
»Danke.« Tierra sah lächelnd von ihrem Bildschirm auf und Braydon nickte ihr ein letztes Mal zufrieden zu, ehe er zurück in sein Büro marschierte.
Das Hochgefühl in Ceys Innerstem zerplatzte wie eine bunt schillernde Seifenblase und zurück blieb diese furchtbare, elende Leere, die sie schon zur Genüge kannte. Denn es war immer das Gleiche – egal was sie auch versuchte, egal was sie auch tat, niemand schien sie wirklich zu bemerken. Dabei war etwa Braydon keineswegs ein Arschloch, er war ein prima Vorgesetzter, deckte ihnen immer den Rücken, lachte und scherzte gerne. Also mit den anderen, nicht mit ihr.
»Hey, gehen wir heute zusammen mittagessen?« Tierra hatte den Schreibtischstuhl in ihre Richtung gedreht und Ceys Augen wurden groß.
»Klar«, sagte Milo Cusson, den sie bislang nicht gesehen hatte. Er ließ sich an seinem Platz ihr gegenüber nieder und Cey verfluchte sich innerlich selbst, weil sie für einen kurzen Moment doch wieder geglaubt hatte, sie könnte gemeint gewesen sein.
»Was hältst du von unserem Neuen – Marcos?«, wandte sich Tierra fröhlich plappernd an Milo.
Cey sparte sich den Versuch, sich ins Gespräch einzubringen, und konzentrierte sich stattdessen auf die endlosen Datenkolonnen auf dem Bildschirm. Ab und an drängte sich aber doch ein Bild des Neuen in ihre Gedanken. Marcos war ein attraktiver, muskulöser Kerl, einerseits etwas frech, andererseits aber auch sehr, sehr nett. Nein, er war viel mehr als nur das!
»So wie du schwärmst, hättest du wohl gerne ein Date mit ihm, was, Tierra?«, neckte Milo.
»Na, sicher!«
»Ich auch«, murmelte Cey und Tierra sah sie stirnrunzelnd an.
»Hast du was gesagt?«
»Nein, nein.« Sie wandte ihre Aufmerksamkeit wieder ihrem Bildschirm zu.
Als es schließlich Zeit zum Essen wurde, folgte sie ihren Kollegen schweigend in die Kantine. Die Schlange für ihre Mahlzeit war ewig lang und somit war nur noch der Platz außen rechts am Stammtisch ihrer Abteilung frei.
»Vorsicht!«, rief jemand hinter Cey, als sie nur noch zwei Schritte entfernt war. Marcos bugsierte ein überladenes Tablett, drängelte sich an ihr vorüber und ließ sich schwer auf den Stuhl fallen. »Puh, hab ich einen Hunger! Habe ich euch eigentlich schon von dem Saufwettbewerb am Ende meiner Unizeit erzählt?«
Cey biss sich auf die Lippe. Das Schlimmste war, dass Marcos sich jetzt sogar noch mal kurz umwandte. »Oh, sorry, wolltest du hier sitzen?«
Er ist so umwerfend! Ihr Herz klopfte schneller. Aber dann bemerkte sie, wie Marcos seine Finger unter dem Tisch um Tierras Hand geschlungen hatte. Hastig schüttelte Cey den Kopf und wich zurück.
Sie setzte sich alleine an einen Tisch in der Nähe und knabberte lustlos an ihrem Burger. Nach nur einem Viertel legte sie ihr Besteck beiseite. Seit Tagen schon hatte sie kaum noch Appetit. Sie hätte sich so sehr gewünscht, es gäbe da jemanden, der sich sorgte, der zu ihr sagen würde: »Du isst zu wenig.« Aber ihre Eltern waren schon sehr früh gestorben und Geschwister besaß sie ebenfalls nicht. Seufzend stand Cey auf und schritt zur Tablettabgabe.
Dort stieß sie beinahe mit FBI Agent Darian Tenley zusammen, ein dunkelhäutiger, muskulöser Mann, dessen warme, goldbraune Augen durchaus etwas Anziehendes an sich hatten. Wenngleich er auch sehr hartnäckig und fordernd sein konnte. Problemen auszuweichen ließ er nicht gelten, wer mit ihm arbeitete, musste sich diesen stellen und sie lösen.
»Agent Tenley, haben Sie es schon gehört? S-Tragon wurde geschnappt.«
»Ja.« Tenley nickte knapp und sah dann auf die Uhr. »Bitte entschuldigen Sie mich, ich habe noch einen Termin.« Und weg war er.
Der Nachmittag verging genau wie der Vormittag ohne nennenswerte Ereignisse. Das Büro leerte sich allmählich, aber Cey blieb noch sitzen. Heute ertrug sie es schlichtweg nicht, mit Scharen anderer Menschen nach draußen zu strömen und dabei fröhliches Geplänkel aufzuschnappen, wer mit wem ins Kino ging oder noch in eine Bar oder ein Restaurant. Wer sich auf zu Hause freute, auf die Frau, den Mann, die Kinder.
Es wurde dunkler und dunkler und schließlich schaltete Cey mit sich selbst schimpfend den Computer aus. »Jetzt raff dich endlich auf! Du musst doch gar nicht in dein blödes Apartment. Irgendetwas wird es da draußen auch für dich geben!«
Ganz bewusst entschied sie sich, weder die Bahn zu nutzen noch ein Taxi zu rufen. Und das zahlte sich aus. Denn in einer Seitenstraße entdeckte sie ein hell erleuchtetes Sportstudio.
»Kung-Fu, Jiu-Jitsu, Krav Maga«, las sie interessiert von einem großen Plakat ab. In ihrem Körper kribbelte es. Sie hatte sich immer gerne bewegt, aber bislang nur bis zu ihrem Abschluss an der Junior High Ballett getanzt. Inzwischen wusste sie noch nicht einmal mehr, warum sie das getan hatte, denn es hatte ihr nie besonders gefallen. Aber das Thema Kampfsport sprach sie irgendwie an.
Entschlossen betrat sie das Sportstudio. Und verließ es kaum eine Minute später mehr als enttäuscht. Jay, ein sympathischer Hüne und einer der Trainer, hatte ihr bedauernd erklärt, dass sie derzeit keine neuen Mitglieder aufnahmen.
Es war wie verhext! Als Cey nun doch in Richtung ihres kleinen Apartments trottete, kam ihr unweigerlich die Frage in den Sinn, warum sie eigentlich morgens überhaupt aufstand. Oder was passieren würde, wenn sie bei Rot auf die Straße trat und ein Auto sie überfuhr.
Die bittere Wahrheit war – nichts. Niemand würde sie vermissen. Sie hatte keinerlei Bedeutung. Ihren Job, den sie einst aus tiefster Überzeugung angenommen hatte und in dem sie zwar gut, aber dann auch wiederum nicht so gut war, dass sie Braydon je aufgefallen wäre, würde jemand anderes übernehmen. Und außer ihrer Arbeit hatte sie ohnehin nichts.
Cey bog um die nächste Ecke und ein schwarzweiß geschecktes Kätzchen sprang maunzend davon. Selbst Tiere schien sie abzuschrecken.
Plötzlich schaffte Cey es nicht mehr, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Sie blieb stehen, allein, mitten in dieser Gasse. Allein in dieser Stadt. Allein in diesem Land, allein auf dem gesamten Planeten.
Allein, allein, allein … Dieses Wort, dieses Gefühl schwoll an, wurde so übermächtig und laut, dass sie beinahe die Schüsse überhört hätte, die ganz in ihrer Nähe fielen.
»Kämpfe!«, schrie jemand und seltsame Schatten stoben um sie herum. »Cey, du musst kämpfen! Hilf ihm!«
Wem denn? In ihrem Leben existierte niemand, für den es sich zu kämpfen lohnte. Eine einzelne Träne rollte ihr über die Wange hinab. Und dann hörte Ceys Herz auf zu schlagen.