Kapitel 19

Seday Academy, knapp drei Wochen später, Nachmittag des 24. Juli

Höchst konzentriert stand Cey am Ufer des Kingston Rivers und wartete darauf, dass die Teilnehmer des Triathlons sich oben auf der Felskante zeigten. Nur Yatoh war dort bislang zu sehen, der sich abgewandt hatte und ebenfalls Ausschau nach den Schülern hielt. Nach dem Radfahren und Laufen stellten das Springen und Schwimmen die letzte Disziplin dar, die es zu meistern galt.

Cey trug einen Bikini mit einem Top darüber und war bereits knietief ins kalte Wasser gewatet. Sie spürte Jays und Sevens Anwesenheit in ihrem Rücken und auch die einiger anderer Seday, die vorsichtshalber in regelmäßigen Abständen am weiteren Flussverlauf positioniert waren. Inzwischen hatten jedoch sämtliche Teilnehmer so ausgiebig geübt, dass nichts passieren sollte, außer womöglich einen ätzenden Rüffel von Landon zu kassieren, dem die abgelieferten Zeiten mal wieder so gar nicht passten.

Einer von Dragons ehemaligen Kumpeln kam nun angerast, jagte mit einem großen Satz über die Felskante, drehte sich elegant in der Luft und kam ideal auf der Wasseroberfläche auf. Es spritzte nur minimal und noch ehe Cey innerlich bis drei zählen konnte, tauchte er auch schon wieder auf. Sie beobachtete seine gleichmäßigen Kraulbewegungen durch das natürliche Becken, bis der nächste Schüler neben Yatoh aufkreuzte.

Nach den beiden Anwärtern auf den Sieg verstrich eine Minute, dann kam das große Mittelfeld. Kurz darauf entdeckte Cey Jari, der etwas abgeschlagen wirkte, aber nicht der Letzte der Teilnehmer war. Ihn anzufeuern übernahm sie höchstpersönlich. »Du schaffst das! Jetzt nicht schlappmachen!«

Am liebsten hätte Cey ihrem Freund die Hand hingestreckt oder noch besser, ihn kräftig angeschubst, als er an ihr vorbeischwamm und dabei langsamer und langsamer wurde. Delam hatte allerdings alle Helfer zu Beginn des Triathlons darauf hingewiesen, dass Berührungen außer im Notfall strikt untersagt waren, um niemandem einen unfairen Vorteil zu verschaffen. »Jari, los, los, los! Denk daran, deine Zeit zählt für deine Sportnote!«

Während man sie selbst mit einer solchen Bemerkung gewiss nicht hätte locken können, mobilisierte Jari nochmals all seine Kräfte. »Ich mach doch«, stöhnte er, dann war er an ihr vorbeigeglitten.

Als Vorletzte kam Sky und Cey musste kichern, als sich Blondchen tatsächlich die Nase zuhielt, während sie von der Felskante sprang. Sie wartete darauf, dass Sky nach ihrem Platscher ins Wasser wiederauftauchte. Und wartete nach zehn Sekunden immer noch.

»Cey«, rief Yatoh alarmiert, bevor er selbst in die Tiefe sprang. Seine Aufforderung wäre jedoch gar nicht notwendig gewesen, Cey war bereits losgehastet. Noch zwei Schritte und sie warf sich aufs Wasser und tauchte unter.

Bitte Sky, lass es nur wieder ein Problem mit deinem verdammten Bikini sein, flehte Cey stumm, während sie durch die Fluten schnellte.

Es war nicht leicht sich hier unten zu orientieren, denn das Sonnenlicht drang nicht sonderlich weit vor und der Grund war von allerlei erschrockenen Fischen aufgewühlt worden, was die Sicht noch weiter verringerte. Cey fühlte jedoch Skys J’ajal-Präsenz und tauchte rasch noch tiefer hinab. Irgendwelche Algen streiften ihre Arme und dann, endlich, hatte sie Blondchen erreicht.

Sie schien zwischen einigen Steinen am Grund zu hocken und eilig tastete Cey ihre Beine ab, ob sie sich vielleicht irgendwo eingeklemmt hatte und deswegen nicht wiederauftauchen konnte. Das schien jedoch nicht der Fall zu sein. Also schlang Cey ihren Arm um Skys Brustkorb, der sich rhythmisch zu heben und senken schien, und zog Sky in Richtung Oberfläche.

Auf halbem Weg erreichte sie Yatoh und gemeinsam brachten sie Sky noch schneller nach oben. Fast zeitgleich durchstießen ihre Köpfe die Wasseroberfläche und Cey schnappte erst einmal nach Luft, bevor sie ihren Blick besorgt auf Skys Gesicht richtete.

Sky wirkte irgendwie panisch, ihre Lippen waren jedoch keineswegs blau angelaufen und es war auch keine Verletzung zu erkennen.

»Geht’s dir gut? Was war los?«, wollte Yatoh wissen und hielt noch immer Skys Arm fest.

»Alles prima«, nuschelte Sky nun. »Ein Wadenkrampf oder so.«

Cey nahm ihr die Behauptung nicht ab, bei einem solchen Muskelkrampf wäre ihre Körperhaltung vollkommen anders gewesen. Yatoh schien ebenfalls zu zweifeln. Weil jetzt allerdings die letzte Teilnehmerin des Triathlons angedüst kam und sich zum Sprung bereit machte, deutete er lediglich kurz zum Ufer. »Cey, bringst du Sky bitte an Land? Ich komm gleich nach.«

»Klar.«

Ganz gemächlich schwamm Cey los, bereit jederzeit einzugreifen, sollte Sky doch noch Hilfe benötigen. Aber die junge J’ajal wollte keine Unterstützung mehr, verzog trotzig das Gesicht und beschleunigte das Tempo, wodurch sie noch vor Cey das Ufer erreichte. Sie tappte durch den Schlamm und versuchte sich anschließend genervt den Dreck von den Füßen zu wischen. »Ich hasse das!«, murmelte sie.

»Sky«, sprach Cey sie behutsam an, weil es ihr einfach nicht aus dem Kopf gehen wollte, was sie unter Wasser zu spüren geglaubt hatte. »Kann es sein-«

»Nein!«, unterbrach Sky erbost und starrte zu Jay und Seven, die aufgeschreckt zum Ufer gesprintet waren, um zu sehen, was mit Sky los war. Jetzt zogen sie sich nach einem knappen Blick untereinander wieder ein Stück zurück. Was aber nicht bedeutete, dass sie nicht mehr gehört hätten, was sie besprachen.

Laut den Seday-Regeln war es Schülern eines höheren mentalen Levels außerhalb des Unterrichts nicht gestattet, sich lautlos an diejenigen zu wenden, die im Bereich der geistigen Fähigkeiten noch einiges lernen mussten. Während ihrer Trainingssessions bei Blaze hatte Cey von der für sie geltenden Ausnahme Gebrauch gemacht und mit ihrem Team sehr wohl mental kommuniziert. Und jetzt musste ebenfalls eine Ausnahme herhalten, befand sie, und griff nach Skys Hand.

»Kann es sein, dass du unter Wasser geatmet hast?« Von Astans einstigen Kriegern konnte das ebenfalls jemand, allerdings in einer sehr viel extremeren Form. Der betroffene Dämon konnte nämlich nur noch wenige Stunden an Land verbringen, bevor er zurück ins Wasser musste, um nicht elendig zu verenden.

Bislang hatte Sky keinerlei Anzeichen gezeigt, diese oder überhaupt eine besondere Gabe zu entwickeln, worüber ja auch nicht alle J’ajal verfügten. Trotzdem war Cey sich sicher, die Bewegung von Skys Brustkorb unter Wasser gespürt zu haben, und es musste einem ja auch erst einmal in den Sinn kommen, so etwas entgegen seinen natürlichen Reflexen auszutesten.

»Nein!«, herrschte Blondchen Cey erneut an, bevor wieder diese Panik in ihre Augen trat. »Ich meine, ich denke nicht. Ich habe mich bloß verschluckt. Und dann … ich will das gar nicht! Warum jetzt? Und wozu soll das gut sein?«

Sky wirkte völlig durcheinander und Cey konnte das sehr gut nachvollziehen. Wie oft hatte sie selbst schon ihre eigenen Gaben verflucht, obwohl sich diese in vielen Situationen durchaus als nützlich erwiesen hatten? Nicht jeder war sofort begeistert, wenn sich ein neuer Aspekt seines J’ajal-Seins zeigte. Und bei Sky kam mit Sicherheit noch ein sehr wichtiger Grund hinzu, den sie nun auch aussprach.

»Nächste Woche starten die Trimesterferien! Und ich will Danica besuchen!« Sky machte eine so klägliche Miene, dass Cey umgehend erneut ihre Hand drückte.

»Ich verstehe dich.« Ihre Mitschülerin hatte so lange auf die Gelegenheit gewartet, ihre kleine Schwester zu sehen, und ausgerechnet jetzt drohte der Besuch doch noch zu platzen. Sollte jemand erfahren, was gerade passiert war, würde Tajyno seine Erlaubnis bestimmt zurückziehen und verlangen, dass erst einmal gründlich geklärt wurde, wie mit dieser neuen Situation umzugehen war.

»Bitte sage es niemand! Ich mach das selbst. Irgendwann.«

Skys flehende Worte klangen wie eine Wiederholung dessen, was Cey in den letzten Tagen so häufig zu Delta und Echo gesagt hatte, als diese ihren speziellen, auffordernden Gesichtsausdruck aufgesetzt hatten, den sie inzwischen schon zur Genüge kannte.

»Ja, ich weiß. Aber bitte sagt es niemandem! Ich mache das selbst. Irgendwann …« Und so gab es einmal mehr ein dunkles Geheimnis, welches sie im hintersten Winkel ihres Seins verbarg.

»Ich verstehe dich«, wiederholte Cey leise. Allerdings würde Yatoh Jay bestimmt gleich ausgiebig befragen, was er von ihrer Unterhaltung aufgeschnappt hatte. Da passte es doch ausgezeichnet, dass tief in ihrer Hosentasche vergraben etwas schlummerte, was zumindest einen der beiden Seday gehörig ablenken dürfte.

Flugs ging Cey auf ihr Kleiderbündel zu, das sie gleich neben dem Waldpfad abgelegt hatte, und zog zwei glitzernde Ohrringe mit großen, blau funkelnden Steinen hervor. Sie kehrte zurück und reichte sie Sky.

»Hier, die sind für dich. Von einem alten Freund, der nicht mehr hier ist, und trotzdem immer mal wieder an dich denkt.«

»Von Dragon?« Sky quietschte erfreut auf und drehte die Ohrringe in alle Richtungen. »Die sehen ja fantastisch aus! Das ist kein billiger Modeschmuck. Diese Saphirimitate wirken beinahe echt, so professionell sind sie hergestellt. Ich kenne mich da aus.«

»Ich kenne mich sogar noch besser aus!«, bemerkte eine strenge Stimme in Ceys Bewusstsein. »Diese Ohrringe gehören nicht zufällig zu jenen Kronjuwelen, die das britische Königshaus seit dem Einbruch in den Tower of London vor ein paar Tagen vermisst? Das sind keine Imitate, nicht wahr?«

Cey wandte sich um und schenkte Jay ein strahlendes Lächeln. »Schätze, Resic hat Dragon zu einem ersten Job mitgenommen. Und die Hayran leihen euch übrigens nie wieder etwas aus, wenn ihr nicht im Gegenzug wohlwollend über unwichtige Kleinigkeiten hinwegseht.«

»Bedeutungsschwerer Schmuck im Wert von mehreren Millionen Dollar mag für Resic und dich ja eine unwichtige Kleinigkeit sein«, wandte Jay finster ein. »Trotzdem handelt es sich hierbei immer noch um einen Diebstahl. Und es gelten nun mal Gesetze!«

»Mhm«, brummte Cey und setzte noch einen obendrauf. »Apropos Diebstahl - wusstest du, dass Sajy-Hane bald startet? Ich habe fest versprochen dieses Jahr wieder teilzunehmen. Dieses Diebstahl-Prinzip solltet ihr also tunlichst überdenken …«

Jay fluchte lautstark. Die Aussicht, dass bald überall auf der Welt Dämonen und Wächter die verrücktesten Aktionen durchführen würden, wie zum Beispiel in als äußerst sicher geltende Gebäude einzudringen und als Beweis ihrer Anwesenheit einen Gegenstand von dort mitzunehmen, behagte ihm wohl ganz und gar nicht. Um in der Highscore-Liste nach oben zu steigen, mussten es immerhin relativ wertlose Gegenstände sein, weitere Kronjuwelenraubzüge waren also erst mal eher unwahrscheinlich.

»Gibt es ein Problem?« Yatoh stieg aus dem Wasser ans Ufer und bedachte Jay mit einem fragenden Stirnrunzeln.

Der beendete sein Fluchen mit einem Schnauben. »Kein Problem, das nicht noch gelöst werden könnte.«

»Nun gut.« Yatoh wandte sich an Sky und musterte sie von oben bis unten. »Wenn du also okay bist, beende jetzt bitte den Triathlon. Oder spricht deiner Meinung nach was dagegen?«

Sky schüttelte heftig den Kopf und schneller als in diesem Moment hatte sie sich wohl noch nie freiwillig ins Wasser begeben. Mit großen Kraulbewegungen schwamm sie davon.

»Das war’s.« Mit einem Lächeln drehte Yatoh sich zu Cey um. »Ich danke dir für deine Hilfe. Dann wollen wir doch mal sehen, wer gewonnen hat, hm?«

Cey schlüpfte in ihre Klamotten und auch Yatoh zog sich an. Gemeinsam liefen sie zum Endpunkt der Triathlon-Strecke. Den gesamten Weg über spürte Cey Jays bohrenden Blick in ihrem Rücken.

»Hast du ihn irgendwie geärgert? Außer mit diesen Klunkern?«, wollte Seven, der sich bislang wohlweislich herausgehalten hatte, irgendwann amüsiert wissen.

»Wie kommst du nur auf diese abstruse Idee?«, erwiderte Cey entrüstet und ebenfalls lautlos.

»Also ja!« Seven lachte, was dazu führte, dass er nun ebenfalls einen scharfen Blick von Jay kassierte.

»Hättest du Interesse, an einem durchgeknallten Dämonen-Wächter-Wettbewerb teilzunehmen? Ich kann noch Kandidaten anmelden«, erkundigte Cey sich bedächtig.

Aufgrund der besonderen Rolle, die Xyen und sein Team bei Zachriels Vernichtung eingenommen hatten, wurden zumindest diese Seday unter Astans einstigen Kriegern inzwischen stillschweigend toleriert und nicht länger als Mitglieder der ödesten J’ajal-Vereinigung schlechthin angesehen. Wie Lee nach wie vor mit seinem Gesundheitsshake-Pulver und auch ersten vereinzelten ärztlichen Untersuchungen zu helfen versuchte, machte ebenfalls einen gewissen Eindruck. Es war also durchaus möglich, dass ihre Seday-Freunde tatsächlich als Teilnehmer für Sajy-Hane akzeptiert werden würden, und ein wenig Spaß hatten sie sich wirklich mehr als verdient.

»Du machst Witze, oder? Selbstverständlich habe ich Interesse! Und mindestens zehn weitere Personen hätten ebenfalls großes Interesse! Bloß Xyen, Lee und Jay sollten wir nicht sofort einweihen. Was meinst du?«

Dem stimmte Cey vollkommen zu. Manchmal war es einfach besser, diese drei vor vollendete Tatsachen zu stellen, damit sie gar nicht mehr erst mit irgendwelchen logischen Gegenargumenten kommen konnten.

Der Siegerehrung schenkte Cey nur am Rande ihre Aufmerksamkeit. Tosa, der die Fähigkeit besaß, sämtliche Umgebungsgeräusche bis auf seine Stimme auszublenden, hielt eine kleine Rede, dankte den Teilnehmern, die alle ihr Bestes gegeben hätten, und erklärte nochmals, wie sich die erbrachte Leistung auf die Trimesterbewertung der Schüler auswirken würde.

Jari, der in Ceys Nähe stand und Sky im Arm hielt, wirkte zufrieden, und Sky, die den Triathlon mit einer sehr guten Ballett-Note ausgleichen konnte, schien sich nicht weiter daran zu stören Letzte geworden zu sein.

Mehr war für Cey erst mal nicht relevant. Außer vielleicht, dass Landon sich jegliche Kritik sparte, was damit zu tun haben mochte, dass sich Delam, der Leiter des Triathlons, direkt neben ihm befand. Und Teagan, der auf der Rennstrecke wohl ein selbst für Landon recht passables Ergebnis abgeliefert hatte. Im Gegensatz zu etlichen Mitschülern war er nämlich nicht auf den heimtückischen, spiegelglatten Flächen ausgerutscht, die von Landon oder jemand anderem aus seinem Team künstlich vereist worden waren, sondern hatte selbst bei hoher Laufgeschwindigkeit höchste Konzentration und Wachsamkeit bewiesen.

Für einen Moment ruhte Ceys Blick noch auf dem jungen Freerunner, der offenkundig mehr als stolz über Landons zuvor gemurmeltes Lob war, dann widmete sie sich ihrem Handy. Oder besser gesagt den unzähligen Anträgen, Anschuldigungen und Klagen, die Tag für Tag eintrudelten. Im Angesicht der Bedrohung durch Zachriel hatten sich sämtliche Dämonen und Wächter bewundernswert zusammengerissen, aber längst hatten die üblichen Machtkämpfchen wieder begonnen. In wenigen Wochen würde eine Dämonen-Wächter-Versammlung stattfinden und bereits jetzt sprengten die angesetzten Tagesordnungspunkte jede bisherige Liste.

Keegan setzte sich einmal mehr für die Legalisierung von Bewusstseinsmanipulationen ein, diverse Dämonen wollten ihre zugewiesenen Hoheitsgebiete erweitern und auch bezüglich der Schule, an die ihre Kinder zurückgekehrt waren, wurden einige Änderungen gefordert. Mehr Kampfübungen an lebenden, menschlichen Subjekten zum Beispiel.

Cey schüttelte gereizt den Kopf. Es war anzunehmen gewesen, dass auf die Phase der vergleichsweisen Ruhe und des Zusammenhalts verstärkt Chaos und Aufbegehren folgten, trotzdem nervte es sie tierisch.

Insbesondere unter den Dämonen wären gerade sehr strikte Ansagen von Nöten gewesen, Nikara ließ ihnen allerdings im Gegensatz zu früher sehr viele Freiheiten. Der Tod von Vin, Anakim und Bethor war womöglich schuld oder generell die Anstrengungen der letzten Monate.

Wer momentan noch den besten Draht zu ihrem Freund besaß, war tatsächlich Jay, und Cey war darüber heilfroh. So hatte etwa Nikara eingewilligt, zwei der Seinigen zu Keon ins Seday’sche Bootcamp zu schicken.

Die beiden betroffenen Dämonen hatten sich gezankt, wie weit bei einem Zusammenstoß zweier vollbesetzter Jumbo-Jets die Trümmer fliegen würden, und hatten zu Studienzwecken den Piloten eingeflüstert, einen ebensolchen Zusammenstoß herbeizuführen. Zwar war das dann noch rechtzeitig genug aufgefallen, trotzdem verspürte Cey immer noch einen kalten Schauder, wenn sie daran dachte, was alles hätte passieren können. Da es keine Todesopfer oder Verletzte gab, hatte sie auf die endgültige Vernichtung der beiden idiotischen Dämonen verzichtet. Als Abschreckungsmaßnahme bewährte sich Area XXI ohnehin mehr und mehr, denn weitere katastrophale Ideen der Ihrigen oder von Nikaras Leuten waren bislang ausgeblieben.

Einige nörgelnde Zeitgenossen hatte Cey auch damit beschwichtigen können, dass sie die Sicherheitsanordnung, sich nur noch in Gruppen von mindestens zwei Personen zu bewegen, wieder aufgehoben hatte. Nur einer hatte dagegen gestimmt und das war selbstredend Seph gewesen. Welcher ihr dann nachträglich eine digitale Karte mit einem großen, grinsenden Smiley zugesandt hatte.

Jetzt gab Cey den Dämonen und Wächtern ein neues Thema zum Diskutieren, das sie hoffentlich zumindest vorerst von allem anderem Blödsinn abhalten würde. Sie meldete sich auf der geschützten Seite von Sajy-Hane an, auf der auch bereits fleißig Aufgaben gesammelt wurden, und trug sich selbst als Teilnehmer ein. Anschließend schrieb sie One, Two, Three, Four, Five, Six, Seven, Eight, Nine, Ten und Nathan ebenfalls als Teilnehmer ein.

Warum laden wir nicht gleich noch einen Popstar ein?

Dieser empörte Kommentar stammte von Resic, der gerade online war.

Es ist ein Dämonen-Wächter-Wettbewerb! Dämon. Wächter. Kapiert?

Cey loggte sich lächelnd aus und versenkte das Handy wieder in ihrer Tasche. Resic war so vehement dagegen gewesen, Dragon mit zu den Hayran zu nehmen. Aber bei allem, was sie so mitbekam, tat die Verantwortung für Dragon Resic mindestens ebenso gut wie das veränderte Umfeld Dragon gefiel. Von Lethargie war dem Wächter nichts mehr anzumerken, er sprühte vor Tatendrang und Eifer und Dragon zeigte sich nicht minder begierig sich als vorbildlicher Hayran-Schüler zu beweisen. Okadias hätte es bestimmt sehr genossen, die beiden gemeinsam unter seiner Fittiche zu haben.

Das Lächeln auf Ceys Lippen gefror und sie seufzte leise. Es hatte sich so viel geändert und obwohl sie hier an der Academy immer wieder ein Hauch von Normalität umgab, würde nichts je wieder so sein wie vor Zachriels Aufkreuzen.

Ihre Gedanken wanderten unweigerlich zu dem Friedhof von Venmore Hills. Zu der Engelsstatue auf Alyssas Grab. Zur Grabplatte, die Jisuhos letzte Ruhestätte zierte. Und zu der weiteren schlichten Grabplatte, die es nun dort gab.

Ich bin nicht tot, ich tausche nur die Räume. Ich leb‘ in euch und geh‘ durch eure Träume.

Cey träumte wirklich sehr oft von ihr, von dieser anderen Cey, die nur so kurz ein Teil ihres Lebens gewesen war und doch für immer einen festen Platz in ihrem Herzen besitzen würde. Würde sie sie je wiedersehen, diese faszinierende Frau, irgendwann, an einem anderen, einem besseren Ort?

»Hey.« Behutsam strich Jay ihr über den Arm und Cey blinzelte hastig eine Träne weg. Sie hatte gar nicht gemerkt, wie sich die Versammlung bereits aufzulösen begann. Jari, Sky und die restlichen Schüler hatten sich längst abgetrocknet und angezogen.

»Kommst du mit?«, wollte Jari wissen und als Cey rasch ihr fotografisches Gedächtnis zurate zog, wurde ihr klar, dass er sie bereits zum zweiten Mal fragte, ob sie ihn und Sky zum Essen in die Kantine begleiten wollte.

»Nein, ich muss gleich noch zu Zidaz.« Cey verdrehte die Augen, weil sie überhaupt keine Lust auf ein Gespräch mit dem Direktor verspürte. Xyen, der ihr den Termin angekündigt hatte, hatte jedoch darauf beharrt, sie müsse hingehen.

»Oh, na dann viel Glück. Und bis später.« Jari und Sky schenkten ihr einen mitfühlenden Blick und schlenderten händchenhaltend davon.

Auch Cey machte sich nun in Jays und Sevens Begleitung auf den Rückweg zur Academy. Und weil ihr dann doch noch ein paar Minuten Zeit blieben, suchte sie statt Zidaz zunächst jemand anderen auf.

»Cey«, begrüßte Alec sie freundlich, sobald sie sein Zimmer betreten hatte. »Was kann ich für dich tun?«

»Das Ganze ist höchst inoffiziell!«, hielt Cey zunächst nachdrücklich fest. »So inoffiziell, inoffizieller geht es überhaupt nicht!«

Sie zögerte einen letzten Moment. Aber Alec hatte bereits oft genug bewiesen, dass sie ihm und seinen Leuten genauso vertrauen konnte wie Xyen. Und sie war eben alles andere als eine Expertin für natürliche J’ajal-Wandlungen oder für deren weitere Entwicklungen. Sollte Skys Gesundheit einen irreparablen Schaden nehmen, weil sie selbst geschwiegen hatte, würde sie sich das nie verzeihen. Also berichtete Cey nun in knappen Worten, was sich während des Triathlons ereignet hatte.

»Ich werde darauf achten!«, versprach Alec mit ernster Miene. »Morgen ist ohnehin ein Check-Up für Sky fällig, der wird entsprechend gründlicher und ausgedehnter stattfinden. Und ich werde Sky die Chance lassen, von allein zu mir zu kommen.«

Mit einem zufriedenen Nicken schlüpfte Cey wieder auf den Gang. Jay, der dort auf sie gewartet hatte, während Seven bereits sonst wo einer anderen Aufgabe nachging, musterte sie eindringlich. Er machte einen wesentlich weniger grimmigen Eindruck als noch vorhin am Ufer des Kingston Rivers, stattdessen wirkte er ebenfalls sehr zufrieden über den kurzen Abstecher, den Cey unternommen hatte.

Immer noch zehn Minuten, verriet der Blick auf die Uhr. Das reichte, um noch jemanden zu treffen, der vorsorglich beim Triathlon hatte aussetzen müssen, obwohl es ihm gesundheitlich schon wieder sehr gut ging. Cey begab sich in Landons Teamtrakt, wo sich ihr wie bei jedem Besuch instinktiv die Nackenhärchen aufstellten.

Landon und Teagan hielten sich im Flur auf und sprachen über die Gestaltung von Teagans Stundenplan nach den Trimesterferien. »Noch ein paar Wochen Schonung und du kannst voll durchstarten«, prophezeite Landon und Teagan freute sich sichtlich über den zusätzlich angekündigten Sportunterricht.

»Ich habe gehört, in Fallton gibt es einige Gebäude, die sich ausgezeichnet für House Running eignen würden. Darf ich das mal testen? Highlining würde mich auch sehr reizen.«

Schon komisch, Cey hätte nie gedacht, dass es für Landon in irgendeinem Bereich zu viel Ehrgeiz geben könnte. In diesem Moment schien er sich jedoch tatsächlich zu wünschen, Teagan würde sich etwas gemäßigter verhalten und nicht unbedingt über einen womöglich hunderte Meter tiefen Abgrund balancieren oder ein Falltoner Hochhaus runter rennen zu wollen.

Sie unterdrückte ein Grinsen, geduldete sich, bis Landon seinen Blick auf sie richtete und ihr mit einem Wink eine stumme Erlaubnis erteilte. Rasch betrat sie dann den Raum auf der rechten Seite.

»Veyron, hi. Wo steckst du?«, rief sie.

Das Zimmer sah fast identisch aus wie das ihre, wenn man von den unzähligen Postern aller möglichen getunten Autos und Motorräder an den Wänden absah und einem überwältigenden Klamottenchaos auf dem Boden. Und es gab zwei Betten, da Veyron und Teagan sich das Zimmer teilten.

»Im Bad«, antwortete Veyron nun durch die geöffnete Badezimmertür. »Komm her.«

Cey stakste durch einen Stapel Hosen und Shirts und hielt im Türrahmen inne. Der Sechzehnjährige stand vor dem Spiegel und konnte offenbar nicht genug davon bekommen sich selbst zu bewundern. Moosgrün leuchteten seine Augen, nach einem kurzen Blinzeln war es dann ein Grünblau und anschließend nur blau. Dann gelb, braun, orange, rot, violett, schwarz.

Cey schmunzelte. »Machst du eigentlich noch irgendetwas anderes, außer dich anzustarren?«

»Nö«, gab Veyron offen zu. »Aber ich frage mich, warum du das nicht tust. Ich meine, das ist doch echt der Hammer!«

Jetzt betrachtete er eingehend seine Finger, ließ seine Krallen hervorschnellen und wieder verschwinden. Wieder und wieder und wieder. Es stand schon mal fest, dass sich Veyron nicht verunsichern lassen würde, sollten sich in den nächsten Wochen oder Jahren weitere Aspekte seines J’ajal-Seins herauskristallisieren. Seit seiner finalen Wandlung, die wesentlich glimpflicher abgelaufen war als zunächst gedacht, und seit er seine lästigen Migräneattacken endlich los war, schwebte Veyron geradezu in einem Zustand der Euphorie und Begeisterung.

»Sieh nur!«, sagte er und wedelte mit seinen beiden Händen. »Das. Ist. So. Abgefahren. Jeder Möchtegernheld aus dem Fernsehen kann einpacken. Jetzt kommen die J’ajal!«

»Vergiss aber nicht, dass du dich auch wieder mit einigen weniger spannenden Dingen befassen solltest«, erinnerte Cey den Sechzehnjährigen lächelnd. »Zum Beispiel wartet deine Schwester schon seit einer gefühlten Ewigkeit auf einen Anruf von dir.«

Veyron stöhnte. »Ich würde ja mit ihr telefonieren, wenn sie nicht so verliebt in FaceTime wäre. Hat sie sich bei dir beschwert?«

»Hat sie«, bestätigte Cey grinsend. »Und das nicht nur einmal.« Außerdem hatten Lavina und Forcas, die Wächterin und der Dämon, die immer noch unauffällig auf Sheila und Jeremy achteten, bereits angedroht, aus Venmore Hills zu verschwinden, sollte Veyron sich nicht endlich bei seiner Schwester melden und diese dafür ihr temperamentvolles Geschimpfe im Garten einstellen, während sie sich alleine wähnte.

Der Baum, mit dem sie spricht, hält das schon kaum aus. Ich schwör, es fallen alle Blätter ab! Und wir halten das auch nicht noch länger aus …

So lautete Forcas letzte Nachricht. Vermutlich wäre es auch gar nicht mehr nötig gewesen Sheila und Jeremy bewachen zu lassen, die beiden hatten sich prima in Venmore Hills eingelebt und waren ganz begeistert davon in Jisuhos Haus zu wohnen. Sheila hatte mit Bravour ihren Highschool-Abschluss bestanden und einen Ausbildungsjob in einer angesagten Boutique ergattert. Und Jeremy liebte seine neue Schule und hatte bereits viele Freunde gefunden. Wenn Sheila länger arbeiten musste, sorgte Robin Millers, die Tagesmutter, die sich auch einst um Alyssa gekümmert hatte, für den Jungen.

Cey wollte nicht, dass irgendetwas dieses Glück trübte und hatte deswegen Forcas und Lavina angewiesen, vorsichtshalber noch eine Weile zu bleiben. Als jetzt ein Handy zu klingeln begann und Veyron entsetzt »Das ist sie!« hervorstieß, trat sie entschlossen an sein Bett und nahm den Anruf entgegen.

»Hey, Sheila.«

Mit einem Strahlen blickte ihre Freundin in die Kamera. »Cey! Das ist ja super. Geht es dir gut? Bist du gerade bei Ryan? Ich habe gehört, seine Kopfschmerzen sind bereits viel besser geworden, aber er muss weiterhin lernen, wie er seinen Alltag mit seiner Krankheit bestreiten kann, um keinen schweren oder gar tödlichen Rückfall zu erleiden.«

»Ähm … ja.« Jetzt musste Cey zugeben, dass es vielleicht doch nicht so clever gewesen war, so zügig ans Handy zu gehen, denn sie hatte keine Ahnung, welche Krankheit Veyron alias Ryan und die Seday erfunden hatten, um seinen weiteren Aufenthalt an der Academy beziehungsweise der Spezialklinik zu rechtfertigen. Es war irgendetwas mit einer Gehirn-Anomalie gewesen, aber was genau …?

Ratsuchend drehte sie sich zu Veyron um, der immer noch im Bad stand und ihr hektische Zeichen machte. Er deutete auf seine Augen, die noch wilder die Farben wechselten als zuvor. Hatte er etwa vor lauter Ausprobieren seine wahre Augenfarbe vergessen und hasste FaceTime deshalb so? Das war jetzt natürlich doppelt blöd, vor allem, da Cey ihm ja hätte sagen können, wie Sheila ihren Bruder kannte – wenn diese nicht bereits in der Leitung gewesen wäre. Rasch machte Cey nun ebenfalls ein Zeichen.

»Hallooo? Was ist denn los?«, fragte Sheila und Cey drehte das Handy, sodass ihre Freundin einen knappen Blick ins Bad und auf Veyrons Rücken erhaschen konnte. Wie beabsichtigt hatte sich der Sechzehnjährige abgewandt und zupfte an seinen Haaren herum.

»Das ist los!«, erwiderte Cey und drehte das Handy zurück, damit Sheila wieder sie ansehen konnte. »Weißt du, in einem der Kurse, die dein Bruder besuchen muss, gibt es dieses Mädchen …«

»Cey!«, rief Veyron entrüstet, dem die Andeutung sichtlich peinlich war. Was das Ganze nur noch glaubwürdiger machte.

Sheila kicherte entzückt. »Ah, jetzt wird mir so einiges klar. Kein Wunder, dass er sich nicht mehr gemeldet hat. Neue Prioritäten. Ist sie nett?«

»Ja, sehr«, antwortete Cey, denn irgendeine sehr nette Mitschülerin würde Veyron schon haben.

Der hatte sich inzwischen wieder zu ihr umgewandt und vergrub sein Gesicht in seinen Händen. »Schlimmer kann es nicht mehr kommen«, murmelte er.

Allerdings wurde Sheila in genau diesem Moment auf das Chaos am Boden aufmerksam. »Was ist das hier eigentlich für ein Saustall? Ryan, das kann ja wohl nicht wahr sein! Räum gefälligst auf oder willst du Ratten anlocken? Am Ende denken deine Ärzte noch, ich hätte dir nicht beigebracht, wie man Ordnung hält!«

Jetzt konnte Cey nicht anders als zu lachen, vor allem, weil Sheila so empört den Kopf schüttelte, dass ihre perlenverzierten Rastazöpfe in alle Richtungen stoben.

Zur Erinnerung an ihren Termin spürte Cey nun eine kurze geistige Berührung von Jay und immer noch lachend verabschiedete sie sich von ihrer Freundin.

»Du, Sheila, ich muss Schluss machen. Und keine Sorge, dein Bruder wird hier alle Fähigkeiten erlernen, die er benötigt. Bis dann!«

Sie legte auf und reichte Veyron sein Handy zurück. »Sheila wird mich ab sofort dauernd zu diesem Mädchen löchern«, nörgelte Veyron und begann damit Shirts und Hosen mit seinen Füßen in unterschiedliche Richtungen zu kicken, was wohl seinem Verständnis von Aufräumen glich. Ob Landon das auch so sehen würde, war fraglich.

»Immerhin hast du jetzt erst mal eine Verschnaufpause«, konterte Cey. »Und ich helf dir mit dieser Augenfarbensache, ja? Hat mir auch schon Probleme beschert.«

»Danke.« Veyron schien schon wieder beschwichtigt zu sein. Er bückte sich und hob eines der Shirts auf – mit zwei Krallen allerdings anstatt mit seinen Fingern. »Sagte ich schon, dass ich das absolut geil finde?«

»Etwa eine Million Mal.«

Grinsend verließ Cey das Zimmer. Wenige Augenblicke später hatte sie sich vor Zidaz’ Büro eingefunden, wo Xyen bereits auf sie wartete. »Da bist du ja«, begrüßte er sie lächelnd.

»Habe ich was falsch gemacht?« Cey wurde so langsam doch etwas mulmig zumute, schließlich spürte sie nicht nur Zidaz’ J’ajal-Präsenz hinter der Tür, sondern auch jene von Tajyno. Wenn sie nur wüsste, worum es ging!

Xyen verriet ihr jedoch noch immer nichts, sondern bugsierte sie mit einem sanften Schubs in den Raum. An der rechten Wand lehnte Tajyno an einem Aktenregal. Er hatte aus dem Fenster gesehen und eine kleine, weiße Schleiereule beobachtet, bei ihrem Eintreten richtete er den Blick allerdings umgehend fest auf sie.

Unbehaglich sah Cey vom Seday-Anführer zum leicht übergewichtigen Direktor der Academy, der mit gefalteten Händen hinter seinem Schreibtisch thronte. Vor Zidaz lag etwas auf der Schreibtischplatte, das Ceys Puls unweigerlich beschleunigte. Denn es war ein Ayaroreif. Und zwar einer, der noch spezieller war als jener, den sie aktuell am Handgelenk trug …