Colorado, Cheyenne Mountain Operation Center
Es war dunkel, doch es herrschte keine erdrückende Finsternis. Es war kalt, aber nicht auf eine erbarmungslos eisige Weise. Es war leer und doch gab es so viel mehr als nur das Nichts. Es war … unbeschreiblich.
»Cey, verdammt, atme!«
Eine Stimme, nah und gleichzeitig unendlich fern. Ein Licht, warm und golden. Ein Gefühl, als würden sich Hände rhythmisch auf einen Brustkorb pressen, auf einen Körper, der einst ihr gehört hatte …?
»Atme!«
Gedanken formten und verloren sich wieder, ohne einen Sinn zu ergeben. Aber sie gehorchte und holte tief Luft. Würgte, erbrach Wasser, keuchte und erbrach sich erneut.
»Na endlich!« Tiefe Erleichterung verstärkte den chinesischen Akzent, der für gewöhnlich weit weniger ausgeprägt war. Keine Ahnung, woher sie das plötzlich wusste. Jemand half ihr vom Boden in eine sitzende Position auf, hielt sie von hinten und stützte ihren Oberkörper, während ein weiterer Krampf das letzte Wasser aus ihrer Lunge beförderte. Gierig sog sie die Luft ein und Finger strichen ihr fürsorglich die langen, nassen Haarsträhnen aus der Stirn.
Sie blinzelte, sah in das Gesicht eines vor ihr knienden jungen Mannes, dessen Augen nicht in einem typisch fröhlichen, verschmitzten Blauton schimmerten, sondern sich vor lauter Sorge in eine deutlich dunklere Nuance verfärbt hatten. Derjenige, der direkt neben ihm kniete, blickte sie mindestens genauso besorgt an.
»Schwesterlein, du hättest es keineswegs ganz so nervenaufreibend machen müssen. Ich dachte schon fast -« Er unterbrach sich selbst, musterte sie noch intensiver als zuvor. Und obwohl er sie keineswegs berührte, fühlte es sich an, als würde er sie sachte antippen.
Ein winziger geistiger Schubs – und urplötzlich war alles wieder da. Die Erinnerung daran, wer sie selbst war, an die verzweifelten Versuche, ihrer grausamen Vergangenheit zu entfliehen und ihr zukünftiges Schicksal nicht von unbarmherzigen Psychopathen bestimmen zu lassen. Sie erinnerte sich an Cheyenne Mountain und die mörderische Falle, in die EvolutionGenius sie gelockt hatte. An den unterirdischen Raum und die gewaltigen Fluten aus dem Wassersilo, denen ihre Freunde und sie nur hätten entkommen können, wenn sie einen von ihnen opferten …
»Nathan. Sahim. Lee.« Statt weiterhin gekrümmt dazusitzen, richtete Cey sich schlagartig auf. Ihr bestürzter Blick streifte die rissige Decke, die grau verputzten Wände und das Gitter im Fußboden, und fokussierte sich dann auf die Personen in ihrer Nähe. Hastig zählte sie durch. Wer war da und wer fehlte, wer –
»Es geht allen gut.« Die Hand eines dunkelhäutigen Mannes senkte sich beruhigend auf ihre Schulter. Xyen. Voller Sanftheit strich sein Daumen über ihren Hals. »Du bist als Letzte wieder zu dir gekommen.« Ein weiteres Mal liebkoste er sie unendlich zärtlich, bevor er sich fragend an seinen Freund Lee wandte, der sich gerade hinter Cey vom Fußboden erhob.
»Das wird schon wieder«, verkündete der Arzt das ewige Seday’sche Optimismusprinzip. »Gebt ihr noch einen Moment. Bald werden wir wieder Mühe haben sie zu bremsen, wenn sie mit gezücktem Schwert davonstürzen will.«
»Danke für die Vorwarnung, dann nutze ich das lieber schändlich aus«, erklärte Nathan und zog Cey in eine enge, stürmische Umarmung. »Meine Güte, du hast uns echt einen riesigen Schrecken eingejagt«, murmelte er, das Gesicht in ihren Haaren vergraben.
»Hey, ich will auch! Und ich habe ältere Rechte!« Sahims Arme schlangen sich nun ebenfalls um sie und beinahe hätte Cey der Versuchung nicht widerstehen können, sich an ihren Bruder und Nathan zu schmiegen und nichts weiter zu tun, als zu atmen. Als voller Faszination und Erstaunen wahrzunehmen, was sie gerade bis in die letzte Faser ihres Seins verspürte – sie lebte! Sie. Lebte.
Noch konnte sie sich jedoch nicht vollkommen bewusst darauf konzentrieren, auf dieses merkwürdige neue Wissen und Empfinden.
Ihr Blick zuckte zurück zu der geöffneten Tür zu ihrer Linken. Nikara stand dort zusammen mit Seven und Gael. Die bunte Punkfrisur des Dämonenanführers hatte ziemlich gelitten, sämtliche rot-blau-grüne Strähnen klebten platt an seinem Schädel. Er lächelte aber, als er ihren Blick auffing.
Six und Three hatten sich in der gegenüberliegenden Ecke an die Wand gelehnt und unterhielten sich leise. Auch sie nickten ihr lächelnd zu und einer knappen Begutachtung nach zu urteilen, waren die beiden ebenfalls unversehrt, so wie Xyen das behauptet hatte.
Aber wo zum Himmel steckten Rush und Jay? Hatten diese beiden vielleicht doch versucht, den Preis für das Überleben der Gruppe zu zahlen?
»Sch, sch. Sie sehen sich lediglich in den nächsten Räumen um. Nicht aufregen, Schwesterlein.« Sahims Geist strich behutsam über ihren hinweg, aber Ceys Herz hämmerte nur umso stärker. Es war zwar unfassbar schön zu hören und grenzte an ein Wunder, dass alle soweit wohlauf waren. Aber was dachte sich Jay bloß dabei, in diesem Komplex voller tödlicher Überraschungen herumzustreunen? Mit ausschließlich einem einzigen weiteren Seday an seiner Seite?
Cey stand auf und machte einen solch hastigen Schritt nach vorne, dass ihr prompt schwindelig wurde. Und kaum, dass die schwarzen Pünktchen wieder aus ihrem Gesichtsfeld wichen, traf sie ein eindeutig mahnender Blick von Lee. »Mach langsam!«, sagte er und es klang nicht im Mindesten wie eine Bitte.
»Hm, sind wohl schon beim Mit-dem-Schwert-losstürmen-Punkt angekommen«, bemerkte Nathan mit einem schiefen Grinsen und drängte sich erneut an ihre Seite.
Ceys Finger hatten sich tatsächlich bereits um den Griff ihres Schwertes gelegt. Weil sie inzwischen jedoch bemerkt hatte, dass sich Jays und Rushs Präsenzen tatsächlich nur wenige Meter von ihnen entfernt bewegten und das obendrein auf eine sehr bedachtsame statt leichtsinnige Art und Weise, nahm sie sich die Zeit für eine letzte Frage.
»Was ist passiert?«
»Du meinst, warum wir nicht ertrunken sind?« Sahim, der sie nicht für eine einzige Sekunde aus den Augen ließ, zuckte die Schultern. »Keine Ahnung. Der Raum war vollständig überflutet. Es gab keinen Ausweg. Doch dann hat sich die Schleuse plötzlich wieder verriegelt und die Tür ist aufgeglitten, ohne sich erneut zu schließen.« Er zeigte auf den offenen Durchgang zu dem Raum, in dem für sie beinahe alles geendet hätte. »Das Wasser ist hierher abgeflossen, durch das Gitter.« Jetzt deutete Sahim zu Boden. »Jay, Xyen und ich waren noch bei Bewusstsein. Lee und die anderen sind auch schnell wieder zu sich gekommen. Nur du hast ja unbedingt als Erste Wasser inhalieren -«
Auch dieses Mal vollendete ihr Bruder den Satz nicht, sondern biss sich stattdessen auf die Zunge. Cey fühlte sich mies, denn Sahims Furcht, sie zu verlieren, musste gigantisch gewesen sein.
Und erst recht fühlte sie sich mies, weil sie ihren Freunden gesagt hatte, gegen das Unausweichliche anzukämpfen wäre in ihrer Situation ein Fehler. Weil sie, die doch in all den Jahren niemals aufgegeben hatte, es akzeptiert hatte, dass es vorbei war, dass es jemand anderes sein würde, der EvolutionGenius und Zachriel zur Strecke brachte. Dabei hätte sie nur noch einige wenige Sekunden länger durchhalten müssen, bis Lieutenant Anderson, Callan und seine Gruppe die Kontrolle über die Computersteuerung des Wassersilos zurückerobert hatten und sie retteten.
»Nein, Schwesterlein«, widersprach Sahim sanft, der ihren Gedanken aufmerksam gefolgt war. »Callan oder dem restlichen Team verdanken wir unsere Rettung genauso wenig wie Lieutenant Anderson oder sonst jemandem vom menschlichen Militär. Es bleibt nur einer, der dafür verantwortlich sein kann. Und deswegen brauchst du dir auch keine Vorwürfe zu machen! Du hast richtig entschieden. EvolutionGenius’ Vorgehen ergibt nicht den geringsten Sinn!«
Das tat es wirklich nicht. Warum sollte dieser gestörte Kerl versuchen, sie alle zu ertränken, nur um sie dann im letzten Moment doch zu verschonen? Das war genauso idiotisch wie Killerroboter auf sie zu hetzen, die aber plötzlich trotz Hightech-Ausrüstung daneben ballerten.
Cey musste unweigerlich daran denken, wie Sahim und sie Jay gegen den Metallkoloss auf waghalsige Art und Weise zur Hilfe geeilt waren. Was hatte ihr Bruder nach der Konfrontation gesagt? Es ist echt strange! Eigentlich dürften wir nicht mehr im Diesseits weilen, Cey. Der Roboter muss uns mit all seinen Sensoren einfach registriert haben, als wir zu Jay gerannt sind. Wir haben jedoch noch nicht mal einen kleinen Kratzer abbekommen. Was bedeuten würde … er hat absichtlich vorbeigeschossen.
Nikara und Jay hatte der Roboter jedoch sehr wohl treffen wollen. Und der Graf war EvolutionGenius’ beschissenem Pfeil ebenfalls nicht entkommen. Der Mann, der seit seiner Jugend mit Astan befreundet gewesen war, war nicht minder brutal und gewissenlos wie ihr dunkler Schöpfer selbst, da machte Cey sich nichts vor. Doch genau wie Astan oder Zachriel war auch er sehr intelligent und handelte nicht einfach willkürlich. Wenn sein Vorgehen also einen bestimmten Zweck verfolgte … konnte das nur einer sein.
Ceys Augen blitzten entschlossen auf. Sie musste unbedingt zu Jay und Rush! Denn wenn sie sich nicht vollkommen irrte, würden die beiden einen weiteren Hinterhalt von EvolutionGenius eher überstehen, wenn sie bei ihnen war. Cey ging los – nicht so hastig wie zuvor, aber dennoch zügig – und Sahim folgte ihr seufzend. »Lektion Null«, murmelte er. »War ja irgendwie klar.«
»Hey, wartet!« Nikara schloss augenblicklich zu ihnen auf. »Ich will auch was von diesem Penner abhaben!« Sein Lippenpiercing glitzerte bedrohlich im Schein von Six’ Taschenlampe und die harte Miene des Dämonenanführers verkündete nur zu deutlich, dass er ebenfalls mehr als genug von all den perversen Spielchen ihrer Feinde hatte.
Six und Three blickten zu Xyen und Lee und waren offenbar unschlüssig, ob sie ihnen in den Weg treten oder zumindest vorweg marschieren sollten. Aber auf ein Zeichen von Xyen hin ließen sie Cey, Sahim und Nikara kommentarlos vorbei. Zielstrebig hielten diese auf Jays und Rushs Präsenzen zu, die anderen kamen ihnen wachsam nach.
»Kaiden, Ten und Zane haben den Grafen längst nach oben und in Sicherheit gebracht. Two und One hingegen versuchen immer noch, uns einen Rückweg zum Versorgungsschacht zu ermöglichen. Sie können die blockierte massive Stahltür zwischen uns allerdings nicht sprengen, ohne einen Tunneleinsturz zu riskieren. Stattdessen probieren sie, an die stromführenden Kabel heranzukommen und eine Überbrückung des defekten Schalters zu basteln. Es kann jedoch noch etwas dauern, bis sie die Tür tatsächlich aufkriegen«, verkündete Seven und gab damit eine mentale Nachricht seiner Kollegen weiter.
»Und Eight und Nine sagen, Lieutenant Anderson ist ausgerastet, als ihm klar wurde, dass sich hier unten bei ihnen ein gesuchter Terrorist versteckt«, ergänzte Gael grimmig. »Der Lieutenant ist mehr als beflissen, uns zu unterstützen, und hat bereits eine Untersuchung eingeleitet, wer von seinen Leuten mit EvolutionGenius zusammenarbeitet. Callan und den anderen ist es gelungen, den versiegelten Eingang zu diesem Wartungstunnel zu öffnen. Allerdings ist nach der ersten Biegung ein Teil der Decke eingestürzt und sie müssen noch einige Trümmer beseitigen, bevor sie zu uns stoßen können.«
Cey lauschte den Berichten nur mit halbem Ohr. Es war eine Erleichterung zu wissen, dass Verstärkung von gleich zwei Seiten aus unterwegs war, aber noch erleichternder wäre es, bei Jay und Rush zu sein.
Sie durchquerte einen weiteren leeren, grau verputzten Raum und dann erspähte sie endlich Jays hünenhafte Gestalt. Er und Rush standen nachdenklich mit gezückten Pistolen vor einem Durchgang, der lediglich von einem dicken, schwarzen Stoffvorhang geschützt zu sein schien. Die hintere Wand des Raumes wurde von Metallregalen gesäumt, in denen sich einige verstaubte Konservendosen stapelten. Dazwischen befand sich eine stählerne Tür mit einem Drehschalter, die recht ähnlich aussah wie jene, die sie bereits passiert hatten.
»Wie geht’s dir?« Jay sah sie zwar angespannt, aber auch sehr liebevoll an und Cey musste unweigerlich schlucken. Um ein Haar hätte sie niemals wieder seine Stimme gehört, hätte niemals wieder in diese jadegrünen Augen blicken oder über Jays beklopptes Training schimpfen können.
Er, der Schattenmeister, für den die Sicherheit seiner Leute oberste Priorität hatte, hätte sich beinahe durchgesetzt, beinahe hätte er den Befehl erteilt, dass sie ihn zurückließen … Doch für sie hatte er alle seine Prinzipien über Bord geworfen. Cey musste erneut schlucken. Zum Glück genügte Jay ein kurzes Nicken als Antwort.
Rush, der den Blick nicht vom Vorhang abgewandt hatte, ergriff nun das Wort. »Durch die Tür dahinten geht es nur noch in einen einzigen weiteren Raum, danach führt der Tunnel abwärts bis zu dem eingestürzten Abschnitt und anschließend in den Bunker. Wenn sich EvolutionGenius also nicht doch direkt in Lieutenant Andersons Büro versteckt, muss er sich irgendwo hinter diesem Vorhang befinden!«
»Na dann …« Nikara trat einen Schritt nach vorne, aber Jay streckte umgehend seinen Arm aus und stoppte den Dämon. »Wir warten auf Callan«, entschied er knapp.
Der Chef von Tajynos persönlicher Sicherheitsmannschaft war ihnen bereits wesentlich näher, als Cey ursprünglich angenommen hatte. Hochkonzentriert schloss sie die Augen, um all die Eindrücke auszuwerten, die ihr Geist ihr lieferte. Außer den J’ajal registrierte sie noch zahlreiche schwächer ausgeprägte Bewusstseine in etwas größerer Entfernung - Lieutenant Andersons Soldaten. Und noch ein menschliches Bewusstsein nahm sie wahr, in einigem Abstand zu dem Durchgang mit dem Vorhang und etwas tiefer gelegen. EvolutionGenius’ Name leuchtete vollkommen klar für sie auf, entweder um sie zu verhöhnen oder zu verlocken oder beides.
»Nur noch ein paar Minuten.« Das kam von Nathan. »Laut Callan lassen sich manche Steine erstaunlich leicht beiseiteschaffen und der Spalt ist schon fast groß genug, um sich hindurchzuzwängen.«
»Eine Tarnung«, vermutete Xyen spontan. »Eine stundenlange Abwesenheit wäre gewiss aufgefallen, also muss EvolutionGenius’ Gehilfe einen einfachen, raschen Zugang zu dessen Versteck haben. Dennoch sollte niemand, der vielleicht trotz des Verbots einen Blick in den Wartungstunnel riskiert oder gar ein paar Schritte hineinwagt, etwas bemerken.«
Cey stimmte der Überlegung ihres Mentors innerlich zu. An Jays Vorgabe konnte sie sich aber leider nicht halten. Sie schlug die Augen wieder auf und sah kurz zu Nikara, der ihr soeben eine lautlose Botschaft von einem ihrer Verbündeten weitergeleitet hatte. Die Miene ihres Freundes erschien Cey noch härter als zuvor.
»Wir haben keine paar Minuten mehr«, sagte sie laut. »Wir müssen jetzt los.« Jene SMS, die sie sich auf ihrem alten Handy vor dem Abstieg in den Wartungsschacht selbst gesandt hatte, war nämlich wie erwartet von demjenigen Wesen abgefangen worden, welches dieses Handy einst gehackt hatte. Allerdings erfolgte die Reaktion auf die Textnachricht wesentlich schneller als gedacht.
Cey holte tief Luft und übermittelte höchstpersönlich jedem einzelnen Seday, der mit ihr nach Colorado gekommen war, eine eindringliche Warnung. So gefährlich es bislang auch bereits für sie alle gewesen sein mochte – nun wurde es noch ungleich extremer.
Bevor Xyen, Jay oder ein anderer detaillierter nachhaken konnte, schnappte sich Sahim bereits eine alte Konservendose aus dem Regal. Angeekelt verzog er das Gesicht. »Zwanzig Jahre alte Bohnen, die braucht doch echt niemand mehr.« Er schleuderte die Dose auf den Vorhang. Dieser bauschte sich nach hinten auf und gewährte einen Blick auf rötlich-graues Felsgestein. Etwa drei Dutzend Schritte entfernt hing ein weiterer schwarzer Vorhang von der Decke.
»Verdammt!« Jay hätte Sahim wohl am liebsten gepackt und geschüttelt. Und Nikara und sie vermutlich gleich mit. Stattdessen gab er nun aber Rush mit einer Geste zu verstehen, zusammen mit ihm vorzurücken. »Was oder wen spürt ihr vor uns?«, fragte er.
»Nur ihn. E. Sonst niemanden«, antworte Nikara, nachdem er sich mental bei Cey und Sahim vergewissert hatte, dass ihm nichts entgangen war. »Zur Erinnerung: Über Monsterrobos ohne Bewusstsein können wir nichts sagen.«
»Schon klar«, murmelte Jay.
Schritt um Schritt schlichen sie voran, beäugten misstrauisch jede noch so kleine Ritze. Ceys Nerven waren bis zum Äußersten angespannt. Ihr Schwert hatte sie längst aus der Scheide gezogen und als einer der Seday hinter ihr versehentlich falsch auftrat und kleine Steinchen unter seinen Stiefeln vernehmlich knirschten, wäre sie beinahe herumgewirbelt und hätte einen Wurfstern geschleudert. Der in diesem Fall keinen Feind, sondern einen Freund getroffen hätte.
Reiß dich zusammen!, schalt Cey sich selbst. Sie spitzte die Ohren. »Hört ihr das auch?«, erkundigte sie sich lautlos bei Sahim und Nikara.
»Ja, Schwesterherz. Ein leises Piepsen und Surren. Macht mich ganz kirre …«
Cey lockerte für einen Moment bewusst ihre Muskeln und fokussierte sich noch mehr auf das, was ihre übermenschlichen Sinne ihr verrieten. Sie berührte Jays Geist und übermittelte ihm die exakte Position von EvolutionGenius’ Präsenz.
Plötzlich zuckte Rush zurück. »An diesem Vorhang ist eine Kamera angebracht«, warnte er leise.
»Stopp!« Jay ließ sie umgehend anhalten und Sahim drängte Cey ein Stück zur Seite, um zwischen ihr, Jay und Rush hindurchspähen zu können. »Gutes Auge, Rush«, lobte er anerkennend. »Sieht fast aus wie ein gewöhnlicher Befestigungshaken. Und wir brauchen gar nicht erst zu stoppen, denn EvolutionGenius wird uns ohnehin schon gesehen haben.«
»Das alles gefällt mir überhaupt nicht«, bemerkte Jay finster.
Auch Xyen schien kurz abzuwägen, Cey spürte seinen Blick deutlich zwischen ihren Schulterblättern. Doch mit jeder Sekunde, die verstrich, wurden ihre Chancen geringer, das zu erreichen, was sie wollte. All diesen Scheiß ein für alle Mal zu beenden.
Xyen war nicht besonders begeistert gewesen, als sie ihm von ihrem alten Smartphone und dem anstehenden Aufeinandertreffen erzählt hatte, er hätte sich lieber erst mal nur mit EvolutionGenius befasst. Ceys psychische Reserven waren jedoch nahezu ausgeschöpft und erneut eine ungewisse Warterei zu ertragen – das hätte sie unmöglich geschafft.
Entschlossen trat sie nun nach vorne, schlüpfte an Rush vorbei und wich genauso geschickt Jay aus. Das Piepsen und Surren wurde lauter, als sie den schweren Vorhang kurzerhand mit ihrem Schwert zerteilte und aus dem Tunnel heraus geduckt auf eine metallische Gitterplattform mit Brüstung huschte.
Nur einen Sekundenbruchteil später flankierten Jay und Rush sie und gaben ihr mit ihren Waffen Deckung. Nikara und Sahim blieben in ihrem Rücken und Cey konnte spüren, wie sie vorsichtshalber ihre Macht für einen geistigen Angriff sammelten.
Links von ihnen führte eine Treppe von der Plattform nach unten, rechts war eine Art Lift angebracht. Die Plattform selbst bildete einen guten Aussichtspunkt, um die gewaltige Höhle zu überblicken, die sich vor und unter ihnen auftat. Überall gab es Monitore und Schaltpulte und armdicke Bündel von Kabeln verliefen kreuz und quer über Boden und Decke. Hunderte von roten, grünen und gelben Lämpchen leuchteten beständig oder flackerten wie wild und spendeten ein diffuses Licht.
In einer Ecke schien es eine Schlafnische und einen Kochbereich zu geben, in einer anderen einen Sanitärbereich, aber das technische Equipment überwog bei Weitem. Ein riesiger Tisch war genau mittig in der Höhle platziert und trotz seiner Größe verschwand er beinahe unter den Bergen von Hauptplatinen, Prozessoren, Speicherchips, elektronischen Sensoren, Blechverkleidungen, diversen Roboterarmen, halbfertigen Computern, Lötvorrichtungen, Strommessgeräten und sonstigem Schnickschnack.
Cey sah sich weiter um, versuchte etwaige Gefahren auszumachen. Das an der Decke angebrachte und in ihre Richtung zielende vollautomatische MG sah zum Beispiel alles andere als beruhigend aus, auch wenn der lange mit Munition bestückte Patronengurt momentan still und harmlos herabbaumelte.
Der große runde Knopf auf einem der Schaltpulte wirkte ebenfalls nicht sonderlich vertrauenserweckend, erst recht nicht in Kombination mit der Abbildung einer Cruise Missile auf dem Monitor dahinter. Mit hoher Wahrscheinlichkeit handelte es sich um die geklauten hochentwickelten Marschflugkörper der US Air Force, von denen Xyen in der Academy gesprochen hatte. Welche unbarmherzige Zerstörungskraft würden diese wohl ausüben, sollten sie je aktiviert werden?
Normalerweise hätten sich tausend düstere Szenarien dazu in Ceys Kopf entsponnen, doch im Augenblick herrschte in ihrem Schädel eine seltsame Leere. Und wie sehr Cey sich auch bemühte, ihr Blick glitt immer wieder zu ein und derselben Stelle in der Höhle zurück.
Es existierten keine Fotos von EvolutionGenius außer jenen, die sie in Mareus’ Zuhause in Tibet entdeckt hatten. Sie hatten EvolutionGenius als Teenager und jungen Mann gezeigt, der bis auf die leicht versetzten und dadurch schief wirkenden Augen ein Allerweltsgesicht besaß. Da er sich nicht in einen J’ajal verwandelt hatte, hatte Cey erwartet, es mit einer deutlich älteren Version jenes Mannes auf den Fotos zu tun zu bekommen. Auf den EvolutionGenius, der untrügbar vor dem überladenen Tisch saß, war sie allerdings nicht gefasst gewesen. Sie hatte bereits gegen hunderte völlig unterschiedliche Feinde gekämpft. Aber niemals gegen jemanden wie ihn.
Und was jetzt?