Wie hingegossen ruht Maria Cristina nackt auf einem See schwarzer Laken. Die Sonne scheint ins Zimmer und fällt auf die wächserne Haut ihres rechten Armes, der schlaff über ihrem Gesicht liegt. Das Haar, ein zerzaustes Feld gebleichter Strähnen, flimmert im Morgenlicht. Das Handgelenk ist im rechten Winkel abgeknickt, die Finger scheinen auf einen Punkt am Boden zu deuten. Von dem unterm Bizeps halb verborgenen Gesicht sind nur ein Stück Kinn und die über der geraden Zahnreihe halb geöffneten, von regelmäßigen Atemzügen bewegten Lippen zu sehen. Unter den zarten Nackenlöckchen geht der Hals in die geschwungenen Schulterblätter und die mageren, von goldenem Flaum bedeckten Schultern über. Die Achsel ist ein dämmriges Tal, über dem das Rund des künstlichen Busens aufscheint, aufgepflanzt auf dem rippengefurchten Brustkorb, der unterhalb des Brustbeins zum straffen, weißen Bauch abfällt. Nichts trübt die Alabasterhaut. Der verdrehte Rumpf wird in der Taille schmal und zum Becken wieder weit. Auf der rechten Hüfte verliert die Haut ihre monotone Glätte, es beginnt ein anarchisches, gepeinigtes Terrain, auf dem sich die verbrannte Epidermis in wulstigen weißen Mustern und Streifen, die sich wie Gummibänder über rosige Täler und fühllose Krater spannen, neu zusammengesetzt hat. Die Narben enden an einer scharfen Grenze, ab da setzt sich die abermals glatte Haut zum Bauch hin fort, umgibt die Senke des Bauchnabels, verschwindet unter einem lichten Wäldchen seidiger, kohlschwarzer Haare und runzelt sich auf dem dunklen Vorgebirge der Klitoris, die sich über den korallenrosa Schamlippen erhebt. Die langen Oberschenkel berühren sich auf Kniehöhe, die sanfte Kurve der Waden mündet in die Fesseln, auf die in harmonischer Abfolge die leicht gelblichen Fersen, die anmutigen Füße, die nervösen Zehen und der seines Nagels beraubte Hallux folgen, der im unmittelbaren Erwachen zuckt.
Die Sonnenwärme weckt sie. Während der Körper reglos daliegt, taucht der Verstand wie vom Grund eines lauwarmen Schwimmbeckens aus dem Schlaf auf. Sie ist in Nicolas Resort. Sie rekonstruiert die Geschehnisse, die sie in diesem Bett aufwachen lassen. Der Takt ihres Atems begleitet die Stille. Sie hebt den Kopf, das Licht blendet, sie schirmt es mit der Armbeuge ab. Die Sonnenscheibe steht hoch am klaren Himmel, offenbar ist es schon spät. Nicola liegt auf der anderen Seite des Bettes und schläft lautlos. Mit einem Auge lässt Maria Cristina den Blick durch das halbfertige minimalistische Fünf-Sterne-Hotelzimmer wandern, es fehlen ein paar Schranktüren und Borde, neben dem Fenster steht eine quadratische Wanne und auf dem Boden ein großes, abstraktes Bild, das noch aufgehängt werden muss. An der Decke Kabelknäuel und nackte Glühbirnen.
Wie geht es dir?, erkundigt sich Diana Brinzaglia neugierig.
Gut, antwortet sie.
Als sie auf den Boden schaut, muss sie lachen, neben den Sandalen liegen zwei verwaiste Kondome.
Schuldgefühle?
Sie inspiziert ihre Seelenwindungen, wie man verborgene Körperstellen nach einem Frühlingsspaziergang über Viehweiden nach Zecken absucht. Keine Schuldgefühle. Und keine Anspannung, Angst oder Furcht.
Sie ist glücklich und verliebt.
Aufs Lieben versteht sich Maria Cristina nicht besonders, dafür hat sie ein echtes Talent, sich zu verlieben: In der Kunst, ihr Herz an jemanden zu verlieren, ist sie Meisterin. Dann empfindet sie heillose, inbrünstige, aufwühlende Sehnsucht nach dem anderen.
Nicola gefällt ihr wahnsinnig gut. Das verrät ihr dieses wohlige, freudige, leichte Gefühl, das ihr in den vom Rausch des Orgasmus matten Gliedern sitzt.
Verdammt, ich bin sogar gekommen, sagt sie sich überrascht. Sie war sich sicher, mit dem Sex wäre sie fertig, pathologisch frigide und für körperliche Lust unempfänglich.
Aber nein …
Sie verdrängt einen versauten Flash. Jetzt ist nicht die Zeit für Erinnerungen. Auf dem Rückweg nach Rom wird sie alle Zeit haben, kichernd rot zu werden und sich auf diese denkwürdige Nacht einen Reim zu machen.
»Ja, denkwürdig«, murmelt sie.
Aber jetzt muss sie aufstehen, etwas essen, sie kommt um vor Hunger. Heute ist das Interview. Sie muss los. Zum Glück hat sie der Security Bescheid gesagt, dass sie auswärts übernachtet.
Und was ist mit Nicola?
Soll sie ihm einen romantischen Zettel dalassen und verschwinden? Oder ihn wecken und sich von ihm verabschieden?
Sie reckt sich und betrachtet ihren Liebhaber. Er ist sonnengebräunt, leicht behaart, aber die Behaarung ist flaumig blond und gut verteilt. Sie steht auf das Profil seines verlebten Gesichts, auf die Lachfalten, die kleinen Ohren, das leicht vorstehende Kinn, das ihr noch nicht aufgefallen war. Der Adamsapfel erhebt sich einsam auf der stoppelfleckigen Kehle. Er hat ein bisschen Speck an Bauch und Hüften, aber die Arme sind muskulös, ein rotblaues japanisches Kraken-Tattoo umschmiegt seine Schulter. Der Schwanz hängt schlaff auf einem Schenkel. Selbst im Schlaf ist er nicht zusammengeschrumpft und behält seine üppigen Maße. Wie eine Tulpenknospe umschließt die glatte, dunkle Vorhaut die Eichel und stülpt sich darüber zu einem Fischmaul.
Oh Gott!
Bazooka!
Jetzt erinnert sie sich. So haben ihn seine blöden Freunde auf dem Boot genannt. Wegen der Größe.
Bazooka und Maria Blasina. Ihre Künstlernamen.
Sie grinst, während ihr eine verruchte Idee kommt.
Die durchgeknallte Maria Blasina (die in der Zwischenzeit unter anderem auch die Frau des Premiers und Mehrheitsführers sowie zur schönsten Frau der Welt geworden ist), wird dem schlafenden Bazooka einen königlichen Blowjob machen und ein unvergessliches Erwachen bescheren.
Sie beißt sich auf die Lippen, um nicht zu lachen, angetörnt von ihrer eigenen Verwegenheit.
Moment, und wenn er aufwacht und ihr vor Schreck das Knie an den Kopf rammt?
Ungeachtet der Gefahr nähert sie sich dem schlafenden Nicola, späht ihm ins entspannte Gesicht und hockt sich vor seinen Schwanz. Vorsichtig lupft sie ihn mit den Fingern und öffnet die Lippen. Er gehört ihr, wie vor zwanzig Jahren. Sie wirft einen letzten Blick auf seine Lider, um sicherzugehen, dass er schläft, macht den Mund auf, um …
Was ist das?
Im Hintergrund, in einer Zimmerecke jenseits von Nicolas Kopf, zieht plötzlich ein Gegenstand ihren Blick auf sich. Was hängt da für ein Ding unter der Decke? Sie schließt den Mund und kneift die Lider zusammen, um es besser erkennen zu können. Ein viereckiges, undefinierbares schwarzes Kästchen mit abgerundeten Ecken und einer durchsichtigen kleinen Kuppel in der Mitte.
Maria Cristina stockt der Atem, sie reckt den Hals, richtet sich auf und weicht an den Matratzenrand zurück. Das Denken setzt aus. Sie steigt vom Bett und geht darauf zu. Schädel, Augäpfel, Schläfen pochen im Rhythmus ihres Herzschlags, der in rasendem Takt gegen ihr Brustbein trommelt.
Sie stellt sich unter das Ding, legt den Kopf zurück und mustert es. Aus der Rückseite kommt ein graues Kabel und verschwindet in der Wand. Ein gallenbitterer Schwall steigt ihr in die Kehle, sie merkt, dass sie schwitzt, in diesem Zimmer herrscht eine Bruthitze, der Teppichboden unter ihren Füßen glüht, ihre Achseln sind nass, Schweiß rinnt ihr die Seiten hinab. Sie nimmt sich den Stuhl mit den darüber geworfenen Anziehsachen, trägt ihn in die Ecke, steigt darauf, stellt sich auf Zehenspitzen, greift nach dem Kästchen und zieht es aus der Halterung. Das Kabel spannt sich, aber hält stand, sie zieht fester, es gibt ein paar Zentimeter nach, genug, um zu sehen, dass sich im Inneren der kleinen, durchsichtigen Kuppel ein winziger Kreis verbirgt, der sie fokussiert. Maria Cristina stößt das Winseln eines tödlich verletzten Tieres aus, zerrt mit beiden Händen, zieht heftiger, verliert das Gleichgewicht und knallt mit Hüfte und Hintern auf den Boden, doch sie tut keinen Mucks und umklammert die Kamera, an der das zerrissene Kabel baumelt.
»Was ist los?«, fragt Nicola Sartis schläfrig belegte Stimme. »Maria …?«
»Elendes Stück Scheiße«, wispert sie, auf allen Vieren am Fußende des Bettes.
»Maria Cristina?«, fragt er mit suchendem Blick.
Als würde der Dämon selbst ihr auf die Beine helfen, baut sie sich in voller Größe vor dem Bett auf, splitternackt, außer sich, mit wirrem Haar und den Glutaugen des Gorgonen.
»Du Stück Scheiße.« Ihr Körper hat jede Weichheit verloren, rund sind nur noch die Titten, alles andere ist ein Gewirr aus Linien und Kanten: Beine, Knie, Ellenbogen, Arme, Wangenknochen, Hintern. »Was ist das hier?« Sie zeigt ihm die Kamera.
Nicola Sarti starrt sie versteinert an, den Rücken an der Kopfstütze.
»Sag schon, Scheißkerl«, brüllt Maria Cristina und schleudert die Kamera auf ihn, die mit einem satten tock gegen seine Stirn prallt, als wäre sie aus massivem Holz.
Nicola Sarti jault auf vor Schmerz und reißt die Hände vors Gesicht.
»Du hast mich gefilmt, du Hurensohn.« Mit einem Satz ist Maria Cristina auf ihm. »Du hast mich wieder reingelegt.«
Instinktiv stößt er sie mit einem Bein zurück, und die Frau des Premiers landet mit dem Rücken an der gegenüberliegenden Wand, lässt sich auf Hände und Füße fallen und stürzt sich erneut auf ihn. Er tritt aus, doch sie packt sein Fußgelenk und brüllt: »Das war alles geplant. Deshalb wolltest du das Licht nicht ausmachen. Deshalb hast du mich …«
Maria Cristina hört, wie sich ihre Stimme in schrille Höhen schraubt. Irgendwo in ihrem Hirn flimmert ein letzter Funke Vernunft und gibt ihr zu verstehen, dass sie gerade völlig ausrastet, man sie einliefern wird, Zwangsbehandlung, titelseitenverdächtig, dass man das Monster nicht mehr zurückpfeifen kann, wenn man es einmal von der Kette gelassen hat. Doch Nemesis, der Göttin des gerechten Zorns, könnte das nicht weiter am Arsch vorbeigehen. Wie eine Katze, der man die Jungen weggenommen hat, klammert sich Maria Cristina an seine Beine und versucht ihn zu kratzen, ihm in den Oberschenkel zu beißen, und die nackten Leiber, die sich vor wenigen Stunden in einem wilden Liebesakt vereinten, liefern sich einen gnadenlosen Kampf.
Weil Nicola Sarti sie nicht abschütteln kann, packt er sie bei den Haaren und schleudert sie rücklings aufs Bett, sie brüllt und schlägt um sich. »Luciano. Die Fischrechnung aus Civitavecchia. Die Begegnung vor dem Spa. Die Chinesin. Arschloch!«
Keuchend springt der Mann auf sie, pflanzt seinen Hintern auf ihren Magen und drückt ihr die Kehle zu, während sie sich windet wie eine Schlange, faucht und spuckt, ihr Brustkorb hebt sich und senkt sich, als müsste er platzen, mit den Fingern versucht sie, den Klammergriff an ihrer Kehle zu lockern, doch die Schere, die gleiche Schere, die sie auf Professor M.s Liege fixierte, drückt ihr die Luft ab.
Nicola Sarti hebt den Arm, um ihr einen Schlag ins Gesicht zu verpassen.
»Na los. Schlag mich. Zeig mir, was du draufhast, du beschissenes Arschloch. Los, mach schon, schlag mein Gesicht zu Brei«, fordert Maria Cristina ihn auf, während die Augen ihr fast aus dem Kopf springen. »Zeig mir, was für ein Kerl du bist. Bring mich um.«
Nicola Sartis gereckte, von der Sonne beschienene Hand rührt sich nicht.
Mit letzter Kraft schlägt Maria Cristina um sich, trifft ihn mit den Handknöcheln ins Gesicht, reckt sich mit einem Knurren und packt seinen Schwanz. »Ich reiß ihn dir ab, Scheißkerl! Was willst du von mir?«
Er reißt den Mund auf und schreit: »Kleopatra!«
Maria Cristina lässt ihre Beute los.
Er hält sie fest, mustert sie aus leeren Augenschlitzen, die von einer blutverschmierten Haarsträhne halb verdeckt werden, und wiederholt: »Kleopatra.«
»Wer zur Hölle ist Kleopatra?«, fragt Maria Cristina erstickt. »Elendes Stück Scheiße, du.«
»Du wurdest gefilmt, seit du dieses Zimmer betreten hast. Alles aufgenommen. In 4K«, erklärt Nicola Sarti nüchtern, ohne ihren Hals loszulassen.
Maria Cristina sucht in ihrem Mund nach einem Rest Spucke, den sie ihm ins Gesicht schleudern kann. »Ich wusste, dass du ein Scheißkerl bist.«
»Wenn du nicht willst, dass sich das Video im Netz verbreitet, sagst du heute Abend während des Interviews mit der Reitner Kleopatra.«
Keuchend, ratlos, mit verlorenem Blick starrt sie ihn an. »Wie? Kleopatra? Warum?«
»Darum. Ab jetzt wird sich dein Leben ändern. Es gehört mir. Von nun an tust du, was ich dir sage. Wenn nicht, wird die ganze Welt sehen, wie die Frau des Premiers es von vorne und von hinten besorgt kriegt.«
Einen Moment lang fragt sich Maria Cristina, ob er einen Witz macht. Aber nein, sein Blick ist ernst und unerbittlich. Sein Ton eisig wie nie.
»Was soll das heißen, Kleopatra?«, fragt sie, aufs Bett gestreckt, von der Sonne geblendet, die Hand des Schinders noch immer an der Kehle.
»Du hast kein Recht, Fragen zu stellen. Du sagst während des Reitner-Interviews Kleopatra. Wenn nicht, wenn ich es nicht deutlich höre, landet das Video nach der Sendung im Netz. Und sollte dir einfallen, mit irgendjemandem darüber zu reden, über das Video oder Kleopatra, mit deinem Mann, mit Luciano, mit dem Geheimdienst, mit wem auch immer, solltest du mich irgendwie verarschen wollen oder das Interview sausenlassen, mich kontaktieren, mich anrufen, irgendetwas tun, was mir ansatzweise gegen den Strich gehen könnte, landet das Video im Netz. Es genügt ein Klick.« Er beugt sich über sie und fletscht die Zähne. »Wenn du versuchst, uns zu ficken, erfahren wir das sofort und jagen dich. Und das Video kommt raus.«
Maria Cristina stiert ihn vage an, als stünde sie an einer Felskante, unter der ein schwarzer, pulsender Abgrund gähnt.
Nicola Sarti lässt ihren Hals los, fasst sich an die Stirn und betrachtet seine blutigen Fingerspitzen. »Was sollst du sagen?«
Sie schüttelt den Kopf. »So eine scheiß Erpressung.«
»Ich habe gefragt, was du sagen sollst.«
Maria Cristina will etwas erwidern, versucht es erneut, seufzt: »Kleopatra.«
»Brav. Jetzt nimm dein Zeug und verschwinde.«
Maria Cristina fixiert ihn, sucht nach einem hellen Schimmer, einem Kräuseln der Lippen, einem Zeichen, dass dies eines seiner seltsamen Spiele ist. Doch vergeblich, da ist keine Unsicherheit in Nicola Sartis Miene, nicht der kleinste Bruch.
Also steht sie auf, rafft, ohne ihn aus den Augen zu lassen, ihre Sachen zusammen und verlässt das Zimmer.
Es ist schwer, Maria Cristinas Rückfahrt nach Rom zu beschreiben. Die richtigen Worte zu finden, um den Strudel zu erfassen, der sich in ihrem Geist aufgetan hat und die einfachsten Überlegungen, simpelsten Annahmen und absurdesten Vermutungen verschluckt.
Ihr Kopf ist schwer wie eine Wassermelone, ihr Hirn steckt in einem Schraubstock, das Herz rast, noch immer spürt sie Nicola Sartis Finger an der Halsschlagader und kann nicht aufhören zu zittern. Sie hat Angst, einen Schwächeanfall zu erleiden. Sie kann kaum das Lenkrad halten, die Pedale mit den Füßen betätigen, den Blinker setzen.
Es ist eine zeitlose Fahrt. Ständig klingelt das Handy. Alle rufen sie an, heute ist der Tag des Interviews, und sie nimmt jeden Anruf an, ja, ok, bin unterwegs, in Ordnung, kein Problem, wir sehen uns gleich, während sie im Rückspiegel nachsieht, ob ihr jemand folgt.
Zuhause angekommen, rennt Maria Cristina ohne mit jemandem zu reden ins Schlafzimmer. Sie wäscht sich, zieht sich an, schminkt sich und versucht sich zu beruhigen.
Als sie Domenicos Arbeitszimmer betritt, warten Caterina und das komplette PR-Team dort bereits auf sie: Mitarbeiter, Praktikanten, Marina, die Sekretärin ihres Mannes, und Dino Berti. Rund zwanzig Leute. Sie haben ein Briefing samt Slideshow vorbereitet. Marina wird ihr die Fragen erläutern, mit denen sie rechnen muss, und die Tricks, um den Fallstricken der Journalistin zu entkommen. Berti wird ihr Gedächtnis die bisherigen Leistungen der Regierung und deren kommende Schritte bis zur Wahl betreffend auffrischen. Domenico wird sich womöglich aus London dazuschalten.
»Versammlung gestrichen«, teilt Maria Cristina ihnen mit.
»Wie, gestrichen?«, fragt Caterina ungläubig.
»Sie ist überflüssig. Ihr könnt gehen. Ich mache das allein.«
»Wie bitte? Wir sind extra für dich hier. Wir haben alles vorbereitet.« Mit einer ausholenden Handbewegung deutet die Assistentin auf die Gäste dieser Überraschungsparty, auf dem Tisch stehen sogar Getränke, Thermoskannen mit Kaffee und Tramezzini bereit. »Das ist sehr wichtig, Maria Cristina …«
»Wie lange ist es noch bis zum Interview?«, fällt ihr die Frau des Premiers ins Wort.
»Sechs Stunden. Aber wir müssen mindestens anderthalb Stunden früher im Studio sein.«
»Ich muss mich ausruhen«, sagt Maria Cristina und klingt so abgekämpft, dass Widerspruch zwecklos erscheint.
»Du hast recht, Maria Cristina«, sagt Dino Berti beschwichtigend. »Wir haben von Luciano gehört. Wie geht es ihm?«
Die Gefolgsleute setzen tragische Mienen auf.
»Besser. Danke. Die Operation ist gut verlaufen.«
»Vielleicht ruhst du dich ein Stündchen aus, und dann machen wir einen Schnelldurchlauf?«, schiebt Caterina hastig nach. »Ah, ehe ich es vergesse, Amelianna kommt extra von den Malediven zurück, um dir mit dem Outfit zu helfen.«
»Bestens.« Ohne noch etwas hinzuzufügen, verlässt die Frau des Premiers das Zimmer.
»Wieso bist du denn zu Hause?«, fragt Maria Cristina, als sie die Tür zu Irenes Zimmer öffnet, wo ihre Tochter auf dem Bett liegt und Pippo streichelt, den der Fahrer nach Rom mitgebracht hat.
Das Mädchen stürzt auf die Mutter zu und umarmt sie. »Du hast ihn herholen lassen! Danke! Danke!«
Maria Cristina drückt ihre Tochter fest an sich, vergräbt die Nase an ihrem Hals und atmet ihren Duft ein. »Warum bist du nicht in der Schule?«
»Ich wollte vor dem Interview bei dir sein.«
Maria Cristina ist überrascht, damit hat sie nicht gerechnet, sie würde gern lächeln, doch ihre Lippen sind wie festgeklebt. »Na schön. Danke.«
»Kann Pippo bei uns bleiben?«, fragt Irene.
»Ja«, seufzt die Mutter und drückt sie noch immer an sich. Sie würde ihr gern sagen, dass sie sich um ihn kümmern, mit ihm spazieren gehen und all das tun muss, was Eltern ihren Kindern sagen, wenn sie ein Haustier bekommen, aber eine dumpfe Panik macht sie sprachlos.
Immer wieder sagt Nicola Sartis Stimme in ihrem Kopf: »Ab jetzt wird sich dein Leben ändern. Du gehörst mir.«
»Yippie! Yippie!« Irene dreht sich zu dem Hund um. »Pippotto, du darfst bei uns bleiben. Hast du verstanden? Jetzt bist du ein römischer Hund.«
Maria Cristina lässt sich aufs Bett sinken, auf die zerwühlte Tagesdecke mit den roten Sternen. Schwanzwedelnd springt der Hund mit der verbundene Pfote zu ihr herauf und schleckt ihr mit kindlichem Eifer übers Gesicht, sie schließt die Augen, spürt seine feuchte Zunge auf den Wangen, am Ohrläppchen. Sie streichelt ihn und vergräbt die Finger im dichten Nackenfell.
»Sehr gut, Mama«, sagt Irene. »Bleib hier, wir drei, wir tun so, als wäre das Zimmer ein U-Boot.«
Maria Cristina nickt mit geschlossenen Augen. Körper und Geist verlangen nach Ruhe, nach einer Auszeit, aber das ist jetzt unmöglich.
Warum will er, dass ich Kleopatra sage? Was heißt das bloß?
Es muss ein Geheimwort sein, ein Startsignal für …
Sie hat keine Ahnung.
»Wir erfahren es sofort. Und das Video landet im Netz.« Das hat der Scheißkerl gesagt. Und den Plural verwendet. Er ist also nicht allein. Er gehört zu einer kriminellen Bande, einer Terrororganisation. Sie haben Nicola Sarti benutzt, um an sie heranzukommen, er hatte das Video, mit dem man sie unter Druck setzen konnte, und ist dadurch an ein neues, tausendmal kompromittierenderes gelangt. Jetzt ist alles klar. Die Klinik ohne Patienten, die unfertigen Hotels, die bereitliegenden Kondome, die Geschichte mit Alessio, die sie weichkochen sollte, das Licht im Zimmer für die Kamera. Und sie hat ihm verraten, dass Domenico sie betrügt, dass sie seit fünf Jahren keinen Sex mehr hatte, und sogar, dass sie zu allem bereit sei, um ihm Lust zu verschaffen. Und dieser Mistkerl hat die Frau des Ministerpräsidenten in den Arsch gefickt, eine Mutter, vor laufender Kamera. Das auf dem Segelboot war nur die Vorspeise, gestern kam das Hauptgericht, die Erpressungswaffe.
Maria Cristina steht auf, geht ins Bad, schließt die Tür hinter sich, beugt sich über das Klo und kotzt bittere Galle.
»Mama, alles in Ordnung?«, fragt Irene von draußen.
»Ja, Liebling. Bin gleich da«, nuschelt sie.
»Sicher?«
»Ja.« Sie spült sich den Mund aus und betrachtet sich im Spiegel. Die Gesichtshaut spannt sich straff über dem Schädel. Die Augen springen aus den dunklen, von Augenringen umschatteten Höhlen. Die Lippen sind trocken, der Hals runzlig, das Haar nicht zu bändigen. Nicola Sarti hat es geschafft, ihr den Verstand und jede Spur von Schönheit zu rauben.
Sie darf das Interview nicht machen. Sie muss eine Ausrede finden.
Nein, das geht nicht. »Wenn du das Interview nicht machst, landet das Video im Netz«, hat er gesagt.
Als sie wieder aus dem Bad kommt, stehen Pippo und Irene wartend vor der Tür und sehen sie besorgt an.
»Was meinst du, hast du Lust, mich zum Haarefärben zu begleiten?«, fragt sie ihre Tochter.
»Prima. Die gefallen mir eh nicht besonders«, gesteht Irene. »Kann Pippotto auch mitkommen?«
Der Hund sitzt artig da und schaut sie erwartungsvoll an, sein Schwanz fegt über den Boden. »Ja.«
Irene ist noch nicht zufrieden. »Und kann ich auch mit ins Fernsehen kommen und zusehen, während du das Interview gibst? Ich bin auch ganz brav und mucksmäuschenstill, ich schwöre. Und ich kümmere mich um Pippotto.«
Maria Cristina kramt ein Lächeln hervor und sagt abermals Ja.
Bisher war Caterina Gamberini besorgt, doch jetzt ist sie panisch. Wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, dass Mascagnis Frau nicht mehr sauber tickt, dann ist es dieser. Nur eine Frau, die mit den Nerven am Ende und in geistig bedenklichem Zustand ist, fährt bis nach Casal Bertone, um sich von einer indischen Friseuse die Haare färben zu lassen. Und in wenigen Stunden muss diese Frau, die psychiatrische Hilfe benötigt, ein Interview mit Mariella Reitner führen und über sich, ihren Mann und die Regierung sprechen. Ihre Zukunft hängt von einer Frau ab, die den IQ eines Schuppentiers hat. Ist das zu fassen? Die Assistentin kauert auf dem pflaumenfarbenen Sofa und ringt nach Luft. Vielleicht hätte sie das Angebot ihrer Ex annehmen und ein Fastfood-Restaurant für Nudeln mit Tomatensauce in Alessandria aufmachen sollen, statt sich auf dieses politische Irrenhaus einzulassen. Bei Shari läuft es großartig. Sie hat sogar eine nigerianische Freundin. Und was wird aus ihr, nun, da sie die Wahlen verlieren? Sie steht auf, massiert sich die schmerzende Hüfte und geht zu einer Beratung mit der PR und der Security auf die Terrasse.
Maria Cristina trinkt einen Kaffee im Wintergarten und beobachtet die beiden Teams, die diskutieren, telefonieren, den Kopf schütteln, die Arme verschränken. Caterina nickt und kehrt mit gekrümmten Schultern zu ihr zurück, als müsste sie einen Schrank schleppen. Sie setzt sich ihr gegenüber, faltet die Hände, sucht nach Worten, und ihre pausbackige Miene wechselt von ernst zu freundlich zu flehentlich. »Hör mal, Maria Cristina, pass auf, die Security ist der Meinung, dass es unmöglich ist, in diesem schmalen Zeitfenster quer durch Rom zu fahren, wir riskieren, zu spät zur Liveübertragung zu kommen. Und außerdem gibt es Fotos von dir mit blonden Haaren in der Oper, jetzt willst du sie dir wieder braun färben, was sollen die Leute denken? Sie könnten es, na ja, falsch verstehen und als Unentschlossenheit der Regierung deuten, das könnte also nach hinten losgehen.« Die Assistentin sieht sie ernst an. »Könntest du dir wenigstens vorstellen, zu Diego Malara zu gehen? Oder ihn hier herkommen zu lassen?«
»Nein.«
Caterina beißt sich auf die Unterlippe. »Bitte, Maria Cristina, sei nicht kindisch.« Dann tippt sie sich atemlos an die Brust. »Bist du sauer auf mich, wegen dem, was du auf der Toilette gehört hast? Es tut mir leid, ich weiß nicht, wie ich es wieder gutmachen soll. Das war ein Fehler. Verzeih mir.«
»Ich verzeihe dir. Wir fahren mit der Eskorte, dann sind wir schneller.«
Die junge Frau schluckt. »Ich glaube, mir wird schlecht.«
Maria Cristina sitzt auf der kleinen Couch und schlägt langsam die Beine übereinander, die Sandale baumelt an ihren Zehen. »Das tut mir leid.«
»Ich bitte dich …« Es ist ein verzweifeltes Flehen. »Der Premier hat gerade mit Meyer zu tun. Wir können nicht mit ihm sprechen.«
Maria Cristina holt das Handy aus ihrem Täschchen. »Und was ist mit der Raupe, habt ihr ihn gefragt?«
Caterina atmet mit geblähten Nasenflügeln wie ein Fischotter nach dem Tauchgang und zeigt ein erschöpftes Lächeln. »Nein. Er antwortet ja nicht sofort. Er braucht immer einen Moment. Das weißt du ja.«
Maria Cristina wählt die Nummer, wartet ein paar Sekunden. »Hallo. Guten Tag.«
Die Assistentin glotzt sie an und knabbert mit den Schneidezähnen am Nagel ihres Mittelfingers. Dann, um nicht gehört zu werden, formt sie die Worte mit den Lippen. »Ist er das? Die Rauuupe?«
»Alles okay. Alles okay.« Die Frau des Premiers nickt. »Ich wollte dich fragen, ob es ein Problem ist, wenn ich mir für das Interview die Haare färbe … Ja, dunkel, braun, wie vorher, ein bisschen kürzer … Perfekt. Danke. Ich weiß, dass du das normalerweise nicht tust, aber könntest du es Caterina sagen? Ich gebe sie dir.« Sie hält der Assistentin das Telefon hin, die wie eine Klapperschlange danach schnappt und es sich vorsichtig ans Ohr hält. »Hallo? Ja, sind Sie das? Die Raupe? Die Raupe persönlich? Das ist eine große Ehre. Ja. Geht klar. Ja, sicher. Danke. Bestens. In Ordnung. Bestens.«
Da sind sie also, Davide, Irene, Pippotto und Maria Cristina im Mercedes und von mehreren Streifen eskortiert auf dem Weg nach Casal Bertone.
Maria Cristina, den Nacken gegen die Kopfstütze gelehnt, die Augen geschlossen, spürt das Vibrieren der Stadt. Heute ist in Rom die Hölle los, es ist überschwemmt von nächtlichen Regengüssen und überrannt von deutschen Fans wegen eines Pokalspiels, der Verkehr sickert bis in die kleinsten Gassen, die Autos stehen in zweiter und dritter Reihe, wie Cholesterin in den Adern verstopfen die Mülllaster die Straßen, und trotz der anmaßenden Sirenen der blauen Wagen ist die Fahrt endlos.
Wie gern würde sie den quälenden Gedanken an die Erpressung loswerden. Michael Mantler, Andreas Deprogrammierer, vertrat die These, der Verstand sei ein Zimmer, das es zu entrümpeln gelte. Man müsse alles rausschmeißen, was man nicht braucht. Ums Atmen, Schlafen und die Nahrungsaufnahme kümmert sich der Körper selbst. Aber Maria Cristinas Verstand ist ein hermetisch verschlossener, von Nicola Sarti bewohnter Würfel.
Was ist dieser Typ nur für ein abscheuliches Wesen? Ein oscarreifer Schauspieler, ein Monster, ein Porno-Terrorist, der sich nicht schämt, für irgendeine revolutionäre Sache in Sexfilmchen aufzutreten.
Und du hast es fertiggebracht, verliebt aufzuwachen, raunzt Diana Brinzaglia.
Mit dem Absatz ihres Schuhs drückt sie auf den nagellosen großen Zeh. Wie ein Peitschenhieb jagt ihr der Schmerz durch das Bein und raubt ihr den Atem, sie presst die Lippen zusammen, um nicht zu schreien.
Kleopatra. Die Königin der alten Ägypter. Wunderschön. Verliebt in Marcus Antonius. Warum ausgerechnet Kleopatra? Weil sie schön ist wie sie? Weil sie sich aus Liebe umgebracht hat? Ist es ein Symbol? Sie würde gern nach Informationen suchen, dahinterkommen, ob es sich dabei um einen Codenamen handelt, ein revolutionäres Geheimsymbol. Sie will nach dem Telefon greifen, verkneift es sich aber. Bestimmt ist das auch schon gehackt. Sie ist so verängstigt, dass sie fürchtet, man könnte selbst ihre Gedanken abhören. Das Auto könnte verwanzt sein. Wenn es einen sicheren Weg gäbe, sich mit Botta, dem Geheimdienstchef, in Verbindung zu setzen, könnte sie ihn um Hilfe bitten und Nicola Sarti festnehmen lassen.
»Wenn du mit irgendjemandem darüber redest, landet es im Netz. Das erfahren wir sofort.«
Sie starrt aus dem Autofenster auf den Verkehr, die Motorrollerschwärme. Bestimmt wird sie verfolgt. Sie öffnet die Handtasche und holt das Xanax hervor. Die warme, ölige, bittere Flüssigkeit betäubt ihre Zunge. Sie greift nach dem Handy. Sie will Luciano anrufen, um zu erfahren, wie es ihm geht.
Nein, besser nicht.
In einem grünen Sari, den Haarpanettone auf dem Kopf, erwartet Stefania Subramaniam die Frau des Premiers am Eingang ihres kleinen, zwischen einem Tierfuttergeschäft und einem Gemüseladen eingeklemmten Schönheitssalons. Wie eine Statue in der Nische eines Hindutempels steht die Friseurin im Türrahmen. Hinter ihr drängen sich drei dünne junge Inderinnen und spähen neugierig über sie hinweg.
Kaum sieht Stefania Maria Cristina aus dem Mercedes steigen, legt sie grüßend die Handflächen aneinander. Offenbar hat die Nachricht vom Kommen der Premiersgattin im Viertel die Runde gemacht, denn an den Fenstern und auf den Balkonen der modernen Wohnhäuser drängen sich die Leute mit gezückten Handys. Der indische Gemüsehändler hat ein Tablett mit Mango- und Papayaschnitzen vorbereitet, die er Irene und den Schaulustigen auf dem Gehsteig anbietet. Es ist ein freudiges, protestfreies Willkommen. Die Männer von der Security machen Maria Cristina den Weg frei, die mit einem grüßenden Winken im Salon verschwindet.
Die Friseurin schließt die Tür ab und hängt ein Schild mit der Aufschrift »Geschlossen« daran. »So stört uns niemand.« Sie zieht die Vorhänge zu, und die Straße, der Verkehr und die Gaffer an der Scheibe verschwinden.
Der Raum mit der niedrigen Decke und dem Neonlicht ist schlicht. Schwarzes Linoleum auf dem Boden, Spiegel auf beiden Seiten, blaue Sessel, Familienfotos und Bilder von berühmten indischen Sehenswürdigkeiten, der Taj Mahal, verschneite Bergpanoramen und Heiligenfigürchen von Hindu-Gottheiten.
Die Gehilfinnen lächeln noch immer und wiegen die Köpfe, während zwei betagte Kundinnen wie alte Geier in ihren schwarzen Umhängen dasitzen und sie hingerissen anstarren.
Die Friseurin geht auf das Mädchen mit dem Hund an der Leine zu und mustert sie ernst. »Ich wette, du bist Irene.«
»Ja. Bin ich.«
»Und wer ist dieses kleine Schätzchen?« Die Friseurin bückt sich und streichelt den freudig wedelnden Hund.
»Das ist Pippotto.«
»Weißt du, dass du sehr hübsch bist, Irene? Manche sagen, du bist sogar noch schöner als deine Mama.«
Das Mädchen legt argwöhnisch den Kopf zur Seite. »Wer?«
»Viele.«
»Kann nicht sein.« Sie senkt die Stimme und flüstert der Inhaberin ins Ohr: »Wenn du ihr die Haare in Ordnung bringst, ist meine Mama die Schönste auf der ganzen Welt.«
»Und genau das machen wir. Aber du bist auch nicht übel. Ihr beide seid zwei der tausendsechsunddreißig Farben der Schönheit.« Stefania lupft eine von Irenes Haarsträhnen. »Ich würde dir ein bisschen die Spitzen schneiden, was meinst du?« Sie wirft Maria Cristina einen fragenden Blick zu.
»Darf ich, Mama?«, fragt die Kleine aufgeregt.
»Ist gut.«
Stefania vertraut Irene ihren Mädchen an und bedeutet Maria Cristina, ihr in einen zweiten Raum mit weiteren Plätzen zu folgen. Hier sind die Wände orange, und hier hängen ein Schwarzweißfoto eines alten indischen Gurus, eine Autogrammkarte von Maria De Filippi und ein Bild von Padre Pio, synkretistisch vereint.
Stefania besteigt einen Hocker, setzt sich die Brille auf, winkt Maria Cristina heran und inspiziert schweigend ihr Haar.
»Ich habe totalen Mist gebaut, oder?«, fragt Maria Cristina schuldbewusst.
»Dieses Blond loszuwerden wird nicht einfach, aber wir kriegen das hin. Hauptsache, es hat nicht auf die Seele abgefärbt.«
Maria Cristina beobachtet Stefania Subramaniams Bussardaugen und flüstert schüchtern, kaum hörbar: »Darf ich dich umarmen?«
Die Inderin breitet die Arme aus, und Maria Cristina versinkt darin. Sie spürt die gleiche Wirkung wie bei ihrer Begegnung auf der Toilette des Ruderklubs, doch heute, verängstigter denn je, das Leben am seidenen Faden, empfindet sie sie als noch mächtiger und wundertätiger. Sie empfängt die positive Energie des Gurus, die sie für das Interview wappnen soll, verharrt in der Umarmung, dankbar, mit geschlossenen Augen, und labt sich an der heilsamen Wärme.
»Mach dir keine Sorgen«, flüstert Stefania Subramaniam ihr ins Ohr. »Du bist stark und schön wie eine Tigerin. Du schaffst das.«
Maria Cristina legt ihr die Stirn an die Schulter und stammelt. »Ich habe Angst.«
Die Inderin greift ihr unters Kinn, um ihr ins Gesicht zu sehen. »Die Angst endet dort, wo die Wahrheit beginnt.«
Die Augen der Premiersgattin füllen sich mit Tränen, sie zieht die Nase hoch. »Ich will nur ein bisschen Frieden.«
»Du musst den Frieden finden, der zu dir passt. Jeder hat seinen eigenen.«
»Aber ich …« Maria Cristina begreift nicht, was die Friseurin meint. All diese Weisheit verunsichert sie. Wie eine vom Licht angelockte Motte hat sie ihr Leben lang verzweifelt nach Lehrern gesucht, nach Philosophen, von denen sie lernen konnte, doch statt Weisheit in sich aufzunehmen, hat sie ihre innere Leere nur noch stärker empfunden.
Stefania legt ihr die Hände an die Schläfen. »Alles geht vorüber. Selbst die schlimmsten Dinge liegen irgendwann hinter uns und nehmen in unserer Vergangenheit den Platz ein, der ihnen gebührt. Aber jetzt zu den wichtigen Dingen. Was wollen wir mit diesen Haaren anstellen? Ich würde ihnen wieder ihre natürliche Farbe zurückgeben, sie im Nacken kürzen, sie vorn ein bisschen länger lassen und scheiteln, Typ Herrenschnitt. Das sieht trotzdem feminin aus, aber verleiht dir die richtige Autorität für das Interview.«
Maria Cristina drückt ihre Hände. »Ich vertraue dir voll und ganz, Stefania.«
Die Friseurin weist ihr einen Friseurstuhl an. »Das höre ich gern.«
Die Frau des Premiers trägt einen ärmellosen grauen Rollkragenpulli und eine schwarze Hose mit hohem Bund. Dazu rote Schuhe mit Absatz. Die neuen kastanienbraunen, geschmeidig glänzenden Haare lassen ihren Hals noch länger erscheinen, die Augen unter den Brauenbogen schimmern wie Bernsteinkugeln. Um alles Übrige hat sich die TV-Maske gekümmert, das Make-up ist so dick aufgetragen, dass die Augenringe und Falten darunter verschwinden. Der leuchtend rote Lippenstift macht ihren Mund größer und bringt seine Konturen besonders zur Geltung.
Ein Assistent hat ihr mitgeteilt, man werde sie in fünf Minuten ins Studio begleiten, während der Werbepause könne sie dann ihren Platz für das Interview einnehmen.
Durch die Garderobentür sickern die Stimmen von Assistenten, Technikern, Maskenbildnern, Fotografen, von Domenicos gesamtem PR-Team, dazu die helle Stimme von Irene, die versucht, Pippo Sitz beizubringen.
Maria Cristina tigert zwischen dem verschossenen blauen Sofa und der langen, weiß beschichteten Ablage unter dem Spiegel hin und her, auf der ein Obstkorb steht. »Das Wichtigste ist, dass du ruhig bleibst. Hör dir die Fragen genau an und nimm dir Zeit zum Nachdenken, ehe du antwortest«, flüstert sie vor sich hin und trocknet sich die Achseln mit Küchenpapier, während der Motor des kleinen Kühlschranks mit einem lästigen Quietschen an- und ausspringt. Die abgestandene Luft in der Garderobe füllt ihre Lungen, trotzdem hat sie das Gefühl, zu ersticken. Ihr Zwerchfell ist verkrampft. Zum Glück rast das Herz nicht mehr.
Leichter Regen prasselt gegen das Fenster, das auf den Parkplatz hinausgeht. Im Kegel einer Straßenlaterne fallen stete, goldglitzernde Tropfen spritzend in eine Pfütze, die den Asphalt überschwemmt und von einem Gully verschluckt wird. Neben einem überquellenden Müllcontainer hockt eine Möwe und pickt in den matschigen Resten eines Hamburgers.
Die Möwen sind ihr immer gefolgt, nach Rom, aufs Land, zur Raupe, sie sind die wahren Gefährten dieses Abenteuers, zwischendurch sind sie verschwunden und immer dann wieder aufgetaucht, wenn sich ihr für Sekunden von Gedanken befreiter Blick im Himmel verlor. Vielleicht kennen die Vögel den Sinn des Lebens: um jeden Bissen kämpfen, den der Herrgott einem hinwirft.
Das Handy auf dem Tisch vibriert.
Domenico.
Nicht jetzt, es ist spät. Er würde sie nur verrückt machen. Die Hände in den Hüften, starrt sie auf das Display und atmet ein und aus, bis der Name ihres Mannes verschwindet.
Eine Minute später klopft es an der Tür.
»Ja?«, krächzt sie und umklammert ihre verschwitzten Hände.
Caterina lugt herein. »Der Präsident würde dir gern Glück wünschen.« Sie hält ihr das Telefon hin. »Er ist gerade aus der Sitzung gekommen. Darf ich ihn dir geben?«
Maria Cristina zieht die Nase hoch und nimmt das Telefon. »Domenico.«
»Liebes, entschuldige, ich konnte heute nicht rangehen, die lassen mir einfach keine Ruhe. Wie geht’s? Wie fühlst du dich?«
»Gut«, lügt sie in verhalten fröhlichem Ton.
»Bereit?«
»Bereit.«
»Ich bin stinksauer, heute Abend ist ein Essen mit Meyer und dem Außenminister angesetzt. Ich fürchte, ich werde dich nicht sehen können. Aber Caterina wird mich auf dem Laufenden halten. Also, lass es locker angehen, du musst nicht die Welt retten.« Kleines Lachen. »Vielleicht nur mich.«
»Okay.« Maria Cristina hat die Sprache verloren, ihr bleiben nur Danke, Okay, Jas und Neins.
»Sie haben mir ein Foto von deinem neuen Haarschnitt geschickt. Perfekt. Hochelegant. Hast du wirklich gut gemacht. Blond ist einfach nichts für dich.«
»Danke.«
»Wenn die Reitner dir Fragen stellt, auf die du nicht antworten kannst, dann wechsle das Thema, erzähl was Persönliches. Hast du dich mit den Jungs vorbereitet?«
Maria Cristina tritt ans Fenster. Die Möwe ist verschwunden, der Regen hat nachgelassen. »Nein.«
»Ah!« Stille. »Und warum nicht?«
»Ich habe mir die Haare machen lassen.«
»Okay.« Domenico schlägt einen anderen Ton an. »Soll ich dir was sagen? Besser so. Spontaner. Verstanden? Weich auf ein anderes Thema aus. Wenn sie dich nach Politik oder nach mir fragt, sag ihr, du hast mit meinen Entscheidungen oder denen meiner Regierung nichts zu tun. Deshalb bist du nicht dort. Du bist die Hauptfigur.«
Maria Cristina setzt sich behutsam auf die Couch. »Ja.«
»Na dann, zeig denen, was eine Harke ist, wie man so schön sagt. Es wird super laufen.«
»Ja.«
»Ich liebe dich. Ich rufe dich nachher an.«
»Okay.« Als Maria Cristina auflegt und ihre Angst jeden Warnpegel überschritten hat, geht die Tür auf, und eine junge Assistentin mit fuchsiafarbenem Bob schaut herein. »Können wir?«
Die Beine übereinandergeschlagen, die Hände auf den Armlehnen, sitzt die Frau des Premiers mit geradem Rücken auf einem unbequemen Sessel aus alten Telefonbüchern. Sie sieht bezaubernd aus im Schein der Studiostrahler. Jenseits des Lichtkreises, der sie umgibt, verborgen im Dunkeln, murmelt und raschelt das spärliche Publikum. Maria Cristina hält nach ihrer Tochter Ausschau, die dort irgendwo sitzt, kann sie aber nicht entdecken.
Der Countdown läuft, noch ist Werbepause.
Sie muss sich entscheiden.
Den ganzen Tag über hat sie den Gedanken verdrängt, aber jetzt bleiben nur noch wenige Sekunden. Sie nimmt einen Schluck Wasser, der ihr mühsam die enge Kehle hinabrinnt. Sie drückt die Arme durch, umklammert die Lehnen, fixiert die auf sie gerichtete Kamera, hinter der die angegraute Mähne des Kameramanns mit den Kopfhörern hervorschimmert.
Eins ist schon mal klar, sagt sie sich, ich habe nichts verbrochen. Ich habe niemanden umgebracht. Ich bin das Opfer. Ich wurde hinters Licht geführt und wegen etwas erpresst, von dem ich nicht einmal weiß, was es ist.
Wenn sie der Nötigung von Nicola Sarti und seinen Hintermännern nachgibt, bringt sie sich selbst, die Regierung und das Land in Gefahr. Das Video wird das Intimleben zur Schau stellen, das sie mit einem Mann geteilt hat, dem sie vertraute. Sie wird sterben vor Scham, aber wiederauferstehen. Sie wird eine andere Intimität finden, eine eigenere und verborgene.
»Die Angst endet dort, wo die Wahrheit beginnt«, hat die Friseurin zu ihr gesagt.
Die Entscheidung ist klar, deutlich, unmissverständlich. Sie spürt die Angst wie Salzkristalle auf der Haut, doch in ihr regt sich kühne Verwegenheit.
»Ich denke gar nicht daran, Kleopatra zu sagen«, murmelt sie in sich hinein.
Zum ersten Mal ist sie sich sicher, keinen Fehler zu machen. Irene wird ihre Mutter beim Sex mit einem Monster sehen, aber wenn sie klug ist, und daran zweifelt sie nicht, wird sie mit der Zeit verstehen. Domenico wird sie eine Zeitlang in Schutz nehmen und dann verlassen. Er ist nicht der Typ, der sich nichts daraus macht, vor der ganzen Welt als Gehörnter dazustehen.
Sie wird sich allem stellen, dem sie sich stellen muss. Aber sie wird sich nicht erpressen lassen.
Ein kühnes Lächeln verzieht ihre Lippen, während der Bildschirm noch drei, zwei, eins anzeigt.
Auf Sendung.
»Guten Abend, Signora Mascagni, es ist eine große Freude, Sie bei uns zu haben.« Mariella Reitner trägt eine weite rosa Seidenbluse, die ihre Formen kaschiert, eine dünne Kette mit einem sonnenförmigen Anhänger baumelt ihr um den Hals. Ihr zu einem Bob frisiertes Haar wird von einem dunkelblauen Reifen gehalten. Sie sieht aus wie der Page aus einem Zeichentrickfilm.
»Ganz meinerseits«, antwortet Maria Cristina mit dünner Stimme.
Die Reitner setzt sich eine kleine rote Brille auf die Nasenspitze und wirft einen Blick auf ihre Moderatorenkarte. »Wir wissen von Ihrer Scheu, sich im Fernsehen zu zeigen, von Ihrer berühmten Zurückhaltung, und trotzdem haben Sie die Einladung zu dieser Unterhaltung angenommen. Dafür möchte ich Ihnen persönlich danken.«
»Es ist mir ein Vergnügen.« Maria Cristina verengt die Lider, um ihr Gegenüber besser zu sehen. Die Projektoren, die auf ihr Gesicht gerichtet sind, um jede Unvollkommenheit zu nivellieren, blenden sie. Auf dem Bildschirm zu ihren Füßen zeigt der Countdown sechsunddreißig Minuten bis zum Ende der Sendung. Eine Ewigkeit.
Im Studio ist nicht der winzigste Laut zu hören, fast könnte man meinen, sie säßen zu zweit in einem riesigen Raum. In Erwartung der ersten Frage rückt Maria Cristina mit geschlossenen Knien auf die Sesselkante.
Die Journalistin sieht sie lange an. »Uns ist aufgefallen, dass Sie Ihren Look verändert haben. Vor ein paar Tagen in der Oper haben Sie alle mit einem blonden Kurzhaarschnitt verblüfft, der ganz untypisch für Sie ist und in den sozialen Medien viel kommentiert wurde, heute sehen wir Sie wieder braun und mit noch kürzeren Haaren. Warum?«
Instinktiv streicht sich Maria Cristina eine Strähne aus der Stirn. »Sie haben mir nicht gefallen. Ich hab’s ausprobiert. Es heißt, blond zu sein sei Ausdruck einer Haltung. Ich habe festgestellt, dass ich sie nicht besitze. Ich habe mich darin nicht wiedererkannt.« Ihre Stimme zittert leicht, sie hat Mühe zu sprechen. »Irene, meine Tochter, hat mir immer wieder gesagt, das sei nicht ich. Also …«
»Ich finde, Sie standen ihnen nicht schlecht«, fällt die Reitner ihr ins Wort. »Aber vielleicht hat Ihre Tochter recht, Sie waren nicht Sie selbst. Gefiel die Frisur Ihrem Mann?«
Maria Cristina schüttelt den Kopf. »Nicht besonders. Also habe ich heute Morgen, zugegebenermaßen nervös wegen dieses Interviews, beschlossen, wieder ich selbst zu werden. Nur ein bisschen kürzer und lockerer.«
»Steht Ihnen sehr gut.« Die Journalistin lächelt. »Also werde ich mit der echten, braunhaarigen und lockeren Maria Cristina Palma sprechen, der schönsten Frau der Welt?«
Na bitte, jetzt könnte sie sagen: Nein, Sie sprechen mit Kleopatra. Stattdessen: »Ja, mit der Schönsten der Welt, zumindest so lange, bis es eine neue Erhebung gibt. Hoffentlich bald. Ich kann es gar nicht abwarten, das Zepter einer anderen zu überreichen und in Seelenruhe zu altern. Ehrlich gesagt wird mir diese Rolle so langsam etwas anstrengend.« Maria Cristinas Mund fühlt sich kleisterig an.
Das Publikum ist noch immer still.
Denk nicht nach, je mehr du redest, desto schneller ist es vorbei, springt Diana Brinzaglia ihr bei. Sie meint, ihre Schulkameradin vor sich zu sehen, gleich dort, hinter Mariella Reitner, das fuchsiafarbene Top, die Zigarette zwischen den Fingern, genau wie damals auf der Straße.
Die Journalistin hat das Leben der Frau des Ministerpräsidenten rekapituliert, den Bergsteigervater, der die Familie sitzenließ, das verfrühte Ableben der Mutter, den Umzug zu den Großeltern nach Rom, Alessios Tod, die Karriere als Sportlerin und Model, die Heirat mit dem Schriftsteller Andrea Cerri, den Unfall, die Verbrennungen, und dann Domenico und Irenes Geburt. Hinter ihnen laufen Fotos aus Maria Cristinas Leben über einen Screen und illustrieren das Gesagte.
»Sie haben zweifellos viel Trauer erfahren und viel Schmerz durchgemacht. Gewiss haben Sie gelernt, damit umzugehen. Dem einen Sinn zu geben. Sofern man Verlust einen Sinn geben kann«, philosophiert die Journalistin und schielt noch immer auf ihre Notizen.
Unsere Hauptfigur hat das Gefühl, vor einem Polizeibeamten zu sitzen, der sie verhört und das Vernehmungsprotokoll studiert. Wieder hält sie im Dunkel nach ihrer Tochter Ausschau, sie ist nicht zu sehen. Vielleicht ist sie mit dem Hund in der Garderobe geblieben. Es wäre schön, eine kurze Denkpause machen zu können, aber die Zunge ist schneller als der Verstand. »Ich vermag dem keinen Sinn zu geben. Ich lebe in der Angst, dass ein geliebter Mensch leiden, verschwinden oder plötzlich sterben könnte. Vielleicht fällt es mir deshalb schwer, Freundschaften zu schließen, mich an Menschen zu binden, weil ich fürchte, ich könnte sie verlieren. Manchmal wache ich nachts auf und sehe nach, ob Irene noch in ihrem Zimmer ist. Oder ob es Domenico gut geht. Aber ich träume davon, eines Tages, wenn ich irgendwann sterben muss, bei den Menschen aufzuwachen, die mir die liebsten sind, und bei meinen Hunden, die einen Freudentanz aufführen, weil ich wieder bei ihnen bin.«
»Sie sind also gläubig?«, fragt die Journalistin.
Die Frau des Premiers schüttelt den Kopf. »Ich hege eine Hoffnung. Das ist nicht das gleiche. Zumindest denke ich das.«
»Ich weiß es nicht«, sagt die Reitner, und dann, wie zu sich selbst: »Damit kenne ich mich auch nicht aus.«
Das Interview kommt zügig voran und bewegt sich, womöglich von Domenico veranlasst, auf sicheren Gleisen. Die Fragen drehen sich um ihre Alltagsverpflichtungen, um das veränderte Leben, um ihre Kampagne für die Beschulung von Einwandererkindern und welchen Eindruck die First Ladies, denen sie begegnet ist, und der US-Präsident auf sie gemacht haben.
Während die eine Maria Cristina geradezu entspannt auf die Fragen antwortet (jetzt, da die Entscheidung gefallen ist, hat sie nichts mehr zu verlieren), hält die andere es kaum aus und kann es gar nicht abwarten, dass die Sendung vorbei ist, das Video publik wird und alles seinen Lauf nimmt.
Die Reitner schaut zum hundertsten Mal in ihre Notizen, als suche sie nach einer schärferen Frage.
Maria Cristina streckt die Beine aus und bedauert, keinen Rock angezogen zu haben. Sie hat den falschen Look gewählt. Sie hätte sexyer und nuttiger rüberkommen sollen, mit einer bis zum genau richtigen Punkt aufgeknöpften Bluse.
»Ihr Mann musste seine Arbeit als Anwalt aufgeben, er hat eine der bedeutendsten Kanzleien Italiens geleitet. Ein wohlhabender, erfolgreicher Mann mit einer wunderschönen Frau und einer Tochter. Warum hat er Ihrer Meinung nach eingewilligt, die Regierung zu führen?«
Maria Cristina zuckt die Achseln. »Das müssten Sie ihn selbst fragen.«
»Haben Sie nicht darüber gesprochen? Hat er das allein entschieden?«
»Natürlich nicht.«
»Können Sie uns das ein bisschen genauer erzählen?«
»Wir waren in Sabaudia am Meer und lagen schon im Bett. Der Chef der PUI hat ihn angerufen und ihm vorgeschlagen, beim Präsidenten im Quirinalspalast seinen Namen für eine Regierungsbildung in den Ring zu werfen. Sie hatten es eilig. Domenico bat, eine Nacht darüber schlafen zu dürfen.«
»Dann waren Sie also bei ihm, als er die Entscheidung getroffen hat?«
»Nein. Wir schlafen in getrennten Zimmern.«
Lacher im Publikum. Applaus.
Die erste Lüge. In Sabaudia hatten sie ein gemeinsames Schlafzimmer. Sie hat mit Schlafmaske, Ohrenstöpseln und zehn Tropfen Schlafmittel intus neben ihm gelegen. Sie fährt fort. »Zum Frühstück hatte Domenico sich entschieden, er sagte, er würde annehmen. Es sei Zeit, sich persönlich für das Land einzusetzen.«
»Empfand er die moralische und gesellschaftliche Pflicht, sich dieser Aufgabe zu stellen?«
»Ich glaube, es war auch ein bisschen Eitelkeit dabei«, fügt Maria Cristina hinzu und schaut auf ihre Hände.
Die Journalistin scheint wieder wach zu werden. »Inwiefern? Erklären Sie mir das.«
Maria Cristina fährt sich mit den Fingerspitzen über den Nacken. »Na, stellen Sie sich das doch mal vor … Plötzlich ruft die Mehrheitspartei an und sagt einem, man sei der richtige Mann, der Einzige, der die Probleme Italiens in diesen schwierigen Zeiten lösen könne, natürlich sieht man sich in einer großen Verantwortung, fühlt sich aber auch geschmeichelt. Daraufhin hat er mit unserem Präsidenten gesprochen, der ihm die letzten Zweifel nehmen konnte.«
Die Reitner lacht amüsiert. »Und was Sie und die Veränderungen angeht, die dieses Amt für Ihr Familienleben bedeuten würde? Was hat Ihr Mann dazu gesagt?«
Maria Cristina gemahnt sich an den Pakt, den sie mit sich geschlossen hat: die Wahrheit. »Domenico sagte, er würde das Amt nur annehmen, wenn ich einverstanden wäre, ihm als Premiersfrau zur Seite zu stehen. Ich hatte meinen Mann noch nie so euphorisch gesehen wie an jenem Morgen. Nein, Verzeihung, das war das falsche Wort, eher energiegeladen und überzeugt. Er sagte, für das Wohl Italiens würde er sein Möglichstes tun. Wenn man sich für seine Mitmenschen starkmache, sei man auch mit sich selbst mehr im Reinen. Was sollte ich da noch sagen? Wie hätte ich Nein sagen können?«
»Ein wahrer Idealist. Das hätte ich nicht gedacht. Schön zu hören.« Im Ton der Journalistin schwingt leise Ironie mit.
Maria Cristina sieht sie ernst an. »Ja. Das hat er gesagt. Und er hat daran geglaubt.«
»Er hat Ihnen nicht gesagt, dass die Parteispitze ihn vielleicht auch Ihretwegen in Betracht gezogen hatte?«, schießt die Reitner zurück. »Als wunderschönes, berühmtes Model waren Sie die perfekte Partnerin für einen Anwalt, der für Politik zwar ein Händchen hat, aber den meisten kaum ein Begriff war.«
»Nein«, antwortet die Premiersgattin knapp.
»Und wenn Sie nicht einverstanden gewesen wären?«
»Hätte er abgelehnt. So hat er es mir gesagt.«
Die Reitner lädt nach. »Und Sie glauben, das stimmt? Hätte er es getan?«
Maria Cristina nimmt sich Zeit, ehe sie antwortet. »Ich weiß es nicht. Ich weiß, dass ich mir Domenico Mascagni als Mann und Vater meiner Tochter ausgesucht habe, weil er ein reifer, vernünftiger, aufrichtiger und entschlossener Mensch ist.« Sie macht eine kleine Pause. »Ich liebe aufrichtige, entschlossene Männer.«
»Und weil er reich war?«, bemerkt die Reitner.
»Auch.«
Das Publikum amüsiert sich.
Eins zu null, Volltreffer, spornt Diana Brinzaglia sie an.
»Er hat mir Sicherheit gegeben, und ich konnte mich bei ihm anlehnen in der Gewissheit, dass er sein Bestes für mich tun würde«, fährt Maria Cristina fort. »Nach dem Tod von Andrea, meinem ersten Mann, habe ich eine schwere Zeit durchgemacht, ich litt an Depressionen, und Domenico hat mich Stück für Stück wieder zusammengesetzt wie eine kaputte Teekanne. Er hat mich diskret und formvollendet umworben, ohne sich je aufzudrängen, und als wir dann ein Paar wurden, hat er mir ein wunderbares Leben beschert.« Maria Cristina blickt ins Dunkel, sucht die Gesichter ihrer Zuhörer und entdeckt endlich Irene, die ihr zulächelt und die Daumen reckt. »Seit er in die Politik gegangen ist, hat sich mein Mann leider verändert. Ihm fehlte es an nichts, wir dachten darüber nach, gemeinsam nach London zu ziehen. Er hat auf alles verzichtet und sich mit ganzer Kraft und vielleicht ein wenig blauäugig in dieses Unterfangen gestürzt.«
»Ihr Mann ist blauäugig? Wirklich?«
»Ja. Er hat geglaubt, etwas Gutes für dieses Land bewirken zu können. Er hatte keine Ahnung von den Intrigen der Politik und war überzeugt, dank seiner Unabhängigkeit frei agieren und Projekte realisieren zu können, die das Leben der Italiener verbessern. Doch es ist nicht einfach, Italien zu helfen. Ich habe ihn wie einen Löwen kämpfen sehen, aber auch, wie er mit jedem Tag an Schwung verlor. Die Begeisterung ist Frustration gewichen, er fühlte sich ohnmächtig und hintergangen, konnte nicht mehr schlafen, redete in einem fort von den Fallstricken und Hürden, die ihn blockierten, begann sich vor seinen Parteikollegen, die ihn berufen hatten, zu fürchten.« Sie zeigt ein schmales, bitteres Lächeln. »Die Wahrheit ist, dass die Regierung ihn aufgefressen hat. Zu Hause ist er nicht mehr er selbst. Er ist ständig bedrückt, besorgt, abwesend. Es ist, ehrlich gesagt, nicht einfach, mit ihm zusammenzuleben. Ich rede kaum noch mit ihm, sehe ihn nie, er kann keine unbeschwerten fünf Minuten mit seiner Tochter verbringen. Er fühlt sich einsam und hintergangen. Ich weiß nicht … Es tut mir entsetzlich leid für ihn, ich weiß nicht, wie ich ihm helfen soll. Aber ich sehe, dass er trotz allem noch immer an die Sache glaubt. Und das ehrt ihn. Er lässt nicht locker. Er ist zäh.«
Das Studio bricht in Beifall aus. Es ist nicht klar, ob er der Frau oder dem Mann gilt. Die Reitner sieht sie schweigend an, dann fragt sie: »Und wenn Sie ehrlich sind, hoffen Sie, dass er die Wahl verliert, damit Sie ihn zurückbekommen?«
»Nein. Auf keinen Fall.«
Lüge, blafft Diana Brinzaglia.
»Domenico ist ein Löwe. Ich glaube, wenn er gewählt wird und die Italiener ihm ihre Stimme geben, wird er Großartiges leisten. Und in dem Fall werde ich zur Seite treten.«
»Inwiefern? Wollen Sie nicht mehr die Frau des Premiers sein?«, fragt die Reitner, setzt die Brille ab und fügt hinzu: »Oder wollen Sie uns damit vielleicht sagen, dass Sie ihn verlassen wollen?«
»Wieso sollte ich das tun? Das ist nicht der Punkt. Aber um die Frau des Premiers zu sein, habe ich mich selbst, meine Tochter und die Dinge verloren, die mir am Herzen liegen. Diese Rolle ist nichts für mich. Mir reicht es, Domenico Mascagnis Frau und Irenes Mutter zu sein«, sagt sie und sieht sich selbst schon eingebunkert auf dem Land, während ihr Sexvideo die Welt überschwemmt.
»Entschuldigung, das verstehe ich nicht. Warum hat er dann angenommen? Er hätte in Sabaudia Nein sagen können.«
»Wir sind ein Paar, bei Paaren gibt es immer einen Moment, in dem einer entscheidet und der andere folgt. Und fast immer sind es die Frauen, die folgen. So ist es seit Menschengedenken auf der ganzen Welt, auch wenn es nicht richtig ist. Trotzdem und so unglaublich das klingen mag, bin ich der Ansicht, dass Ehefrau und Mutter zu sein und dafür zu sorgen, dass es dem Partner gut geht, ein Beruf ist, der manchmal sogar befriedigend sein kann.«
Die Reitner spornt sie mit Blicken an, doch unsere Heldin braucht nicht angespornt zu werden. »Aber ich hoffe von ganzem Herzen, dass es in Italien früher oder später eine Ministerpräsidentin geben wird, damit deren Ehemann versteht, was es heißt, ein … wie nennt man das wohl? First Gentleman zu sein. Dieser Mann wird begreifen, was es bedeutet, die stille Stütze zu sein. Stets freundlich, hübsch und elegant zu sein, in der Sorge zu leben, etwas Unangemessenes oder Unpassendes zu sagen, er wird begreifen, was es tatsächlich heißt, die Frau eines allzu prominenten Mannes zu sein.« Sie rückt auf dem Sessel zurecht. Ihr Magen hat sich entspannt, sie schwitzt nicht mehr, die Worte kommen ihr leicht über die Lippen. »Wissen Sie, warum ich nicht ins Fernsehen gehe? Weil ich mich nicht klug, scharfsinnig und unterhaltsam genug finde. Ich verstehe nichts von Politik, und sie interessiert mich auch nicht. Ich habe einen Horror davor, schlecht behandelt und in den sozialen Netzwerken fertiggemacht und beleidigt zu werden. Ich mag es, mich für wichtige Anlässe in Schale zu werfen, bewundert zu werden, mein Land gut dastehen zu lassen. Ich gebe es offen zu, es hat mir gefallen, das Weiße Haus zu besuchen, mit dem Präsidenten der Vereinigten Staaten zu Abend zu essen, ich genieße das Privileg, Petra in der Abenddämmerung zu sehen oder mit dem Dalai Lama zu dinieren. Die Leute sagen ja von mir, ich sei oberflächlich. Aber jetzt ist es genug. Es war schön, aber es reicht.«
Maria Cristina hat vergessen, dass sie landesweit live im Fernsehen zu sehen ist.
Dieser Teufel von Nicola Sarti hat sie mutig gemacht.
Die Zeit ist geflogen. Nur noch wenige Minuten bis zum Ende der Sendung.
»Danke, Signora Palma«, sagt die Reitner und senkt den Kopf. »Ich bin so froh, dass Sie meiner Einladung gefolgt sind. Es war eine erhellende Unterhaltung, Sie haben sich uns ohne Furcht gezeigt, und ich bin sicher, die Zuschauer wissen Ihre Ehrlichkeit, Ihren Mut und die Wahrhaftigkeit zu schätzen, die Sie in dieses Studio gebracht haben. Das ist heutzutage keine Selbstverständlichkeit.«
»Danke.«
»Werden Sie uns wieder besuchen kommen?«
Maria Cristina muss lachen. »Nein.«
Das Publikum ist begeistert. Jemand ruft ihren Namen. Auch die Reitner steht auf, um ihr zu applaudieren.
»Aber ich muss Ihnen gestehen, dass ich mich wohlgefühlt habe«, fügt die Frau des Premiers lächelnd hinzu und fächelt sich mit der Hand Luft zu.
Die Journalistin legt ihr Kärtchen zur Seite. »Ich mich auch.«
Sie hat es geschafft. Maria Cristina reckt sich, die Studiolichter gehen an, und sie steht auf.
Die Reitner blickt sich um und lässt den Beifall mit einer Geste verstummen. »Darf ich Ihnen noch eine letzte Frage stellen?«
»Bitte.«
Die Journalistin ruckt unmerklich nach vorn, ihre bis eben noch herzliche Miene wird ausdruckslos. Sie schluckt. »Also, wenn Sie eine berühmte Frauenfigur wählen sollten, eine historische Persönlichkeit, welche würden Sie gern sein?«
Maria Cristina blinzelt. »Ich verstehe nicht.«
»Wenn Sie eine historische Figur wählen sollten, welche wären Sie gern?«
Sie hat das Gefühl, ohnmächtig zu werden, die Knie geben nach, die Lungen schrumpfen wie leere Tüten zusammen, während ein Feuer ihr den Nacken herauf bis in die Wangen schießt. Sie findet sich auf dem Sessel wieder. Stammelt. »Wie meinen Sie das?«
Die Reitner räuspert sich. »Eine wichtige Frauenfigur, die Ihnen etwas bedeutet. Wer wären Sie gern?«
»Ich?«
»Ja. Sie.«
Im Studio ist es grabesstill.
Maria Cristina blickt sich um, jetzt sieht sie Hunderte Gesichter, die sie anstarren, alle mit derselben Frage im Blick.
Wer willst du sein?
Männer und Frauen jeden Alters, die jungen Praktikantinnen mit den Kopfhörern, die Assistenten, die Leute hinter den Kameras, und jenseits der auf sie gerichteten Objektive Millionen Zuschauer, die in ihren Wohnungen auf ihre Antwort warten.
Du musst nur Kleopatra sagen und bist in Sicherheit. Das Video wird verschwinden. Niemand wird es sehen. Sag es, Maria Cristina. Los. Wovor hast du Angst?, meint sie all die Leute flüstern zu hören. Endlich hast du es begriffen. Nicola Sarti ist einer von uns. Sag es. Es ist ganz leicht. Befrei dich. Sag es für dich. Tu diesen letzten Schritt.
Die Frau des Premiers wünscht sich Diana Brinzaglia herbei, doch die ist nicht da. Sie ist allein. Sie blickt zur Decke, holt tief Luft, die ihren Brustkorb dehnt, senkt die Lider und ist raus aus dem Käfig.
Es ist nicht kalt, kein Wind weht. Sie hat den Nachthimmel über sich, die Wolken sind verschwunden, der Mond schwebt dort wie ein abgeschnittener Fingernagel, und darüber, am schwarzen Gewölbe des Firmaments, blinken die Sterne.
»Wer wären Sie gern, Maria Cristina?«, fragt Mariella Reitner lächelnd. »Gibt es da niemanden?«
Die Frau des Premiers blickt zu ihrer Tochter. »Die Astronautin Samantha Cristoforetti.«