II.

Donnerstag, 22. Februar

1.

Die Lider der Premiersgattin zucken, sie träumt von einer Füchsin namens Carlina, die zwei Spiegeleier anstelle der Augen hat, die Pupillen sind gelbe Eidotter, die Nase ein gehäkelter Ball.

Eine Stimme aus dem Jenseits schiebt sich in den Traum. »Signora …«

Obwohl ihr Herrchen steif und fest behauptet, sie sei lieb, zwickt Carlina sie in die Waden.

»Signora, aufwachen, es ist spät.«

»Ja? Was ist?«, japst Maria Cristina und versucht, aus dem Schlaf aufzutauchen.

»Caterina ist da …«, sagt die Hausangestellte.

»Caterina?«

»Ja. Sie hat gesagt, Sie hätten einen Call.«

»Wie viel Uhr ist es?«

»Halb zehn.«

Maria Cristina blinzelt und gähnt. »Daisy, sei so gut, mach die Fenster auf.«

Ein Sonnenstrahl bohrt sich in ihre Netzhaut, und sie vergräbt das Gesicht im Kissen.

»Mirco Tonik ist auch da«, erinnert sie die Philippinerin.

Maria Cristina fährt sich mit der Hand übers Gesicht. »Sag ihm, wir lassen es heute ausfallen.«

»Und was sage ich Caterina?«

»Nichts. Bring mir das Frühstück, danke.«

»Ist gut, Signora.«

Wie eine sich häutende Libelle streckt Maria Cristina behutsam die Beine auf dem Federbett aus, reckt die Arme und versucht sich über ihren körperlichen Zustand klarzuwerden. Der Magen fühlt sich leidlich an, aber Frankensteins Elektroden haben sich in ihre Schläfen gefressen. Als sie den Kopf hebt, stellt sie fest, dass sie in Unterhosen, BH und Strumpfhosen ist, das mit Kotze verkrustete Dior-Kleid liegt auf dem Boden.

Hat sie sich allein ausgezogen? Wer hat sie ins Schlafzimmer gebracht? Sie erinnert sich an nichts.

Domenico wird stinksauer sein. Seit er Premierminister ist, übernachtet er glücklicherweise häufig in der Wohnung im Palazzo Chigi, und wenn er nach Hause kommt, schlafen sie getrennt. Maria Cristina hat die Ausrede, er komme spät heim und müsse früh raus, zum willkommenen Anlass genommen, um den uneingestandenen Traum eines jeden Paares wahrzumachen.

Sie streicht über den Nagel des großen Zehs, der sich bläulich verfärbt hat und schmerzt. Während sie sich noch dehnt, tappt sie unter den verblassten Deckenfresken des Schlafzimmers entlang, betritt das Bad und betrachtet sich im Spiegel. Da sind die Spuren des Abends. Ihr Gesicht ist verquollen, als hätte sie sich mit Kortison vollgestopft, das Kissen hat Striemen auf der Stirn hinterlassen, das Haar ist matt und struppig. Sie hebt die Strähnen neben den Ohren an: Sie muss schleunigst zum Friseur. Sie hat Froschaugen und eine belegte Zunge. Nur die Titten sind unverändert, unkaputtbar. Bis zur Schwangerschaft hatte sie Körbchengröße A und musste nie einen BH tragen. Durch das Stillen sind ihre Brüste jedoch erst explodiert und dann zu zwei schlaffen Tüten geschrumpft. Es war Domenicos Vorschlag, sich operieren zu lassen. Nicht, dass sie etwas dagegen gehabt hätte, doch die Vorstellung, für den Rest des Lebens zwei synthetische Dinger unter der Haut zu tragen, behagte ihr nicht. Die Operation ist nicht optimal gelungen, sie wollte eine natürliche Tropfenform, stattdessen sehen ihre Busen aus wie Sankt-Agatha-Brüstchen, dieses sizilianische Süßgebäck mit der weißen Glasur und der kandierten Kirsche obendrauf. Wegen irgendeiner postoperativen Komplikation sind die Brustwarzen steif geblieben, weshalb sie T-Shirts und Blusen nicht ohne BH tragen kann.

Sie schluckt zwei Schmerztabletten, putzt sich die Zähne und stellt sich unter die kochend heiße Dusche.

Daisy kehrt mit dem Frühstück zurück: eine halbe Avocado, ein fettarmer Joghurt und ein Kaffee.

Maria Cristina schlüpft in ein Unterhemd. »Haben Irene und der Präsident zusammen gefrühstückt?«

»Ja.«

»Und worüber haben sie geredet?«

»Ich lausche nicht«, sagt die Hausangestellte verschwörerisch verschwiegen.

»Ich unterstelle dir nicht, zu lauschen, ich wollte nur wissen, ob sie guter Dinge waren.«

»Normal, Signora. Sie hatten es eilig, haben gegessen.«

Maria Cristina entlässt sie mit einem Lächeln. »Du kannst gehen. Danke.«

Ihre Tochter wird immer selbstständiger. Das Mädchen ist so sehr mit seinen Hobbys beschäftigt, dass sie fürchtet, es zu verlieren. Seit einiger Zeit spielt Irene Geige und geht reiten.

Als sie vor ein paar Tagen zusammen vor dem Fernseher saßen, hat sie gesagt: »Du bist anders als andere Mütter.«

»Inwiefern?«

»Andere Mütter kontrollieren ihre Töchter. Die kleben an ihnen. Gabriellas Mutter ist ständig mit ihr zusammen.«

»Willst du damit sagen, ich sollte mehr mit dir zusammen sein?«

»Nein«, antwortete das Mädchen lakonisch.

»Dann ist es okay so?«

»Ja.«

Bei Maria Cristina blieb der Zweifel eines versteckten Vorwurfs zurück.

Wer weiß, ob Domenico Irene erzählt hat, was gestern Abend mit ihrer Mutter los war. Das sieht ihm zwar nicht ähnlich, aber ausgeschlossen ist es nicht.

Sie hat den Verdacht, dass ihr Mann seit einiger Zeit versucht, die Tochter auf seine Seite zu ziehen.

Es klopft.

»Wer ist da?«

»Luciano. Darf ich reinkommen?«

Sie vergewissert sich, dass sie vorzeigbar ist. »Komm rein.«

Ein eiförmiges Wesen lugt zur Tür herein. Die Schultern hängen so sehr, dass ihm der Kopf direkt auf die Schulterblätter geschraubt zu sein scheint. Das Haar sprießt wie buschiger Friséesalat. Der Bart, hart wie Nylondraht, wuchert ihm bis über die Wangenknochen. Seine nussbraunen Augen lugen aus dunklen Tränensäcken hervor, und darüber, auf der Stirn, die hoch und flach ist wie eine Wand, wölben sich dichte Augenbrauen. Er trägt einen verdreckten Pulli undefinierbarer Farbe, ein Mischmasch aus Blau, Amarant und Schwarz. Ein paar verschossene, schlabbrige Jeans hängen an einem Gürtel und fallen in Ziehharmonikafalten auf die mit Lackfarbe bekleckerten Arbeitsschuhe. Maria Cristina kennt ihn nicht anders. Nie trägt er eine Jacke, nicht einmal bei Eiseskälte. Zu Weihnachten und zum Geburtstag schenkt sie ihm Daunenjacken, Pullover, Hemden – noch nie hat sie ihn darin gesehen.

»Guten Morgen, Cri. Spät geworden?«

»Ja. Und betrunken habe ich mich auch.«

»Gut gemacht. Hin und wieder braucht’s das. Entschuldige die Störung, ich habe den Brausekopf für die Dusche deines Mannes gefunden.« Er hebt eine Tüte hoch. Weil ihm der kleine Finger und der Ringfinger der rechten Hand fehlen, sieht es immer so aus, als würde er eine Pistole halten. »Der alte war total verkalkt, und die Gummidüsen hatten sich verhärtet. Ich habe den hier ergattert, der ist anders, aber besser. Made in Germany.« Er zieht sich die Hosen hoch. Mit dem Alter sind seine Arschbacken in den Bauch umgezogen, der ihm wie ein runder Beutel vor dem Becken hängt. Obwohl er Diabetes hat, stopft er sich mit Kebab und jedem Mist voll, den er in den Imbissbuden in die Finger kriegt. Maria Cristina hat ihn zum Endokrinologen geschickt, aber ihn von einer Diät zu überzeugen, ist völlig utopisch.

Luciano zieht ein klobiges Ding aus verchromtem Stahl aus der Tüte. »Ein Schnäppchen. Ich hab’s für kleines Geld gekriegt und in Ordnung gebracht. Laut Listenpreis kostet der vierhundert Euro. Sieht aus wie neu, oder?«

»Wunderbar. Danke, Luciano.« Maria Cristina isst einen Löffel Joghurt. »Worauf wartest du? Bring ihn an.«

»Kann ich? Sicher?«

Luciano hat eine Heidenangst vor Domenico, erst recht seit er Ministerpräsident ist.

»Er ist nicht da. Keine Sorge, geh ruhig.«

Er schiebt sich rückwärts aus der Tür und hält inne. »Ah, ich habe einen Zettel für dich.« Er zieht eine gefaltete Heftseite aus der Tasche. »Von Irene. Hat sie mir gegeben, als sie gegangen ist.«

Ciao, Mama. Du musst mich nicht von der Schule abholen. Greta kommt und wir gehen uns ein Pferd angucken, das ein Fohlen bekommen hat. Wir sehen uns zu Hause.

Maria Cristina fällt ein Stein vom Herzen. Was für eine süße Tochter sie hat.

»Komm her«, fordert sie Luciano auf.

»Was gibt’s?«

»Lass dir einen Kuss geben.«

Halb überrascht, halb verunsichert streicht er sich über den Hals. »Nein, Cri, besser nicht, ich bin total verranzt.«

»Ich habe gesagt, komm her.« Sie drückt ihm einen Kuss auf die Wange und nimmt den Geruch nach alter Seife und Achselschweiß wahr.

»Stimmt, du müffelst, aber ich liebe dich trotzdem. Danke.«

»Wofür denn?«

»Dass du da bist.«

Um eine Antwort verlegen, wendet er sich zum Gehen, dreht sich mit einem Winken der verstümmelten Hand mehrmals um und verschwindet aus dem Zimmer.

2.

Um Luciano Vasiles Bedeutung in dieser Geschichte zu verstehen, muss man beim Tod von Maria Cristinas Mutter anfangen. Als Teresa Sangermano starb, stand die Familie vor dem Problem, was mit den beiden Waisen zu tun sei. Maria Cristina war zwölf, Alessandro siebzehn. Dieses Windei von Vater war verschwunden, sein letztes Lebenszeichen war nach einer Besteigung der Annapurna, bei der er sich eine Bauchfellentzündung zugezogen hatte, aus einem tibetanischen Kloster gekommen. Die Verwandten in Palermo dachten gar nicht daran, sich die beiden Kinder ins Haus zu holen. Also mussten sich die Großeltern mütterlicherseits um sie kümmern. Die beiden lebten schon seit Jahren nicht mehr in Sizilien. Die toskanische Großmutter, Irene Salimbene, verwaltete die Familienländereien in der Maremma, der Großvater, Roberto Sangermano, Palermer, ehemaliger europaweiter Handelsvertreter eines bekannten amerikanischen Creme- und Kosmetikherstellers, hatte sich in einer Villa in Olgiata, einer Wohnsiedlung vor den Toren Roms, zur Ruhe gesetzt und spielte Golf. Außer an den Wochenenden, an denen sie an Bridgeturnieren in ganz Italien teilnahmen, führten die betagten Eheleute getrennte Leben. Roberto Sangermano hatte auch eine offizielle Geliebte, seine ehemalige Sekretärin Liliana Miconi Lombardelli. Irene Salimbene, eine scheue Frau mit einer von Depressionen und Alkoholismus überschatteten Vergangenheit, kehrte nur zur Hüftinfiltration in die Hauptstadt zurück.

Es wurde beschlossen, dass Alessio das staatliche Internat besuchen und Maria Cristina in Olgiata wohnen und im Nachbarort Formello zur Schule gehen sollte.

Weil die Großeltern nicht wussten, was sie mit dem Mädchen anfangen sollten, wurde es von ihnen entweder verwöhnt oder vergessen. Also kümmerten sich die Hausangestellten Maria und Tonino Vasile um sie, sie stammten aus Termini Imerese und lebten mit ihrem Sohn Luciano in einem Nebengebäude der Villa.

Das Paar schloss die Waise sofort ins Herz, sie war so gut und schön, der reinste Engel, einfach zum Küssen. Wenn Maria sie zum Einkaufen mitnahm, gab sie sie als ihre Tochter aus und genoss die Komplimente, die sie für Luciano, der aussah wie von einem lustlosen Bildhauer zusammengepfuscht, nicht bekam.

Die Kinder, die nur ein Tag Altersunterschied trennte, verstanden sich auf Anhieb. Kaum schlugen sie die Augen auf, suchten sie die Nähe des anderen, und abends gingen sie unglücklich ins Bett, weil der Schlaf sie um ein paar gemeinsame Stunden bringen würde. Nach der mittleren Reife wechselten beide aufs naturwissenschaftliche Gymnasium und besuchten dieselbe Klasse. Zum Lernen saßen sie im Häuschen der Vasiles am plastikdeckenverzierten Küchentisch, während im Fernseher ununterbrochen der Shoppingkanal lief und auf dem Herd etwas im Topf blubberte, das alle Hefte und Bücher mit Zwiebelgeruch imprägnierte.

In dieser exklusiven Wohnsiedlung, einer Art Schutzreservat, flitzten Maria Cristina und Luciano auf dem Einsitzer-Sattel einer roten Ciao durch die baumbestandenen Sträßchen. Sie, dürr und spitz wie eine Heuschrecke, klammerte sich an ihn, der rund und haarig war wie ein Panda. Vor den Streifenwagen versteckten sie sich zwischen den Bunkern des Golfplatzes und klauten dort die Bälle, um sie in der Schule zu verticken. Oder sie saßen in der Bar Tramonto, aßen Schweineohren aus Blätterteig und sahen den Autos zu, die auf der Cassia Bis entlangschossen.

Für Maria Cristina war Luciano etwas wie ein Bruder, ein Vertrauter, ein schmerbäuchiger Zauberer, der Pizzen mit einem Bissen verschwinden ließ, und ein großherziger Diener, der alle Schuld auf sich nahm, wenn sie im Supermarkt beim Klauen von Kulis und Kaugummis erwischt wurden.

Es war eine besondere Freundschaft, doch sie musste enden. Ähnlich wie in diesen Internetvideos, in denen ein Tigerbaby mit einer Gans spielt, bis von ihr eines schönen Morgens nur noch ein blutiger Flügel übrig ist.

Die Verhältnisse änderten sich im Sommer zwischen der elften und der zwölften Klasse, als eine verspätete Pubertät Maria Cristina aus dem Zauber der Kindheit riss. Als hätte man sie gedüngt, schoss das Mädchen in jenen drei Monaten in die Höhe, ihre Waden rundeten sich, der Hintern nahm Formen an, und sogar ein Hauch von Busen begann zu sprießen. Die Sonne erledigte den Rest, bräunte ihre Haut und hellte das Haar ihres Pagenkopfs auf, der ihren langen Hals zur Geltung brachte. Als sie im September in die Schule zurückkehrte, stellte sie verblüfft fest, dass sie in der Schulgemeinschaft einen neuen Rang einnahm. Plötzlich umschwirrten sie die Jungs, die sie früher aufgezogen hatten (schaut euch die Giraffe an!), und die wagemutigsten unter ihnen starteten Annäherungsversuche und luden sie zum samstagabendlichen Pizzaessen ein. Ihre Klassenkameradinnen feindeten sie entweder an oder versuchten sie in ihre Clique zu holen.

Eines Tages, als sie mit der Sporttasche über der Schulter vom Leichtathletiktraining nach Hause ging, lief Maria Cristina Diana Brinzaglia über den Weg, der Tochter des Blumenhändlers aus La Storta, einem Kaff in der Nachbarschaft. Die Blondine mit den prallen Lippen strotzte vor Hormonen wie ein argentinisches Rind und war ein Triumph aus Titten, Arsch und Schenkeln, die sie in knappe, knallige Miniröcke und Bodys presste. Im Kreis ihrer Anhängerinnen Silvietta Carnesecchi, Sofia D’Amico und Emma Tarantini hockte sie rauchend auf ihrer rosa Vespa. Maria Cristina warf dem Grüppchen ein Lächeln zu und wollte auf den anderen Gehsteig wechseln. Doch Sofia D’Amico, die Bierflaschen mit den Zähnen entkorkte, stellte sich ihr in den Weg. »Wo willst du hin?«

»Nach Hause.« Ihre Stimme zitterte.

Die Kippe zwischen Daumen und Zeigefinger, strich Diana Brinzaglia um sie herum, nahm einen Zug und blies ihr den Qualm ins Gesicht. »Angeblich kommst du gut an.«

Ratlos zuckte Maria Cristina die Achseln.

»Laut Rangliste auf den Jungenklos bist du die Zweitgeilste nach Diana«, klärte Emma Tarantini sie auf, ein Lockenkopf mit breiter, von Akne gepeinigter Stirn, der den ganzen Tag Big Babol kaute.

»Und du?«, fragte Maria Cristina unvermittelt zurück. In der Frage lag nicht die leiseste Ironie, damals mangelte es ihr daran.

Die Tarantini glotzte verdutzt. »Was soll mit mir sein? Ich bin nicht in der Rangliste, außerdem geht’s hier nicht um mich.«

Diana Brinzaglia musterte sie, als stünde sie vor einem Blumentopf, unschlüssig, ob sie ihn umtreten sollte oder nicht.

Noch nie hatte Maria Cristina solche Angst gehabt. Sie war ohnehin kein Löwenherz, und diese Mädels waren nicht zimperlich. Der armen Sara Sapegno aus der Zehnten hatten sie in der Umkleide die Haare abgeschnitten, weil sie Unterhosen mit rosa Bärchen trug.

»Weißt du, warum ich auf Platz eins bin und du auf Platz zwei?«, fragte Diana Brinzaglia.

Maria Cristina schüttelte den Kopf.

»Weil du einen Stock im Arsch hast. Den siehst du nicht, weil du damit geboren bist, aber der ist so dick.« Mit den Fingern formte sie einen Kreis. »Du hältst dich für was Besseres, für eine auf die Erde herabgestiegene Göttin, dabei bist du wie Kopfsalat, du schmeckst nach nichts.«

Maria Cristina hätte ihr gern geantwortet, dass sie sich absolut nicht für was Besseres hielt und sehr gut damit leben konnte, Kopfsalat zu sein, doch es hatte ihr die Sprache verschlagen.

Miss La Storta beschnupperte sie, um herauszufinden, mit was für einem exotischen Tier sie es zu tun hatte. »Du bist reich, sprichst mit diesem Mafiaakzent, siehst aus wie ein Model, aber wenn einer sich entscheiden müsste, welche er ficken soll, wen, glaubst du, würde er wählen?«

Wer war dieser eine, der sich entscheiden musste, welche er ficken soll? Maria Cristina konnte nicht klar denken, doch weil sie die gewünschte Antwort ahnte, zeigte sie auf Diana Brinzaglia.

»Ganz genau. Dich brechen sie durch wie ’ne Salzstange, mich sehen sie in ihren feuchtesten Träumen.« Die Anhängerinnen johlten ihre Zustimmung. »Mit dir halten sie tagsüber Händchen, mit mir vögeln sie die Nacht durch. Hast du kapiert, Giraffe?«

Sie brachte ein »ja« heraus. Tonlos und hohl.

Sofia D’Amico versetzte ihr einen Stoß, der sie neben den Müllcontainern zu Boden gehen ließ. Schon waren die anderen beiden über ihr, um ihr eine Lektion zu erteilen, doch Miss La Storta pfiff sie zurück. »Verzieh dich wieder in deine Villa. Und nächstes Jahr suchst du dir ein Gymnasium in Rom, wo solche wie du hingehen. Vergiss Formello.«

Schluchzend raffte Maria Cristina ihre Tasche und flog ohne anzuhalten auf ihren Giraffenbeinen nach Hause.

Diana Brinzaglias Ratschlag brannte sich unserer Heldin klar und deutlich ins Gedächtnis, und im Jahr darauf meldete der Großvater sie am Chateaubriand an, einem französischen Gymnasium gleich neben dem Park der Villa Borghese, wo sie auf Artgenossen traf. Lästig war nur, dass der Fahrer sie jeden Tag hinbringen und abholen musste.

Das Merkwürdige ist, dass Diana Brinzaglia mit ihrer Kippe zwischen Daumen und Zeigefinger und der solariumgegrillten Haut nicht in der Provinz von Formello verschwand, sondern in Maria Cristina Palmas Kopf einzog und zu einer heimlichen Gefährtin und kritischen Stimme wurde, mit der man sich in den bitteren Momenten des Lebens austauschen konnte. Noch heute erinnert sich Maria Cristina an ihre harte Lektion neben den Müllcontainern: »Dich brechen sie durch wie ’ne Salzstange, mich sehen sie in ihren feuchtesten Träumen. Mit dir halten sie Händchen, mit mir vögeln sie«. Für Maria Cristina ist das die absolute Wahrheit, ein Leuchtfeuer auf ihrem von den Lügen der Männer gepflasterten Weg, die sie um so eifriger betrogen, je heftiger sie sie umwarben und ihr goldene Schlösser versprachen.

Mit dem Wechsel auf die neue Schule verlor Maria Cristina ihren treuen Knappen. Der inzwischen fett gewordene Luciano wurde immer verschlossener: Der Seidenkokon, der die beiden wie Spinneneier umhüllt hatte, war gerissen und hatte zwei Lebewesen mit unterschiedlichen Schicksalen schlüpfen lassen. Noch immer kutschierte er sie mit dem Mofa herum, doch ins Schwimmbad kam er nicht mehr mit, und wenn sie sich mit anderen trafen, bekam er den Mund nicht auf, war verkrampft und wurde zur Last.

Der Junge fing an, nach der Schule in der kleinen Baufirma eines Onkels zu arbeiten. Seine Leistungen litten darunter, und da er ohnehin keine Leuchte gewesen war, rasselte er durch. Maria Cristina machte derweil Abitur und zog zu ihrem Bruder nach Rom. Fünfzehn Jahre lang hörten die beiden nichts mehr voneinander. Maria Cristina kam zu Ohren, Luciano gehe es gut, er sei in den Norden gezogen und arbeite in der Nähe von Bergamo als Schweißer in einem Elektrizitätswerk. Pünktlich jedes Jahr schrieb er ihr eine Geburtstagskarte (»Alles Gute, Cri. Eine feste Umarmung für Dich und Deine Familie. Luciano«) und legte absurde Geschenke bei (billige Parfums, Kartons mit Tankstellenwein, Packungen bunter Nudeln, monströse Korkenzieher). Hin und wieder antwortete sie ihm. Dann erfuhr sie von dem Unglück. Bei einem Arbeitsunfall hatte Luciano zwei Finger verloren. Man hatte ihn entlassen, und er verklagte die Firma, doch das Verfahren lief nicht wie erhofft. Maria Cristina war zu der Zeit bereits mit Domenico verheiratet und bat ihn, sich der Sache anzunehmen. Er betraute einen seiner Jungs aus der Kanzlei mit dem Fall, und der Prozess endete mit einer Entschädigungszahlung, doch wegen der Behinderung konnte Luciano seinen Beruf nicht mehr ausüben. Arbeitslos kehrte er nach Rom zurück und investierte die spärliche erhaltene Summe in eine winzige Wohnung in Cesano, und Maria Cristina begann ihm kleine Jobs zu geben. Die fehlenden Finger hinderten ihn nicht daran, einen Kühlschrank zu reparieren, Parkett zu verlegen, die Terrasse in Ordnung zu halten, Botengänge zu machen und sich am Postschalter anzustellen. Allmählich spannten ihn auch die Freunde der Mascagnis ein.

Als Domenico in die Politik wechselte und Maria Cristina Luciano nicht mehr schwarz bezahlen konnte, beschloss sie, ihn einzustellen, was ihren Mann irritierte: »Wie vielen Leuten zahlen wir eigentlich Gehalt? Sind wir eine Firma? Ein Wohltätigkeitsverein?«

3.

Nachdem sie sich alle Zeit der Welt genommen hat, um sich zurechtzumachen, geht Maria Cristina zum Wohnzimmer, wo Caterina Gamberini auf sie wartet. Noch immer muss sie daran denken, was die Assistentin auf der Toilette des Ruderklubs über sie gesagt hat. Unbedarft. Oberflächlich. Unfähig. Am liebsten würde sie ihr den Kopf zurechtrücken, doch sie ist genetisch nicht dazu veranlagt, dem Feind mit offenem Visier zu begegnen, sie fürchtet sich vor der Auseinandersetzung, und entlassen kann sie sie auch nicht, weil sie sie nicht eingestellt hat. Sie muss mit Domenico darüber sprechen. Doch um sie zu ärgern, hat sie beschlossen, heute noch oberflächlicher zu sein als sonst.

Sie atmet tief durch und öffnet die Tür.

Die junge Frau sitzt auf dem gelbblauen Brokatsofa, den Laptop auf den Knien. »Guten Morgen.«

»Guten Morgen«, gibt Maria Cristina zurück und mustert sie. »Wenig geschlafen?«

Im Gegensatz zu ihr, die sich geschminkt und frisiert hat und dementsprechend strahlt, sieht Caterina Gamberini mitgenommen aus und hat dunkle Ringe unter den Augen.

»Nicht so viel.« Die Assistentin lässt ihre Finger über die Tastatur fliegen und blickt kaum vom Bildschirm auf.

»Kaffee?«

»Nein, danke. Hatte schon welchen. Und du, ausgeschlafen?«

»Hatten wir einen Call?«

»Um Viertel nach neun mit den Leuten vom Marathon des Sacro Convento. Du hättest ihnen vor dem Start Hallo sagen sollen.«

»Kann ich das nicht noch am Ziel machen?«

»Beim Marathon trifft man nach und nach ein. Aber ist egal. Ich hab’s abgebogen«, sagt Caterina und rückt, ein Fuß neben dem anderen, auf die Sofakante.

Maria Cristina überkommt eine jähe Abscheu vor dieser weißen, sommersprossigen, zu Rötungen neigenden Haut, die aus der billigen Bluse hervorschaut. Sie geht zum Fenster. Selbst durch das Doppelglas ist der Lärm der Straßenarbeiten zu hören.

»Heute will ich mal gar nichts machen«, sagt sie und starrt auf die Bauarbeiter, die die Pflastersteine in akkuraten Bögen verlegen und mit dem Hammer im Sand festklopfen. »Ich gehe zur Massage. Mach mir einen Nachmittagstermin beim Friseur.«

»Perfekt.« Caterina wirft einen Blick auf den Bildschirm. »Bei uns steht nicht viel an. Mariella Reitner will dich bei Klartext. Die Sache ist heikel, der Präsident muss in zwei Wochen hin, am Tag vor der Vertrauensabstimmung. Seltsamerweise unterstützt uns die Reitner in letzter Zeit. Sie hat darum gebeten, dich interviewen zu dürfen, und versichert, es würde ein Zweiergespräch über soziale Themen. Vorgegebene Fragen. Klar, dass es anders läuft. Sie wird dich über Politik und über dich selbst ausfragen. Wir wissen ja, wie sie ist. Die Raupe sagt, wir sollen ablehnen.«

Klartext ist eine Sendung, die täglich nach den Abendnachrichten läuft, moderiert von Mariella Reitner, einer Journalistin, die das gesamte Spektrum der italienischen Politik wie ein gestrenger Chorleiter zum Singen bringt und ausnahmslos jedem auf die Finger haut. Manchmal lässt sie sich von Kommentatoren beispringen, manchmal, wenn es sich um wichtige Persönlichkeiten handelt, nimmt sie es allein mit ihnen auf.

Maria Cristina hebt verneinend den Zeigefinger. »Moment, ich bin diejenige, die da nicht hinwill, die Raupe hat das nicht zu entscheiden. Ich gehe nicht ins Fernsehen, das habe ich immer gesagt«, stellt sie klar und merkt, dass sie vorschnell wie ein bockiges Kind geklungen hat.

»Natürlich«, versichert Caterina hastig. »Das Problem ist, dass die Reitner dich gern persönlich treffen möchte, um dich umzustimmen. Ich habe ihr geantwortet, du seist beschäftigt, aber sie lässt nicht locker. Wenn wir ihr nicht nachgeben, könnte sie das Interview mit dem Präsidenten auf nach der Abstimmung verschieben. Und das geht nicht, ist ja klar.«

Allein bei dem Gedanken, dieser allzu schlauen und allzu hässlichen Frau gegenüberzusitzen, kriegt Maria Cristina weiche Knie. »Was schlägst du also vor?«

»Triff sie und sag ihr, dass du es nicht machen wirst.«

Maria Cristina verschränkt die Arme. »Aber, entschuldigt mal.« Sie wechselt zum ihr. »Darum müsst ihr euch doch kümmern. Was habe ich damit zu tun? Mein Mann hat beschlossen, in die Politik zu gehen. Nicht ich.«

Ein kleines Lächeln legt sich auf Caterinas Lippen.

Maria Cristina setzt sich in den Sessel, schlägt die Beine übereinander und ruft: »Daisy! Daisy! Bring mir noch einen Kaffee.« Ihr Blick fällt auf die blauen Ballerinas und die cremeweiße Strumpfhose, die aus Caterina Gamberinis karierten Hosenbeinen hervorschaut und sich um ihre plumpen Knöchel spannt.

»Ballerinas stehen dir nicht«, sagt sie tonlos. »Könntest du bitte Schuhe mit ein wenig Absatz tragen?«

Die Assistentin hört auf zu tippen. »Wie bitte?«

Maria Cristina deutet auf ihre Füße. »Die da. Zieh die nicht mehr an. Ich trage Absätze, und nebeneinander sehen wir aus wie …« Schneewittchen und Schlafmütz. »Ich wirke dann im Vergleich zu groß.«

Caterina schluckt. »In Ordnung, wie du willst.«

Maria Cristina gähnt. »Und was soll ich ihr sagen? Warum will ich das Interview nicht machen?«

Mit einem Schnalzer klappt die Assistentin den Laptop zu. »Ich habe dir eine Mail mit ein paar Ausreden geschickt. Such dir eine aus. Aber wenn du sie nicht treffen willst, schreibe ich ihr einen netten, unmissverständlichen Brief. Entscheide du. Ich bin hier, um dir zu helfen, das weißt du ja.«

Maria Cristina steht abrupt auf und tigert im Wohnzimmer auf und ab. Sie geht zum Bücherregal, lässt den Blick über die unberührten Enzyklopädiebände gleiten und schaltet die fette Musikanlage ein. Yes Sir, I Can Boogie erschallt.

Oh Gott, sie liebt diesen Song, seit einer Ewigkeit hat sie ihn nicht mehr gehört, er erinnert sie an Abende in lichterblinkenden Diskotheken, an Meersalz und Fischreusen an der Amalfiküste. Sie ballt die Fäuste, wirbelt mit den Armen, macht einen Schritt nach links, einen nach rechts, und singt: »I can boogie, boogie woogie all night long.« Sie tänzelt auf die Assistentin zu und hält ihr auffordernd die Hand hin. Doch die sitzt stocksteif da und ruckt nur lächelnd mit dem Kopf wie eine Körner pickende Taube.

Daisy kommt herein. Maria Cristina hält inne, geht zu der Philippinin und kippt den Kaffee in einem Schluck hinunter. »Danke.« Zerstreut wendet sie sich an Caterina. »Ich rede mit der Reitner. Sag ihr bitte, sie soll mich um eins im Kaw treffen.

»Ok. Perfekt.«

»Ok. Perfekt?«, äfft Maria Cristina.

»Ok. Perfekt.«

Die Frau des Premiers verlässt das Wohnzimmer und strebt mit langen Schritten über den Marmor des Flurs. Cat walk.

»Entschuldige … Entschuldige. Maria Cristina …«

Sie dreht sich um.

Caterina läuft ihr nach. »Verzeih. Der Präsident hat mir geschrieben, er hat Wim Claes dieses Wochenende aufs Land eingeladen …«

»Wen?«

»Den belgischen Handelsminister. Er sagt, ihr müsst Pizza für ihn backen …«

Wie Strandgut bei Ebbe tauchen in Maria Cristinas Kopf Bruchstücke der Unterhaltung im Auto mit Domenico auf. Der Typ, der eine Pizza Beneventana will.

»Nicht ihr, ich«, stellt Maria Christina klar. »So ein Mist.«

Caterina schüttelt das Lockenköpfchen und sagt im Beste-Freundinnen-Ton: »Also, ich habe nachgedacht, wenn du willst, komme ich auch. Dann machen wir sie zusammen. Was meinst du?«

Maria Cristina mustert sie. »Ich wette, im Pizzabacken bist du gut.«

»Ich bin nicht übel«, sagt die Assistentin hin- und hergerissen zwischen Bescheidenheit und Stolz.

»Kannst du auch Pizza Marinara?«

»Ja. Mit Knoblauch und Oregano. Meine Spezialität.«

Die Frau des Premiers lächelt. »Danke, nicht nötig.«

4.

Laut der traditionellen thailändischen Medizin wird der menschliche Körper von zweiundsiebzigtausend Energieflüssen durchströmt. Zehn davon sind regelrechte Kanäle, Sen genannt, von denen sämtliche anderen abzweigen und die der Masseur mit Fingern, Ellenbogen, Knien und Füßen bearbeitet. Die Thaimassage ist anstrengend und schmerzhaft, aber von großem therapeutischem Nutzen.

Zwei Schritte von der Piazza di Spagna entfernt, in der Via Borgognona, befindet sich in einem eleganten Palazzo aus dem neunzehnten Jahrhundert das Spa Kaw, das beste Massagezentrum der Hauptstadt. Es verfügt über drei kleine Schwimmbäder mit unterschiedlichem Salzgehalt, einen Hammam, zwei Saunas, eine Yogahalle, einen Bar-Bereich mit Fusion-Imbiss und endlos viele nach exotischen Essenzen duftende Kämmerchen, in deren ewigem Dämmer Flöten und Windharfen erklingen. Hier lassen sich die reichen Römer auf die Pelle rücken.

Maria Cristina Palma liebt es, dort ihre Zeit zu verlieren, und als Frau des Premiers genießt sie exklusive Privilegien. Unter anderem einen Bereich ganz für sich allein, wo sich Hostessen mit an Mutismus grenzender Diskretion ihrem Körper widmen.

Jetzt liegt sie auf einer Chaiselongue, trinkt einen Kurkumatee und wartet auf das Eintreffen von Mariella Reitner. Der Raum ist ein Zusammenspiel aus Pastelltönen und hellen Spots. In einer Ecke, eingefasst von Flusskieseln, mickert neben einem Goldfischbecken ein von Messinglampen bestrahltes Bambuswäldchen vor sich hin.

Der Journalistin gegenüber muss sie hart und entschlossen auftreten. Nein heißt nein.

Sie drückt auf eine Klingel, und eine Hostess erscheint.

»Ist Bussaba frei?«

»Ja, Signora.«

»Perfekt. In ein paar Minuten kommt ein Gast. Wir machen eine Partnermassage. Bussaba soll Signora Reitner behandeln. Für mich Stufe drei light. Danke.« Ein hämisches kleines Grinsen huscht ihr über die Lippen.

Die Massagen im Kaw sind nach Grausamkeitsstufen eingeteilt. In der ersten und zweiten für Anfänger wird man nett behandelt und mit orientalischen Gewürzen und Pflanzenölen eingerieben, um darin wie ein Curryhuhn eine Stunde lang zu marinieren. Schon bei der dritten Stufe, rough, werden die Öle weggelassen, und die Hände, die einen in die Mangel nehmen, fangen an, zwischen den Muskelsträngen nach dem Kern des Übels zu graben, das wir mit uns herumschleppen, seit die Evolution uns mit einem Skelett ausgestattet hat. In der vierten, extremely rough, kommen Traktionen, zwischen die Schulterblätter gebohrte Ellenbogen und das Schnalzen und Knirschen der Halswirbel ins Spiel. Die New-Age-Musik verwandelt sich in ein Hardcore-Mantra. Die fünfte, heavy explosion, ist für Gurus oder eingefleischte Masochisten. Maria Cristina hat sich ihr einmal unterzogen und musste das safe signal geben (als Zeichen der Kapitulation dreimal mit der Hand auf die Liege schlagen). Es gibt auch ein safeword ความเหน็อกเหน็ใจ (Gnade auf Thailändisch), doch das ist schwer auszusprechen. Außer Konkurrenz läuft Bussaba. Ihre Massage kennt keine Stufe, keinen Namen und kein safe signal. Der Legende nach hat Bussaba in ihrer Jugend in Haspel gearbeitet, einem thailändischen Geheimgefängnis, und den Al-Qaida-Anhängern allein kraft ihrer Daumen Geständnisse abgerungen. Sie kennt die zweihundertvierunddreißig Punkte des menschlichen Körpers auswendig, an denen der Schmerz entweicht, bohrt ihre Finger hinein und lässt ihn sprudeln. Wer ihre Behandlungen über sich ergehen lässt, ist nicht mehr in der Lage, zusammenhängende Sätze von sich zu geben, sondern stößt bußfertige Laute aus und winselt um Erbarmen. In Bussabas Gewalt wird es der Reitner unmöglich sein, auf das Interview zu bestehen.

Zufrieden mit ihrem Einfall lässt sich Maria Cristina in das Zimmerchen geleiten, sie trägt einen Anzug aus leichter Baumwolle, streckt sich auf der Liege aus und legt das Gesicht in die runde Öffnung, während behutsame Hände anfangen, ihren Rücken zu betasten.

»Darf ich?«, fragt eine raue, tiefe Stimme, die vom lebenslangen Konsum schwarzen Tabaks zeugt. Es folgt ein trockenes Klappern über den Fußboden.

Maria Cristina hebt den Kopf. Vor ihr steht Mariella Reitner, die große Journalistin, die sie alle interviewt hat, vom Dalai Lama bis Bokassa, den Kannibalendiktator, und aus vorderster Front vom Afghanistankrieg berichtete. Licht, Make-up und Frisur können wahre Wunder bewirken, aber in Wirklichkeit sieht die Frau wie ein wandelnder apulischer Tonkrug aus. Sie ist höchstens ein Meter sechzig groß, ein seborrhoisches Ekzem bedeckt ihren Rücken und die Arme, sechzig Jahre krankhafter Konsum von gesättigten Fettsäuren, Zucker und Alkohol haben sie angefressen wie eine Holzdalbe, und ihr Teint ist von ungesunder Farbe. Sie hat zahlreiche Hüftoperationen hinter sich und kann sich dank Spazierstock auf zwei Kegelbeinen halten, die Becken und Bauch überspringen und direkt in den Brustkorb übergehen. Das Hemd, das man ihr gegeben hat, geht nicht zu, Fettwulste quillen aus dem lila geblümten BH, der so groß ist wie der Spinnaker der Moro di Venezia. Ihre Arme ragen wie die Flossen einer Seekuh aus den Ärmeln. Ein Indiopony verdeckt ihre Stirn. Ihre von wackerer Ironie belebten steingrauen Augen werden von dünnen Brauen gerahmt. Zwei Furchen ziehen sich von den Nasenflügeln am Mund entlang bis zum Kinn. Unterm Strich scheint sie eher für das Leben zu Wasser als zu Land gemacht zu sein.

»Na, das ist ja mal eine tolle Idee«, sagt die Journalistin. »Ich habe seit hundert Jahren keine Massage mehr gehabt. Ich glaube, das letzte Mal in Peking, als ich Korrespondentin für den Messaggero auf dem Tian’anmen-Platz war. Ich kenne dich zwar nicht, aber ich war trotzdem immer der Meinung, dass du eine großartige Frau bist.« Sie hat einen jovialen, wenig anbiedernden Ton und blickt sich zufrieden ob dieser unverhofften Abwechslung um.

»Erfreut, dich kennenzulernen.« Maria Cristina streckt eine Hand aus. »Ich weiß, es ist ein bisschen intim, aber ich wollte dich überraschen. Wenn du es einmal probiert hast, kannst du nicht mehr ohne.«

Die Journalistin drückt ihr die Hand und humpelt zu ihrer Liege. »Muss ich mich hier drauflegen?«

»Ja.«

»Und wie soll ich da raufkommen? Gibt’s keinen Tritt?«

»Bussaba ist gleich da und hilft dir.« Kaum hat Maria Cristina ihren Namen ausgesprochen, erscheint wie der Geist aus der Flasche die in eine stahlblaue Tunika gehüllte Masseurin.

Es heißt, Bussaba hause seit fünf Jahren in einem Keller unter dem Wellnesscenter. Sie gehe nie vor die Tür und habe von Rom außer dem so genannten Teufelsstuhl, dem antiken Grabmal an der Piazza Elio Callistio, noch nichts gesehen. Sie ist undefinierbaren Alters. Das weiße, zu einem straffen Dutt gebundene Haar ziehen ihr die Schläfen glatt. Statt Augen hat sie zwei Schlitze. Ihre der Reitner nicht unähnliche Statur ist ein einziges Muskelpaket. Wortlos umfasst sie den Oberkörper der Journalistin, pflückt sie vom Boden und wuchtet sie auf die Liege, als bestritte sie ein Finale im Gewichtheben.

»Heiliger Bimbam. Wie hat sie das geschafft? Unglaublich. Ich wiege bestimmt vier Zentner.« Wie ein Seelöwe auf dem Packeis ruckelt sich die Reitner auf der Liege zurecht und versucht, ihr Gesicht in die Öffnung zu stecken.

Die Massage beginnt sacht, mit leichtem Druck inspizieren die Thailänder den Körper und machen sich mit ihm vertraut, ehe sie loslegen.

Die im Rhythmus der Massage schwingende Stimme der Journalistin klingt wie eingedost. »Maria Cristina, es freut mich riesig, dass du mir erlaubt hast, dich zu treffen. Ich weiß, wie zurückhaltend du bist und wie sehr es dir gegen den Strich geht, dein Privatleben mit der Arbeit deines Mannes zu vermischen. Und ich weiß, dass du nicht ins Fernsehen gehst, was eine weise Entscheidung ist. Aber ich … AAAHHH!« Die Journalistin stößt einen Schrei aus. »O Gooott … tut das weh.«

Maria Cristina dreht sich um und sieht, wie die gnadenlose Bussaba mit der Ungerührtheit eines Krokodils, das einer Gazelle den Schenkel abreißt, am Arm der Journalistin zerrt.

»Geht’s?«, fragt sie und unterdrückt ein Grinsen.

»Was soll ich sagen, das hat’s in sich«, seufzt Mariella Reitner. »Manche behaupten, es sei gesund.« Dann kommt sie zum Thema zurück. »Ich würde vor allem über dich sprechen, über Maria Cristina, Mutter und Ehefrau. Außerdem weiß ich von deinem gesellschaftlichen Engagement.«

»Ach ja? Damit ist es nicht so weit her.«

»Siehst du? Du bist bescheiden. Ich habe ein Foto von dir während der Überschwemmung im Molise gesehen, da stehst du mit den Füßen im Schlamm. Und ich weiß, was du für die alleinerziehenden muslimischen Mütter getan hast.«

»Wegen dieses Fotos im Molise wurde mir unterstellt, ich würde Werbung für Gummigaloschen machen. Und die muslimischen Mütter wollten unbedingt eine Fotostrecke in der Vogue kriegen. Vergessen wir’s …«

Die Journalistin schnauft, aber lässt nicht locker. »Du machst dich kleiner, als du bist, und außerdem, ahhh … man kann sich nicht in Mutter Teresa verwandeln, nur weil, ahhh … man die Frau des Premierministers ist. Ich finde das furchtbar verlogen. Du bist … Du bist so, du bist …« Sie kann den Satz nicht beenden, Bussaba wringt ihre Schulter wie einen nassen Putzlappen. Sie schnappt nach Luft. »Ein offenes Interview, ohne Augenwischerei, in angenehmer Atmosphäre. Ich schwöre dir beim Kopf …« Mariella stößt einen Schmerzensschrei aus. »Wenn ich bis zum Interview überhaupt noch am Leben bin. Die bringt mich um.«

»Thaimassagen sind nun mal so. Energisch. Es tut weh, aber warte ab, wie du dich hinterher fühlst.«

»Beschissen«, schnaubt die Journalistin und schreit auf. »Der T 4 und der T 5, oh Gott, an denen wurde ich operiert. Oh Gott! AHHHHH!!!«

Bussaba hat die Liege erklommen, hält sich an zwei von der Decke baumelnden Tauen fest und stapft im Gänsemarsch über den Rücken der Reitner, die sich wehrt wie eine trächtige Ohrenrobbe.

Maria Cristina steht auf und packt die Masseurin bei den Fußgelenken. »Runter! Komm da runter! Du tust ihr weh!«

»Hilfe … Hilfe … Hilfe …«, stammelt Mariella. »Es reicht! Es reicht!«

Wie ein Orang-Utan im Zoo klammert sich die Masseurin an ihre Seile und lässt sich nicht beirren. »Nein, Signora. Das normal. Diese Ashiatsu gut für Rücken. Kein Schmerz, keine Heilung.«

»Komm runter, bitte«, fleht Maria Cristina.

Mit beiden Fersen steigt Bussaba auf eine Pobacke der Reitner, die inzwischen nicht mehr reagiert, als wäre sie ohnmächtig geworden. »Nein. Behandlung noch nicht fertig.«

»Komm runter, habe ich gesagt!«, drängt Maria Cristina. »Jetzt reicht’s, Bussaba. RUNTER!«

Beleidigt hüpft die Gnadenlose von der Liege und verschwindet.

Maria Cristina und ihre Masseurin schleifen die leblose Reitner in den Relaxbereich und betten sie behutsam wie einen schlafenden Buddha unter das Bambuswäldchen.

»Willst du, dass ich einen Arzt rufe?«, fragt Maria Cristina und spritzt ihr ein wenig Evian ins Gesicht.

Mit geschlossenen Augen deutet die Frau mit dem Kopf ein müdes Nein an.

»Das ist mir ja so unangenehm«, sagt die Premiersgattin. »Es tut mir entsetzlich leid. Was kann ich tun?«

»Nichts. Gleich geht’s wieder. Bleib einfach nur bei mir.« Tastend streckt die Reitner den Arm aus, ergreift Maria Cristinas Hand und fährt in jämmerlichem Ton fort: »Hör mal. Ich verspreche dir ein Interview, das du nicht bereuen wirst. Ich will, dass du dich zeigst, wie du bist. Wir reden nicht von deinen Schicksalsschlägen. Ich werde dir klare Fragen stellen, auf meine Art, ohne ins Detail zu gehen oder nachzubohren, und du antwortest, wie du willst.« Sie hält inne, um Luft zu holen. »Eine Unterhaltung zwischen Freundinnen, ganz locker. Du wirst sehen, du wirst die Kameras vergessen, und die Leute werden dich lieben.« Ein leidendes Lächeln huscht ihr über die Lippen. »Was meinst du?«

Wie soll sie jetzt noch Nein sagen? »Leider bin ich zurzeit wahnsinnig eingespannt, ich sehe da kaum eine Möglichkeit, aber sonst …«

In die Stimme der Reitner kommt wieder Leben. »Gar kein Problem, wann immer du willst. Wir kriegen das hin. Anderthalb Stunden reichen.«

Maria Cristina verflucht sich. Sie hat den Anfängerfehler begangen: Verpflichtungen als Ausrede. Caterina hatte ihr extra eine Erinnerungsnotiz geschrieben, um zu verhindern, dass sie in diese Falle tappt. Journalisten sind wie wuselige Mäuse, selbst wenn man eine Mauer aus Verpflichtungen aufrichtet, finden sie immer einen Spalt, in den sie sich hineinzwängen und eine Bresche schlagen können. Was könnte dieser Unterhaltung ein Ende setzen? »Nun ja, ich muss mich um meine Tochter Irene kümmern …«, behauptet sie. »Es geht ihr nicht gut.«

»Oh, das tut mir leid. Was hat sie denn?«

»Sie hat … das Alien-Hand-Syndrom.«

Wie eine Erdkröte öffnet die Journalistin ein rundes, graues Auge. »Kenne ich nicht. Was ist das?«

»Eine äußerst seltene Krankheit«, sagt Maria Cristina und versucht sich die Folge einer Fernsehserie über die seltsamsten Krankheiten der Welt ins Gedächtnis zu rufen. »Es ist, als führte die linke Hand ein Eigenleben. Irene ist überzeugt, dass sie nicht zu ihr und ihrem Körper gehört. Sie nennt sie Camilla und behandelt sie wie einen Menschen. Sie fährt mit ihr ans Meer. Sie muss unter ständiger ärztlicher Beobachtung stehen. Ich darf sie nie allein lassen. Manchmal wendet sich Camilla gegen Irene und schnappt sich eine Gabel oder andere spitze Gegenstände.«

»Wie furchtbar. Ich hatte keine Ahnung von dieser Krankheit. Ist sie heilbar?« Die Reitner hebt das Lid über dem zweiten Augapfel, jetzt klingt sie ernst und betroffen. »Ich glaube, du musst dieses Interview machen. Willst du wissen, wieso?«

»Weil du mich sonst wegen Kindesmisshandlung anzeigst?«

»Ich will ehrlich zu dir sein, meine Liebe. Die Geschichte von der schönsten Frau der Welt hat dir keinen Gefallen getan. Du bist zum Anhängsel deines Mannes geworden. Das Püppchen, das nie den Mund aufmacht.«

»Ich bin diejenige, die den Mund nicht aufmachen will. Niemand verbietet ihn mir.«

»Aber das wissen die Leute nicht, sie wissen nicht, wer du bist, sie kennen dich nicht. Du gibst ihnen keine Chance, dich wirklich kennenzulernen. Du behältst eine ganze Welt für dich.« Die Journalistin streicht ihr über das Brustbein. »Ich weiß, wir sind auf die altmodische Tour erzogen, unsere Gefühle nicht zu zeigen, nie von uns selbst zu reden, aber du hast nun mal eine Rolle, ob du willst oder nicht, und die Leute bilden sich ein Urteil über dich, ohne irgendetwas über dich zu wissen. Du musst deine urinnerste Wahrheit herausholen, um zu zeigen, dass du ein selbstständiges Wesen mit eigenem Kopf bist. Jeder mit einem Funken Einfühlungsvermögen spürt deine angeborene Schüchternheit, sonst würde man dich nicht Maria Tristina nennen. Aber die anderen?«

»Die nennen mich Maria Kretina.«

»Und das darf nicht passieren.«

»Ich habe mich dran gewöhnt. Inzwischen kratzt mich das nicht mehr.«

Die Reitner streichelt ihren Handrücken. »Das ist nicht fair.«

Maria Cristina sieht sie an, senkt den Kopf und spürt, wie ihre Entschlossenheit bröckelt. Die Journalistin hat recht, sie sollte endlich sagen, wer sie ist.

»Ich habe Angst vor dem Fernsehen. Mein Hirn ist total leer, ich bekomme kein Wort heraus. Dabei darf ich doch auf keinen Fall als Maria Kretina rüberkommen.«

»Das wird nicht passieren. Es wird ein unaufgeregtes, entspanntes Interview, ich stelle dir die richtigen Fragen, und du versuchst nicht, etwas Kluges zu sagen … denk dran, kein Mensch sagt etwas Kluges, nur etwas Wahres oder Falsches … du zeigst den Italienern, wer du bist, und machst ihnen ein großes Geschenk. Deine Schönheit darf die Persönlichkeit dahinter nicht in den Schatten stellen, deine Einfühlsamkeit und Freundlichkeit, deine Bescheidenheit, die dich zu etwas Besonderem macht. In einer Welt, in der sich die Menschen darum balgen, gesehen zu werden, bist du ein einzigartiges Geschöpf.« Mariella Reitner hat den leiernden Ton einer Hypnotiseurin.

Maria Cristina holt tief Luft und fährt sich mit den Fingern durchs Haar.

Die Reitner streicht ihr eine Strähne zurecht. »Also, wollen wir? Du wirst sehen, dein Mann wird auch froh darüber sein. Er braucht dich gerade mehr denn je.« Dann, in gedämpfterem Ton: »Schätzchen, du kannst das Schicksal der Regierung ändern. Verstehst du?«

Maria Cristina nickt. »Aber wirst du nett zu mir sein?«

»Du hast mein Wort.«

Maria Cristina betrachtet die Goldfische, die im Becken herumschwimmen. »In Ordnung. Wir machen es.«

»Wir machen es.«

5.

Eine Kappe in der Stirn, das Gesicht hinter der Sonnenbrille versteckt und in einen knöchellangen schwarzen Daunenmantel gehüllt, verlässt die Frau des Premiers verstohlen das Spa.

Zwischen den Häusern blitzt die Sonne hindurch und malt goldene Streifen auf die Via Borgognona. Die Straße ist ein Wirrwarr aus Kleinlastern, Lieferscootern und Restauranttischchen, an denen sich Touristen vor Tellern mit öliger Pasta all’amatriciana und verkochten Spaghetti Carbonara drängen.

Maria Cristina ist noch ganz kribbelig von der Zusage zum Reitner-Interview, am liebsten würde sie sich ins Stadtleben stürzen, statt nach Hause zu gehen. Gerade ist Schlussverkauf. Wie gern würde sie shoppen gehen wie eine ganz normale Frau. Sie überquert die Straße, weicht ein paar Mopeds aus, die sich gegen die Einbahnstraße schlängeln, und bleibt vor einem Schaufenster mit einem hübschen Rollkoffer stehen, dunkelblaues Leder, halber Preis, perfekt für Kurztrips. Sie ist versucht hineinzugehen, aber traut sich nicht. Man würde sie trotz ihrer Vermummung erkennen. Dass sie allein unterwegs ist, wird von der Security toleriert, aber sie darf nirgendwo verweilen und muss immer Bescheid sagen, wohin sie unterwegs ist.

Caterina versucht sie auf dem Handy zu erreichen. Bestimmt will sie wissen, wie es mit der Reitner gelaufen ist. Die wird aus allen Wolken fallen.

Als sie zum nächsten Schaufenster schlendert, in dem rote Lederstiefel ausgestellt sind, bemerkt sie, dass an einem Bartischchen neben dem Laden eine Chinesin sitzt und sie anstarrt. Unwillkürlich starrt sie zurück. Sie ist schön und elegant. Das glatte Haar fällt herab wie sepiaschwarze Spaghetti. Sie hat große Augen, trägt violetten Lippenstift und sieht aus wie ein Android neuester Bauart, der den Männern in einem Fantasyfilm die Zeit vertreiben soll. Sie trägt ein graues Schwurwollkleid mit Rollkragen. Neben ihr sitzen zwei Herren, ebenfalls Chinesen, in Jackett und Krawatte, und reden mit einem Mann, der nur von hinten zu sehen ist.

Ob sie eine Sängerin ist, eine Schauspielerin, ein berühmtes Model?

Maria Cristina wendet sich wieder dem Schaufenster zu und späht aus dem Augenwinkel zu der Asiatin hinüber, die sie ebenfalls im Auge behält. Bestimmt hat sie sie erkannt, sie macht eine Bemerkung zu ihren Tischgenossen, einer notiert etwas auf einem Tablet, der Kellner kommt mit den Kaffees, und der Mann, der von hinten zu sehen ist, wendet sich ihm zu und greift nach seiner Tasse.

Es ist Nicola Sarti.

Um sicherzugehen, schiebt Maria Cristina die Sonnenbrille hoch. Er ist es, Alessios Freund, den sie gestern Abend bei der Party getroffen hat. Aus Furcht, von ihm erkannt zu werden, duckt sich die Frau des Premiers hinter ein Auto und späht zu ihm hinüber, während er in seinem Kaffee rührt. Er hat das Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden und ist noch immer unrasiert, zwischen seinen Lippen hängt eine brennende Zigarette, er hat die Beine übereinandergeschlagen und plaudert mit den Chinesen.

Zwanzig Jahre lang sind sie sich nicht über den Weg gelaufen, und dann vergehen keine vierundzwanzig Stunden, in denen sie sich gleich zweimal treffen. Was für ein Zufall. Bestimmt ist das chinesische Model seine Freundin, flüstert Diana Brinzaglia ihr ein; bei gewissen Dingen trifft die Blumenhändlerstochter aus La Storta ins Schwarze.

Maria Cristina ist versucht hinüberzugehen, doch in diesem Aufzug, mit vom Thaiöl fettigen Haaren, ist das keine gute Idee. Außerdem schüchtert die schöne Chinesin sie ein. Also abgehakt. Sie wendet sich zum Gehen, doch als hätte er jemandes Blick gespürt, dreht Nicola Sarti sich um, und eine Sekunde lang treffen sich ihre Blicke. Er braucht einen Moment, um sich klarzuwerden, ob sie es ist oder nicht. Maria Cristina nutzt den Moment und dreht sich weg, aber nein, das ist nicht gut, das sieht aus, als wollte sie davonlaufen, also wendet sie im Weggehen den Kopf, er ist unsicher aufgestanden, sie verrenkt den Hals noch mehr, dreht sich um, sperrt den Mund auf, als hätte sie ihn erst jetzt erkannt, er steht mitten auf der Straße, hinter sich einen hupenden weißen Kleinbus, streckt die Hand aus und deutet auf sie, wie um zu sagen: Siehst du nicht, wer das ist? Dann tritt er zur Seite, lässt den Kleinbus vorbei und geht zuerst langsam und dann immer schneller auf sie zu, die wie angewurzelt dasteht.

»Bohnenstange?« Nicola Sarti ist noch immer unsicher. »Bohnenstange, bist du das?«

Maria Cristina lächelt ihm entgegen. »Ciao.«

»Was machst du denn hier?«

»Ich war dort …« Sie zeigt auf den Eingang des Spas. »Um mich massieren zu lassen. Und du?«

»Ich? Kaffee trinken. Ich habe da vorn ein Hotel, das ich gerade sanieren lasse.«

»Ach, echt?«

Nicola schüttelt den Kopf. »Unglaublich. Da sehen wir uns zwanzig Jahre lang nicht, und dann laufen wir uns gleich zweimal in die Arme.«

»Genau das habe ich auch gedacht.«

Zwischen den beiden entsteht eine lange Pause. In den Bars ringsum werden Säfte gepresst und weißer Reis gedämpft und Bohnen gekocht, in den Öfen werden Pizzen mit und ohne Tomate gebacken, und sie sehen einander an. In dem capeartig übergeworfenen grünen Lodenmantel sieht er aus wie ein Kopfgeldjäger.

»Ist das ein Zeichen?«, fragt er und schnippt die Kippe zu Boden.

»Wofür?«

»Keine Ahnung … Ein Zeichen.« Nicola Sarti dreht sich zu den Chinesen um und bedeutet ihnen, zu warten.

Sie ergreift die Gelegenheit. »Geh ruhig. Kein Problem. Du bist mit Leuten zusammen.«

»Nein. Wir sind fertig. Die bin ich gleich los.« Nicola Sarti blickt auf seine Rolex. »Gehen wir zusammen Mittagessen?«

Sie schüttelt den Kopf. »Nein, ich kann nicht.«

»Warum nicht?«

»Ich kann in kein Restaurant. Wie soll ich das anstellen?«

»Musst du gar nicht. Wir essen in meinem Hotel. Du und ich. Allein. Was Kleines auf die Schnelle. Wir gehen zu Fuß. Es ist gleich um die Ecke.« Er klingt so selbstsicher, als hätte er bereits alles durchdacht.

»Ich habe meinen Wachleuten nicht Bescheid gesagt.«

»Dann tu’s.«

»Das ist wahnsinnig kompliziert«, wehrt Maria Cristina ab. »Ich würde ja gern, aber so spontan …«

Nicola Sarti macht einen Schritt auf sie zu. »Na, dann mach’s doch. Es ist kein Zufall, wenn man sich zweimal begegnet, das haben wir doch gerade festgestellt.«

Der kriegt offenbar nur selten eine Abfuhr, denkt Maria Cristina. »Und wie soll ich das anstellen?«, maunzt sie und blickt sich hilfesuchend um.

»Versuch’s, Bohnenstange. Bist du Maria Cristina Palma oder nicht?«

Wie von Nicola Sarti versprochen, ist das Piccola Britannia nur einen Steinwurf vom Spa entfernt. Es liegt gleich hinter der Via dei Condotti in einem schattigen Gässchen, an dem sich Restaurantrückseiten und Souterrain-Antiquitätenläden aneinanderreihen. Nicola Sarti erzählt, das Hotel sei schon seit zwanzig Jahren geschlossen, und als die Erben es zum Verkauf anboten, habe er sofort zugeschlagen. Jetzt saniert er es, um ein Boutiquehotel daraus zu machen, etwas, das gerade sehr angesagt ist, auch wenn Maria Cristina nicht klar ist, was das eigentlich sein soll.

Die Hausfassade ist mit Gerüsten und grünen Planen verdeckt. Die beiden durchqueren einen mit Zementsäcken vollgestellten, baufälligen Eingang und betreten die Lobby, die mit ihren staubigen Draperien und verschossenen Tapeten in den Vierzigerjahren stehengeblieben ist. Eine protzige Treppe windet sich um einen übergroßen Kristallkronleuchter, der auf einem Gerüst liegt. Die Einrichtung erinnert an ein Bordell aus einem alten amerikanischen Film. Die Maurer machen gerade Pause, nur der maulfaule Bauleiter, der sich nicht anmerken lässt, ob er sie erkannt hat, führt sie durch die dunklen Flure in die hintere Bar.

»Habe ich zu viel versprochen?« Nicola Sarti legt seinen Mantel ab. »Hier bist du sicher, hier gibt es weder Paparazzi noch Journalisten oder Fans. Du kannst deine Verkleidung ausziehen.«

Maria Cristina hat die Security über die Programmänderung informiert, das Auto wartet draußen auf sie. Sie zögert, sich die Sonnenbrille abzunehmen. Sie trägt weder Rouge noch Lippenstift oder Wimperntusche. Sie hat ein Alter erreicht, in dem sie sich ohne Make-up wehrlos fühlt. Noch immer geht ihr die Vollkommenheit des chinesischen Models nach, von dem sie nicht weiß, in welchem Verhältnis es zu Nicola Sarti steht.

Sie nimmt Kappe und Brille ab.

Die Bar befindet sich in einem kleinen, quadratischen, fensterlosen Raum. Die Messinglampen mit den grünen Stoffschirmen pinseln Lichtschlieren auf die Mahagonivertäfelung und die abgewetzten Lederbänke hinter den runden Tischchen. Eine Wand wird von einem massiven Holztresen mit weißer Marmorplatte eingenommen. Vor dem Art déco-Wandspiegel dahinter türmt sich eine Pyramide aus verstaubten Spirituosenflaschen. Zu beiden Seiten, auf Halbsäulen aus schwarzem Marmor, hocken zwei Bronzepfauen mit Kopfbusch und langen goldenen Schwänzen.

»Es ist wunderschön, Nicola«, sagt sie. »Als wäre man im London der Vierzigerjahre oder in einem Kolonialhotel in Hongkong.«

»Wegen dieser Bar habe ich beschlossen, das Hotel zu kaufen.« Nicola Sarti blickt sich zufrieden um. »Das könnte ein ganz besonderer Ort werden, an dem es anständige Cocktails gibt.«

»Ja, aber du darfst nichts verändern.«

»Natürlich bleibt alles so.« Nicola Sarti stellt sich hinter den Tresen, knipst eine Lampe an und begrüßt sie wie ein Barmann. »Signora Palma, willkommen im Hotel Piccola Britannia, Ihre Anwesenheit ehrt uns, was dürfen wir Ihnen anbieten?«

Er dreht sich zu den schmutzigen Flaschen um, die nur verkrustete Reste enthalten. »Darf ich Sie vergiften? Sie könnten schreien, sich vor Schmerzen krümmen und sterben, ohne dass es irgendjemand mitbekommt.«

Maria Cristina blickt ihn verdattert an, unsicher, ob das ein Witz sein soll. »Wer sind Sie? Der Barmann aus …« Sie will Shining sagen, kommt aber nicht darauf und behilft sich mit: »… aus einem Horrorfilm?«

Nicola Sarti öffnet einen kleinen Kühlschrank. »Ich glaube, ich habe genau das Richtige für Sie, Signora.« Mit einem scheinheiligen kleinen Lächeln holt er eine eiskalte Flasche Champagner heraus. »Rosé Brut ›Cristal‹ Louis Roederer 2013.«

Behände schwingt sich Maria Cristina auf einen Barhocker und merkt, wie aufregend sie die Planabweichung findet. »Du liebes Bisschen, der sieht aber verdammt teuer aus.«

Alles im Leben der Premiersgattin ist durchgeplant und kommuniziert, und das unvorhergesehene Mittagessen in diesem heruntergekommenen Hotel in Begleitung eines Ex, der sie hofiert und sich als Charmeur geriert, macht sie flattrig wie ein kleines Mädchen beim ersten Date.

»Was das Essen angeht, sind wir leider weniger gut aufgestellt«, fährt Nicola Sarti fort. »Wir haben eine Tüte gemischten Salat, eine matschige Tomate und Dosenmais. Wir lassen uns was vom Japaner nebenan kommen und trinken erst mal den Champagner. Was meinst du?«

Mit aufgestützten Ellenbogen reckt sie sich über den Tresen. »Salat. Perfekt. Den esse ich jeden Tag.«

Er hält die Ochsenherztomate hoch. »Und matschige Tomaten?«

»Und matschige Tomaten. Lass mich das machen, du scheinst mir nicht besonders praktisch veranlagt zu sein.« Maria Cristina will ihm beweisen, dass sie sich nicht verändert hat und immer noch die alte Bohnenstange ist.

»Eine First Lady macht keinen Salat.«

»Ich bin keine First Lady. Die First Lady ist die Frau des Präsidenten der Republik. Ich bin nur die Frau des Premiers, die hervorragende Salate zubereitet.« Sie reißt die Tüte auf. Der grüne Salat ist ein wenig welk.

»Tja, die Legende besagt, die Mascagnis hätten Heerscharen von Bediensteten und Häuser überall, und auf deinem Landsitz würden ausgestorbene Tierarten leben.«

»Ja, Jurassic Park. Wir züchten Dinosaurier.«

Nicola Sarti öffnet den Champagner, der Korken schießt ihm aus der Hand, in einer Anrichte findet Maria Cristina Teller und Besteck, mit Öl und Salz macht sie das Grünzeug an.

Er füllt zwei Kelche und hält Maria Cristina einen hin. »Auf uns und diesen unglaublichen … Ich weiß nicht mal, wie ich es nennen soll. Zufall? Fügung? Schicksal?«

»Reunion?«

Die Gläser klirren aneinander, und die beiden blicken sich forschend in die Augen.

»Ich muss sagen, mit dem Alter bist du ausdrucksvoller geworden«, sagt Nicola Sarti und leert den Champagner in einem Schluck.

»Dann war ich als junges Mädchen also nichtssagend?«, fragt sie gespielt beleidigt.

»Nein. Aber das Leben zeichnet uns und macht uns interessanter.«

Maria Cristina benetzt sich kaum die Lippen. »Nimm mich nicht auf den Arm. Ich sehe grauenhaft aus. Ich bin nicht mal geschminkt.«

»Hör auf. Du hast die Augen einer Katze. Sie haben mich damals behext.« Zerknirscht betrachtet Nicola Sarti die Salatblätter. »Sobald es nicht mehr so kalt ist, lade ich dich zu einem Mittagessen ein, das einer First Lady würdig ist … entschuldige, der Frau des Premiers. In meinem Resort in Pomezia fängt demnächst ein brasilianischer Koch an. Ein Genie. Wir werden am Strand essen.«

»Wenn du mich beeindrucken wolltest, hast du das mit dem Piccolo Britannia bereits geschafft.« Mit einer Spitze eines Schuhs streift sie sich den anderen ab, um dem mitgenommenen Zeh ein bisschen Freiheit zu gönnen.

Perfekt. Er plaudert gern, und sie schweigt gern.

Nicola Sarti erzählt von einer Regatta um die Welt auf einem Katamaran, bei der er Mastbruch erlitt und beinahe hopsgegangen wäre. Er ist sehr von sich eingenommen, erfolgshungrig, findet Bestätigung in seinem Beruf und geht durchs Leben, als wäre es Disneyland. Oder wer weiß, vielleicht ist es nur eine Pose, ein Radschlag vor dem Weibchen. Offenbar verbringt er viel Zeit an der frischen Luft, seine Haut ist sonnengegerbt, ein Gespinst feiner Falten rahmt die Augenwinkel. Seine Hände sind groß, an den Handgelenken schieben sich Stoffarmbänder über die Rolex. Maria Cristina beglückwünscht sich, schon damals hatte sie einen guten Geschmack. Sie fragt sich, ob er Single ist oder eine Freundin hat. Das chinesische Model ist harmlos, eine Investorin, mit der er am Comer See Geschäfte macht.

Caterinas Anrufe vibrieren noch immer in ihrer Tasche, und am liebsten würde sie im Netz nach Informationen über Nicola Sarti suchen, um zu wissen, mit wem sie es zu tun hat.

Er fängt an, Erinnerungen auszupacken. Der Segeltörn. Auf Panarea hatten sie ein großes Motorboot, das sich vom Anker gerissen hatte, vor der Kollision mit den Klippen bewahrt. Der Besitzer hatte sie zum Essen eingeladen, und Alessio wollte sich an seine Tochter ranmachen. Maria Cristina lacht, obwohl sie sich kaum erinnert, von dieser Reise sind ihr nur Bilder geblieben, wie kaputte Glieder einer Kette, die auf dem Meeresgrund rostet.

»Und Alessio?«, unterbricht sie ihn. »Wie war er? Für dich als Freund. Für mich als kleine Schwester war er wie ein Gott.«

»Komplett wahnsinnig. Nett«, sagt er und steckt sich ein Salatblatt in den Mund. »Also erinnerst du dich auch nicht an uns zwei?«

»Ehrlich gesagt, kaum«, muss sie zugeben.

»Den ersten Kuss haben wir uns auf Stromboli gegeben, in der Laurentiusnacht, beim Sternschnuppenzählen.«

»Ja, und um mich zu küssen, hast du einen Wunsch zum Vorwand genommen.«

»Ah, das wenigstens hast du nicht vergessen.«

Maria Cristina verzieht das Gesicht und seufzt. »Jahrelang habe ich mich schuldig gefühlt, weil ich nach der Hälfte der Reise gefahren bin. Wenn ich geblieben wäre, wäre Alessio vielleicht nicht gestorben.«

»Sag doch so was nicht. Du wolltest nicht fahren. Auf Lipari hast du geheult. Deinen Bruder hättest du sowieso nicht aufhalten können.« Der Mann schüttelt den Kopf und nimmt einen Schluck Champagner. »Niemand konnte Alessio aufhalten. Das Schicksal geht seine eigenen Wege und kommt immer ans Ziel.«

Sie sieht ihn verständnislos an.

»Dein Bruder hat es herausgefordert. Er musste immer bis an die Grenze gehen, und sobald er sie überwand, wagte er einen weiteren Schritt, um sich selbst zu übertreffen. Er war derjenige, der von der höchsten Klippe sprang, beim Freitauchen am tiefsten runterging und beim Gerätetauchen den Tiefenmesser explodieren ließ. Das gleiche beim Skifahren oder beim Free Climbing.« Sein Blick verliert sich in der Ferne. »Er fehlt mir.«

»Mir auch.«

»Auf ihn«, sagt Nicola Sarti und füllt ihr Glas.

»Ich kann nicht. Mein Magen ist völlig am Ende. Du glaubst nicht, was ich mir gestern Abend nach unserer Begegnung geleistet habe. Schwör bei denen, die dir am teuersten sind, dass du es niemandem sagst.«

Feierlich legt er sich eine Hand auf die Brust.

Plötzlich wieder munter, erzählt Maria Cristina ihm, wie furchtbar blau sie war und dass sie ins Auto gekotzt hat, weil der Begleitschutz nicht anhalten konnte. »Ich weiß nicht einmal mehr, wie ich in die Wohnung raufgekommen bin.« Sie vergräbt das Gesicht in den Händen. »Saupeinlich.« Unwillkürlich ergreift sie seine Hand. »Und heute habe ich eine superwichtige Entscheidung getroffen, das ist gar nicht meine Art. Ich gehe ins Fernsehen, zu Klartext. Ich lasse mich interviewen. Ich muss nur meine Angst überwinden. Vor dem Fernsehen habe ich eine Heidenangst. Ich schwitze wie wahnsinnig. Einmal, als ich gerade geredet habe, lief mir der Schweiß, ich trug eine grüne Bluse, und man konnte live dabei zusehen, wie sich unter den Achseln Flecken bildeten. Ich werde mir was Weißes anziehen.«

»Wie ist das möglich? Bist du Alessios Schwester oder nicht?«

»Du hast recht, ich sollte mich an ihm orientieren. Ich würde Domenico gern bei den Umfragen helfen. In den Augen der Leute bilden er und ich eine Einheit.«

»Erzähl, dass du ins Auto gekotzt hast, und du hast schon gewonnen.«

»Ist das dein Ernst?« Die Idee ist gar nicht so abwegig. Sie muss das Klischee brechen. Sie selbst sein, nichts verbergen.

»Heutzutage reicht eine lustige Anekdote, um eine Wahl zu gewinnen. Die Leute wählen frei Schnauze.«

Maria Cristinas Telefon hört nicht auf zu vibrieren. Sie kramt es hervor. »Entschuldige.« Mit verändertem Ton nimmt sie den Anruf entgegen. »Caterina. Hier bin ich. Nein, jetzt kann ich nicht. Ich rufe dich später an.« Sie deutet ein Nicken an. »Ja, ich weiß. Nachher.« Sie legt auf.

»Musst du weg?«

»Leider. Der Friseur wartet auf mich. Danke für das romantische kleine Mittagessen.« Sie zieht die Schultern hoch und macht ein bedauerndes Gesicht. »Es war schön, dich wiederzusehen. Dieses Hotel wird der Hammer.« Sie schlüpft in den Daunenmantel.

Mit einer galanten Geste schiebt er den Tisch beiseite, um ihr Platz zu machen. »Umarmen wir uns?«

»Klar.« Aus Furcht, er könnte die synthetische Konsistenz ihrer Brüste bemerken, drückt sie ihn nur sacht. »Wir sehen uns.«

»Absolut. Am Meer. Es wird dir gefallen«, sagt er mit eindringlichem Blick.

»Das wäre schön.«

»Bitte.«

Maria Cristina lächelt ihn an. »Na gut. Wir versuchen’s.«

»Versprich es«, flüstert er, ohne sie loszulassen.

»Ich verspreche es«, flüstert sie halbherzig zurück.

»Ich habe Fotos und Videos von der Segeltour. Darf ich sie dir schicken?«

»Ja, gern. Nur zu.« Diesmal gibt sie ihm ihre Nummer.

6.

Nicola Sarti hat recht. Sie muss wieder die Alte werden. Die Durchgeknallte. Sich die Haare zu schneiden, ist schon mal ein Anfang.

Versteckt hinter ihrer Sonnenbrille, überquert die Frau des Premiers hastig die Via dei Condotti. Die Taschen, Mäntel, Röcke in den Schaufenstern rufen wie Sirenen nach ihr, sie widersteht ihnen, doch sobald Domenico kein Regierungsmitglied mehr ist, wird sie die Kreditkarte zücken und keine Gefangenen machen. Seit zwei Jahren hat sie keinen Laden mehr betreten, allmählich kriegt sie Entzugserscheinungen.

Ein Bodyguard folgt ihr auf Abstand. Inmitten von Strömen asiatischer Touristen, die sich an der Fontana della Barcaccia tummeln, überqueren sie die Piazza di Spagna. Pulsierendes Leben. Roller. Teenager auf Skateboards. Müde Gäule vor ihren Droschken. Stadtführer, die Schilder recken. Damen mit Rauhaardackeln. Taxischlangen.

Maria Cristina eilt die Spanische Treppe hinauf, dreht sich um und bewundert die Stadt, die sich wie ein Teppich aus Dächern, Terrassen, Mansarden, Penthouses und schimmernden Kuppeln zu ihren Füßen entrollt. Das unter einer bipolaren Störung leidende Rom bringt es fertig, die abstoßendste und wundervollste Stadt der Welt zu sein.

Auf der Via Sistina drängeln sich Autos und Busse durch das Nadelöhr aus Straßenarbeiten.

Die Frau des Premiers schlüpft an den Portiers neben der Drehtür vorbei in das Grand Hotel Battistoni, macht einen großen Bogen um den von Gästen belagerten Empfangstresen und schiebt sich in eine Ecke des mit Japanern vollgestopften Aufzugs. Im fünften Stock steigt sie aus und steht vor einer silbernen Tür, in die eine große goldene Schere eingelassen ist. Darunter der Schriftzug: DIEGO MALARAS HAIR STUDIO.

Der Hair Sculptor Diego Malara ist ein Hüne von über zwei Metern. Mit dem langen grauen Reisigbart und dem kahlrasierten, eierförmigen Schädel sieht er aus wie ein russischer Mystiker. Er trägt einen beigefarbenen Kaftan mit goldbestickten Ärmeln. Als junger Mann hat er Basketball bei Planet Sport Catanzaro gespielt. Als Maria Cristina ihn kennenlernte, war er ein verspulter Junge, der bei einem angesagten Friseur fürs Kaffeekochen zuständig war. Heute, zwanzig Jahre später, ist er ein Fernsehstar mit einer eigenen Beauty-Linie. Unter seinen goldenen Klingen (er benutzt ausschließlich Scheren aus massivem Gold) landen Schauspielerinnen, Moderatorinnen, Models und wer es sich leisten kann.

Mit der üblichen einstudierten Ruppigkeit umarmt er Maria Cristina. »Warum bist du angezogen wie ein Kohlenweib?« Er setzt eine klobige, altmodische Brille auf.

»Ich bin inkognito hier. Ich bin quer durchs Zentrum gelaufen, und niemand hat mich erkannt.«

»Göttlich.«

Maria Cristina fällt auf, dass mit dem Mund des Friseurs etwas nicht stimmt. Vielleicht hat er sich die Zähne frisch machen lassen, seine Kauleisten sind so weiß und glänzend wie ein Bidet von Richard Ginori.

»Und, Schatz, was steht an?«

»Man sieht meinen Ansatz. Stell dir vor, gestern Abend hat eine Inderin ihn mir auf der Toilette mit Wimperntusche kaschiert.«

»Schatz, wie oft habe ich dir gesagt, dass Haare anderthalb Zentimeter pro Monat wachsen. Wie lange haben wir uns nicht gesehen?«

»Keine Ahnung … Drei Wochen.«

»Dann rechne doch mal nach, Schatz. Sobald Chantal mit der Naselli fertig ist, kommt sie zu dir und macht dir die Farbe.«

Maria Cristina blickt ihm in die arabischen Augen, die ohne einen Funken Weiß tief in den bläulichen Höhlen liegen. »Heute habe ich eine große Entscheidung getroffen. Ich gehe zu Klartext. Deshalb, ich weiß nicht … ein neuer Schnitt wäre schön, was anderes. Was meinst du?«

Seit jeher trägt Maria Cristina eine Art Kate-Middleton-Schnitt, perfekt für jeden öffentlichen Auftritt. Mittelscheitel, v-förmig gestuft. Farbton kastanienbraun mit karamellfarbenen Reflexen, die zu den Spitzen hin heller werden.

Diego fällt die Kinnlade herunter. »Sag mir, dass das dein Ernst ist, Schatz.«

»Ich schwöre.«

»You made my day«, sagt Diego und klatscht in die Hände. Er nimmt sie bei den Schultern, stellt sie wie eine Schaufensterpuppe unter einen Strahler, greift ihr in die Mähne und umrundet sie, die Hand am Kinn und mit gerunzelter Stirn wie Michelangelo vor einem Marmorblock. Dann zieht er ein kleines Tablet aus der Tasche und fängt an zu suchen. »Hier.«

Er zeigt ihr ein Foto der Schauspielerin Rosamund Pike aus dem Film Gone Girl mit einem unterkieferlangen platinblonden Carré-Schnitt, dessen Kontur der Kinnlinie folgt. Das links gescheitelte Haar umrahmt das Gesicht wie eine sanfte, blonde Welle und lässt ein Ohr frei.

»Mit dem Schnitt brauchst du einen Waffenschein, Schatz«, sagt Diego Malara überschwänglich. »Der schlägt ein wie ein Meteorit, glaub mir.«

»Blond. Sicher?«

Der Friseur zuckt die Schultern. »Wir färben, Schatz.«

»Wir färben, Schatz«, wiederholt Alessios Schwester.

Eine Stunde später ist unsere Heldin bereits entfärbt, trägt Alufolie auf dem Kopf und ist fest entschlossen, eiskalt und gnadenlos zu werden wie die Femme fatale aus Gone Girl. Neben ihr sitzt Miriam Naselli, bekannt für ihre Darstellung der gehörlosen Inspektorin Rina Romolo, die sie über fünf Staffeln in der Fernsehserie Gefährliches Spiel verkörperte. Wegen der schwindenden Zuschauerzahlen wurde die Serie abgesetzt, und jetzt hat sie Mühe, neue Rollen zu finden. Maria Cristina folgt ihr auf Instagram, wo die Aktrice sich als spirituelle Wegweiserin neu erfindet, aus dem Zimmer ihrer Kinder Yogaunterricht gibt und Kräutertees, Gartengrills und elektrische Kardiostimulatoren bewirbt.

Die beiden kennen sich kaum, tun aber so, als wären sie Freundinnen, denn in Diego Malaras Damenclub sind alle miteinander befreundet, weil sie reich, berühmt und gemeinhin von ansprechender Erscheinung sind.

Die Naselli hat ihr gestanden, dass sie in die Wechseljahre gekommen und farbenblind geworden ist und nicht weiß, ob beides zusammenhängt. Jetzt redet sie über ihre Follower. »Stell dir vor, ich habe eine ganz banale Frage gestellt: Ist es richtig, einem geliebten Menschen Ich liebe dich zu sagen? Ich habe tausende superspannende Antworten bekommen. Manche haben superpoetisches Zeug geschrieben, im Netz gibt es total viel Wärme, es wäre schön, wenn man die irgendwie bündeln und ein Buch daraus machen könnte. Du kennst doch …«

Maria Cristina hört kaum zu, sie versucht sich einzureden, dass es keine Schwachsinnsidee war, sich blond färben zu lassen. Und wenn es sie älter macht? Wie wird das Netz reagieren?

Ein weiterer Wortschwall von Miriam stiehlt sich in ihr Bewusstsein. »Ich finde, man muss es laut sagen. Wenn wir das Wort Liebe aussprechen, verändern wir die Moleküle des Universums. Diese erschreckende Macht liegt in unseren Händen.«

Maria Cristina driftet erneut ab. Sobald sie zu Hause ist, muss sie ihren Entschluss verkünden, das Interview zu machen. Sie werden versuchen, sie davon abzubringen. Aber sie darf nicht nachgeben. Sie muss sie überzeugen, dass es eine Chance für die Regierung ist.

Miriam Nasellis nasale Stimme bricht sich abermals Bahn, lästig wie eine Pferdebremse. »Spirulina steckt voller guter Sachen. Proteine, Aminosäuren und alle möglichen Omegas. Die Alge kann man auch zu Hause züchten. Das ist total einfach: Du kaufst dir ein Aquarium, füllst es mit Wasser und Spirulinakulturen, die wachsen dann und du kannst ganz viele kleine Kugeln daraus formen … Aber sag mal, was machst du eigentlich mit deiner Haut? Die strahlt so.«

»Ich creme mich ein«, sagt Maria Cristina abwesend, als sie eine Nachricht bekommt.

CATERINA

Die Reitner sagt, du hast das Interview zugesagt. Kann das sein? Hat sie sich das ausgedacht? Rufst du mich an, sobald du Zeit hast?

Sie will gerade antworten, als eine weitere Nachricht eintrifft.

Was für ein schönes Mittagessen. Nächstes Mal am Meer. Genauso ungestört, versteht sich. Feste Umarmung. Nic.

Unbekannte Nummer. Ein Lächeln wogt auf und kräuselt ihre Lippen, während sie Nicola Sartis Nummer speichert.

Wie immer springt Diana Brinzaglia aus der Deckung. Bestimmt will dein schnuckeliger Freund irgendwas. Schließlich kommt er über dich an den Ministerpräsidenten ran.

Nein, so einer ist Nicola Sarti nicht. Wenn er etwas wollen würde, hätte er das gesagt. Endlich hat sie jemanden getroffen, der anders ist als die üblichen trüben Minister mit ihren Rollkoffern und ihren Ehefrauen in Macerata.

MARIA CRISTINA

Ich liebe alten Salat. Danke dir.

NICOLA SARTI

Wie versprochen ein paar Erinnerungen.

Es kommen zwei Fotos.

Auf dem ersten sitzt die Crew der Nasquira im Heckcockpit. Ihr Bruder, Davide, Filippo, Mao, noch einer, dessen Namen sie vergessen hat, und sie, spindeldürr und sonnengebräunt. Auf dem Tisch in der Mitte Melonenreste und ein Topf mit einem trockenen Pampf, der nach Pasta mit Bohnen aussieht. Alle halten Getränkedosen in der Hand und prosten der Kamera zu. Das zweite zeigt Alessio allein, rittlings auf dem Besanbaum beim Segelflicken.

MARIA CRISTINA

Mein Gott, sehen wir jung und glücklich aus. Da wird man ganz wehmütig. War Alessio nicht wunderschön?

NICOLA SARTI

War immer der Coolste.

MARIA CRISTINA

🤍🤍🤍

Noch mehr Fotos. Auf einem sind sie im Wasser und spielen Ball. Es ist vom Boot aus aufgenommen, und die wilden Spritzer lassen außer Spaß wenig erkennen. Auf einem anderen sind sie in einem kleinen Hafen, barfüßig, mit Einkaufstüten für die Kombüse beladen, sie hat ein riesiges Hörnchen in der Hand. Dann ein dunkles Foto, bei Nacht aufgenommen, im Hintergrund rötliche Lichter. Mit dem Blitz in den Augen sieht Nicola Sarti aus wie ein von Scheinwerfern geblendetes Kaninchen. Maria Cristina sitzt mit einem Strohhut auf dem Kopf an einem Tisch, vor sich einen Teller Nudeln und zu Füßen einen kleinen Mischling, der auf einen Bissen lauert. Alessio mit Mao auf dem Windsurfbrett. Rührung schnürt ihr die Kehle zu, als sie sich mit ihrem Bruder sieht, die beiden glücklichen Waisen. Frei von den Großeltern, das ganze Leben noch vor sich.

MARIA CRISTINA

Mein Gott, sind die schön. Danke! Du glaubst gar nicht, wie ich mich darüber freue. Ich bin ganz gerührt.

»Und, meine Hübschen, wie geht’s?«

Maria Cristina blickt vom Display auf und sieht den Friseur an, der ein kachelgroßes Stück Schinkenpizza in der Hand hält. »Kleiner Imbiss. Die Bar hier unten macht mich völlig kirre mit diesem Zeug.« Er parkt seinen Hintern auf einem Rollhocker und vollführt eine Drehung. »Ich habe überlegt, liebe Maria Cristina, dass du mir beim Aia behilflich sein könntest.«

»Was ist das?«, fragt Miriam Naselli.

»Der Friseurverband. Ach was, die nennen sich ja Coiffeure, total albern, aber egal … Ich habe gedacht, es wäre schön, unsere Arbeit in Problemmilieus zu promoten. In Gefängnissen oder in Auffanglagern auf Lampedusa, oder auf dem Straßenstrich, du kannst dir nicht vorstellen, wie viele ich von denen an der Salaria sehe, wenn ich nach Todi fahre … Jedenfalls, wir könnten da hingehen und diesen armen Frauen die Haare schneiden, sie schminken. Und dann ein paar Fotos machen, die man veröffentlichen kann. Also, na ja … Ich finde, das ist …« Er holt nachdenklich Luft. »Ich finde, das wäre eine schöne Sache.«

»Superschön, machst du Witze? Geniale Idee.« Miriam Naselli klatscht freudig in die Hände.

Maria Cristina lockert den Umhang, der am Hals zwickt. »Ja. Sicher. Eine schöne Initiative«, sagt sie halbherzig, ein Auge auf dem Handy. Gerade kommt ein Video.

»Die Regierung könnte es sponsern«, schiebt Diego Malara nach. »Ich meine, nicht mit Geld. Aber du weißt schon, unter der Schirmherrschaft von … wie es halt immer so heißt …«

Der Downloadkringel schließt sich nur langsam. Der Empfang ist schlecht.

»Ich finde, ihr solltet auch Schauspieler miteinbeziehen«, bemerkt Miriam und meint sich selbst. »Berühmte Friseure, Schauspieler und Penner. Du kannst dir nicht vorstellen, wie viele von denen vor meinem Haus übernachten. Sogar im Treppenhaus bin ich über die gestolpert. Eine ist echt fantastisch, hochelegant …«

Der Kringel hat sich geschlossen.

Maria Cristina startet das Video. Wenig Licht. Leicht unscharf. Vor dem Objektiv die nackte, männliche Brust desjenigen, der die Filmkamera gestartet hat. Kaum weicht er zurück, erkennt sie im Gegenlicht das Profil von Nicola Sarti. Er befindet sich in der großen Eignerkabine. Durch das geöffnete Bullauge fällt Licht auf das Doppelbett, auf dem mit übereinandergeschlagenen Beinen Maria Cristina sitzt, oben ohne, nein, sie ist nackt und hält eine Bierflasche in der Hand. Lächelnd hockt sie sich auf die Knie. Winkt Nicola Sarti mit dem Zeigefinger zu sich heran.

Er zieht die Badehose herunter und zeigt seinen weißen Hintern.

»Und wenn wir hingingen, was meinst du, Maria Cristina?«

Die Frau des Premiers presst sich das Handy in den Schoß. Es ist, als hätte ein Esel ihr einen Tritt gegen das Brustbein verpasst, ihre Beine kribbeln wie von Millionen Nadelstichen, die den Rücken hinauf bis in den Nacken wandern. Sie presst die Lider zusammen, die Lichter des Salons flirren. »Was? Entschuldige, ich habe nicht zugehört«, flüstert sie tonlos.

Diego Malara steht auf und wirft das Handtuch in den Wäschekorb. »Wir sagten gerade, wir sollten mit Domenico darüber sprechen. Das erscheint mir die beste Idee.«

»Ich geh mal kurz aufs Klo.« In den Umhang gehüllt und mit der Alufolie auf dem Kopf steuert Maria Cristina auf den Ausgang zu.

»Andere Seite!«, ruft der Friseur ihr nach.

Sie hört ihn nicht, in ihren Ohren schwillt ein metallisches Dröhnen, während der Salon mit den roten Lederstühlen, den von Spotlights umrahmten Spiegeln, den auf Kristallregalen aufgereihten Produkten, dem flauschigen Teppichboden unter ihren Sohlen, den bernsteinfarbenen Lampenschirmen verschwindet und wieder auftaucht, als könnte der Blick ihn nicht fassen. Maria Cristina erreicht die Tür, die sich durch die Lichtschranke öffnet. Das Telefon brennt in ihrer Hand. Sie geht zum Aufzug. Drückt auf den Knopf. Die blauen Zahlen der Stockwerke steigen auf und nieder, kein Fahrstuhl hält an. Der Notausgang versteckt sich im blauen Samt der Tapete, sie drückt den Antipanikgriff und rennt die Hintertreppe hinunter. Die kanariengelben Wände im Neonlicht blenden sie, sie stolpert, stürzt fast, läuft weiter treppab.

Fluchtreaktion nennen Neurobiologen das. Das Nebennierenmark schüttet alle möglichen Hormone aus: Katecholamin, Testosteron und Kortisol, Dopamin und Serotonin. Tiere reagieren so auf äußere Gefahren und produzieren körpereigene Drogen, die sie reaktionsfähiger machen.

Ein paar Stockwerke tiefer stößt Maria Cristina auf einen Rollwagen voller Toilettenartikel, Kugelschreiber und Handtücher, der ihr den Weg versperrt. Sie will ihn beiseiteschieben, doch vergeblich, seitlich daran vorbeizukommen ist unmöglich, also versucht sie stattdessen darüberzuklettern und wirft dabei mehrere Fläschchen mit Haarspülung, Shampoo und Frotteepantoffeln zu Boden.

»Kommen Sie da runter! Was machen Sie da?«, herrscht eine Russin, Polin, Estin oder was auch immer sie durch einen Türspalt an. »Runter da!« Der querstehende Rollwagen sperrt sie im Flur aus. Sie fängt an, in ihrer Sprache zu fluchen.

»Entschuldigung … Tut mir leid …« Maria Cristina versucht, die hinuntergefallenen Sachen aufzuklauben. »Ich müsste vorbei.«

»Warum haben Sie nicht den Aufzug genommen?« Vergeblich versucht das Zimmermädchen, sich durch den Spalt zu quetschen.

Maria Cristina zerrt am Rollwagen. »Ok. Ich gehe wieder nach oben. Kein Problem. Ich bitte nochmals um Entschuldigung. Das war dumm von mir.«

»Halt!«, befiehlt die Russin und schafft es mit einem Schulterstoß, die Tür aufzuschieben. »Jesus, Maria und Josef. Sie sind Pamela.«

»Pamela?«

»Pamela, die Sängerin.«

»Nein, ich bin nicht Pamela, die Sängerin.« Maria Cristina schüttelt energisch den Kopf.

Die Putzfrau ist nicht überzeugt. »Sicher?«

»Ich schwöre.« Maria Cristina weicht zurück und will die Treppe wieder hinaufsteigen.

»Aber Sie sind berühmt.« Die Putzfrau verstellt ihr den Weg.

»Ich bin …« Maria Cristina ist kurz vor den Tränen. »Ich bin eine …«

»Ich weiß, wer Sie sind.« Ihr Gesicht strahlt auf. »Sie sind die Frau des Präsidenten der Republik. Und sagen Sie nicht nein.«

Maria Cristina sinkt auf eine Stufe und blickt sie mit flehentlichen Augen an. »Lassen Sie mich allein. Fünf Minuten. Nur fünf Minuten.«

»In Ordnung. Ich wollte Sie nicht belästigen.« Die Russin hat den Tonfall gewechselt. »Würden Sie mir ein Autogramm für meinen Sohn geben? Er heißt Andrej, er ist zweiundzwanzig und in Sie verliebt. Ihr Foto steht neben seinem Bett.« Sie zieht einen Notizblock und einen Kuli aus der Tasche und legt beides auf eine Treppenstufe. »Ich hole es mir nachher ab. Danke, und nochmals Entschuldigung.«

Maria Cristina fährt sich mit der Hand über den Nacken. Das Färbemittel klebt überall.

Sie atmet tief durch und drückt Play.

Nicola Sarti streckt sich zwischen schmutzigen Laken, Waffelschachteln, zusammengeknüllten T-Shirts, nassen Badesachen, Pizzapapier und Eispackungen aus. Er blickt ins Objektiv, unsicher, ob er richtig im Bild ist, steht auf, justiert die Kamera, kehrt auf die Koje zurück, greift sich eine halb leere Flasche Bier vom Nachttisch, trinkt einen Schluck und hält sie der nackten Maria Cristina hin, die flach ist wie ein Bügelbrett, sonnenverbrannt, mit abstehendem, vom Salzwasser strohigem Haar und bunten Armbändern an den Handgelenken. Eine Weile reichen sie sich das Bier hin und her, wie um sich Mut zu machen. Maria Cristina kniet auf der Matratze und leert es, um es gleich darauf wieder loszuwerden. Ihre Wangen blähen sich, mit einem Prusten spritzt sie Nicola Sarti nass, bricht in verlegenes Giggeln aus, schlägt die Hände vors Gesicht und schüttelt den Kopf.

Nicola Sarti kniet sich ebenfalls hin, gibt ihr einen langen Zungenkuss und zieht sie hinunter, im leblosen Halbdunkel wälzen sie sich küssend in den Laken, sie fährt ihm mit den Fingern durchs Haar, und mit verstohlenen Blicken Richtung Kamera schiebt er ihre Hand in seine Leistengegend. Sie lässt sie dort, wie vergessen, dann führt sie sie an seinen Schwanz und fängt an, ihn zu masturbieren. Mühsam schwillt der Penis an, und wippend taucht Nicola Sartis Gesicht hinter Maria Cristinas mageren Pobacken auf, die dem Objektiv den Rücken zuwendet und ihre intimen Körperstellen zeigt.

Er flüstert ihr etwas Unverständliches zu, zeigt zur Filmkamera und bedeutet ihr, sich umzudrehen. Maria Cristina erschaudert in einem nervösen Kichern, dann stellt sie sich auf die Matratze, zieht den Kopf ein, um nicht gegen die Kajütendecke zu stoßen, dreht sich um, blickt einen Moment lang in die Kamera, geht über ihm in die Hocke und verdeckt sein Gesicht. Jetzt sind nur Nicola Sartis mit Krümeln bedeckte Fußsohlen, seine Schenkel und der endlich erigierte Penis im Bild. Maria Cristina streicht sich die Haare hinters Ohr, um sich dem Objektiv zu zeigen, hält den Blick in die Kamera gerichtet und nimmt ihn in den Mund.

Mit der Alufolie auf dem Kopf hockt die Frau des Premiers auf der Fluchttreppe des Grand Hotel Battistoni, schaltet das Display aus und schlägt sich eine Hand vors Gesicht. Sie versucht sich von der Wand zu lösen, gegen die sie gesunken ist, doch ihr fehlt die Kraft. Sie presst die Fingerspitzen gegen die Stufenkante, um sicherzugehen, dass ihre Sinne noch funktionieren und sie nicht in einem Albtraum oder einer dieser grausamen Sendungen mit versteckter Kamera gelandet ist. Sie zwingt sich, das Video weiter anzusehen. Es zeigt den gesamten, endlosen Fick, doch als er sie von hinten nimmt, hält sie es nicht mehr aus und schaltet ab.

Das ist eindeutig sie. Kein Zweifel. Aber, verdammt noch mal, wieso erinnert sie sich nicht mehr, einen Porno gedreht zu haben? Ein Blackout? Kann das sein? Sie war zwanzig Jahre alt, ein anderer Mensch, »durchgeknallt« hat Nicola Sarti sie gestern Abend genannt. Jetzt begreift sie, was er damit gemeint hat. Sie weiß noch, dass es ihr Spaß gemacht hat, mit Nicola Sarti zu vögeln, und dass er ein dauergeiles Bürschchen war, das andauernd mit ihr schlafen wollte, doch schamhaft, wie sie ist, hätte sie sich nie und nimmer dabei filmen lassen. Das sieht ihr gar nicht ähnlich, exhibitionistisch war sie nie.

Sie legt sich die Stirn auf die Knie und muss sauer aufstoßen, es brennt in der Kehle.

Sie muss zugedröhnt gewesen sein. Aber sie hat Drogen immer gehasst, in ihrem ganzen Leben hat sie vielleicht drei Joints geraucht. Vielleicht hat Nicola Sarti ihr KO-Tropfen gegeben. Doch soweit sie weiß, wird man davon bewusstlos und ist den anderen willenlos ausgeliefert, sie aber war aktiv und hat aus eigenem Antrieb gehandelt. Hat ins Objektiv geblickt.

»Das packe ich nicht«, stöhnt sie.

Der Chat schweigt. Nach dem Video hat Nicola Sarti nichts mehr geschrieben.

Allerdings ist hier auch kein Netz.

»Gott Grundgütiger«, sagt sie mit einer Stimme, die nicht wie sie klingt.

Die Sache ist so unfasslich und absolut, dass sie nicht einmal zu benennen vermag, was sie empfindet, sie ist wie betäubt, ihr Kopf brodelt, das Färbemittel brennt ihr auf der Haut.

Ihre Tochter. Ihr Mann. Italien. Die Welt. Das Ende.

Sie starrt auf den weiß schimmernden Zettel, den die Russin dagelassen hat. Greift danach und schreibt: »Für Andrej mit herzlichen Grüßen. Maria Cristina«.

Dann steigt sie die Treppe wieder hinauf.

Eine Viertelstunde später sitzt Maria Cristina neben einer brummenden Klimaanlage auf der Dachterrasse des Grand Hotel Battistoni. Sie hält ihren Fuß in der Hand, streichelt den gequetschten Zeh und starrt in den allzu blauen Himmel. Gleich neben der Brüstung wirft ein mit Antennen und Satellitenschüsseln überfrachteter Mast seinen Schatten auf den dreckigen Waschbetonboden. Links von ihr gähnt die braune Metalltür des einstigen Wassertankschuppens, der jetzt vor Taubenkacke starrt.

Caterina versucht noch immer, sie anzurufen.

Nicola Sarti hat nicht mehr geschrieben, doch er ist online, wie in Lauerstellung.

Möglich, dass er ihr so ein Video schickt? Jetzt? Nach zwanzig Jahren? Sie ist die Frau des Premiers, verdammt. Der Typ taucht gestern wieder auf, und heute trifft sie ihn ganz zufällig vor dem Massagezentrum?

Nein, das ergibt keinen Sinn.

Als ihr Mann in den Palazzo Chigi einzog, hat man ihr lang und breit erklärt, wie sie mit Handys und Computern umzugehen hat und was bei Cyberattacken, verdächtigen E-Mails, Hacking und dem ganzen Kram zu tun ist. Für Filippo Pottino, den Leiter der Sicherheitsabteilung, käme ein solches Video einem Angriff auf den Staat gleich. Sie muss ihn warnen. Und es ihm zeigen. Allein bei dem Gedanken vergeht sie vor Scham. Verzweifelt fällt sie auf die Knie.

Eins nach dem anderen. Sie muss mit Nicola Sarti sprechen, hören, was er zu sagen hat, verstehen, was los ist.

»Jetzt.« Aber ganz ruhig, als wäre gar nichts passiert. Sie steht auf, dreht sich dreimal um sich selbst und atmet tief ein und aus. Wählt seine Nummer. Es klingelt, doch er geht nicht ran. Sie lässt es klingeln, bis die Mailbox anspringt. Legt auf. Stößt einen Schrei aus, am liebsten würde sie sich die Haare raufen, sich die Fingernägel in den Hals schlagen, die Antennen umreißen. Sie probiert es noch einmal. Mailbox. Noch einmal. Mailbox. Wieder kreiselt sie um sich selbst, Färbemittel im Gesicht, am Hals, auf dem Telefon. Sie lehnt sich über die Brüstung. Die Via Sistina in der Tiefe ist ein Teppich aus hupendem Blech.

Das Handy klingelt.

Sie geht ran, ohne nachzusehen. »Hallo!«

»Hallo!«, schnaubt Caterina. »Endlich. Wo zum Henker bist du?« Sie ist außer sich. »Bist du verrückt geworden, Maria Cristina?«

Es ist nicht er. Sie will auflegen, aber hält sich zurück. »Ich bin beim Friseur. Ich lasse mir die Haare färben.«

»Der Begleitschutz sucht dich.«

»Ich bin auf dem Dach. Ich habe mich nicht gut gefühlt.«

»Was ist los?«, fragt die Assistentin alarmiert.

Die Frau des Premiers greift nach einem Antennenkabel und zieht daran. »Nichts, ich brauchte frische Luft. Ist schon vorüber.« Sie staunt, dass sie noch in der Lage ist, mit ihren Mitmenschen zu kommunizieren, sie anzulügen, was zeigt, dass in ihrem Kopf nicht alle Sicherungen durchgebrannt sind.

»Sicher?«

»Ja. Jetzt gehe ich wieder nach unten.«

»Ich habe ihnen Bescheid gesagt. Sie sind auf dem Weg. Hör mal, die Reitner hat gerade auf Twitter geschrieben, dass du nächsten Dienstag zu ihr in die Sendung kommst. Stimmt das?«

»Ja.« Im Hintergrund ist das Signal eines eingehenden Anrufs zu hören. »Entschuldige, wir reden später darüber.« Sie würgt das Gespräch ab und nimmt das Telefonat an. »Hallo!«

»Da bin ich, ich hatte auf stumm gestellt«, sagt Nicola Sarti.

»Hallo.« Maria Cristina stammelt das Erstbeste, das ihr in den Sinn kommt. »Wie geht es dir?«

»Gut. Und dir?«

»Gut. Alles fein. Hör mal …« Sie versucht möglichst unbeschwert zu klingen, nach reiner Neugier. »Was hat es eigentlich mit diesem Video auf sich?«

»Im Ernst? Das war am letzten Tag. Bevor du gefahren bist. Warte …« Er senkt die Stimme, als suchte er nach einem stillen Eckchen, um ungestört zu reden. »Erinnerst du dich nicht mehr? Die Pornogeschichte …«

Maria Cristina hockt sich auf den Boden, den Rücken gegen das Geländer gelehnt, und reißt mit einem Ruck das Antennenkabel ab. »Nein. Was für eine Pornogeschichte?«

»Wir wollten einen Porno drehen und damit reich werden. Schwachsinnige Segelbootblödelei. Dann haben die anderen gekniffen, und wir haben ihn alleine gedreht. Komm schon, Maria Blasina.«

Ihr bleibt die Luft weg, ihre Stimme ist tonlos. »Maria Blasina?«

»Dein Künstlerinnenname! Du meintest, so wolltest du als Pornostar heißen.«

Die Frau des Premiers muss sich fast übergeben. »Nein, ich schwöre bei Gott, das weiß ich nicht mehr.«

Nicola Sarti lässt ein leicht theatralisches Lachen hören. »Das dachte ich mir schon. Wir waren betrunken.«

»Und wie hast du es aufgenommen?«, fragt sie abwesend, während sie mit verbundenen Augen und nackten Füßen über Glasscherben läuft. »Gab es damals schon Handys? Konnte man mit denen filmen? Ich glaube nicht …«

»Ich habe eine professionelle Sony benutzt. Mein Traum, weißt du nicht mehr? Ich wollte Regisseur werden. Ich habe noch alle Filme vom Segelboot. Sogar den, als wir auf See Thunfisch gefangen haben. Der ist wunderschön. Muss ich dir schicken.«

»An den erinnere ich mich. An diesen nicht.« Sie kann ihren Ärger nicht mehr zurückhalten. Diana Brinzaglia mahnt sie zur Ruhe. »Und wieso hast du ihn auf dem Handy? Verstehe ich nicht.«

Er macht eine Pause, ehe er antwortet. »Ich habe sämtliche Filme digitalisiert. Leider ist die Qualität beschissen.«

Maria Cristina steht auf und beginnt, wie ein Gaul am Strick im Kreis zu trotten. Das Sprechen fällt ihr schwer, sie schluckt einen Kloß hinunter. »Und erklär mir mal, warum du mit dem Video auf dem Handy herumläufst?«

»Ich hab’s nach unserem Mittagessen vom PC runtergeladen. Auf dem sind alle Filme gespeichert.« Als er Maria Cristinas gepressten Atem hört, hält er inne. »Was ist los? Hat dich das geschockt? Das sind nur du und ich …«

Sie blickt zum Himmel. »Ob mich das geschockt hat?«

»Fandest du das nicht lustig?«

»Nein, kein bisschen.« Ihre Stimme bebt. »Ich bin zu Tode erschrocken, wenn du’s genau wissen willst, ich stehe kurz vorm Zusammenbruch.« Sie drückt das Kinn an den Hals und bricht in Tränen aus, während Nicola Sarti sagt: »Maria Cristina? Maria Cristina, was ist los?«

Sie zieht die Nase hoch. »Nichts. Entschuldige.«

»Oh, Scheiße. Ich muss mich entschuldigen. Es tut mir leid. Das habe ich nicht geahnt. Entschuldige«, wiederholt er zerknirscht.

»Wie konntest du das nicht ahnen? Ist dir eigentlich klar, was passiert, wenn jemand dieses Video zu Gesicht bekommt? Ich bin die Frau des Premierministers.«

»Das weiß ich doch. Aber wieso sollte es jemand zu Gesicht bekommen?«

Maria Cristina ist sich nicht sicher, ob er Theater spielt oder wirklich einsieht, dass er sich danebenbenommen hat. Jedenfalls ist er entweder blöd oder ein echter Mistkerl. »Und außerdem, pardon«, sie räuspert sich, »wer versichert mir denn, dass du es niemandem zeigst? Stell dir vor, das landet im Internet.«

»Ich mache dich darauf aufmerksam, dass ich ebenfalls darin zu sehen bin. Ich habe eine Ex, die mich hasst, und zwei kleine Kinder. Die Sache ist zweiundzwanzig Jahre her und nie ans Licht gekommen. Wieso sollte ich sie ausgerechnet jetzt auspacken?«

Maria Cristina bleibt stehen und starrt auf die Möwen, die über den Dächern kreisen, sie ist sprachlos.

»Es tut mir wirklich leid«, wiederholt er, und seine Stimme wird weich. »Ich schäme mich zu Tode. Ernsthaft. Mir war nicht klar, dass dich das so sehr treffen könnte.«

»Lösch es, bitte.«

»Ich lösche es. Ich schwöre.«

»Das muss alles verschwinden. Auch die Kassette. Zerstör sie. Ich bitte dich, Nicola.«

»Jetzt lösche ich es vom Handy und vom PC und heute Abend verbrenne ich die Kassette. Du hast recht, das war echt scheiße von mir. Als ich anfing, dir die Fotos zu schicken, bin ich drauf gestoßen und habe mir gesagt: Mal sehen, wie sie das findet.«

Maria Cristina blickt auf die Straße hinunter. »Was dachtest du denn, dass es mich anmacht?«

»Ja, vielleicht, keine Ahnung …«

»Ich bin fast gestorben.«

»Verzeihst du mir?«

»Ja. Reden wir nicht mehr darüber. Lösch es.«

»Ich schwöre. Aber ich will nicht, dass diese Scheiße alles kaputtmacht. Wir hatten es so schön heute.«

Maria Cristina fühlt sich unendlich müde, die Kälte ist ihr in die Knochen gekrochen. Sie seufzt ein: »Ja.«

»Versprich, dass wir uns wiedersehen. Enttäusch mich nicht.«

Sie ist am Ende. »Versprochen. Aber jetzt …« Sie weiß nicht, was sie sagen soll, und außerdem: So einen Vollidioten sieht sie garantiert nicht wieder!

In der Tür zum Treppenhaus tauchen die Männer der Security auf. Sie blicken sich um und vollführen das, was Maria Cristina den Schimpansentanz nennt. Einer hat sogar die Pistole in der Hand. Mit dem Daumen gibt sie ihnen zu verstehen, dass alles in Ordnung ist und sie gerade telefoniert. Die drei bleiben in ein paar Metern Abstand stehen und warten.

»Jetzt muss ich los«, schließt Maria Cristina.

7.

Irene Mascagni streicht um ihre Mutter herum, die gerade versucht, eine Matheaufgabe zu lösen. »Also, wie viele Schrauben hat der Tischler gekauft … Setz dich bitte hin. Ich bin müde.«

»Echt, Mama, du siehst total komisch aus. Gar nicht wie du.« Sie berührt ihre Haare, um sicherzugehen, dass sie keine Perücke sind. »So blond. Warum hast du das gemacht?«

»Das fragst du mich jetzt zum zehnten Mal«, schnaubt Maria Cristina.

»Du wolltest eine Veränderung. Aber wieso?«

»Setz dich. Mach mich nicht wütend.«

»Damit wir beide blond sind?«

»Bitte«, fleht sie. »Was will der Tischler nun mit diesen ganzen Schrauben?«

Endlich setzt sich Irene. Sie ist groß für ihre zehn Jahre, die Größte in ihrer Klasse, genau wie Maria Cristina in ihrem Alter, das feine Haar fällt ihr glatt auf den Rücken. Ihr Teint ist heller als der ihrer Mutter, und ihre Augen sind blau. Sie könnte deren nordische Ausgabe sein.

Maria Cristina reibt sich die Augen. »Jetzt lös diese Bruchrechnungen. Auf geht’s.« Sie will nur ins Bett und diesen entsetzlichen Tag abhaken.

»Und warum hast du sie dir auch geschnitten? Hat das Blondieren nicht gereicht? Es macht dich älter.«

»Hör mal, Fräulein, jetzt reicht’s.« Maria Cristina legt den Kuli auf den Tisch und betrachtet sich im Glas der Sternkarte, die in Irenes Zimmer hängt. Diego Malara hat es irgendwie geschafft, die Katastrophe zu beheben, die sie mit dem am Kopf eingetrockneten Färbemittel angerichtet hat, aber er war total sauer. Er hat gesagt, er sei fast gestorben vor Sorge und sie habe seine Arbeit ruiniert. Doch Irene hat recht, es macht sie älter. Ihre Züge wirken schärfer und härter, fast wie geliftet.

»Ich glaube, die werden sagen, du spinnst«, fährt Irene gnadenlos fort und krickelt im Heft herum.

»Wegen eines Haarschnitts? Und wer soll das sagen?«

»Die im Internet.«

»Was weißt du schon darüber?«

»Clara hat ein Handy und zeigt mir Instagram. Wo all die Fotos von denen sind, die dich toll finden«, sagt das Mädchen altklug.

Na bitte, sie hat es sich mit ihrer Tochter verspielt. Früher oder später musste es so kommen, aber wieso ausgerechnet jetzt. Sie haben ihr verboten fernzusehen, nur einen Film pro Woche und nie allein. Kein Internet. Kein Handy. Greta, das deutsche Au-pair, hat ein Auge darauf, doch in der Schule ist sie auf sich allein gestellt, ihren Mitschülern schutzlos ausgeliefert, die allesamt Handys und Profile in den sozialen Netzwerken haben. Gestern noch war sie ein kleines Mädchen aus dem letzten Jahrhundert, das begeistert Fantasyromane las und sich um Tiere kümmerte. Zum Geburtstag hat sie von ihrem Vater ein Mikroskop geschenkt bekommen und Tage damit zugebracht, Ameisen und Salinenkrebse in einem Schraubglas zu beobachten und Fotos mit ihrer Polaroidkamera zu knipsen. Um Maria Cristina zu ärgern, nennt Domenico sie manchmal Kasparina, nach Kaspar Hauser, dem Jungen, der Anfang des neunzehnten Jahrhunderts von sich erzählte, er sei in einem Stall großgeworden und habe bis ins Erwachsenenalter kein menschliches Wesen gesehen.

Seit einiger Zeit hat sich Irene verändert, sie wünscht sich ein Smartphone, will Fernsehserien sehen, ist bockig. Der Teenager bricht sich Bahn. Dabei ist sie erst zehn, wie soll das werden, wenn sie sechzehn ist?

»Na schön. Es reicht. Du machst die Aufgaben alleine fertig.«

Maria Cristina steht auf und nimmt das Telefon vom Tisch.

Das Video ist noch immer drauf.

Auf dem Nachhauseweg vom Friseur, im Schutz der verdunkelten Autoscheiben, wollte sie es löschen, aber dann ist ihr aufgegangen, dass sie das nicht tun sollte.

Es ist ein Beweismittel.

Sie sollte Domenico davon erzählen, doch sie schämt sich zu sehr. Vor lauter Angst vor Skandalen würde er womöglich ein Fenster aufreißen und sich hinausstürzen.

Jedenfalls würde sie ihre Hand dafür ins Feuer legen, dass Nicola Sarti das Filmchen nicht gelöscht hat. Aber welches Interesse könnte er daran haben, es zu veröffentlichen? Sie hat im Internet nachgesehen, er ist ein erfolgreicher Unternehmer. Er hat viel zu verlieren. Und am Telefon klang er ehrlich zerknirscht.

Diana Brinzaglia ist weniger optimistisch. Wir haben jeden Grund zur Beunruhigung. Dieser eitle Fatzke fickt die schönste Frau der Welt, die obendrein die Frau des Ministerpräsidenten ist, und sagt es keinem? Irgendjemandem wird er es schon gezeigt haben. Ganz sicher.

Sie stellt sich vor, wie er seinen Fußballkumpels in der Umkleide das Video zeigt. Nein, das sieht ihm nicht ähnlich. So ein Arschloch ist er nicht. Doch die Tatsache, dass er es ihr zusammen mit den Ferienfotos und den Bildern von ihrem toten Bruder geschickt hat, beweist, dass er ein Drecksack ohne jedes Feingefühl ist.

In derlei Gedanken versunken, durchquert die Frau des Premiers den langen Flur, der den herrschaftlichen Teil der Wohnung von dem der Angestellten trennt. Der Fußboden ist mit weißen Emaillefliesen belegt und mit rautenförmigen geblümten Vietri-Kacheln verziert. An den Wänden wechseln sich Gemälde von Malern der Macchiaolischule und große Lampen mit azurblauen Terracotta-Füßen ab. Daisy steht an der schwarzen Marmorplatte der Kücheninsel und putzt Blumenkohl. Draußen, jenseits der Terrasse, hält der Himmel noch einen Rest Tag zurück und taucht die Häuserfassaden in Purpur. Weiter oben heben sich quecksilberfarbene Wolken vom helleren Himmel ab. Es ist die Stunde der Möwen, zu Hunderten ziehen sie ihre weiten Kreise, urbane Raubvögel, die die Metropole mit schrillem Geschrei und Exkrementen traktieren.

Maria Cristina öffnet den Kühlschrank und sucht etwas, mit dem sie sich in ihrem Frust trösten kann, doch da ist nichts, was Freude macht. Neben einem fettarmen Ricotta, Sojajoghurts, zwei unreifen Avocados und einem Klacks gedämpftem Chicorée darben die Reste eines gekochten Hühnchens vor sich hin. Sie findet ein trübes Glas eingelegte Lupinen, knabbert sie in sich hinein und sammelt die Schalen in der Faust. »Daisy, ich esse heute Abend nicht. Sorg dafür, dass Irene etwas isst, und dann bring sie bitte ins Bett. Greta ist heute nicht da.«

Sie nimmt den Laptop. In ein paar Minuten hat sie eine Videokonferenz mit Domenico, Caterina und Dino Berti, einem der PR-Leute. Keiner hat sich damit abfinden können, dass sie das Interview zugesagt hat.

Sie schaltet die Lichter im Arbeitszimmer ein, die einen langgestreckten, holzvertäfelten Raum mit Bücherregalen und zwei großen Terrassenfenstern ausleuchten. An einer Wand befindet sich eine Art Kino mit riesigem Bildschirm und Lautsprechern. Ein pflaumenfarbenes Samtsofa und ein Holztisch, der an das Deck eines Flugzeugträgers erinnert, vervollständigen die Einrichtung. Seit Domenico Premierminister geworden ist, hat er es nicht mehr betreten. Er hatte dieses wunderschöne Arbeitszimmer, ein großartiges Leben, Zeit für seine Tochter und verdiente einen Haufen Geld. Ein Gespräch mit dem Präsidenten der Republik hat gereicht, um sein Leben zu zerstören.

Maria Cristina setzt sich an den Schreibtisch und vertreibt sich die Zeit bis zur Videokonferenz damit, noch mehr über Nicola Sarti herauszufinden. Der Wikipedia-Eintrag ist dürftig. Geschäftsmann, Sohn eines Bauunternehmers aus Como und einer Grundschullehrerin aus Pescara, Leiter einer internationalen Luxushotelgruppe mit Sitz in Singapur. Vor ein paar Jahren hat er eine neue Hotelkette aufgezogen. Und um es sich an nichts fehlen zu lassen, liebt er Golf, Autos und Segeln. Er hat an der Global Ocean Race teilgenommen, aber sein Boot ist unweit von Cap Horn gekentert. Ihm werden zahlreiche Beziehungen mit Schauspielerinnen und Models zugeschrieben. Er war mit Domitilla Dentini verheiratet, mit der er zwei Kinder hat (sie googelt Domitilla Dentini: eine vulgäre Brünette mit dicken Titten, Weingutbesitzerin in Cividale del Friuli). Wenig mehr Informationen oder Fotos. Ein paar Bilder von ihm in seinen Hotels, eines mit der Bürgermeisterin von Rom, ein paar in kardinalroter Kluft auf dem Segelboot während einer Regatta. In den sozialen Netzwerken ist er nicht vertreten. Wenigstens das.

Das Skype-Signal unterbricht ihre Suche.

Sie streicht sich das Haar zurecht, spiegelt sich im Bildschirm und nimmt den Anruf an. Der Monitor viertelt sich. Domenico ist in einem Hotelzimmer. Caterina in der Küche. Hängeschränke aus weißem Resopal, ein mit Magneten gespickter gelber Kühlschrank und eine Tafel mit der Einkaufsliste. Dino Berti, um die dreißig, mit einer Brille im Gramsci-Stil und Lockenhelm, sitzt in einem gesichtslosen Konferenzraum.

Alle sehen sie schweigend an. Sie wendet den Kopf hin und her, um ihren Carré-Schnitt zu präsentieren.

»Na, was sagt ihr?«

Caterina bricht das verlegene Schweigen als Erste. »Gefällt mir. Steht dir super«, sagt die falsche Schlange übertrieben begeistert. Und liefert Domenico eine Vorlage. »Was sagen Sie, Presidente? Ist sie nicht schön?«

Der Premier knetet sich das Kinn.

Maria Cristina zuckt die Achseln. »Du findest es scheußlich.«

»Nein«, antwortet Domenico so grimmig, dass es wenig glaubhaft klingt.

»Sag’s ruhig. Kein Problem.«

»Nein, ich verstehe es nur nicht.« Er schüttelt widerstrebend den Kopf.

»Was verstehst du nicht?«

Er ringt sich zu einer Antwort durch. »Warum musste es eine so krasse Veränderung sein? Ist das nicht ein bisschen übertrieben? Kurz. Blond. Ich will ja nicht sagen, dass es dir nicht steht, aber …« Er hält sich zurück. »Aber darüber müssen wir ja auch nicht jetzt reden.«

»Doch, lass uns jetzt darüber reden«, beharrt Maria Cristina. Ein Schwall Gereiztheit lässt die Lupinen in ihrem Magen wieder hochkommen, dennoch gelingt es ihr, einen gemäßigten Ton anzuschlagen. »Entschuldige, deine Mitarbeiter sind dabei, die Kommunikationsexperten. Denn ich glaube nicht, dass du mich als deine Frau siehst, die sich die Haare hat schneiden lassen, sondern du nimmst die Perspektive des Ministerpräsidenten ein, der befürchtet, meine Haare könnten dich, was weiß ich, einen halben Beliebtheitspunkt kosten.«

Domenico ist zu clever, um auf die Provokation anzuspringen. »Bitte. Ich bin todmüde. Ich hatte einen höllischen Tag. Können wir vernünftig reden?«

Maria Cristina rückt auf die Stuhlkante und wendet sich an die anderen. »Was sagt ihr, Leute? Sind meine Haare eine Gefahr für die Regierung? Aber deine Meinung zählt nicht, Caterina.«

Die Assistentin legt sich eine Hand auf die Brust. »Meine Meinung?«

»Nein. Zählt nicht.«

»Warum nicht?«

»Du magst mich zu sehr. Du bist meine Freundin.«

Caterina zieht mechanisch die Schultern hoch und blickt sich um.

Maria Cristina setzt ein breites Lächeln auf. »Und du, Dino, was meinst du? Sind meine Haare nicht in Ordnung? Sei ehrlich, wenigstens du.«

Dino Berti mustert sie schweigend durch seine runde Brille, seine Mundwinkel hängen herab wie bei einer in die Hundebox gesperrten französischen Bulldogge. »Von solchen Dingen habe ich …« Er ringt nach Worten. »Ich bin kein Fachmann. Vielleicht, na ja, vorher waren sie auch schön. Man muss sich nur dran gewöhnen. Eine große Veränderung.«

»Ich meine, gewisse Dinge nimmt man nicht auf die leichte Schulter«, unterbricht ihn Domenico. »Dein Haarschnitt könnte eine Botschaft sein. Vor allem, wenn du, wie du es, ohne jemanden zu fragen, beschlossen hast, dieses Interview machst. Wenn du mit gelben Haaren in diesem Studio auftauchst, vermittelst du damit eine ganz klare Nachricht.«

»Welche denn, Herrgott noch mal?«, stichelt Maria Cristina. Angesichts des großen paranoiden Universums der Beliebtheitsstrategien, in dem der Gatte herumrudert, ist ihr sogar die Wut vergangen.

Domenico blickt sie an und bewegt die Lippen, als wollte er eine große Wahrheit enthüllen, dann fragt er die anderen. »Welche Botschaft vermittelt sie mit diesem Haarschnitt?«

Die beiden bleiben stumm und wissen nicht, was sie antworten sollen. Schließlich kommt Berti seinem Chef zuhilfe. »Tja, Blond ist traditionell von den Frauen der Rechten besetzt, fälschlicherweise könnte es also als ausgestreckte Hand für die Rechtspopulisten verstanden werden.

»Stimmt«, stimmt Caterina zu und sagt das, was alle hören wollen. »Wir sollten die Raupe fragen.«

Die Raupe. Der Mann, der an den Schrauben der Welt dreht. Er ist der Einzige, der den Sinn dieses Haarschnitts erfassen und seine unmittelbare, mittel- und langfristige Wirkung ermessen kann.

»Richtig. Fragt ihn. Falls was dagegenspricht, sagt Bescheid, und ich setze mir eine Perücke auf«, ätzt Maria Cristina zurück. »Aber das Interview mache ich. Punkt.«

»Hattest du nicht Panik vor dem Fernsehen?«, fragt Domenico. »Was ist passiert?«

»Mit der Panik werde ich schon fertig. Wir fanden einander sympathisch. Sie war nett.«

»Das will ich sehen«, feixt er höhnisch. »War ja klar, dass sie dich rumkriegt.«

»Sie hat gesagt, mit mir würde sie was anderes, Persönlicheres machen, eine Unterhaltung unter Freundinnen …«

»Aber ihr seid keine Freundinnen«, fällt ihr Mann ihr ins Wort und breitet die Arme aus. »Zumindest nicht, dass ich wüsste.«

Maria Cristina schweigt.

»Hör mal, die ist nicht mal mit ihrer Katze befreundet. Sie hat dich über den Tisch gezogen. Du hättest ihr sagen sollen, dass du nicht kannst, ohne weitere Erklärungen, und die Sache wäre gegessen gewesen.« Domenico springt auf und nimmt ein Glas Bier von einem Tablett. »Caterina, entschuldige, aber ich begreife nicht, warum du dieses Treffen zugelassen hast. Hätte man das nicht alles per Mail erledigen können? Jetzt stecken wir schön in der Scheiße, wenn ihr’s genau wissen wollt.«

Maria Cristina senkt den Kopf, der Frust schnürt ihr die Kehle zu.

Caterina Gamberini verteidigt sich. »Eigentlich hatten wir befürchtet, ein direktes Nein könnte sich auf Siniscalchi auswirken, der morgen hingeht. Sie hat schon damit gedroht, sich Motica als Verstärkung dazuzuholen. Und vergessen Sie nicht, Ihr Interview steht auch noch an.«

Der Premier tigert noch immer im Zimmer umher. »Wer ist ihr?«

»Das von Ihnen, Presidente.«

Er setzt sich wieder aufs Bett und schnäuzt sich mit einem weißen Baumwolltaschentuch die Nase.

Maria Cristina hebt den Zeigefinger. »Darf ich was sagen?«

Domenico hockt zusammengesunken da, starrt auf sein Handy und nickt.

»Also …« Sie räuspert sich. »Ich glaube, dass mein Interview sehr wohl nützlich sein könnte. Du verlierst an Zustimmung, das weiß selbst ich. Wenn ich unaufgeregt bin, wenn …« Ihr fällt das Wort nicht ein. »Wenn ich liebenswert bin, dann könnte ich dir hilfreich sein. Ich werde von meinen früheren Tiefschlägen erzählen und von dem Glück, dass du und Irene mir schenkt. Ich werde davon erzählen, wie sehr du dich für Italien einsetzt. Ich werde mich an die Frauen wenden, die gezwungen sind, berufstätig und Mütter zu sein und sich in einer Welt wie dieser um ihre Kinder zu kümmern.« Sie redet ins Blaue, aber sie darf nicht aufhören. »Wie auch immer, ich werde versuchen, den Menschen näherzukommen. Ich habe noch nie über mich gesprochen. Ich war immer nur der Schatten an deiner Seite. Die Leute sind neugierig zu erfahren, was ich denke. Bestimmt kassiere ich einen Haufen Schmähungen, aber viele werden mich auch unterstützen. In diesen zwei Jahren habe ich in guten wie in schlechten Zeiten meine Rolle gespielt. Ich habe dir zur Seite gestanden, weil ich sehe, dass du dich Tag und Nacht für dieses Land aufreibst und leidest.« Mit trockenem Mund blickt Maria Cristina sich suchend nach einem nicht vorhandenen Glas Wasser um. »Ich werde meine Ängste überwinden.«

»Und die Gravitationsströmungen«, murmelt Domenico.

Maria Cristina tut so, als hätte sie ihn nicht gehört. »Ich kann das schaffen.«

Die drei schweigen.

»Ich verstehe, was du vorhast.« Jetzt ist Domenico versöhnlicher. »Und ich danke dir. Ich bin sicher, du würdest dich mit Leib und Seele in die Sache stürzen. Doch es gibt ein Aber. Was ist, wenn sie dich nach Sozialpolitik oder nach der Reform des Gesundheitssystems fragt? Nach den Bootsflüchtlingen? Bleibst du dann stumm? Um ins Fernsehen zu gehen, muss man nicht wissen, was los ist, sondern wie man Fragen ausweicht.«

»Solche Dinge wird sie mich nicht fragen.«

»Wer garantiert dir das?«

»Sie hat’s mir versprochen.«

»Du vertraust ihr«, sagt Domenico und zieht lächelnd den Kopf zwischen die Schultern. »Bestens.«

»Ja, ich vertraue ihr. Und wenn sie mich Sachen fragt, die ich nicht weiß, dann sage ich, dass ich sie nicht weiß und dass das nicht meine Aufgabe ist, meine Aufgabe besteht darin, dafür zu sorgen, dass es dir gut geht und du glücklich bist, damit du Italien besser regieren kannst.«

»Also so eine Art Rotkreuzlerin. Das nimmt dir niemand ab. Und wenn sie nicht lockerlässt? Dino, entschuldige …« Er wendet sich an seinen Assistenten. »Stell ihr eine Frage, wie sie die Reitner stellen könnte.«

Der junge Mann räuspert sich und wiegt den Kopf hin und her. »Ok, na gut … So was wie …« Er schlägt einen Journalistentonfall an. »Wie Sie wissen, haben italienische Familien mit dem Anstieg der Energie- und Rohstoffpreise zu kämpfen. Viele Analysten sind der Ansicht, Ihr Mann müsste bei der Einkommenspolitik härter durchgreifen, Steuern für Angestellte und Rentner senken, die Lohnschere schließen, den Einkommenssteuersatz unter dreißigtausend Euro drücken und für eine flächendeckende Steuerbefreiung des Leistungsentgeltes sorgen. Stattdessen ist eine Vermögenssteuer im Gespräch, bei der sich ein Großteil der Regierungskoalition querstellt. Angesichts der internen Unstimmigkeiten in der Mehrheit wären womöglich vorsichtigere Schritte angebracht.«

Die drei blicken einander an und starren dann auf das kleine Quadrat, in dem Maria Cristina schluckt.

»Klar, dass ich von diesen Dingen keine Ahnung habe. Ich würde antworten, dass sie dich danach fragen soll. Aber sie wird mir solche Fragen nicht stellen.«

»Mein Schatz, das weißt du nicht.« Domenico nähert sich der Kamera. »Ich will einfach nicht, dass du ins Schleudern gerätst, vergiss nicht, das ist live, da gibt’s kein Zurück. Und was, wenn dir nicht wohl ist und du anfängst zu schwitzen? Ich will nicht, dass du später darunter leidest, was man über dich schreibt, ich weiß, welche entsetzliche Überwindung es dich kostet, ins Fernsehen zu gehen. Wenn du mir unbedingt helfen willst, suchen wir eine passendere Sendung.«

»Vielleicht bei Netter Nachmittag«, schlägt Caterina vor. »Das kriegen wir sofort hin. Girardi ist einer von uns.«

Der Moderator Mino Girardi ist ein unterwürfiger Schleimer und Netter Nachmittag eine trostlose Sendung, in der Realityshow-Promis, greise Schauspielerinnen oder Sänger von Sanremo zu Wort kommen. Maria Cristina behält ihre Gedanken für sich, und ein Schleier Traurigkeit senkt sich auf sie herab. Aber man kann ihnen nicht widersprechen, sie haben recht, es ist zu riskant, wieso will sie sich das Leben schwer machen? Vor der Reitner blöd dazustehen, ist ihr ein bisschen unangenehm. Sie hatte es ihr versprochen. Na ja. Die kommt drüber weg. »Ok. Schluss. Ich hab’s kapiert«, versucht sie die Diskussion zu beenden.

»Mein Schatz, wenn du in so eine Sendung gehst, kannst du sagen, was immer du willst, dir nachher alles noch einmal ansehen und dir die Momente raussuchen, in denen du dir am besten gefällst. Das könnte mir tatsächlich helfen.« Domenico schlägt den Ton an, mit dem er Irene zu überreden versucht, zum Zahnarzt zu gehen.

»Dann gehe ich nirgendwo hin.«

Die drei nicken gefasst und anteilnehmend.

»Und was machen wir jetzt mit der Reitner?«, fragt der Premier zupackend.

»Nehmen Sie Ihre Frau mit nach London, zum Treffen mit Meyer«, sagt Berti und notiert sich etwas in seinen Kalender.

»Großartige Idee. Hast du Lust, nach London zu fahren?«, fragt Domenico. »Wir nehmen Irene mit.«

Maria Cristina ist am Ende. »Ich weiß nicht. Lass uns in Ruhe darüber reden. Entschuldigt, ich bin müde. Ich verabschiede mich.«

Eine halbe Stunde später ruft Domenico wieder an. »Ich habe mir überlegt, wenn du spontan bist, wenn du erzählst, wie wenig du dich dieser Rolle gewachsen fühlst, wenn du Dinge sagst, die man nicht erwartet und die das Publikum spalten, könnte es mit der Reitner funktionieren.«

Maria Cristina ist überrascht. »Hast du deine Meinung geändert?«

»Ja. Ich finde es richtig, dass du da hingehst und in vorderster Front kämpfst.«

»Hast du mit der Raupe geredet?«

Domenico zögert unmerklich. »Ja.« Noch eine Pause. »Er sagt, es könnte ein Überraschungscoup werden. Ein paar Tage lang bannen wir die Aufmerksamkeit der Medien und der sozialen Netzwerke. Das kann funktionieren. Aber du musst dich vorbereiten. Du wirst sehen, das wird ein Erfolg. Wenn du willst, rede ich mit der Reitner.«

»Nein. Das ist nicht nötig.«

Die Macht der Raupe ist gewaltig. Domenico ist ihr wehrlos ausgeliefert und hat nicht einmal mehr Schamgefühl genug, es zu verbergen.

Als sie nicht antwortet, fasst er nach. »Zufrieden? Ich sehr.«

»Ja.«

In Wahrheit hat sie keine Lust mehr. Nach der Videokonferenz ist die Enttäuschung Erleichterung gewichen. Eine Last ist von ihr abgefallen. Und die Vorstellung, mit Irene nach London zu fahren, mit ihr ins British Museum zu gehen und nach Lust und Laune zu shoppen, ist ihr alles andere als zuwider gewesen. Aber nach allem, was sie gesagt hat, kann sie jetzt keinen Rückzieher machen. In was für eine Scheiße hat sie sich da reinmanövriert?

Domenico schlägt einen geschäftigen Ton an. »Ach, morgen komme ich nicht nach Hause. Die Sache in Turin zieht sich hin. Was hast du so vor?«

»Keine Ahnung«, gähnt Maria Cristina. »Ich will schlafen. Mir tut der Zeh weh.«

»Was sagt der Arzt?«

»Ich habe nicht mehr mit ihm geredet.«

»Hör mal, Liebling, denkst du dran, dass wir morgen Abend zur Premiere der Tosca gehen sollten? Ich kann nicht. Du musst allein hin. Das wäre wichtig.« Er sucht nach Worten. »Die Gilardoni wird auch da sein. Mit dieser Geschichte, dass sie meine Geliebte ist, muss Schluss sein. Das Gerede nimmt einfach kein Ende und gehört ein für alle Male abgewürgt. Es ist nicht gut für dich, nicht gut für mich und vor allem nicht gut für unsere Tochter. Ihr lasst euch zusammen sehen, wie Freundinnen. Damit demontieren wir diese Fakenews.«

Maria Cristina setzt sich aufs Bett und denkt an die nonchalante Noblesse, mit der ihre Großmutter Seitensprünge zu behandeln pflegte. Paarangelegenheiten nannte sie das. »Ist die Idee von dir oder von der Raupe? Und nur der Neugierde halber: Ist die Gilardoni deine Geliebte? Sag mir bitte die Wahrheit.«

»Bist du irre? Wie kommst du denn darauf?«

»Lüg mich nicht an, das habe ich nicht verdient«, beharrt sie. »Hättest du nicht damit angefangen, ich hätte keine Fragen gestellt. Gehörnt meinetwegen, aber an der Nase herumgeführt nicht.«

»Maria Cristina, hör mir zu.« Domenico betont die Worte wie bei einer Gedenkveranstaltung für das Massaker in den Ardeatinischen Höhlen. »Ich habe keine Affäre. Wie kannst du das nur glauben? Ich bin mit dir zusammen und Schluss.« Er verfällt in einen wehleidigen Ton wie Atlas, der vom Tragen der ganzen Welt Nackenschmerzen hat. »Und selbst, wenn ich wollte, ich habe doch kaum Zeit, Luft zu holen. Siehst du nicht, wie’s mir geht? Scheiße noch mal, in letzter Zeit klappt einfach gar nichts mehr. Meine Partei geht vor die Hunde. D’Antonio führt einen komplett sinnlosen Krieg gegen mich. Die Menschen …«

»Stopp, ich flehe dich an. Bitte nicht die Leidensliste. Vergiss nicht, niemand hat dir die Pistole auf die Brust gesetzt. Du hast das Amt des Premierministers aus freien Stücken angenommen. Ich habe dich lediglich gebeten, mir zu sagen, ob die Gilardoni deine Geliebte ist. Um zu wissen, wie ich mich verhalten muss.«

»Zwischen der Gilardoni und mir war nie was. Die gefällt mir nicht mal. Willst du, dass ich es beim Leben unserer Tochter schwöre?«

»Tu’s bitte nicht.«

»Hör zu, Maria Cristina, wie du am eigenen Leib erfahren durftest, kommen die Bosheiten dieser Welt vor allem von den Menschen, die einem nahestehen. Diese Geschichte hat dieser Judas Siniscalchi in die Welt gesetzt, den ich sogar zum Minister gemacht habe. Uns bleibt nichts erspart. Es gibt keine geschützten Räume. Wir müssen uns verteidigen. Uns einen undurchdringlichen Panzer zulegen. Wie Igel.«

Maria Cristina hebt eine Augenbraue. »Igel? Was für Igel? Seeigel?«

»Nein, nein, Landigel. Du rollst dich zusammen und stellst die Stacheln auf. Selbst Wölfe können Igeln nichts anhaben. Diese Geschichte mit der Gilardoni ist eine gezielte Attacke, um mich zu diskreditieren. Die Leute lieben das Märchen von Maria Tristina, dem hübschen, gehörnten Ding, das von seinem Mann betrogen wird.«

»Genau darüber werde ich mit der Reitner reden. Ich werde erklären, dass du und ich zwei eigenständige Wesen sind.« In Maria Cristinas Worten schwingt eine leise Drohung mit, die ihrem Ehemann entgeht.

»Gut. Aber morgen Abend musst du rattenscharf aussehen. Mit dem neuen Haarschnitt und einem Wahnsinnskleid wird allen aufgehen, dass die Gilardoni gegen dich einpacken kann.«

Maria Cristina reibt sich die Augen, sie ist sich nicht sicher, ob sie diesen Tag überlebt. »Du kannst so viele Geliebte haben, wie du willst. Mir ist es wurst, mit welchen Schlampen du dich abgibst. Es darf nur keiner wissen. Denk dran, du bist der Premier, die erwischen dich sofort. Und wenn sie dich erwischen, verlasse ich dich noch am selben Tag. Du weißt Bescheid, ich habe dich gewarnt. Ist mir scheißegal, ob du Ministerpräsident bist.«

»Ich schwöre dir, ich habe echt nichts am Laufen. Wie könnte ich auch, bei so einer Frau. Erst recht nicht mit dieser Prollstute Gilardoni.« Weil Domenico seine Munition verschossen hat, verlegt er sich aufs Blödeln. »Die stinkt sogar nach Achselschweiß.«

»Hör auf.«

»Also, gehst du hin?«

Maria Cristina lässt ein paar Sekunden verstreichen, ehe sie antwortet. »Ok.«

»Und das mit der Pizza für den Belgier? Hast du das angeleiert?«

»Ja«, lügt sie.

»Danke. Ich liebe dich.«

»Ich dich auch.«