»Ich lag daneben. Die Zuwanderer aus dem ehemaligen Ostblock kommen doch!«, berichtet mir Kourtidis voller Freude.

»Deine Analyse war falsch«, sage ich im Tonfall eines einstigen Politkommissars. »Gut, sie haben auch zu Zeiten des Sozialismus in Armut gelebt, aber hier können sie protestieren, was dort unmöglich war. Das ist der Unterschied.«

»Man merkt, dass Sie ein alter Hase sind«, meint er. »Es ist genau so, wie Sie sagen: Ihre Motivation ist nicht der Kampf gegen die Armut, sondern die Teilnahme an einer Kundgebung. Armut ist für sie nichts Neues, öffentlicher Protest aber schon. Mein bulgarischer Nachbar etwa sagte sofort zu, nur weil er noch nie in seinem Leben an einer Demo war.«

»Bravo, gut gemacht! So bleiben wir wenigstens nicht völlig unter uns.«

»Ich habe einen Aufruf auf Facebook gepostet. Darüber kommen vermutlich auch noch Leute.«

Ich blicke auf meine Uhr, es ist elf. Wir haben die Kundgebung auf zwölf Uhr angesetzt. Dervisoglou habe ich auch erst dann bestellt, es soll niemandem auffallen, wie er in Polizistenmanier das Gelände sondiert.

»Gehen wir«, sage ich zu Kourtidis. »Besser, wir sind ein bisschen früher da. Dann können wir eingreifen, wenn es zu Misstönen kommt.«

Die Gruppe aus dem städtischen Obdachlosenasyl war schneller und ist schon vor uns da. Ich blicke mich um. Zu meiner Erleichterung kann ich Dervisoglou nicht entdecken.

»Meinst du, wir haben heute mehr Teilnehmer?«, fragt mich jemand aus dem städtischen Asyl.

»Das wird sich zeigen. Diesmal sind wir jedenfalls besser organisiert. Vielleicht kommen noch ein paar afrikanische Migranten«, sage ich, weil ich sehen will, wie er darauf reagiert.

Er zuckt mit den Schultern. »Mir ist noch nie ein reicher Afrikaner untergekommen. Alle Armen sind uns willkommen.«

Die weiteren Teilnehmer trudeln alle gleichzeitig ein, als hätten sie sich abgesprochen. Die einen kommen von der Patission-Straße, die anderen vom Alexandras-Boulevard und einige aus dem Park. Auch Dervisoglou ist da. Ich bin froh, dass er auf die Idee kam, in einem organisierten Block zu kommen. Das stärkt mein Vertrauen zu ihm. Charitos hat sich nicht in ihm getäuscht.

»Die, die von der Patission-Straße kommen, sind meine Nachbarn«, meint Kourtidis.

Ich mustere die versammelte Menschenmenge und versuche, die Anzahl der Teilnehmer grob zu überschlagen. Auf den ersten Blick müssen es mindestens dreimal so viele sein wie auf dem Attikis-Platz. Die Afrikaner kann ich nirgendwo

Die Obdachlosen aus dem städtischen Asyl haben eine Rednertribüne aus Holzbrettern gezimmert. Beim Hinaufsteigen hoffe ich inständig, nicht abzustürzen, sollte mich im Verlauf meiner Rede die Leidenschaft packen. Zuerst werfe ich einen Blick auf die Menge, um die Stimmung der Zuhörer zu sondieren. Alle sind ruhig und warten auf den Beginn der Ansprache. Auf dem einzigen Transparent steht: Vereint sind die Armen unbesiegbar! Weit und breit ist keine Polizei zu sehen. Wahrscheinlich ist sie woanders im Park postiert.

»Auf unserer letzten Kundgebung haben wir die Linke zu Grabe getragen«, beginne ich. »Ziel der heutigen Versammlung ist es, die Armen zu einer Bewegung zusammenzuführen.«

Erst jetzt taucht die Gruppe der Afrikaner auf. Sie hält sich ganz am Rande und verfolgt von dort aus das Geschehen.

»Vergesst die Unterscheidung in links und rechts. Heute verläuft die Trennungslinie zwischen Reich und Arm. Ihr könnt sagen, das war schon immer so. Ja, aber früher war die Linke der Rettungsring für die Armen, Schwachen und Verfolgten. Heute ist die Linke tot, und die Armen müssen schwimmen lernen, da sie keinen mehr haben, der sie vertritt und für ihre Rechte einsteht. Die Armen selbst sind die Bewegung. Unsere Kundgebungen haben unter anderem das Ziel, den Armen das Schwimmen beizubringen.«

Ich unterbreche meine Rede, da eine Gruppe von etwa fünfzig Männern und Frauen den Schauplatz betritt. Ihr

»Wir haben gehört, dass ihr eine Kundgebung der Armen macht. Deshalb sind wir hier!«, ruft mir einer von ihnen zu.

»Vielen Dank für eure Unterstützung«, antworte ich ihm.

»Wir sind nicht als Unterstützer hier. Wir sind gekommen, weil wir selber arm sind«, erwidert eine Frau.

»Ihr und arm? Was sollen wir dann sagen?«, bemerkt Stelios mit lauter Stimme.

Die Frau blickt ihn an und sagt: »Siehst du die Kleider, die ich trage? Das sind Restposten aus meinem Laden, den ich aufgeben musste.«

»Meine sind auch aus der Zeit, als ich noch in einer Firma angestellt war«, fügt ein anderer hinzu. »Der Betrieb wurde geschlossen. Ich bin dreiundfünfzig und kann nirgendwo Arbeit finden. Alle stellen nur junge Leute zum Mindestlohn ein, die zwölf Stunden ohne Pause durcharbeiten. Warum sollten sie Gehalt und Versicherungsbeiträge für mich bezahlen, wenn ich in fünfzehn Jahren in Rente gehe?«

»Habt ihr von der Sardinen-Bewegung in Italien gehört?«, ruft eine Frau.

Ich sehe nur fragende Blicke, und auch ich bin ratlos. Da niemand etwas davon gehört hat, erklärt sie: »Die Sardinen-Bewegung besteht aus einfachen Leuten. Mit dieser Bezeichnung wollen sie sagen, dass alle, Italiener und Flüchtlinge, wie Sardinen in derselben Konservenbüchse stecken. Wir hier in Griechenland stecken nicht in derselben Sardinenbüchse, aber wir sitzen im selben Boot. Das müsst ihr endlich begreifen!«

Mensch, Marx, sage ich mir, hast du nicht immer gesagt, das internationale Proletariat wird sich erheben? Kein Hahn kräht mehr nach dem Proletariat. An seine Stelle ist die Mittelklasse gerückt, die wir damals als reaktionäre Wasserträger des bürgerlichen Systems bezeichnet haben.

Ich sehe, wie die Afrikaner Mut fassen und sich etwas näher an die Ausläufer der Kundgebung heranwagen. Ich blicke in die Menschenmenge. Alle sind verstummt und warten auf die Fortsetzung der Rede.

»Vielen Dank, dass ihr gekommen seid«, sage ich zu den Vertretern der Mittelklasse. »Damit spendet ihr uns Mut und Kraft und macht uns klar, dass wir alle zusammengehören. Schließt euch uns an und kämpft gemeinsam mit uns.«

Nach so viel Prügel, die ich in meinem Leben einkassiert habe, schlägt mir jetzt im Alter Applaus entgegen, als ich die provisorische Rednertribüne verlasse. Ich winke die Afrikaner und die Vertreter der Mittelklasse zu mir heran.

»Ihr habt ja gesehen, dass man euch sehr freundlich empfangen hat«, sage ich zu Léopold.

»Es war gut«, antwortet er. »Vielen Dank.«

»Sprecht mit euren Landsleuten, damit beim nächsten Mal noch mehr kommen.«

»Das tun wir, und sie werden kommen.«

Dann sage ich zu den Griechen: »Aber das ist nicht genug.

Es ist, als kehrte ich in meine Jugend zurück, als die Partei mich nach Perama und Asyrmatos schickte, um die Arbeitslosen und Tagelöhner zu mobilisieren. Heute hingegen zählen auch die Angehörigen der Mittelklasse zu den Arbeitslosen.

Kourtidis unterbricht meine Gedanken. »Wir können am Computer Flugblätter entwerfen und ausdrucken«, meint er. »Das kann ich übernehmen.« Dann wendet er sich an die Umstehenden. »Wer gibt mir seine Handynummer? Dann kann ich euch informieren, wenn ihr sie abholen könnt.«

Eine Frau und ein Mann treten vor und nennen ihm Namen und Telefonnummern. Eine andere wendet sich an den Mann neben ihr.

»Ilias, deine Schwester ist doch mit einem Italiener verheiratet. Willst du sie nicht fragen, ob sie weiß, wie sich die Sardinen-Bewegung organisiert? Vielleicht können wir davon etwas lernen.«

»Das stimmt. Ich rufe sie heute noch an.«

Es mehren sich Abschiedsworte und gegenseitige Versicherungen.

»Wir bleiben in Kontakt.«

»Wir werden richtig viele Leute mobilisieren.«

»Das wird eine starke Bewegung.«

Mir fällt auf, dass Dervisoglou mit ein paar Leuten ins Gespräch gekommen ist und in ihrer Begleitung weggeht. Ich

Stelios nähert sich ganz begeistert. »Ein Riesenerfolg!«

»Ja, aber jetzt heißt es die Ärmel hochkrempeln. Kommt, wir haben noch viel vor!«

Mit den Bewohnern unseres Obdachlosenheims gehe ich den gleichen Weg zurück, wie wir gekommen sind. Und mein Herz hüpft dabei vor Freude.