Jake
Wo sie leben
„Casey?“, flüsterte ich und weckte sie aus dem Tiefschlaf. „Hey, ich habe mich gefragt, ob du mit mir eine Spazierfahrt machen möchtest.“
Mit ihren nach allen Seiten ausgebreiteten Haaren und immer noch geschlossenen Augen erschien Casey definitiv nicht in der Verfassung, mir Gesellschaft zu leisten. Ich stupste sie wieder an. „Babe, wach auf. Es ist halb acht.“
„Geh weg“, murmelte sie und ihre schlaffe Hand versuchte, mich wegzustoßen. „Es tut weh, wenn jemand, den du liebst, gemeine Dinge sagt wie ‚Es ist Zeit, aufzuwachen.‘“
Lächelnd fuhr ich eine Strähne ihres Haares nach und steckte sie hinter ihr Ohr. „Ich kaufe dir einen Kaffee, wenn du mit mir kommst.“
Ein Auge tauchte unter dem Kissen auf, das sie über ihr Gesicht gelegt hatte. „Starbucks?“
„Klar. Egal, wo. Aber kein Treffen und keine Begrüßung. Nur Drive-In.“
„Als ob ich will, dass die Leute mich so sehen. Ich sehe aus, als hätte ich einen Kugelfisch verschluckt.“
„Du siehst wunderschön aus.“ Ich kommentierte diese Aussage, oder eine Variante davon, jeden Tag. Das war meine Standardantwort – die einzige Antwort.
Sie entfernte das Kissen vollständig und hob ihre Augenbraue. „Warum bist du so früh wach? Kannst du nicht schlafen?“
„Sowas in der Art.“ In Wahrheit hatte ich kein Auge zugetan, weil ich wusste, was auf mich zukam. „Und es ist halb acht, was für die meisten Leute nicht früh ist.“
Sie zog die Decke über ihren Kopf und versteckte sich, bis ich sie von ihrem Körper wegriss. „Arrhh“, stöhnte Casey.
„Lass uns gehen. Ich gebe dir dreißig Minuten, um dich fertig zu machen.“
„Dreißig Minuten?! Ich bin keine Magierin, Jake.“ Casey warf die Laken von ihrem Körper und ging grummelnd ins Bad: „Aber ich werde tun, was ich kann, um nicht wie ein Troll auszusehen.“
Ich grinste über ihre launische Antwort. „Das ist alles, worum ich bitte.“
Während ich auf Casey wartete, stand ich im Flur und hielt in einer Hand meine Schlüssel und in der anderen einen zwölf Jahre alten Zettel mit einer Liste von kryptischen Wegbeschreibungen, die auf einen versteckten Ort hinwiesen. Ich hatte sie aus dem Gedächtnis aufgeschrieben und es war eine Art Schatzkarte, aber an diesem Ende des Weges würde es keine Belohnung geben. Ich glättete das abgenutzte Papier mit meinen Fingern. Die Liste war mittlerweile fast unleserlich und für mich ohne nennenswerten Wert. Ich brauchte sie sicherlich nicht, um dorthin zu gelangen, wo ich hinwollte. Jede Zeile auf diesem zerfledderten Pergament war für immer in mein Gedächtnis eingebrannt. Um ehrlich zu sein, trug ich es jetzt nur noch zur emotionalen Unterstützung mit mir herum.
Es war eine Erinnerung daran, dass ich nicht verrückt war und dass das, wohin ich ging, mehr war als nur ein Ort war, der in meinen Albträumen lebte. Er war echt und so greifbar wie das Papier in meiner Hand. Und nach heute würde er nie wieder ein Geheimnis sein.
#1. Nimm vom Highway aus die Poplin Rd.
„Du fährst hier rein?“, fragte Casey und musterte die Gegend mit einem verwirrten Gesichtsausdruck. „Ist das hier überhaupt eine Straße?“
#2. Biege nach 5,21 Kilometern nach rechts auf einen Schotterweg ab.
„Nicht offiziell. Es ist ein Hintereingang zu dem Grundstück.“
„Wessen Grundstück? Deines?“
„Nein, nicht meins.“
Ich wich den überwucherten, blühenden Büschen und den Ästen, die so tief von den Bäumen hingen, dass sie mehrmals gegen meine Windschutzscheibe schlugen, geschickt aus. Die unbefestigte Straße, auf der ich fuhr, führte zu einer weitläufigen Farm etwa dreißig Kilometer nördlich von Santa Barbara. Dieser scheinbar ruhige Ort war jedoch alles andere als das. Sein Gelände barg ein schreckliches Geheimnis.
Ich fuhr zu einem verschlossenen Tor, parkte meinen Jeep und sprang hinaus.
„Was ist das, Jake? Sollten wir hier sein? Ist das nicht ein Privatgrundstück?“
#3. Gib 8652 in das Hauptschloss ein.
Ich war seit Jahren nicht mehr hier gewesen und es war möglich, dass sich die Zahlenkombination geändert hatte. Wenn das der Fall war, hatte ich eine Kettenfräse, die mich durch das Tor bringen würde. Doch zu meiner Überraschung gab es gar kein Schloss. Alles, was ich tun musste, war, das
Tor zu entriegeln und aufzudrücken. Ich ging zu meinem Jeep zurück und fuhr weiter.
#4. An der Gabelung nach links auf den Schotterweg.
Caseys Augen waren nun auf mich gerichtet. Sie schien zu begreifen, dass mehr passierte als nur eine gemütliche Nachmittagsfahrt. Ich hielt an.
#5. Alte Scheune mit Metallschindeln.
Ich stieg aus dem Wagen aus, lief herum, um Casey zu helfen, und stand dann einen Moment lang da, starrte auf das alte Gebäude und sammelte meinen Mut. Ich atmete tief ein, ging zur Scheune und legte, wie ich es in unzähligen Träumen getan hatte, meine Hand gegen die ramponierten Bretter. Sie waren ausgetrocknet und unnachgiebig, nicht wie in meinen Albträumen, in denen die Holzbretter einen Puls hatten und Blut aus den Ritzen lief.
„Bedeutet dir dieser Ort etwas?“, fragte Casey und umklammerte meinen Arm.
Ich hörte ihre Worte, war aber zu gefangen in dem Moment, um sofort zu antworten.
„Jake? Was ist das für ein Ort? Warum hast du mich hierher gebracht?“
„Du hast meine Geheimnisse erfahren wollen.“
Casey blinzelte in die Sonne, als sie die Scheune untersuchte.
„Erinnerst du dich an unsere Flitterwochen, als du mich gefragt hast, wovon ich einen Albtraum hatte?“
„Ja, ich erinnere mich … du hast Geister gesagt.“
„Dieser Ort hier“, sagte ich und wies über die Farm, „sie leben hier.“
„Leben?“, fragte sie, trat von einem Fuß auf den anderen und rieb sich die Arme. Ich konnte sehen, wie eine Gänsehaut an ihnen hochwanderte, als sie sprach. „Was genau zeigst du mir hier?“
„Meinen Alptraum, Casey. Ich zeige dir meinen Alptraum.“
Sie starrte mich für lange Zeit an und ich war mir nicht sicher, ob ich weitermachen oder warten sollte, bis sie verstand. Schließlich trat sie einen Schritt von der Scheune und von mir weg. Das war der Moment, in dem ich wusste, dass sie die Erkenntnis getroffen hatte.
„Hat er dich hierher gebracht?“ Ihre Stimme zitterte, als sie sprach.
„Nein, nicht mich. Andere … fünf andere, um genau zu sein und sind sie hier gestorben.“
Sie trat erneut einen Schritt zurück, aber nun konnte ich echte Angst in ihren Augen sehen. Ich griff Caseys Arme, um sie zu beruhigen. „Scheiße. Das war blöd. Ich hätte dich nicht hierher bringen sollen.“
„Nein, mir geht‘s gut, ich bin nur geschockt. Gib mir eine Sekunde, um das zu verarbeiten, okay?“
Ich nickte, in der Annahme, dass das Warten lange dauern würde, aber Casey war eine entschlossene Frau und hatte in Sekundenschnelle eine ganze Flut von Fragen für mich parat.
„Wie lange weißt du das schon? Hat Ray dir von ihnen erzählt? Sind sie in der Scheune begraben?“ Die letzte Frage war geflüstert, als ob sie nicht wollte, dass die Geister sie hörten.
Ich griff in meine Tasche, zog die Anweisungen heraus und legte sie in ihre Hand.
Casey faltete das Papier auseinander und ich sah zu, wie sie die Wegbeschreibungen las. „Ist es das, was ich denke, dass es ist?“
Ich nickte und berührte die Wand der Scheune. „Eine Karte zu ihnen. Zu den Jungen, die hier gestorben sind.“
„Wo hast du die her?“
„Ich habe die geschrieben … aus dem Gedächtnis … damit ich es nicht vergesse.“
„Dann hat Ray dir also von diesem Ort erzählt? Davon, wie er diese Jungen getötet hat?“
„Ja.“
Sie zeigte auf die Karte. „Woher weißt du, dass er dir die Wahrheit gesagt hat? Vielleicht hat er dich angelogen. Vielleicht ist hier gar nichts.“
„Er hat nicht gelogen, Casey. Es gab für ihn keinen Grund dazu. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte ich den Keller nie lebend verlassen. Was hätte es ihn gekümmert, wenn ich mit seinen Geheimnissen gestorben wäre?“
„Aber es macht keinen Sinn. Er hat all die anderen im Haus getötet. Warum hier?“
„Die hier waren seine ersten Opfer. Das Haus hat ihm nicht gehört, als diese Jungs getötet wurden. Rays Vater hat früher auf dieser Ranch gearbeitet und ihn als Kind hierhergebracht. Er hat jeden Zentimeter dieses Grundstücks gekannt und gewusst, dass das Land so riesig war, dass niemand jemals Schreie aus dieser Scheune kommen hören würde.“
Sie schüttelte den Kopf und war entweder noch nicht bereit, meine Erklärung zu akzeptieren oder einfach nicht in der Lage, sie vollständig zu verarbeiten. Als sie die Liste der Wegbeschreibungen in ihrer Hand noch einmal studierte, schien ihr etwas klar zu werden und sie fragte: „Du bist dieser Karte schon einmal gefolgt, nicht wahr?“
Ja, ich war schon einmal hier gewesen, hatte sogar an ihren Gräbern gesessen und mich für meine Feigheit entschuldigt. Warum konnte ich sie nicht befreien? Was war diese Macht, die Ray über mich hatte? Warum bestand ich darauf, seine Geheimnisse zu bewahren? Um meine Schuld zu mindern, hatte ich anonym Geld an ihre Familien geschickt und für ihre Seelen gebetet, aber ich hatte nie den Mut gehabt, die eine Sache zu tun, die sie von mir verlangt hatten … bis jetzt. Heute übernahm ich wieder die Kontrolle.
In diesem Moment kroch ein seltsames Gefühl meine Wirbelsäule hinauf, das mir Gänsehaut bereitete. Sie waren hier, drängten sich um mich herum und warteten ungeduldig.
Hatten sie gewusst, dass das hier kommen würde? Hatten sie gesehen, dass ich mich in den letzten Wochen mit dem FBI getroffen und sie identifiziert hatte, nicht nur namentlich, sondern auch in Hinblick auf ihre Vermisstenmeldungen? Hatten sie zugesehen, wie Durchsuchungsbefehle gesichert und ein Bergungsplan aufgestellt worden war? Wussten sie von den Gedenkfonds, die ich in ihrem Namen eingerichtet hatte, um ihren Familien bei den Bestattungskosten zu helfen, oder von dem Interview, das ich für den nächsten Tag geplant hatte, um die Entdeckung ihrer Leichen öffentlich anzuerkennen? Erlebten sie Zeit auf die gleiche Weise wie wir und wenn ja, würden sie mir verzeihen, dass ich so lange gebraucht hatte, um mich endlich aus Rays eisernem Griff zu befreien? Und am allerwichtigsten, wenn ich ihnen erst mal ihren Frieden gab, würden sie mir dann endlich meinen gewähren?
Da ich mir selbst nicht zutraute zu sprechen, beantwortete ich Caseys Frage mit einem Nicken.
Sie spürte meinen zerbrechlichen Zustand, legte ihre Hand auf meine Brust und flüsterte: „Warum? Warum hast du nicht einfach … einfach …“
„Jemandem davon erzählt?“, beendete ich ihre Frage, als Scham über meine erhitzte Haut kroch. „Ich weiß nicht, warum.“
Wir standen schweigend da und ihr Ausdruck war schmerzverzerrt … meinetwegen. Sie verdiente mehr, doch die Worte blieben mir in der Kehle stecken. Es gab so viel, das ich ihr sagen musste, aber das erforderte einen Mut, von dem ich nicht sicher war, ob ich ihn besaß.
„Es tut mir leid“, flüsterte ich.
Casey strich mit ihren Händen über mein Gesicht, als eine Träne über ihre Wange lief. „Warum tut es dir leid? Es gibt keinen Grund.“
„Es gibt einen. So viele Gründe. Ich schäme mich so sehr, Case. Ich habe das getan. Ich habe sie all die Jahre hier
behalten. Alles, was ich tun musste, war, es einfach jemandem zu erzählen, irgendjemandem. Sie hatten Leben. Sie hatten Familien … Leute, die sie liebten … Leute, die immer noch nicht wissen, was mit ihnen passiert ist. Ich war der Einzige, der sie retten konnte, und ich habe nichts getan. Ich war so ein verdammter Feigling.“
Casey trat noch näher heran, während ihre Hände immer noch mein Gesicht berührten. „Niemand weiß, wie es war, du zu sein … wie sehr du verletzt worden bist. Du hast das Beste getan, was du konntest, und ich werde dich nie als Feigling betrachten. Du hast sie nicht hierher gebracht, Jake. Das … ist nicht
… deine … Schuld.“
Ich klammerte mich an Casey, als meine Kehle irgendetwas zwischen einem Heulen und einem Brüllen zurückhielt. Warum ich?
Die zwei Worte, die ich mir geschworen hatte, nie auszusprechen, drohten durch meine zusammengebissenen Zähne zu entkommen. Es waren schwache Worte, wirklich erbärmlich und sie hatten es nicht verdient, durchgelassen zu werden. Dennoch konnte mein ganzes Leben durch diese einfache Frage zusammengefasst werden. Von allen, die er sich hätte aussuchen können, warum hatte Ray mich ausgewählt?
Man spricht vom Schicksal – dem vorbestimmten Verlauf des Lebens eines Menschen –, aber ich hatte mich immer geweigert zu glauben, dass ich nur deshalb auf diese Erde gebracht worden war, um das Spielzeug für einen wahnsinnigen Mörder zu sein. Und so hatte ich daran gearbeitet, mein Schicksal zu ändern, indem ich meine Seele in die Musik geschüttet hatte und mir außerhalb von Rays wahnsinniger Kontrolle einen Namen gemacht hatte. Ich hatte mich wieder mit meiner Familie verbunden und lebenslange und dauerhafte Bindungen geschlossen. Und, was am wichtigsten war, ich hatte mein Herz für eine schöne Frau geöffnet und mir selbst erlaubt, zu lieben.
Ich hatte all diese Dinge getan, um zu beweisen, dass mich das Schicksal nicht bestimmte. Aber jetzt wurde mir klar, was für ein Narr ich gewesen war. Ich konnte meine Geschicke ändern, so viel ich wollte, doch meinem Schicksal konnte ich niemals entrinnen. Fast mein ganzes Leben war in seinen Fängen gelebt worden. Rays Geheimnisse waren nun meine eigenen und seine Verbrechen waren zu meinem Kreuz geworden, das ich zu tragen hatte.
Als wäre es nicht schon schlimm genug, dass er mir meine Freiheit und meine Unschuld genommen hatte, hatte Ray auch jede Chance auf ein friedliches Leben vernichtet, indem er mir seine Erinnerungen mit seinen prahlerischen Behauptungen über Tod und Zerstörung aufgezwungen hatte. Ich konnte nachts nicht einmal meine Augen schließen, ohne Angst zu bekommen, dass seine Opfer mich im Schlaf besuchten. Jack, Anton, Ren, Wilson und Felix. Ich kannte ihre Namen und hatte ihre Gesichter gesehen, sowohl tot als auch lebendig. Ich kannte die Städte, in denen sie gelebt hatten, bevor Ray sie zerstört und gewusst hatte, wer ihre Familien waren und wie sie im Leben gewesen waren. Aber ich wusste auch, was ihre letzten Worte gewesen waren, wie sie gestorben und wo sie begraben worden waren. Ich wusste all dies, weil Ray mich für alle Ewigkeit an sie gebunden hatte.
Und als ich nach Hause gekommen war, als tragische Hülle meiner selbst, hatte ich versucht zu vergessen und sie jahrelang aus meinem Gedächtnis verbannt, bis sie eines Tages ihren Weg durch die Barrieren meines Verstandes gefunden und in meine Träume eingedrungen waren. Es waren überhaupt keine Geister, sondern lebendige Erinnerungen, die mir von dem Mann aufgezwungen worden waren, mit dessen Schicksal ich für immer verbunden war.
Ja, ich hätte es jemandem erzählen sollen, aber wie Casey schon sagte, niemand wusste, wie es war, ich zu sein. Es gab kein Handbuch für mich, das ich hätte studieren können, oder
irgendeinen erprobten und wahren Weg, dem ich folgen konnte. Ich musste alleine meinen Weg durch die Hölle finden und die Fehler, die ich gemacht hatte, hatten mich hierher in die liebevolle Umarmung der Frau gebracht, die bereit war, mir meine Sünden zu vergeben, aus keinem anderen Grund als ihrer Liebe zu mir und ihrem Vertrauen darauf, dass mein Herz gut war.
„Ich habe dir Antworten versprochen, Casey, und ich bin bereit, mich für dich zu öffnen, aber zuerst muss ich noch etwas tun. Ich werde seine Geheimnisse nicht mehr für mich behalten. Das hier endet heute.“
Ich wies mit meinem Kopf in Richtung einer Reihe von SUVs, die in unsere Richtung fuhren. Sie waren durch das Haupttor am Haupthaus hereingekommen, wo sie zuerst hatten anhalten müssen, um den Durchsuchungsbefehl abzugeben. Dort hatte ich sie auch treffen sollen, aber mein Bedürfnis, der Karte zu folgen, war zu stark gewesen. Dies würde das letzte Mal sein, dass ich hierher kam. Nach heute würde ich diese morbiden Anweisungen verbrennen und nie wieder Schuldgefühle für sie empfinden.
Als Antwort auf Caseys fragendes Starren antwortete ich: „Sie gehören zu mir.“
Casey blieb für den Rest meines Vorhabens im Hintergrund, wobei sie sich tapfer wehrte. Ich verstand, dass sie für mich da sein wollte, doch das hier war etwas, das ich alleine zu Ende bringen musste. James, der in einem der Fahrzeuge gekommen war, blieb mit Casey bei der Scheune. Ich brauchte ihn nicht, denn je näher ich dem Ende kam, desto stärker fühlte ich mich.
#6. Genau nach Süden. Ein einzelner Felsbrocken auf der Wiese mit fünf in den Stein gemeißelten Markierungen.
Ich führte die Agenten zu der Stelle auf der Karte, wo die
Leichen gefunden werden konnten, und ging ihnen dann wieder aus dem Weg und beobachtete sie bei der Arbeit. Obwohl es unter den FBI-Agenten einige Zweifel gab, dass irgendetwas gefunden werden würde, wusste ich es besser. Sie waren dort und warteten. Bald würde ihr Fegefeuer ein Ende finden und dann würden sie frei sein.
Ich hatte lange gebraucht, um das Falsche zu berichtigen, doch jetzt, wo ich es getan hatte, bestand meine Hoffnung darin, dass mir vielleicht ein bisschen Frieden bleiben würde. Mein Schicksal mochte mit dem von Ray verbunden gewesen sein, aber er hatte nicht mehr Rechte an unserer Geschichte als ich. Ich konnte und würde die Erzählung ändern. Er durfte das Ende nicht schreiben. Ich schon.
Etwa eine Stunde nach Beginn der Ausgrabung erregte plötzliche Unruhe meine Aufmerksamkeit. Da wusste ich es, ich konnte es fühlen. Sie waren gefunden worden. Als ich einen Seufzer der Erleichterung ausstieß, ließ die Enge in meiner Brust augenblicklich nach. Mit leiser Stimme sprach ich zum letzten Mal zu ihnen. „Ruhet in Frieden, Brüder.“
Endlich waren sie auf ihrem Weg nach Hause.
Später an diesem Abend lagen Casey und ich unter Decken am Kamin und nippten an heißer Schokolade. Es war eine dieser seltenen Nächte in Los Angeles, in denen die Temperaturen auf den Gefrierpunkt fielen. Und ja, während ich mir bewusst war, dass solche Temperaturen in einigen Teilen des Landes als geradezu mild angesehen wurden, waren wir hier in Südkalifornien ein Haufen lächerlicher Kaltwetter-Weicheier.
„Meine Zehen sind steif gefroren“, klagte Casey, bevor sie es mir bewies, indem sie mit ihren eisgekühlten Zehen über mein Bein fuhr.
„Hör auf“, protestierte ich und zuckte vor ihr zurück.
„Wegen dir bekomme ich noch Frostbeulen.“
„Wo wir gerade von Frostbeulen sprechen, ich mache mir Sorgen um die Orangenbäume im Garten. Glaubst du, sie werden erfrieren und sterben?“
Ich hatte nicht viel Erfahrung mit arktischen Temperaturen, aber die Annahme, dass tropische Bäume genauso verwöhnt und zerbrechlich sein würden wie wir südkalifornischen Babys, schien mir logisch zu sein. „Wahrscheinlich, ja.“
„Vielleicht solltest du jetzt rausgehen und die reifen Orangen pflücken, damit sie nicht alle sterben und verkümmern.“
„Siehst du, hier stelle ich deinen Gebrauch von Pronomen in Frage. Es hat so geklungen, als wolltest du, dass nur ich
ins eisige Freie gehe … um für dich
Orangen zu pflücken.“
Casey lachte, während sie die Decke höher zog. „Okay. Du hast recht. Lass die Orangen einen eisigen Tod sterben. Wenn es die Wahl zwischen saftigen, bunten Früchten und deinem Sack gibt, werde ich jederzeit die Familienjuwelen pflücken. Dieses Baby wird auf keinen Fall ein Einzelkind sein.“
„Ich will auf keinen Fall, dass es ein Einzelkind wird.“
„Wirklich?“, sagte sie und sah mich mit Sternen in den Augen an. „Du willst mehr?“
„Na ja, lass uns erst mal das hier aus dir herausbekommen, aber ja, warum sollte ich nicht?“
„Na ja, du warst anfangs nicht wirklich begeistert von dem Kleinen“, flüsterte Casey, während sie auf ihren vergrößerten Bauch zeigte. „Ich will nicht, dass es das hört.“
Ich streckte meine Hände aus und berührte ihren Bauch, bevor ich mich vorbeugte und mein Baby küsste. „Ich bin jetzt bereit.“
Casey fuhr mir mit ihren Fingern durchs Haar und wärmte mich mit ihrem liebevollen Blick und ihrer sanften Berührung. „Bereit wofür, Babe?“
„Für ihn. Für meinen Sohn. Ich bin bereit, Vater zu sein.“