Seit vier Tagen schneite es nahezu ununterbrochen. Die Schneeverwehungen türmten sich an die sechs Meter hoch, Züge steckten auf den Gleisen fest, und die Straßen waren nicht mehr passierbar. Die Infrastruktur war vollständig zum Erliegen gekommen. Ganz Schleswig-Holstein lag unter einer dicken Schneedecke. Vielerorts war der Strom ausgefallen, zahlreiche Dörfer waren von der Außenwelt abgeschnitten. Doch die Not hatte die Menschen zusammengeschweißt. Gemeinsam kämpften sie mit ihren Schneeschaufeln unermüdlich gegen die weißen Massen. So auch in dem kleinen Ort Hederup.
Es war gegen sechs Uhr morgens, als Enno Hansen, ein achtundvierzigjähriger Malermeister, in seine gefütterten Stiefel stieg und vor die Haustür trat. Er hatte eine unruhige Nacht hinter sich. Die Heizung war schon vor Tagen ausgefallen, und die Wände waren vollständig ausgekühlt, deshalb schliefen sie zu viert im elterlichen Schlafzimmer, die Kinder zwischen ihm und seiner Frau, alle in mehrere Schichten Kleidung eingemummelt. Natürlich war es viel zu eng. Immer wieder fand sich ein fremdes Körperteil in seinem Gesicht oder stieß ihm gegen den Bauch. Erst in den frühen Morgenstunden hatte er schließlich in den Schlaf gefunden, nur um kurz darauf von dem Kratzen der ersten Schneeschaufeln geweckt zu werden.
Draußen schlugen ihm Dunkelheit und beißende Kälte entgegen. Die Temperaturen waren über Nacht in den zweistelligen Minusbereich gerutscht. Starker Wind peitschte ihm die Schneeflocken wie tausend kleine Nadelspitzen ins Gesicht.
Er zog den Schal ein wenig höher, sodass nur noch seine Augen hervorlugten, und griff mit seiner behandschuhten Hand nach der Schaufel, die neben dem Eingang lehnte. Bereits nach wenigen Minuten war er unter seiner dicken Winterkleidung schweißüberströmt und völlig aus der Puste.
»Moin«, kam es von der Einfahrt des Nachbargrundstücks, als Enno schließlich einen schmalen Streifen von der Haustür bis zum Gehweg freigelegt hatte.
»Moin, Nils«, begrüßte er den Nachbarn. Ihre Familien wohnten seit rund fünf Jahren nebeneinander, doch bis auf das tägliche »Moin« oder belangloses Geplänkel über das Wetter hatten sie kaum ein Wort miteinander gewechselt. Das hatte sich erst mit dem Schnee geändert. Hilde, Nils’ Frau, hatte in den letzten drei Tagen auf ihrem alten Kachelofen Eintopf für sich und die halbe Nachbarschaft gekocht, und der hatte nicht nur ihre Mägen gefüllt, sondern auch ihrer aller Seelen erwärmt. So hatte er erfahren, dass Nils fast zwanzig Jahre lang zur See gefahren war, ehe er wegen eines Rückenleidens in den Innendienst bei der Wasser- und S chifffahrtsdirektion gewechselt hatte. »Mach mal langsam, Nils. Ich kann für dich mitschippen.«
»Das wäre ja noch schöner«, brummte sein Nachbar. Sein Bart hing voller kleiner Schneekristalle. »Man fragt sich bloß, wann das endlich aufhört.«
»Das weiß nur Gott allein«, sagte Enno.
»Und vermutlich noch nicht einmal der.«
Sie lachten und fuhren einträchtig damit fort, den Gehweg freizulegen. Aus den angrenzenden Häusern kamen immer weitere Nachbarn heraus und griffen nach ihren Schneeschaufeln.
Eine eigenartige Atmosphäre lag über ihrer kleinen Straße. Jeder hing seinen eigenen Gedanken nach, und trotz der kratzenden Geräusche herrschte eine nahezu friedliche Stille.
Enno fuhr schnaufend mit der Arbeit fort und machte auch an der Grundstücksgrenze zum nächsten Nachbarhaus nicht halt. Dort war es hinter den Fenstern noch immer dunkel. Kein einziger Kerzenschein war zu sehen. Offenbar schliefen die Bewohner noch. Die Glücklichen, dachte Enno.
Er pausierte einen kurzen Moment, um wieder zu Kräften zu kommen. Es schien ihm, als hätte der Schneefall ein wenig nachgelassen, und auch der Wind blies nicht mehr ganz so stark wie zuvor. Vielleicht hatte der Wettergott endlich ein Einsehen mit ihnen. Sein Haar unter der dicken Wollmütze war vor Anstrengung klatschnass. Hoffentlich holte er sich hier draußen keine Lungenentzündung. Am besten, er blieb in Bewegung.
Enno arbeitete sich Stück für Stück voran. Das größte Problem war, dass niemand mehr wusste, wohin mit dem ganzen Schnee. An den Ausfahrten der Grundstücke türmten sich die Schneeberge, die Straßen waren als solche nicht mehr erkennbar, und auch neben ihm erhob sich eine hohe weiße Wand. Irgendwo darunter befanden sich die geparkten Autos, die noch vor zwei Tagen anhand der gewölbten Hauben auszumachen gewesen waren. Jetzt ertranken sie förmlich im Schnee.
Vor ihm stieß seine Schneeschaufel auf ein Hindernis, und ein gelber Farbfleck geriet in sein Sichtfeld. Es sah aus wie ein Stück Stoff. Eine Jacke, schoss es Enno in den Sinn. Lag dort etwa ein Mensch? Er sog scharf die Luft ein. Dann drehte er sich um. »Nils, komm mal her!« Auf dem freigeschippten Weg hinter ihm hatte sich bereits wieder ein dünner weißer Teppich gebildet.
Sein Nachbar stapfte zu ihm heran, das Gesicht unter der Mütze gerötet, der Bart schien nur noch aus Eis und Schnee zu bestehen.
»Schau mal.« Enno deutete auf das gelbe Stück Stoff. »Ich glaube, da liegt jemand.«
Die beiden Männer gingen dichter heran. Nils bückte sich und schob mit der Hand vorsichtig den Schnee beiseite. Ein steif gefrorener Arm in einer gelben Jacke kam zum Vorschein.
»Herr im Himmel«, rutschte es Enno von den Lippen.
»Der kann auch nicht mehr helfen.« Nils richtete sich wieder auf. »Wer immer dort liegt, hat seinen letzten Atemzug längst getan.«