2. Kapitel

Flensburg, Deutschland – drei Tage später

Kriminalkommissarin Vibeke Boisen trat durch die grüne Rundbogentür der Polizeidirektion und nahm die Treppe bis in den dritten Stock, wo die Räume der Mordkommission untergebracht waren.

Es war der erste Tag des Jahres, und der Flur mitsamt den angrenzenden Räumen lag still und verlassen da. Auf einigen Schreibtischen standen noch immer die Adventsgestecke, im verwaisten Büro ihrer Mitarbeiter hing die bunte Lichterkette, die Connie bereits Ende November um das Fenster drapiert hatte, an Ort und Stelle, und auch das Rentier, das fröhlich »Rudolph, the Red-Nosed Reindeer« trällerte, sobald man auf die rote Plastiknase drückte, thronte unverändert mittig auf den beiden zusammengeschobenen Schreibtischen.

Vibeke würde nie verstehen, weshalb manche Leute solche Dinge schön fanden. Sie hasste Weihnachten und alles, was damit einherging. Den Geschenketerror, die Menschenmassen, die sich plötzlich samt blinkendem Geweih oder Nikolausmütze durch die Fußgängerzone schoben, die unerträgliche Weihnachtsdudelei in den Geschäften, dazu die ständige Völlerei und das ganze Harmoniegehabe, den vulkanartigen Ausbruch von Liebe. So als ginge das alles per Knopfdruck. Oftmals gipfelte das Fest der Liebe in einem heillosen Familienstreit. Studien belegten, dass in der Zeit von Weihnachten bis Neujahr die Zahl der Suizide, Morde und Unfälle rasant anstieg. Es waren die tödlichsten Tage des Jahres.

Vibeke entzog sich dem Trubel, indem sie den größten Teil ihres Jahresurlaubs im Dezember nahm und spätestens eine Woche vor den Feiertagen verschwand. Dieses Jahr war sie auf Langeneß gewesen, einer der nordfriesischen Halligen. Eingedeckt mit zahlreichen Lebensmitteln und Büchern, hatte sie sich in einem kleinen Ferienhaus mit Meerblick einquartiert und an Weihnachten anstatt auf blinkende Girlanden auf Wiesen und Wasser geschaut.

Im Gegensatz zu ihrem Vater Werner, von dem sie von Jahr zu Jahr mehr den Eindruck gewann, er würde sich ihr am liebsten anschließen, hatte sich ihre Mutter Elke bis heute nicht mit ihrer Abwesenheit abgefunden. Meist war sie bis zu ihrem Geburtstag in der ersten Januarwoche verstimmt.

Die Boisens waren nicht ihre leiblichen Eltern, und der Grund für Vibekes Abneigung gegen Weihnachten lag tief in ihrer Kindheit vergraben. Hin und her geschoben zwischen Pflegefamilien und Heimen, hatte sie erst als Elfjährige bei Elke und Werner ein Zuhause gefunden. Zuvor hatte die Weihnachts- und Adventszeit für sie zu den dunkelsten Wochen des Jahres gezählt.

Vibeke drängte die Gedanken beiseite und bereitete sich in der Küche einen Kaffee zu, ehe sie auf ihr Büro am Ende des Flurs zusteuerte. Der Raum war kaum größer als eine Besenkammer. Ein Schreibtisch, zwei Stühle und ein Aktenschrank auf ausgetretenem Teppichboden. Die Luft war feucht und abgestanden.

Vibeke stellte den Kaffeebecher auf ihrem Schreibtisch ab und entdeckte ein in goldenes Geschenkpapier gewickeltes Päckchen samt handgeschriebener Karte neben ihrer Computertastatur. Ein Neujahrsgruß von Connie.

Ein unerwartetes Gefühl der Freude durchströmte Vibeke, gleichzeitig bekam sie ein schlechtes Gewissen, dass sie keine Mitarbeitergeschenke verteilt hatte.

Seufzend steckte sie das Päckchen in ihre Tasche und öffnete für einen Moment das Fenster. Kühle Luft strömte zusammen mit Straßengeräuschen herein. Hinter den kahlen Bäumen schimmerten die Masten der verbliebenen Segelschiffe in der südlichen Hafenspitze. Darüber endloses Grau aus tief hängenden Wolken.

Vibeke schloss das Fenster und drehte den Thermostat am Heizkörper auf. Anschließend zog sie ihre Jacke aus, hängte sie über ihre Stuhllehne und setzte sich an ihren Schreibtisch. Während der Computer die Programme hochfuhr, trank sie einen Schluck Kaffee. Neben ihr gluckerte die Heizung.

Sie hätte eigentlich noch freigehabt, doch sie wollte sich einen Überblick verschaffen, was während ihrer Abwesenheit liegen geblieben war, um für die erste Arbeitswoche des Jahres gewappnet zu sein.

Sie loggte sich in den Computer ein und ging zunächst die Polizeimeldungen aus der Silvesternacht durch. Insgesamt war es in Flensburg, dem Kreis Schleswig-Flensburg und Nordfriesland zu rund sechzig Einsätzen gekommen. Sachbeschädigungen, mehrere Brände, schwerpunktmäßig brennende Müllcontainer, alkoholbedingte Streitigkeiten und Körperverletzungsdelikte. Zwei Personen hatten zudem in Flensburg aus dem Hafenbecken gerettet werden müssen, ein Streifenteam der Landespolizei war mit Böllern beworfen worden, dabei waren die Beamten unverletzt geblieben. Keine Todesfälle.

Vibeke nahm einen weiteren Schluck Kaffee und sichtete die Ermittlungsprotokolle aus dem Dezember, die von ihren Mitarbeitern fein säuberlich geordnet auf ihren Schreibtisch gelegt worden waren. Eine Messerstecherei zwischen zwei Jugendlichen, die für einen der beiden tödlich geendet hatte, sowie ein Vater, der zusammen mit seinen beiden kleinen Söhnen tot in seinem Auto aufgefunden worden war – ein Fall, der sich als erweiterter Suizid entpuppt hatte. Furchtbar, dachte Vibeke, als sie die dazugehörigen Berichte durchging.

Anschließend zeichnete sie die Dokumente ab, die man ihr zur Unterschrift hingelegt hatte, und war gerade dabei, die Post-its mit Anrufnotizen durchzugehen, als ihr Handy klingelte.

Es war Søren Molin von der dänischen Polizei in Sønderborg, der zusammen mit ihr in der Sondereinheit GZ Padborg arbeitete, die bei Tötungsdelikten im Grenzgebiet zusammengerufen wurde.

Sie nahm das Gespräch an. »Hej, Søren. Frohes Neues!«

»Hej, Vibeke, dir auch.« Sørens Stimme klang angespannt, und Vibeke wusste sofort, dass sein Anruf einen dienstlichen Hintergrund hatte.

»Auf Als gibt es einen Doppelmord«, kam der Däne auch gleich zur Sache. »In Sarup. Allem Anschein nach handelt es sich bei den Opfern um ein deutsches Ehepaar. Eine Nachbarin hat ihre Leichen heute früh entdeckt. Es ist das reinste Schlachthaus.« Er machte eine kurze Pause, ehe er weitersprach. »Ich dachte, ich gebe dir besser gleich Bescheid. Die Kollegen in Esbjerg sind ebenfalls informiert, und die Spusi ist auf dem Weg hierher.«

»Gut, ich komme. Schickst du mir die Adresse aufs Handy?«

»Mache ich. Wir sehen uns dann vor Ort. Hej hej.« Søren legte auf.

Vibeke leerte den restlichen Inhalt ihres Kaffeebechers und schnappte sich den Autoschlüssel.

Als, Dänemark

Es nieselte leicht, als Vibeke rund fünfunddreißig Minuten später die Brücke über dem Als Sund passierte und einen Blick über Sønderborg erhaschte.

Die Wolken hingen bleischwer über der Altstadt. Dort, wo in den Sommermonaten Segelboote und Yachten längsseits der Hafenfront lagen, herrschte gähnende Leere. Die bunten Hausfassaden der Restaurants und Cafés, die sich an der Promenade wie Perlen aneinanderreihten, wirkten im Regenschleier trist und farblos; Tische und Stühle waren von den Bürgersteigen verschwunden, auch am Colosseum, wo sie Brigittes und Sørens Hochzeit gefeiert hatten.

Sie ließ Sønderborg hinter sich und fuhr die Route 427 in südöstlicher Richtung. Neben ihr zogen karge Äcker und kleine Wälder vorbei, hin und wieder passierte sie vereinzelte Gehöfte und Ortschaften, die lediglich aus einer Handvoll Häuser bestanden. Die Straßen waren menschenleer. Es schien, als läge ganz Als im Winterschlaf, während der Wind wie ein unliebsamer Störenfried kalt und harsch über die Insel fegte.

In Vibøge verließ Vibeke die Route, fuhr durch Lysabild Sogn, ehe sie das Navi ihres Dienstwagens kurz vor Lille Mommark in eine einsam gelegene Straße mitten ins Nirgendwo führte. Weit und breit waren keine Häuser oder ein anderes Fahrzeug in Sicht. Vor der Windschutzscheibe ging der Regen in Schnee über.

Nach etwa zwei Kilometern, als Vibeke sich bereits fragte, ob sie richtig war, entdeckte sie rechter Hand der Fahrbahn ein einzelnes graues Haus, eine Biegung später passierte sie das Ortsschild von Sarup.

Hübsche Einfamilienhäuser mit tief gezogenen Dächern, renovierungsbedürftige Gehöfte und weiß getünchte Ziegelbauten. Auch hier war keine Menschenseele in den Straßen zu sehen. An einem Bauernhof kurz vor dem Ortsausgang führte sie eine Abzweigung an einer Handvoll Häuser vorbei, ehe die Straße einen Knick machte und sich eine schier endlose Weite auftat. Nebelschleier waberten über Wiesen und Felder, am Horizont blitzte das Meer zwischen kahlen Bäumen hervor, die sich, vom Wind verformt, ins Landesinnere bogen.

Vibeke passierte einen u-förmig angelegten Hof mit ockerfarbener Fassade, ehe sie schließlich wenige Hundert Meter weiter hinter einer Baumreihe die Einsatzfahrzeuge der Polizei entdeckte. Rot-weißes Flat terband versperrte den Durchgang zu einer Kieseinfahrt.

Sie stellte ihren Dienstwagen auf dem seitlichen Grünstreifen ab und fröstelte, sobald sie ins Freie stieg. Es hatte aufgehört zu schneien, doch von der Küste wehte ein eisiger Wind heran.

Sie holte einen Satz Schutzkleidung aus dem Kofferraum und schlüpfte hinein, ehe sie dem Uniformierten am Durchgang ihren Dienstausweis zeigte.

Ein kleines, weiß gekalktes Haus lag etwas abseits der Straße, halb versteckt hinter Bäumen, die ihre kahlen Äste wie knorrige Finger dem Himmel entgegenstreckten.

Der ehemals weiße Putz der Fassade schimmerte vom vielen Moosbelag grünlich. Neben dem Hauseingang, der von zwei Uniformierten flankiert wurde, lehnte ein schwarzes Trekkingbike. Ihr Blick streifte den Polizeitransporter, in dem ein Beamter neben einer blassen dunkelhaarigen Frau saß.

Vibeke zeigte ihren Dienstausweis ein weiteres Mal vor.

»Søren Molin, wo finde ich den?«

Der ältere Beamte deutete mit dem Kopf ins Haus.

Vibeke stülpte sich Überschuhe über ihre Stiefel und trat über die Schwelle.

Schon im Eingangsbereich schlug ihr der metallische Geruch von Blut entgegen. Sie registrierte rotbraune Abdruckspuren auf dem abgenutzten Dielenboden und achtete sorgfältig darauf, nicht daraufzutreten.

Der Flur war schmal und dunkel, die Wände nackt. Offenbar waren erst kürzlich die Tapeten herunterge löst worden. Stockflecken verbreiteten einen leichten Dunst von Schimmel.

Am Eingang zur Küche blieb Vibeke stehen, zog unter ihrem Mundschutz harsch die Luft ein.

Die beiden Toten lehnten unterhalb des Sprossenfensters mit dem Rücken am Heizkörper, jeweils eine Hand war mit Kabelbinder an der Bodenhalterung befestigt.

Der Kopf der Frau war auf die Brust gesunken, das halblange blonde Haar blutverkrustet, das darunterliegende Gesicht blutüberströmt. An der Schläfe klaffte eine Platzwunde und entblößte einen Krater rohes Fleisch.

Vibekes Blick wanderte über die blutdurchtränkte Kleidung zu der Lache, die sich unterhalb des Opfers gebildet hatte. Geronnenes Blut. Dunkelrot, fast schwarz.

Sie schluckte und nahm den zweiten Leichnam in Augenschein. Auf den ersten Blick wirkte der Mann unversehrt. Erschlaffte Gesichtszüge, ein zurückgehender grauer Haaransatz. Seine mittelgroße, kräftige Gestalt war in einen offenen dunkelblauen Blazermantel gekleidet, darunter trug er einen gleichfarbigen Anzug samt Hemd und Krawatte. Einzig der kleine See aus geronnenem Blut verriet, dass sich irgendwo an seiner hinteren Körperhälfte eine Verletzung verbarg.

Vibeke wandte den Blick ab und inspizierte den Raum.

Das Sprossenfenster ließ nur wenig Licht herein.

Blutspritzer klebten an den Wänden, an den Fronten, am Fensterrahmen, an der Werkzeugkiste auf dem Küchentisch. Am Boden. Von der Raummitte zogen sich rote Schlieren bis zum Heizkörper. Offenbar waren die Opfer erst attackiert und dann an den Heizkörper gebunden worden.

In der Küche war es nahezu vollkommen still. Nur das Ticken der Wanduhr war zu hören. Was war hier geschehen?

Hinter Vibeke ertönte ein Räuspern.

Sie drehte sich um. »Hej, Søren.«

Søren Molin, ein vollbärtiger Hüne mit kurz geschorenen blonden Haaren, die sich jetzt unter der Kapuze seines prall sitzenden Overalls versteckten, war offenbar aus einem der angrenzenden Räume gekommen.

»Meine Flensburger Lieblingskollegin.« Seine Augen über dem Mundschutz wirkten ungewohnt ernst. Er deutete mit dem Kopf in die Küche. »Schlimme Sache.«

»Die Frau hat es heftiger erwischt«, stellte Vibeke fest.

Søren nickte. »Laut Aussage der Nachbarin – sie hat die Toten gefunden – handelt es sich um Luise und Konrad Dahlmann. Ein Hamburger Ehepaar um die sechzig. Sie haben das Haus wohl erst kürzlich gekauft.«

»Die Zeugin, ist das die Frau im Transporter?«

»Ja. Larissa Kerber.«

»Auch eine Deutsche?«

Søren nickte. »Auf Als leben zahlreiche Deutsche.«

»Was hat Rasmus gesagt, wann er hier ist?« Vibeke öffnete den Reißverschluss ihres Spurensicherungsoveralls, zog das Handy aus ihrer Jackentasche und begann, Fotos zu machen.

Rasmus Nyborg arbeitete bei der für Südjütland zuständigen Mordkommission in Esbjerg und war zusammen mit Vibeke der hauptverantwortliche Ermittler der Sondereinheit. Nach einigen Anfangsschwierigkeiten waren sie mittlerweile ein eingespieltes Team, und auch wenn Rasmus hin und wieder aus der Reihe tanzte, war er ein brillanter Ermittler und derjenige mit der schärfsten Intuition. Vibeke hatte selten erlebt, dass er sich täuschte.

»Sie schicken jemand anderen«, sagte Søren. »Rasmus hat heute frei.«

»Das hätte ich eigentlich auch gehabt«, murmelte Vibeke und beförderte ihr Handy zurück unter den Reißverschluss.

Vor dem Haus wurden Stimmen laut. Henrik Knudsen, der Chef der Spurensicherung, erschien in der Tür und musterte sie mit seinen dunklen Knopfaugen. Hinter ihm stand ein halbes Dutzend Kriminaltechniker in Schutzkleidung. »Ihr habt hoffentlich nicht meinen Tatort kontaminiert.«

Søren hob augenblicklich die Hände. »Wir haben nichts angefasst.«

»Das ist ja schon mal was«, entgegnete Knudsen streng. »Und jetzt trampelt hier nicht länger rum, sondern lasst mich und meine Leute unsere Arbeit machen.« Er drehte sich um und instruierte seine Mitarbeiter.

Vibeke folgte Søren zurück ins Freie. Erneut hatte Schneefall eingesetzt, doch die Flocken lösten sich auf, sobald sie den Boden berührten. Sie lüpfte ihren Mundschutz und atmete mehrfach tief durch.

Hinter der Absperrung hatten sich die ersten Schaulustigen eingefunden. Die meisten hielten ihre Handys gezückt. Auch ein Reporter des örtlichen Radiosenders war darunter.

Vibeke zog die Kapuze von ihrem Kopf. »Ich werde dann mal mit der Zeugin sprechen.« Sie steuerte auf den Polizeitransporter zu.

Dort angekommen, klopfte sie gegen die Scheibe, und der Streifenbeamte schob die Seitentür auf.

»Vibeke Boisen. Mordkommission Flensburg«, stellte sie sich vor.

»Jesper.« Der Uniformierte lächelte flüchtig. Auf seiner Nase tanzten ein paar Sommersprossen. »Søren hat schon gesagt, dass du kommst.« Er sprach deutsch, wie die meisten Dänen in der Grenzregion. Auch Vibeke beherrschte die Sprache des Nachbarlandes seit ihrer Schulzeit und wechselte je nach Bedarf.

»Ich würde gerne mit Frau Kerber sprechen.« Sie sah zu der blassen Frau, die auf der Rückbank mit beiden Händen einen Pappbecher umklammert hielt.

Der Streifenbeamte stieg aus, um Vibeke Platz zu machen.

»Danke.« Sie setzte sich auf die Bank der Zeugin gegenüber und zog Stift und Notizbuch aus ihrer Tasche hervor. »Hallo, Frau Kerber.«

»Hallo«, kam es zaghaft zurück. Larissa Kerber hatte widerspenstige dunkelbraune Naturwellen und ein offenes, freundliches Gesicht. Augen und Nase waren leicht gerötet.

Obwohl sie einen dick gefütterten Parka trug, schien sie darunter zu zittern.

Vibeke schätzte die Frau auf Mitte bis Ende dreißig. »Soll ich Ihnen eine Decke bringen lassen? Oder benötigen Sie einen Arzt?«

»Nein danke. Es geht schon.«

»Ich weiß, Sie haben es bereits meinen Kollegen erzählt, aber bitte schildern Sie mir trotzdem den Morgen noch einmal aus Ihrer Sicht«, bat Vibeke.

»Ich wollte den Dahlmanns einen Neujahrsgruß vorbeibringen«, sagte Larissa Kerber mit leiser Stimme und deutete auf den kleinen Korb, der, mit einem Piccolosekt, zwei Marzipanschweinchen und einem Glücksklee samt Schornsteinfeger befüllt, zu ihren Füßen stand. »Sie waren erst kürzlich hergezogen, und ich wollte, dass sie sich hier willkommen fühlen. Meine Familie und ich, wir leben schon eine Weile auf Als, aber es ist nicht ganz so einfach, Anschluss zu finden.« Sie hielt einen Moment inne, ehe sie weitersprach. »Ich bin mit dem Fahrrad hergekommen.« Sie deutete auf das schwarze Trekkingbike neben dem Hauseingang.

»Ist Ihnen zum Zeitpunkt Ihrer Ankunft etwas Besonderes aufgefallen?«, hakte Vibeke nach. »Haben Sie vielleicht jemanden gesehen?« Aus den Augenwinkeln registrierte sie die Ankunft eines Autos. Adam Larsen von der Rechtsmedizin.

Die dunkelhaarige Frau schüttelte den Kopf. »Nein. Da war niemand. Die Klingel funktionierte nicht, also habe ich angeklopft. Dabei habe ich dann gemerkt, dass die Haustür nicht abgeschlossen war.« Larissa Kerber errötete leicht. »Nicht dass Sie mich für neugierig halten. Aber es kam mir merkwürdig vor. Ich meine, viele Leute sperren hier nicht ab, aber wenn man aus Deutschland und noch dazu aus der Stadt kommt, handhabt man das doch anders, oder?« Sie sah Vibeke erwartungsvoll an.

»Und Sie sind dann hineingegangen?«

Larissa Kerber nickte. »Ich dachte, sie hätten mein Klopfen vielleicht nicht gehört. Deshalb habe ich in den Flur gerufen, und da waren diese Spuren … Ich wusste, dass Luise das Haus renovieren wollte, und hielt es zunächst für Farbe.« Ihr Blick ging für einen Augenblick zur Auffahrt, wo gerade der Rechtsmediziner mit seiner Arzttasche in der Hand und seinem Assistenten im Schlepptau auf das Haus zusteuerte, ehe sie sich wieder Vibeke zuwandte. »Ich habe aufgepasst, dass ich nicht hineintrete. Und dann bin ich zur Küche gekommen …« Der Rest des Satzes blieb unausgesprochen in der Luft hängen. Tränen traten ihr in die Augen. »Ich glaube, ich habe geschrien. Und dann bin ich sofort wieder raus.«

»Sie haben die Küche nicht betreten?«

»Nein. Ich habe gleich gesehen, dass den beiden niemand mehr helfen kann.« Sie schluckte.

»Und Sie sind sich sicher, dass es sich bei den Opfern um Luise und Konrad Dahlmann handelt.«

Larissa Kerber nickte und nahm gedankenverloren einen Schluck aus dem Pappbecher.

»Wie gut kannten Sie die Dahlmanns?«

»Nicht besonders gut. Ich war Anfang Dezember hier, kurz nachdem sie das Haus gekauft hatten, um sie in Sarup willkommen zu heißen. Wir haben zusammen einen Tee getrunken, und Luise hat mir von ihren Plänen für das Haus erzählt. Sie arbeitete seit Jahren als Innenarchitektin, und Konrad gehört …«, Larissa Kerber stockte, »Konrad gehörte eine Immobilienfirma in Hamburg. Dort leben auch ihre Kinder. Mirjam und Thomas. Sie ist Rechtsanwältin, der Sohn Zahnarzt.«

Vibeke notierte sich die Namen. »Sie haben ein gutes Namensgedächtnis.«

»Ich habe Luise und Konrad zu uns nach Hause eingeladen«, erzählte Larissa Kerber, ohne auf ihre Bemerkung einzugehen. »Meine Eltern sind mit uns hergezogen und ungefähr im gleichen Alter. Ich hatte gehofft, sie würden sich anfreunden, aber Luise hat die Verabredung dann kurzfristig abgesagt. Danach habe ich sie noch einmal in Skovby beim Einkaufen getroffen.«

»Wissen Sie, ob die Dahlmanns mit jemandem im Ort Kontakt hatten? Gab es vielleicht einen Streit oder sonst irgendeinen Vorfall?«

Larissa Kerber schüttelte den Kopf. »Nicht dass ich wüsste. Die Menschen hier sind zurückhaltend. Vielleicht waren es Einbrecher.« Sie wurde aschfahl im Gesicht, und einen Moment befürchtete Vibeke, die Frau würde vor ihren Augen zusammenklappen, doch kurz darauf kehrte ein wenig Farbe zurück. »In dem Fall hätte es auch uns treffen können.« Sie drehte den Kaffeebecher zwischen den Händen. »Ich glaube, ich möchte jetzt lieber nach Hause. Ich fühle mich nicht besonders gut.«

»Natürlich.« Vibeke klappte ihr Notizbuch zu. »Jemand wird Sie fahren. Stellen Sie sich aber bitte darauf ein, dass wir später noch Fragen an Sie haben. Und wir brauchen Ihre Schuhe für den Abgleich.«

Larissa Kerber nickte.

»Für den Fall, dass Ihnen vorher noch etwas einfällt, melden Sie sich bitte.« Vibeke zog eine Visitenkarte hervor, notierte noch die Telefonnummer der Polizei in Esbjerg und reichte sie Larissa Kerber. Ans chließend verabschiedete sie sich und verließ den Polizeitransporter.

»Kann einer deiner Kollegen Frau Kerber nach Hause fahren?«, fragte sie Søren, der gerade mit einem der Kriminaltechniker gesprochen hatte. »Er soll dann dort ihre Schuhe mitnehmen.«

Søren nickte und instruierte einen der Uniformierten, ehe er sich wieder Vibeke zuwandte. »Die Spusi hat im Mantel des Toten eine Brieftasche gefunden. Der Ausweis lautet auf Konrad Dahlmann, wohnhaft in Hamburg. Frau Kerber hat also recht gehabt.« Er zog den heruntergelassenen Mundschutz unter seinem Kinn noch ein Stück tiefer. »Ich soll dir übrigens einen Gruß von Brigitte ausrichten.«

»Danke. Ihr hattet für heute sicher andere Pläne.«

Søren nickte. »Wir wollten zu meinen Schwiegereltern. Brigitte ist jetzt mit den Kindern allein los. Aber mir tut die ganze Völlerei ohnehin nicht gut.« Er klopfte sich mit der behandschuhten Hand auf den Bauch, wo der Spurensicherungsoverall bereits sichtlich spannte.

Vibekes Blick glitt über die Kieseinfahrt und weiter zum Haus. Es hatte keine Nebengebäude.

»Es steht kein Auto hier«, stellte sie fest. »Die Dahlmanns werden doch sicher eins gehabt haben.«

Søren nickte. »Davon ist auszugehen. Ohne Auto ist man hier aufgeschmissen.«

Vibeke eilte zu dem Streifenwagen, in den Larissa Kerber gerade eingestiegen war, und klopfte gegen die Scheibe. Sie wurde heruntergelassen. »Frau Kerber, wissen Sie, ob die Dahlmanns ein Auto hatten?«

Sie nickte. »So ein schickes schwarzes von einer dieser Nobelmarken. Völlig unpassend für hier. Und n och ziemlich neu. Luise erzählte, Konrad hätte es erst vor zwei Monaten bekommen.« Ihr Blick glitt über die Kieseinfahrt. »Komisch. Es steht nicht hier. Das ist mir vorher gar nicht aufgefallen.«

»Danke, Frau Kerber. Der Kollege bringt Sie dann nach Hause.«

Das Fenster schloss sich wieder, und der Streifenwagen fuhr an. Vibeke drehte sich zu Søren um. »Merkwürdig.«

»Vielleicht ist das Auto in der Werkstatt.«

»Oder der Täter hat es mitgenommen.«

»Dann handelt es sich womöglich um Raubmord.«

Sie blickten dem davonfahrenden Streifenwagen hinterher.

Vibeke zog ihr Handy unter ihrem Spurensicherungsoverall hervor und wählte die Telefonnummer ihres Mitarbeiters Michael Wagner, der Bereitschaftsdienst hatte.

»Moin, Michael.« Sie kam ohne Umschweife zur Sache und berichtete ihm in knappen Worten von dem Doppelmord auf Als. »Ich benötige die Adressen der Kinder. Mirjam und Thomas Dahlmann. Und ich möchte wissen, was für ein Auto Konrad Dahlmann fährt. Möglicherweise ist es ein Firmenwagen. Er soll eine Immobilienfirma in Hamburg haben.«

Michael versprach, sich baldmöglichst zu melden.

Vibeke hatte ihr Handy gerade wieder verstaut, als ein schwarzer Kombi in die Kieseinfahrt bog.

»Wer ist das?«, kam es von Søren.

»Keine Ahnung.«

Eine große, schlanke Frau in einem camelfarbenen Mantel stieg aus und zeigte ihren Ausweis dem Unifo rmierten an der Absperrung vor. Sie trug ihr blondes Haar offen und schulterlang. Als sie näher kam, erkannte Vibeke fein geschnittene Gesichtszüge und einen entschlossenen Zug um ihren Mund.

»Hej. Maja Eriksen«, stellte sie sich mit einem flüchtigen Lächeln vor.

Die neue Vizepolizeiinspektorin, dachte Vibeke. Rasmus’ Chefin. Und seine Ex.

»Hej. Vibeke Boisen.« Sie unterdrückte den Drang, die Frau neugierig zu mustern, die vor rund dreieinhalb Monaten die Leitung der Mordkommission Esbjerg übernommen hatte.

»Du bist Eva-Karins Nachfolgerin«, stellte Søren neben ihr fest. »Ich bin Søren. Søren Molin.«

»Ich habe schon von dir gehört, Søren.« Maja Eriksen lächelte freundlich, und Vibeke bemerkte, dass sich ihr linker Schneidezahn leicht über den rechten schob, was ihrem Gesicht ein wenig die Härte nahm. »Und auch von dir, Vibeke. Es ist hoffentlich in Ordnung, wenn wir uns duzen.«

»Natürlich.« Vibeke hatte sich mittlerweile daran gewöhnt, dass man sich in Dänemark duzte, und hatte die Anrede übernommen. Zudem hatte sie festgestellt, dass sie einen besseren Zugang zu den Menschen bekam, sobald die förmliche Barriere wegfiel. Nur wenn sie auf Landsleute traf, hatte sie eine Hemmschwelle und siezte ihr Gegenüber. So wie gerade Larissa Kerber.

»Könnt ihr mich auf Stand bringen?«, bat die Vizepolizeiinspektorin.

Søren fasste für sie die bisherigen Erkenntnisse zusammen. Gerade als er geendet hatte, kam Adam Lar sen in seinem obligatorischen Schutzanzug aus dem Haus und lüpfte den Mundschutz.

»Hej, Adam«, begrüßte Vibeke ihn. Sie hatten in der Vergangenheit bereits miteinander zu tun gehabt.

»Guten Tag, die Herrschaften.« Der Rechtsmediziner nickte in die Runde.

»Kannst du schon etwas sagen?«, erkundigte sich Maja.

»Die Opfer sind bereits eine Weile tot. Mindestens achtundvierzig Stunden. Eine genauere Einschätzung kann ich euch nach der Obduktion geben.«

»Gibt es einen Hinweis auf die Tatwaffe?«

»Ich gehe von einem stumpfen Gegenstand aus«, sagte Adam. »Aber auch da müsst ihr euch für weitere Auskünfte ein wenig gedulden.« Sein Blick heftete sich auf Vibeke. »Gibt es Angehörige, mit denen wir die DNA abgleichen können, oder Zahnarztunterlagen?«

»Ich kümmere mich darum«, versprach Vibeke.

»Gut. Ich lasse die Leichname abholen, sobald mir die Spurensicherung das Okay dafür gibt. Die Obduktion findet heute noch statt. Voraussichtlich am späten Nachmittag.« Er machte auf dem Absatz kehrt und steuerte auf seinen Assistenten zu, der gerade aus dem Haus kam.

»Dann würde ich mir jetzt gerne ein Bild vom Tatort machen.« Maja Eriksen öffnete den Kofferraum ihres Kombis und entnahm ihm einen Satz Schutzkleidung.

Søren räusperte sich. »Wird es ein Fall für die Sondereinheit?«

»Davon ist auszugehen.« Die Vizepolizeiinspektorin zog ihren Mantel aus, und ein dicker Wollpul lover über einem Hemdblusenkragen kam zum Vorschein. »Ich stimme mich gleich im Anschluss mit Kriminalrat Petersen ab und leite alles in die Wege.« Kriminalrat Hans Petersen war Vibekes direkter Vorgesetzter und der auf deutscher Seite Verantwortliche für den Einsatz der Sondereinheit.

Maja Eriksen legte ihren Mantel auf die Rückbank ihres Wagens und schlüpfte in den weißen Overall.

»Gut, dann nehme ich Kontakt zu den Angehörigen auf«, sagte Vibeke. »Sie sollen nicht durch die Presse oder die sozialen Medien vom Tod ihrer Eltern erfahren.«

»Du hältst mich bitte auf dem Laufenden.« Maja Eriksens blondes Haar verschwand unter der Kapuze. Anschließend stülpte sie sich Überschuhe über ihre Stiefeletten und ging zum Hauseingang.

»Die Frau scheint in Ordnung zu sein«, sagte Søren, sobald die Vizepolizeiinspektorin außer Hörweite war.

Vibeke nickte. Ihrem ersten Eindruck nach wirkte Maja Eriksen umgänglich und kompetent. Und wie es aussah, hatte sie nicht vor, ihre Abteilung ausschließlich vom Schreibtisch aus zu führen.

Vibekes Handy klingelte, und das Display zeigte die Nummer von Michael Wagner an.

Sie nahm den Anruf entgegen. »Hallo, Michael.«

»Hi. Ich habe jetzt die Kontaktdaten von Mirjam und Thomas Dahlmann. Beide leben in Hamburg. Soll ich dir die Adressen aufs Handy schicken?«

»Ja, bitte.« Vibeke überlegte. »Kannst du mich nach Hamburg begleiten?« Es gehörte zu den Vorschriften, dass Todesnachrichten immer persönlich und dazu von zwei Beamten überbracht wurden. Auch wenn wie in diesem Fall die endgültige Identifizierung noch ausstand.

»Natürlich.«

Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. »Gut. Dann treffen wir uns in einer Dreiviertelstunde an der Polizeidirektion.«

»In Ordnung. Bis gleich.« Ihr Mitarbeiter legte auf.

»Michael begleitet mich nach Hamburg«, informierte sie Søren.

»Dann halte ich inzwischen hier die Stellung. Und ich versuche noch einmal, Rasmus zu erreichen. Mich würde ja schon interessieren, wo er sich herumtreibt.«

»Vielleicht hat er lange gefeiert.«

Søren lachte dröhnend. »Guter Witz.«

Sie beide wussten, dass Rasmus Nyborg in der Regel allem aus dem Weg ging, was in irgendeiner Form mit feiernden Menschen in Zusammenhang stand. Die einzige Ausnahme war Sørens Hochzeit gewesen, doch die lag auch schon weit über ein Jahr zurück, und Rasmus war Trauzeuge gewesen.

Vibeke straffte sich. »Dann fahre ich mal los. Wir hören voneinander. Hej hej.«

Sie ging die Kieseinfahrt entlang zur Straße, wo noch immer ihr Dienstwagen stand. Die Menschenansammlung hinter der Absperrung hatte sich in der Zwischenzeit weiter vergrößert. Eine Kamera klickte, und sie hob abwehrend die Hand. »Keine Fotos.«

Am Dienstwagen angekommen, warf sie noch einen Blick zurück. Zwei Leichname. Die Frau blutüberströmt, der Mann nahezu unversehrt, beide mit Kabelbindern an den Heizkörper fixiert. Weshalb mussten diese Menschen sterben?

Aarhus, Dänemark

Der Himmel spannte sich wie ein grauer Bogen über die Bucht von Aarhus. Der Wind frischte auf und trieb Wellen mit Schaumkronen über das Wasser.

Es waren knapp vier Grad, sowohl in der Luft als auch im Meer. Rund hundert Menschen standen dick eingepackt am Strand und schauten zu dem Mann mit Megafon, der leicht erhöht auf einem Stein stand und einige Begrüßungsworte sprach. Zwei kurze Sirenenstöße ertönten, und es kam Bewegung in die Menge. Dicke Mäntel und Daunenjacken wurden von den Körpern geschält, viel nackte Haut kam zum Vorschein, kurze und lange Badehosen, Einteiler und Bikinis, muskelbepackte Sixpacks und Bierbäuche. Ein weiteres Signal ertönte, und die Halbnackten rannten los und warfen sich unter viel Geschrei in die eisigen Wellen. Manche liefen Hand in Hand, die ganz Hartgesottenen tauchten kopfüber unter Wasser.

»Heilige Scheiße«, fluchte Rasmus Nyborg, sobald seine Zehen das unterirdisch kalte Nass berührten. Am liebsten hätte er gekniffen, doch vor ihm warf sich seine Schwester Jonna gerade kreischend ins Meer, während sein vierundsiebzigjähriger Vater Bo mit einem eleganten Hechtsprung unter die Wasseroberfläche glitt. Be gleitet wurden sie von den Anfeuerungsrufen der zahlreichen Schaulustigen, die warm eingemummelt von Land aus zusahen.

Rasmus watete hüfttief ins Wasser, und erst als Jonna ein lautes »Feigling« in seine Richtung brüllte, biss er die Zähne zusammen und tauchte kopfüber ins Meer hinein. Die Kälte schnürte ihm förmlich die Luft ab, doch gleich im nächsten Moment kehrte er japsend zurück an die Wasseroberfläche und rannte am ganzen Körper zitternd zurück ans Ufer, wo bereits seine Mutter Freja und sein Schwager Arne lachend mit Bademänteln und Thermoskannen warteten. Auch die kleine Liv, Rasmus’ Patenkind, war in ihrem pinkfarbenen Schneeanzug mit dabei und hüpfte mit vor Kälte geröteten Wangen auf und ab.

»Rasmus ist wie immer am schnellsten aus dem Wasser«, feixte Arne, während Rasmus dankbar den Bademantel überzog, den ihm seine Mutter hinhielt.

»Du hast gut reden in deiner Daunenjacke«, erwiderte Rasmus zähneklappernd.

Jonna und ihr Vater kamen jetzt ebenfalls an den Strand zurück. Bo Nyborg rubbelte sich in Windeseile Körper und Haare ab und schlüpfte direkt im Anschluss wieder in seine Winterkleidung, während sich Jonna unter dem aufgeregten Juchzen von Liv zunächst in mehrere Schichten Handtücher wickelte und einen kräftigen Schluck heißen Kaffee nahm, ehe sie sich zeitgleich mit Rasmus die nassen Badesachen abstreifte und in ihre Klamotten stieg.

»Ich frage mich, warum ich mir das jedes Jahr antue«, murmelte Rasmus, während er versuchte, mit seinem sandverkrusteten Fuß in eine Socke zu gelangen.

»Weil du ein Nyborg bist«, sagte Freja. Sie war eine winzige Frau mit silberblondem Kurzhaarschnitt und warmherzigem Gemüt, die nicht nur die Kleinsten in der Familie wie eine Henne begluckte, sondern auch ihre längst erwachsenen Kinder. »Schau dir deinen Vater an. Wenn du Glück hast, bist du später noch genauso auf Zack wie er.« Sie betrachtete liebevoll ihren Mann. Trotz seines fortgeschrittenen Alters hatte Bo Nyborg noch immer eine durchtrainierte, athletische Figur, was wohl daran lag, dass er genau wie Rasmus mehrmals die Woche laufen ging. Auch sonst ähnelten sich Vater und Sohn. Sie hatten nicht nur die gleiche hoch aufgeschossene Gestalt, auch das kantige, fast schon hagere Gesicht und den zurückgehenden Haaransatz. Doch im Gegensatz zu seinem Vater, der im Laufe der Jahre vollständig ergraut war, zogen sich durch Rasmus’ dunkelblonde Haare erst vereinzelt graue Strähnen.

»Da braucht Rasmus aber sehr viel Glück«, sagte Jonna.

Alle lachten, und sie packten ihre Sachen zusammen.

Rund zwanzig Minuten später brachte Rasmus seinen hellblauen VW-Bus vor dem Vierseithof aus Fachwerk von 1872, den seine Eltern über Jahre liebevoll saniert hatten und in dem seine Schwester Jonna ein Bed and Breakfast betrieb, zum Stehen. Reetdach, weiß gekalkte Fassade. Fenster und Türen in leuchtendem Rot. Hinter den Scheiben hingen beleuchtete Weihnachtss terne, und um den Hauseingang war eine üppige Tannengirlande drapiert.

Rasmus stieg aus dem Bulli und folgte seiner Familie, die zeitgleich mit ihm im separaten Auto eingetroffen war, ins Haupthaus. Schon im Flur strömte ihm der Duft des deftigen Eintopfs entgegen, den seine Mutter gestern vorgekocht hatte. Grünkohl, gebräunte Kartoffeln und Kohlwürste. Ihm lief das Wasser im Mund zusammen, und nachdem er seine Jacke an der Garderobe aufgehängt hatte, marschierte er direkt in die Küche. Es war der gemütlichste Raum des Hofes. Weiße Hochglanzfronten standen im Kontrast zur massiven Arbeitsplatte aus dunklem Holz, dazu kamen hochmoderne Geräte aus Edelstahl, freigelegte Deckenbalken und antike Kacheln im Delfter Design.

Rasmus half Jonna, den Tisch zu decken, während seine Mutter den Eintopf aufwärmte. Sein Schwager machte es sich zusammen mit Liv auf der Bank unterhalb des Fensters gemütlich und begann, seiner Tochter aus einem Bilderbuch vorzulesen. Er jeg lille? Bin ich klein?

Nur sein Vater fehlte. Er war wie immer nach dem Neujahrsbaden direkt unter die Dusche gegangen.

»In zehn Minuten ist das Essen fertig«, verkündete Freja.

»Rasmus, bitte bring doch noch schnell das Leergut raus.« Sie deutete mit dem Kopf zum Flur, wo die Sekt-, Wein- und Bierflaschen, die sie am vorigen Abend geleert hatten, in einem großen Pappkarton bereitstanden.

Es gehörte zur Familientradition, dass sie den Silvesterabend gemeinsam mit Freunden und Nachbarn feierten. Nach der Neujahrsansprache der Königin um achtzehn Uhr fand das alljährliche Dorschessen statt, gefolgt von reichlich Aquavit und noch mehr Gesang, ehe sie um Schlag Mitternacht von den Stühlen sprangen und sich im Anschluss mit Kransekage, einem turmhohen Marzipankuchen, und viel Sekt ein weiteres Mal die Bäuche vollschlugen.

Es war das erste Mal seit Antons Tod, dass Rasmus an dem alljährlichen Silvesterevent teilgenommen hatte, doch nicht nur bei ihm war die Stimmung getrübt gewesen. Vielmehr hatten sie sich alle in Schockstarre befunden, als Königin Margrethe in ihrer Neujahrsrede ihre Abdankung bekannt gegeben hatte. Rasmus hätte das niemals für möglich gehalten, und obwohl er kein leidenschaftlicher Monarchist war, so wie alle anderen Familienmitglieder, hatte auch er einen Kloß im Hals gehabt. Nach noch mehr Aquavit hatte die Partygesellschaft schließlich in Feierlaune zurückgefunden, nur Rasmus hatte sich direkt nach Mitternacht abgeseilt. Feiernde Menschen, auch wenn er die meisten von Kindesbeinen an kannte, bereiteten ihm nach wie vor Probleme. Zu groß war der Verlust und zu spürbar die Abwesenheit seiner eigenen Familie. Nicht nur Anton fehlte, auch seine Ex-Frau Camilla, die zusammen mit ihrer gemeinsamen Tochter Ida und ihrem Lebensgefährten in Kopenhagen lebte.

Doch er hatte sich vorgenommen, nach vorne zu blicken, und das Silvesterfest war ein weiterer Schritt in die richtige Richtung.

Rasmus trat in den Flur, und sein Blick fiel auf seine Jacke, die an der Garderobe hing. In der Innentasche steckte sein Handy. Er zog es heraus und stellte es an. Mehrere verpasste Anrufe sowie zwei neue Sprachnachrichten auf seiner Mailbox.

Die erste stammte von Søren Molin, seinem Freund und Kollegen von der Sondereinheit GZ Padborg, der ihm nach einem kurzen Neujahrsgruß von einem Doppelmord auf Als berichtete. Bei den Opfern handelte es sich offenbar um ein deutsches Ehepaar.

Rasmus runzelte die Stirn und hörte die zweite Nachricht ab, in der ihn seine Chefin Maja Eriksen darüber informierte, dass sie zum Tatort fuhr.

Ausgerechnet, dachte er. Wochenlang passierte nichts, und wenn er ausnahmsweise mal für einen Tag sein Handy ausschaltete, gab es gleich einen Doppelmord. Er beschloss, nach Als zu fahren, um sich vor Ort einen Eindruck zu verschaffen. Spätestens morgen würde der Fall ohnehin auf seinem Schreibtisch landen.

Rasmus ging zurück in die Küche. »Tut mir leid, aber ich muss los.« Er hielt sein Handy hoch. »Der Job.«

Freja seufzte, während sie weiter den Eintopf umrührte.

»Du wirst doch wohl noch mit uns essen können, oder?« Jonna verschränkte die Arme vor der Brust. Wie so häufig trug sie einen ihrer Norwegerpullover, an diesem Tag ein blaues Exemplar mit rot-weißem Muster. Ihre Augen unter den dunklen Ponyfransen blitzten ihn herausfordernd an.

Rasmus schüttelte bedauernd den Kopf.

»Seit Maja deine Chefin ist, springst du bei jedem Wort«, schob seine Schwester hinterher. Sie betrachtete ihn argwöhnisch. »Läuft da etwa wieder was?«

Auch seine Mutter und sein Schwager blickten ihn jetzt interessiert an.

»Ach, hört doch auf damit«, erwiderte Rasmus brüsk. »Was ihr immer gleich denkt. Das mit Maja ist doch alter Kaffee.«

»Soso.« Jonna sah ihn wissend an. »Ich wette, du magst sie noch immer. Wenn ich dir also einen Rat geben darf, dann halt dich ran. Das Leben ist zu kurz, um verpassten Chancen hinterherzutrauern.«

Rasmus verdrehte die Augen. »Ich bin dann jedenfalls weg.« Er schenkte seiner Mutter ein entschuldigendes Lächeln. »Danke, Mama, es war toll. Sagst du Papa noch einen Gruß von mir, wenn er aus der Dusche kommt?«

Seine Mutter nickte. »Fahr vorsichtig.«

»Das mache ich doch immer.« Rasmus grinste schief, warf noch ein »Hej hej!« in die Runde und zwinkerte Liv zu, ehe er zurück in den Flur ging. Dort schlüpfte er in seine Jacke, klemmte sich den Pappkarton mit den leeren Flaschen unter den Arm und schnappte sich mit der freien Hand seine Reisetasche, die fertig gepackt unterhalb der Garderobe stand.

Als er schließlich hinter dem Lenkrad seines Bullis saß und den Motor startete, ging noch einmal die Haustür auf und seine Mutter eilte heraus, in der Hand ein großes Stück Kuchen in einer Serviette.

Rasmus kurbelte lächelnd das Seitenfenster herunter.

Sarup, Dänemark

Rund zweieinhalb Stunden später stieg Rasmus an einem mit rot-weißem Flatterband abgesperrten Grundstück im südöstlichen Als wieder aus seinem VW-Bus. Gerade verließen zwei Leichenwagen unter den Blicken zahlreicher Schaulustiger die Kieseinfahrt.

Der Himmel über der Küste war bleigrau, und der Geruch nach Regen hing in der Luft. Kräftiger Wind fegte von Meer an Land, trug das Salz bis an seine Lippen. Obwohl er sich zweihundert Kilometer südlich von Aarhus befand, schien es ihm, als wäre es hier noch kälter.

Er zog den Reißverschluss seiner Jacke ein Stück höher und bahnte sich einen Weg an den Gaffern vorbei. An der Absperrung zeigte er dem Uniformierten seinen Dienstausweis und wurde durchgelassen.

Søren Molin stand in seinem Spurensicherungsoverall vor dem kleinen, weiß gekalkten Haus und sprach gerade mit Henrik Knudsen von der Spurensicherung. Beide hatte ihren Mundschutz heruntergezogen.

»Hej, Rasmus.« Søren schlug ihm zur Begrüßung mit seiner schaufelgroßen Hand freundlich auf die Schulter.

»Schön, dich zu sehen.« Rasmus lächelte angespannt und wandte sich dem Leiter der Spurensicherung zu. »Hej, Henrik. Den Jahresbeginn haben wir uns wohl alle anders vorgestellt, oder?«

»Du sagst es. Ich sollte jetzt eigentlich in Odense bei meiner Familie sitzen, aber wir haben uns den Job schließlich selbst ausgesucht.«

Rasmus deutete mit dem Kopf zum Hauseingang. »Gibt es irgendwelche Spuren?«

»Im Flur und in der Küche wimmelt es von Fußabdrücken, die möglicherweise von den Schuhen des Täters stammen«, erwiderte Knudsen, »aber versprich dir nicht zu viel davon. Die Qualität ist schlecht. Offenbar wurden sie nachträglich verwischt. Außerdem sind eine Zeugin und ein paar Kollegen mit Füßlingen durch den Flur marschiert.« Er verzog das Gesicht. »An DNA-Material ist ebenfalls einiges vorhanden, allerdings ist fraglich, ob etwas davon vom Täter stammt. Ihr bekommt Bescheid, sobald die Laboranalyse da ist.«

»Was ist mit der Tatwaffe?«

»Die wurde bislang noch nicht gefunden. Es gibt auch keine offensichtlichen Einbruchspuren an der Haustür, aber ich habe sicherheitshalber angeordnet, dass das Türschloss ausgebaut und untersucht wird.«

Rasmus’ Blick glitt zum Garten, wo gerade zwei Kriminaltechniker in Schutzanzügen die Gebüsche und Beete absuchten. »Wie lange braucht ihr noch?«

»Das wird wohl eine Weile dauern«, erwiderte Knudsen. Er deutete mit dem Kopf zum Gebäude. »Ich muss dann auch mal wieder.« Er zog den Mundschutz hoch und ging zurück ins Haus.

Søren räusperte sich. »Du hast deine Chefin verpasst. Und Vibeke. Sie war vorhin hier und hat sich den Tatort angesehen.«

»Ach, wie geht es ihr?«, fragte Rasmus. Es war einige Wochen her, seit er mit seiner Flensburger Kollegin gesprochen hatte. Seit ihrem letzten gemeinsa men Fall, bei dem eine junge Bankerin während eines Kundenevents auf einer Segelyacht über Bord gegangen war, hatten sie sporadisch Kontakt gehalten, und er wusste, dass sie im Dezember ihren Jahresurlaub genommen hatte, um dem ganzen Weihnachtstrubel zu entfliehen.

Damit war sie gefühlt der einzige Mensch in seinem Umfeld, der die hyggeligste Zeit des Jahres nicht liebte. Doch Vibeke Boisen war ohnehin nicht wie andere. Sie gehörte zu den zähesten Personen, die er kannte, und war eine hervorragende Ermittlerin, dazu emsig und regelkonform. Hinter ihrer oftmals spröden Fassade verbarg sie eine tiefe Verletzlichkeit, die sie nur ungern offenbarte, doch es war genau diese Eigenschaft, die sie miteinander teilten. Vermutlich war Vibeke Boisen neben seiner Familie und Camilla die Person, die ihn am besten kannte. 

»Sie sah erholt aus«, sagte Søren. »Ich glaube, sie ist endlich drüber hinweg.« Damit spielte er auf den Tod von Vibekes Freund Claas Behring und die Umstände an, die dazu geführt hatten.

»Das ist gut«, sagte Rasmus. Sie trugen alle ihr Gepäck, auch wenn das von einigen Menschen schwerer wog als das von anderen. Er wünschte Vibeke, dass sie künftig nachsichtiger war. Vor allem mit sich selbst.

Rasmus ließ den Blick über die Umgebung schweifen. Nichts als Wiesen, Felder und ein paar Bäume. Am Horizont lag stahlgrau das Meer.

Gerade setzte Nieselregen ein, und die Konturen von Ufer und Wasser verschwammen. Er fröstelte. »Kommt da noch was?«

Søren zuckte die Achseln.

»Dann lass uns mal die Nachbarn abklappern.«

Hamburg, Deutschland

Das Wohnquartier Fischers Höfe lag im dicht bebauten Stadtteil Ottensen mit unzähligen kleinen Läden und Kneipen, prachtvollen Altbauten und zu Lofts umgebauten Industriegebäuden, in Fußnähe zur Elbe und zu großzügigen Parkanlagen.

Über einhundert Wohneinheiten in Form von Stadthäusern, Geschoss- und Maisonettewohnungen gruppierten sich auf über achttausend Quadratmetern um ruhige, begrünte Höfe. Klare Linien, Ziegelverkleidung oder weiß verputzte Außenwände, viel Glas.

Mirjam Dahlmann wohnte im obersten Stockwerk einer Mehrfamilienwohneinheit mit heller Klinkerfassade.

»Wusstest du, dass Ottensen und Altona früher mal unter dänischer Herrschaft standen?«, fragte Michael Wagner, als sie vor der Haustür darauf warteten, dass ihnen geöffnet wurde. Vibekes Mitarbeiter war ein junger Schlaks mit blondem Backenbart, tüchtig und engagiert, der das Zeug dazu hatte, es in seiner Polizeikarriere weit zu bringen. »Tatsächlich?«, fragte sie interessiert.

Michael nickte eifrig. »Von 1640 bis zum deutsch-dänischen Krieg 1864. Danach wurden …«

Der Summer ertönte, und Vibeke drückte die Ein gangstür auf. »Erzähl mir gerne ein anderes Mal davon, ja?« Sie steuerte auf den Fahrstuhl zu und spürte eine leichte Anspannung. Das Überbringen von Todesnachrichten gehörte zu den schwersten Aufgaben ihres Jobs. Sobald sich die Tür öffnete, veränderte sich das Leben der Angehörigen mit einem Schlag.

Im dritten Stock wurden sie bereits in einer offen stehenden Haustür von einer schlanken, hochgewachsenen blonden Frau erwartet. Sie war lässig gekleidet, trug Jeans und eine helle Hemdbluse, deren seidener Stoff im Ton ihrer Haare schimmerte. Ihre Gesichtszüge wirkten ein wenig herb.

Ihr forscher Blick glitt von Vibeke zu Michael und wieder zurück. An ihren nackten Füßen glänzte roter Nagellack.

Vibeke zückte ihren Dienstausweis und stellte sich und ihren Mitarbeiter vor. »Dürfen wir vielleicht reinkommen?«

»Es ist ein wenig unordentlich, aber bitte.« Mirjam Dahlmann trat beiseite, um sie hineinzulassen. Sie hatte eine prägnante Stimme und wirkte nicht im Geringsten beunruhigt, so als gehörte es zu ihrem Alltag, dass die Polizei vor ihrer Haustür stand. Möglicherweise hing das mit ihrem Beruf als Rechtsanwältin zusammen. Michael hatte auf der Fahrt nach Hamburg erste Informationen über Mirjam Dahlmann eingeholt. Demnach war sie siebenunddreißig und arbeitete bei Hegebaum & Partner, einer internationalen Wirtschaftskanzlei mit weltweit fünfundzwanzig Standorten als Senior Associate. Fachgebiet Individual- und Kollektivarbeitsrecht.

Ihre Wohnung war großzügig geschnitten, die Ein richtung minimalistisch und in hellen Farben gehalten. Große Fensterflächen ließen viel Licht herein. Nirgends war auch nur ein Anflug von Unordnung oder ein Staubkorn zu sehen. Keinerlei Weihnachts- oder Silvesterdeko. Einzige Wohnaccessoires bildeten ein aschgraues Wollplaid und drei chromfarbene Kerzenhalter.

»Bitte.« Mirjam Dahlmann wies auf den Dreisitzer mit naturfarbenem Bezug, während sie selbst auf einem Lounge Chair mit geflochtener Sitzfläche Platz nahm.

Vibeke registrierte gepflegte Hände, schmucklose Finger. Kein Ehering. Sie setzte sich neben Michael auf die Couch.

»Heute Vormittag wurden in Sarup auf Als zwei Tote gefunden«, begann Vibeke das Gespräch ohne jegliches Vorgeplänkel. Sie hatte gelernt, dass man eine Todesnachricht am besten direkt überbrachte, ohne lange Einleitungen, da die Angehörigen sonst häufig dichtmachten und die eigentliche Nachricht nicht mehr aufnahmen. »Die endgültige Identifizierung steht noch aus, doch es handelt sich mit hoher Wahrscheinlichkeit um Ihre Eltern.«

Einen Moment blieb es vollkommen still im Raum. In der Nachbarwohnung schmetterte gerade Mariah Careys »All I Want for Christmas Is You«, und Vibeke schauderte innerlich.

»Mit hoher Wahrscheinlichkeit?«, wiederholte Mirjam Dahlmann. Sie wirkte vollkommen gefasst. »Also gibt es noch Hoffnung.«

Neben Vibeke rutschte Michael unruhig auf seinem Platz herum. Sie zog ihr Handy aus der Innentasche ihrer Winterjacke, holte ein Foto des toten Man nes aufs Display und hielt es der Rechtsanwältin hin. »Ist das Ihr Vater?«

Mirjam Dahlmann betrachtete es eingehend. »Ja, das ist er.« Sie war eine Spur blasser geworden. »Wie ist er gestorben? War es ein Herzinfarkt?«

Vor Vibekes geistigem Auge stiegen Bilder auf. Die an die Heizung gefesselten Leichen. Das entstellte Gesicht der Frau. Das viele Blut.

»Ihre Eltern sind keines natürlichen Todes gestorben.«

Mirjam Dahlmanns Augen weiteten sich. »Das heißt, sie wurden ermordet?«

Vibeke nickte.

Die Rechtsanwältin schlug für einen kurzen Moment die Hand vor den Mund. Einige Sekunden vergingen, ehe sie fragte: »Wie wurden meine Eltern umgebracht?« Sie wirkte wieder vollkommen kontrolliert.

»Zur genauen Todesursache kann ich Ihnen noch nichts sagen, dafür müssen wir die Obduktion abwarten«, hielt sich Vibeke bedeckt, »doch es hat den Anschein, als hätte man Ihre Mutter erschlagen.«

»Erschlagen«, wiederholte Mirjam Dahlmann. Ihre Schultern sackten herab. Ihr Kinn zitterte.

Vibeke ließ ihr einen Moment. »Was denken Sie, wer einen Grund gehabt haben könnte, Ihren Eltern Derartiges anzutun?«

Mirjam Dahlmann blickte zum Fenster. Regentropfen prasselten gegen die Scheiben und liefen in Rinnsalen hinab. Offenbar dachte sie gründlich nach.

»Ist Ihnen jemand eingefallen?« Vibeke zog Stift und Notizbuch aus ihrer Tasche.

Mirjam Dahlmann löste den Blick vom Fenster. »Ich kann Ihnen keinen Namen nennen, aber …«, sie stockte, »mein Vater war kein besonders umgänglicher Mensch. Vor allem, wenn es um seine Geschäfte ging. Wenn ich sein Wesen mit drei Adjektiven beschreiben müsste, wären es berechnend, dominant und manipulativ.«

Vibeke tauschte einen flüchtigen Blick mit Michael, der fragend die blonden Brauen hob. »Auch als Vater?«

Das Gesicht der Rechtsanwältin verschloss sich. »Es war zumindest nicht immer einfach, die Tochter von Konrad Dahlmann zu sein.« Sie nestelte am Knopf ihrer Bluse. »Ehrlich gesagt fällt es mir gerade etwas schwer, darüber zu sprechen.«

Vibeke konnte die Frau verstehen, auch sie redete nicht gerne über persönliche Dinge. Sie wechselte das Thema. »Wann haben Sie Ihre Eltern zuletzt gesehen?«

»Heiligabend. Wir verbringen ihn jedes Jahr bei meinen Eltern. Mein Bruder, seine Familie und ich. An den Weihnachtstagen geht dann jeder seiner Wege.«

»Waren Ihre Eltern bei dem Zusammentreffen anders als sonst? Ist vielleicht etwas Ungewöhnliches vorgefallen?«

Mirjam Dahlmann schüttelte den Kopf. »Es war alles wie immer. Meine Mutter hat den ganzen Tag in der Küche gestanden, um uns ein Drei-Gänge-Menü zu kredenzen, und wie üblich war es perfekt. Und mein Vater wollte den Abend nach dem Essen und seinem Jahrescheck möglichst schnell über die Bühne bringen.«

»Jahrescheck?«, fragte Michael.

Mirjam Dahlmann ließ sich Zeit mit ihrer Ant wort. »Mein Vater … Er zog an Weihnachten immer Bilanz. Vor allem, was uns Kinder betraf.« Sie drehte an ihrer Armbanduhr. Polierter Edelstahl, sichtlich teuer. »Gab es eine Beförderung oder eine Bonuszahlung, wie viel Umsatz wurde gemacht, welcher Karriereschritt steht als Nächstes an. Solche Dinge. Mein Vater akzeptierte keinen Stillstand. Für ihn ging es immer nur um höher, schneller, weiter.«

»Das war sicher nicht ganz einfach«, sagte Vibeke.

Mirjam Dahlmann lächelte matt.

»Den Heiligabend bei Ihren Eltern, haben Sie den in Dänemark verbracht?«, fragte Michael.

»Nein. In meinem Elternhaus, hier in Hamburg.« Mirjam Dahlmann verzog das Gesicht. »Das Haus in Dänemark ist ja noch nicht wirklich bewohnbar. In meinen Augen war das Ganze ohnehin eine Schnapsidee meiner Mutter.«

Vibeke nahm den Faden umgehend auf. »Wie kam es zu dem Hauskauf? Hatten Ihre Eltern einen Bezug zu Dänemark?«

»Meine Mutter war als Kind häufig mit meinen Großeltern im Urlaub dort. Und vor ein paar Jahren, als meine Eltern eine Ehekrise hatten, ist sie allein nach Als gefahren. Hinterher sagte sie, die Insel hätte ihr unglaublich gutgetan. Seitdem träumte sie davon, dort einen alten Bauernhof oder ein Haus zu sanieren. Sie sehnte sich nach einem ruhigeren Leben. Hamburg war ihr zu hektisch.«

»Und Ihr Vater hat da mitgemacht?«, erkundigte sich Michael erstaunt. »Ich meine, er hatte doch in Hamburg seine Firma.«

Mirjam Dahlmann zog die Augenbrauen zusam men. »Dass er sich auf die Sache eingelassen hat, hat auch mich gewundert. Doch ich vermute, es war ein Kompromiss. Mein Vater hatte meiner Mutter schon seit Langem versprochen, in den Ruhestand zu gehen, er hatte deshalb sogar einen Geschäftsführer eingestellt, doch er konnte sich nicht von der Firma lösen.« Sie drehte erneut an ihrer Armbanduhr. »Meine Mutter bekam ihr ruhiges Leben und ihr Sanierungsprojekt, und mein Vater blieb seiner Firma erhalten. Er hatte vor, weiter in Hamburg zu wohnen und an den Wochenenden nach Dänemark zu pendeln. Bislang hat er dort allerdings noch nicht einmal übernachtet.«

Eine Trennung auf Raten, schoss es Vibeke durch den Kopf. »Wie stand es zuletzt um die Ehe Ihrer Eltern?«

»Darüber habe ich mir ehrlichweise nicht viele Gedanken gemacht.« Sie rieb sich die Schläfen. »Sie hatten hin und wieder Streit, aber das bleibt vermutlich nicht aus, wenn man lange verheiratet ist. Ansonsten waren meine Eltern ein eingespieltes Team. Sowohl privat als auch beruflich.« Ein Lächeln streifte ihre Lippen und gab einen Blick auf perfekte weiße Zähne frei. »Sie haben eine ganze Weile zusammen Houseflipping betrieben.«

Vibeke hob fragend die Brauen.

»Es war das Steckenpferd meiner Mutter«, erklärte Mirjam Dahlmann, »und mein Vater hat sie dabei unterstützt. Sie haben alte sanierungsbedürftige Häuser gekauft, sie renoviert und im Anschluss mit sattem Gewinn wieder verkauft. Eine Zeit lang waren sie damit auch recht erfolgreich, doch mit den steigenden Immobilienpreisen und dem Mangel an Objekten wurde das Geschäftsmodell mit der Zeit immer schwieriger. Mein Vater hat sich deshalb davon zurückgezogen und sich auf sein Kerngeschäft konzentriert.« Sie bekam einen harten Zug um den Mund. »Mietshäuser kaufen, die Bewohner rausdrängen und die Wohnungen als Eigentum wieder verkaufen. Mit höchstmöglichem Gewinn. Er war ständig auf der Suche nach dem großen Deal.«

»Und das Haus in Dänemark?«, hakte Vibeke nach. »War das ein Flipping-Projekt?«

»Nein. Meine Mutter hatte vor, dort zu wohnen.«

»Hat sie etwas von den Nachbarn in Sarup erzählt? Gab es da vielleicht Probleme?«

Mirjam Dahlmann schüttelte den Kopf. »Meine Eltern hatten dort bislang kaum Kontakt.«

»Was ist mit Familie und Freunden? Kam es da in letzter Zeit zu irgendwelchen Auseinandersetzungen?«

»Nicht dass ich wüsste. Wobei …«, sie strich sich gedankenverloren eine blonde Haarsträhne aus dem Gesicht, »mein Vater lag schon seit Jahren mit seinem Bruder im Clinch. Wegen des Hauses meiner verstorbenen Großeltern. Genaueres weiß ich leider nicht, dafür müssten Sie sich an meinen Onkel wenden. Ulrich Dahlmann. Er lebt in Schleswig. Thomas und ich haben schon länger keinen Kontakt mehr zu ihm.«

Vibeke notierte die Angaben. »Leben die Eltern Ihrer Mutter noch?«

»Nur noch meine Großmutter. Sie ist allerdings dement und in einer Pflegeeinrichtung untergebracht. Ich kann Ihnen aber die Adresse geben, wenn Sie möchten.«

Vibeke nickte. »Gibt es sonst noch Angehörige, mit denen wir sprechen können?«

»Soweit ich weiß, gibt es bis auf Thomas und mich niemanden mehr.«

»Wir brauchen eine Liste mit den Kontaktdaten von Freunden und Bekannten Ihrer Eltern.« Vibeke legte ihre Visitenkarte auf den Tisch. »Vielleicht könnten Sie mir die per E-Mail zuschicken. Außerdem müssten wir mit jemandem in der Firma Ihres Vaters sprechen.«

»Da wenden Sie sich am besten an seinen Geschäftsführer. Julius Faber.«

Vibeke schrieb den Namen ins Notizbuch. »Zur endgültigen Identifizierung benötigen wir Material für einen DNA-Abgleich, noch schneller ginge es allerdings mit einem Zahnabgleich. Bei welchem Zahnarzt waren Ihre Eltern in Behandlung? Bei Ihrem Bruder?«

»Nein. Sie gingen seit Jahren zu Dr. Mänhard in der Rothenbaumchaussee.« Sie betrachtete einen Moment ihre Hände. »Wann sind meine Eltern gestorben? Eigentlich wollte ich sie heute noch anrufen, um ihnen ein gutes neues Jahr zu wünschen, aber ich …« Ihre Stimme brach, und Tränen traten in ihre Augen. Offenbar schien sie den Tod ihrer Eltern erst jetzt richtig zu begreifen.

»Den genauen Todeszeitpunkt kennen wir noch nicht, aber laut erster Einschätzung der Rechtsmedizin sind Ihre Eltern seit mindestens achtundvierzig Stunden tot.«

Stille.

»Dann sind die Karten verfallen«, murmelte Mirjam Dahlmann zusammenhangslos.

»Karten?«

»Entschuldigung. Ich war nur in Gedanken. Meine Eltern hatten Karten für das Silvesterkonzert in der Elbphilharmonie. Meine Mutter hatte sich schon seit Wochen darauf gefreut.«

Vibeke nahm den neuen Faden sofort auf. »Wie war Ihr Verhältnis zu Ihrer Mutter?«

»Meistens gut.« Mirjam Dahlmann hatte die Hände vor dem Gesicht gefaltet, im Blick spiegelte sich leichte Wehmut. »Unser Verhältnis wäre besser gewesen, wenn sie sich auch mal auf die Seite ihrer Kinder gestellt hätte«, ein Hauch von Bitterkeit schwang jetzt in ihrer Stimme mit, »aber in unserer Familie drehte sich immer alles um meinen Vater.« Sie verstummte, ließ die Hände sinken und knetete mit gesenktem Blick ihre langen Finger.

Vibeke klappte ihr Notizbuch zu und steckte es zurück in ihre Tasche. »Gut, wir lassen Sie jetzt in Ruhe und melden uns, sobald die Identität von der Rechtsmedizin bestätigt wurde. Sollte vorher etwas sein, melden Sie sich jederzeit.« Sie und Michael erhoben sich.

Hamburg, Deutschland

Die Fahrt von Ottensen nach Niendorf dauerte keine zwanzig Minuten, was vermutlich am Feiertag lag, üblicherweise war die Strecke unter der Woche heillos verstopft. Jetzt standen Vibeke und Michael an einem Rotklinker-Reihenendhaus Thomas Dahlmann gegenüber, einem dunkelhaarigen Mittdreißiger, der offenbar kurz zuvor den Malerpinsel geschwungen hatte. Auf seiner markanten Nase thronte eine runde hellbraune Brille, die seinem Aussehen etwas Intellektuelles verlieh, Shirt und Hose waren mit grünen Farbsprenkeln übersät. Er war aschfahl im Gesicht. »Meine Schwester hat mir schon Bescheid gegeben …« Er brach ab. »Bitte, kommen Sie doch erst einmal rein.«

»Danke.« Vibeke ließ ihren Dienstausweis, den sie ihm zuvor gezeigt hatte, zurück in die Jackentasche gleiten und trat, gefolgt von Michael, in den mit Malervlies ausgelegten Flur. Der frisch gestrichene Grünton an den Wänden glich den Farbsprenkeln auf Thomas Dahlmanns Kleidung. Aus dem Obergeschoss drangen die Töne eines Hörspiels. »Yo, wir schaffen das!« Es folgte ein hämmerndes Geräusch.

Thomas Dahlmann führte sie am Ende des Flurs in eine Küche und deutete auf einen Tisch mit vier Stühlen, ehe er die Tür schloss.

»Wer tut so etwas?« Er fuhr sich mit der Hand über den Mund. Im Gegensatz zu seiner Schwester stand ihm das Entsetzen deutlich ins Gesicht geschrieben.

»Das würden wir gerne von Ihnen wissen.« Vibeke setzte sich auf einen Stuhl aus blau lackiertem Holz. Die Farbe war stellenweise abgeblättert, und er kippelte bedenklich, doch sie hoffte, dass er ihrem Gewicht standhielt. Auch die restlichen Küchenmöbel schienen bereits etliche Jahre auf dem Buckel zu haben. Die weißen Fronten waren verfärbt und zerkratzt, das Ceranfeld zierten zahlreiche eingebrannte Fettflecken. Hinter dem Herd löste sich die Folie, die als Spritzschutz diente, von der Rückwand.

»Ich habe nicht die geringste Ahnung«, erwiderte Thomas Dahlmann. Im nächsten Moment nahm seine Miene einen grimmigen Ausdruck an. »Doch wenn ich ehrlich bin, überrascht es mich auch nicht sonderlich. Zumindest nicht, was meinen Vater betrifft. Er hat sich in seinem Leben einige Feinde gemacht.«

Vibeke sah ihn interessiert an. »Haben Sie Namen für uns?«

Thomas Dahlmann schüttelte den Kopf. »Keine konkreten. Doch mein Vater war mitunter skrupellos, wenn es um seine Immobiliendeals ging. Geldangebote, Drohungen und Schikanen, er war ein Meister darin, Mieter zu verdrängen.« Er schob sich die Brille mit dem Zeigefinger hoch. »Wenn er nicht weiterkam, fuhr er die Zermürbungstaktik. Lang andauernde Bauarbeiten oder er verwickelte sie wegen kleiner Vergehen in Rechtsstreitigkeiten. Er beschäftigte einen Haufen Anwälte und überzog Leute, die sich ihm in den Weg stellten, mit haltlosen Klagen, bis nicht nur ihre finanziellen Ressourcen erschöpft waren, sondern sie auch psychisch so zermürbt waren, dass sie klein beigaben. Manchmal hatte ich den Eindruck, es bereitete ihm einen Heidenspaß, andere Menschen emotional fertigzumachen.« Er presste die Lippen zusammen, während sein Blick über das Schachbrettmuster der Bodenfliesen wanderte. Seine Anspannung war jetzt nahezu greifbar.

Vibeke spürte instinktiv, dass sich seine Aussage nicht nur auf Außenstehende bezog. »Wie war Ihr Verhältnis zu ihm?«

Es dauerte eine Weile, ehe Thomas Dahlmann antwortete. »Nicht besonders gut.« Seine Stimme gewann an Schärfe. »Niemand konnte es ihm recht machen. Und ich schon mal gar nicht. Wenn es überhaupt jemand schaffte, dann meine Mutter. Aber sie wählte auch den einfacheren Weg, indem sie sich auf seine Seite stellte.« Resignation lag in seinem Blick.

In Vibekes Gedanken begann sich ein Bild zu formen, wie es um die Familie gestanden hatte. Sie rief sich in Erinnerung, dass über neunzig Prozent aller Tötungsdelikte Beziehungstaten waren und der Täter im Familien- und Freundeskreis zu finden war. War dies auch bei den Dahlmanns der Fall? »Wann haben Sie Ihre Eltern zuletzt gesehen?«

»Heiligabend«, erwiderte Thomas Dahlmann prompt.

Auch die Antworten auf die nachfolgenden Fragen, die Vibeke ihm stellte, wurden ähnlich beantwortet wie von seiner Schwester.

»Wissen Sie, ob es in letzter Zeit zwischen Ihren Eltern Probleme gab?«, fragte sie schließlich.

Thomas Dahlmann schüttelte den Kopf. »Allerdings hatte ich manchmal das Gefühl, meine Mutter wollte weg von ihm. Von meinem Vater.«

Dieser Gedanke war Vibeke auch schon gekommen. War es am Ende Konrad Dahlmann gewesen, der seine Frau erschlagen hatte? Ein erweiterter Suizid?

Das fehlende Auto fiel ihr wieder ein. Eine schwarze Mercedes S-Klasse Limousine, wie Michael in Erfahrung gebracht hatte.

»Der Wagen Ihres Vaters stand nicht auf dem Grundstück. Könnte er in der Werkstatt sein? Hat Ihr Vater Ihnen gegenüber irgendetwas erwähnt?«

Thomas Dahlmann runzelte die Stirn. »Nein. Der Wagen war keine drei Monate alt. Weshalb sollte er in der Werkstatt sein?«

»Wir gehen nur verschiedenen Möglichkeiten nach«, sagte Vibeke. »Hatten Ihre Eltern für gewöhnlich Wertgegenstände bei sich? Vielleicht teuren Schmuck?«

»Mein Vater trug immer seine alte Breitling. Er nahm sie nicht einmal zum Schlafen ab. Hin und wieder ließ er das Lederarmband auswechseln, doch er schaffte sich nie eine neue an.«

»Ich nehme an, die Uhr war wertvoll?«

»Eher in ideeller Hinsicht. Dadurch, dass er sie ständig trug, hatte sie einige Gebrauchsspuren.«

Die Tür wurde aufgestoßen, und ein kleines, etwa dreijähriges Mädchen mit Werkzeuggürtel kam in die Küche gestürmt. Auf ihrem ungebändigten braunen Lockenschopf thronte ein selbst gebastelter Dinosaurierkopf aus grünem Papier. »Papa, du …« Als sie die Besucher sah, blieb die Kleine abrupt stehen.

Eine zierliche Blondine tauchte hinter dem Kind in der Tür auf. »Entschuldigt. Ich konnte Jule nicht zurückhalten.« Sie lächelte unsicher, während sie nach der Hand des Mädchens griff. Unter ihrer Bluse wölbte sich ein Schwangerschaftsbauch.

Vibeke erwiderte ihr Lächeln. »Kein Problem. Wir sind ohnehin fürs Erste fertig.« Sie erhob sich und wandte sich an Thomas Dahlmann. »Wir melden uns bei Ihnen, sobald die Ergebnisse der Rechtsmedizin vorliegen.«

»Eigenartig«, sagte Michael, sobald sie wieder vor dem Haus auf dem Gehweg standen. »Der Mann hat sich recht schnell von seinem Schock erholt. Und seine Schwester schien das alles regelrecht kaltzulassen. Also wenn man meine Eltern umgebracht hätte …«, er rang nach den richtigen Worten, »ich wäre vollkommen fertig.«

»Die Menschen reagieren unterschiedlich«, gab Vibeke zu bedenken. Ihr Blick heftete sich auf das Reihenendhaus. »Oder einer von beiden ist in die Sache verstrickt.«

Skovby, Dänemark

»Ein großer Cappuccino und ein Spandauer«, rief die Barista und reichte Søren seine Bestellung mit dem Plundergebäck über den Glastresen, in dem neben zahlreichen Brot- und Brötchensorten, süße Verführungen in Form von Zimtschnecken bis hin zu Fastelavnsboller, dänischen Fastnachtsbrötchen, mit unterschiedlichsten Füllungen lauerten. »Und ein Kaffee ohne alles und ein Hühnchen-Speck-Sandwich.«

»Danke!« Rasmus nahm sein Essen entgegen und steuerte auf den Tisch mit Stuhl und Sitzbank zu, auf der sich Søren gerade aus seiner nassen Winterjacke schälte. Darunter kam ein dicker grauer Strickpullover mit Zopfmuster zum Vorschein.

Rasmus stellte seinen Teller und den Kaffeebecher ab und zog ebenfalls seine Jacke aus, ehe er sich Søren gegenüber auf den Stuhl setzte. Vor dem Fenster regnete es noch immer Bindfäden.

»Ich schwör dir, das sind die besten Spandauer, die du auf der Insel kriegen kannst«, sagte Søren und biss genüsslich in das Gebäck hinein. Dabei tropfte Marmelade auf seinen Handrücken. »Und weißt du, was das Beste ist?«, fragte er zwischen zwei Bissen, das Gesicht noch immer von der Kälte gerötet. »Dass unser neues Haus keine zehn Minuten von hier entfernt steht. Zu Fuß, wohlgemerkt. Mein Frühstück ist damit gesichert.« Er grinste zufrieden.

Rasmus trank einen Schluck Kaffee. »Dann hat also mit dem Kauf alles funktioniert?« Sein Kollege hatte ihm schon im Oktober von einem Hof in Skovby erzählt, den er zu kaufen plante. Das Haus im Zentrum von Sønderborg, wo Søren derzeit wohnte, war klein und verwinkelt und platzte durch die stetig wachsende Familie mittlerweile aus allen Nähten. Søren hatte sechs Töchter, von denen zwei bei ihm und seiner Frau Brigitte lebten und die anderen bei seinen drei Ex-Frauen, mit denen er sich noch immer gut verstand.

»Wir haben den Kaufvertrag vor Weihnachten abgeschlossen.« Søren wischte sich den Mund mit einer Papierserviette ab. Von seinem Spandauer waren nur noch ein paar Krümel auf dem Teller zurückgeblieben. Er zog sein Handy aus der Jackentasche, holte ein Foto aufs Display und hielt es Rasmus hin.

Ein dreiteiliger Flügelbau aus rotem Backstein umrahmte einen hübschen gepflasterten Vorhof aus alten Feldsteinen.

Das Haupthaus hatte ein tief gezogenes schwarzes Dach und weiße Sprossenfenster und die weiße Eingangstür wurde von einer Umrandung aus Fassadenstuck geschmückt.

Rasmus stieß einen Pfiff aus. »Das ist ja eine Villa!« Er biss in sein Sandwich.

»Zweihundertzwanzigtausend Kronen«, berichtete Søren zufrieden. »Durch den Verkauf unseres alten Hauses haben wir sogar noch Geld für die Renovierung übrig. Es muss zwar einiges getan werden, aber dafür gibt es jede Menge Platz.« Er trank einen Schluck Cappuccino. »Das Grundstück hat einen halben Hektar, und allein die Wohnfläche vom Haupthaus beträgt zweihundertachtzig Quadratmeter. Die Scheune und das Landwirtschaftsgebäude lassen sich zusätzlich ausbauen. Für Brigitte, mich und die Kinder sollte das wohl ausreichen. Theoretisch könnten sogar noch ihre Mütter mit einziehen.« Er lachte dröhnend.

Rasmus grinste schief. »Wann zieht ihr um?« Er widmete sich weiter seinem Sandwich.

»Mitte Februar. Wir haben schon die Schlüssel bekommen. Sobald die Zimmer der Kinder halbwegs fertig sind, geht’s los. Und dann gibt es eine Einweihungsfeier, die sich gewaschen hat.« Søren leerte den Rest seines Kaffeebechers, wischte sich den Mund ein weiteres Mal mit der Serviette ab und knüllte sie anschließend auf dem Teller zusammen. »Du bist selbstverständlich eingeladen.« Er runzelte die Stirn. »Ich hoffe nur, dass uns der neue Fall keinen Strich durch die Rechnung macht. Brigitte dreht mir den Hals um.«

»Das wird schon alles klappen«, sagte Rasmus zuversichtlich, auch wenn zu diesem Zeitpunkt niemand voraussagen konnte, wie sich die Ermittlungen ent wickelten. In den letzten zwei Stunden hatten sie gefühlt halb Sarup abgeklappert, was vermutlich auch stimmte, denn der Ort hatte keine hundert Einwohner. Natürlich hätten sie auch ein paar Uniformierte losschicken können, doch sie wollten sich lieber selbst ein Bild von der Nachbarschaft machen.

Die meisten Befragten waren den Dahlmanns bislang nicht begegnet, sondern wussten nur, dass ein deutsches Ehepaar das Haus von Tinne Nygaard gekauft hatte, die vor Kurzem in ein Seniorenheim in Sønderborg gezogen war. Eine Frau, die an der Durchgangsstraße in einem Reetdachhaus wohnte, hatte Luise Dahlmann in der letzten Woche am Strand gesehen, jedoch nicht mit ihr gesprochen.

Die Menschen in Sarup hatten sich über den Doppelmord in ihrer Nachbarschaft entsetzt gezeigt, doch sobald Rasmus erwähnt hatte, dass es sich bei den Opfern um die deutschen Zuzügler handele, war eine Veränderung mit ihnen vorgegangen, und sie hatten ein reserviertes, fast schon abweisendes Verhalten an den Tag gelegt.

Rasmus konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die Dahlmanns im Ort nicht gern gesehen gewesen waren. Doch vielleicht irrte er sich, und die Leute standen unter Schock, weil in ihrer Gegend ein Mörder herumlief. Keiner der Befragten hatte letzten Freitag etwas Ungewöhnliches mitbekommen oder beobachtet.

Rasmus spülte gerade den letzten Bissen seines Sandwiches mit einem Schluck Kaffee hinunter, als das Piepen seines Handys den Eingang einer Textnachricht ankündigte. Er warf einen kurzen Blick auf das Display. »Die Spusi ist am Einpacken.«

»Dann lass uns los.« Søren erhob sich, zog Jacke und Mütze über, ehe er seinen leeren Teller und Kaffeebecher zur Geschirrrückgabe trug. »Bis nächstes Mal. Hej hej.«

»Hej hej«, kam es von der jungen Frau hinter dem Tresen freundlich zurück.

Rasmus folgte Søren ins Freie. Sofort fegte ihm der Wind Schneeregen ins Gesicht. Er zog sich die Kapuze seiner Winterjacke über den Kopf und eilte neben seinem Kollegen zur Rückseite des Gebäudes, wo sein VW-Bus auf dem Parkplatz stand.

Kurz darauf schob er sich hinter das Lenkrad. »Wir sollten noch einen Zwischenstopp am Nachbarhof einlegen. Vielleicht ist dort jetzt jemand zu Hause.«

»Gute Idee.« Søren zog die Beifahrertür zu.

Rasmus startete den Motor und rollte aus der Einfahrt.

Keine fünf Minuten später passierten sie den Ortseingang von Sarup und nahmen die Abzweigung, die zum Haus der Dahlmanns führte. Sie fuhren zwischen Feldern und einer kleinen Ansammlung Häuser vorbei, ehe sich die schmale Straße ins schier endlose Nirgendwo schraubte.

Die Scheibenwischer quietschten, während Søren auf dem Beifahrersitz auf seinem Handy herumtippte. Draußen ließ der Regen die Konturen von Wiesen, Äckern und Asphalt verschwimmen, und die Sicht war so schlecht, dass Rasmus fast die Einfahrt verpasst hätte, die zum Nachbarhof der Dahlmanns führte. Schließlich brachte er seinen Bulli vor einem u-förmig angelegten Gebäude mit ockerfarbener Fassade und bröckelndem Putz zum Stehen. Unter einem überdachten Stellplatz parkte ein alter roter Kombi, der bei ihrem ersten Besuch noch nicht dort gewesen war.

Rasmus stieg gefolgt von Søren aus dem VW-Bus, und gemeinsam gingen sie zum Eingang. Das Holz der Haustür wies einige Risse auf, und auch die Klinke war alt und abgegriffen.

Søren drückte auf die Klingel. Es dauerte eine Weile, ehe hinter der Tür schlurfende Schritte zu hören waren. Kurz darauf wurde ihnen geöffnet.

Ein alter Mann um die achtzig stand vor ihnen. Groß und hager, der Rücken leicht gebeugt, das Gesicht von zahlreichen Falten durchzogen. Zwischen seinen spärlichen grauen Haaren schimmerte rosa die Kopfhaut durch.

»Was wollt ihr?«, fragte er unwirsch. Ein wacher Blick aus leicht wässrigen blauen Augen.

Rasmus zückte seinen Dienstausweis. »Rasmus Nyborg von der Politi Esbjerg und Søren Molin von der Politi Sønderborg. Wir kommen wegen dem, was bei deinen Nachbarn passiert ist.«

»Den Deutschen?« Das zweite Wort spie er förmlich aus.

Rasmus nickte. »Luise und Konrad Dahlmann. Sie wurden heute Morgen tot aufgefunden. Ermordet.«

»Ach.« Es klang keinesfalls entsetzt, sondern vielmehr verwundert.

Rasmus runzelte die Stirn. Diese Reaktion war neu. »Können wir vielleicht reinkommen?«

Der Alte rührte sich keinen Millimeter von der Stelle. »Ich wüsste nicht, weshalb. Ich hatte mit denen nichts zu tun.« Er deutete mit einer Kopfbewegung in die Richtung, wo sich das Haus der Dahlmanns befand.

»Du hast schon verstanden, was mein Kollege dir gerade erzählt hat …« Sørens Blick glitt suchend zum Klingelschild, doch es stand kein Name darauf. »Wie heißt du?«

»Eldar. Eldar Moberg«, kam es widerwillig zurück. »Und ich mag mit dreiundachtzig vielleicht nicht mehr der Jüngste sein, aber die hier«, er tippte sich mit den Händen auf die Ohrmuscheln, »funktionieren noch immer einwandfrei.« Er schnaubte. »Die Deutschen sollen bleiben, wo der Pfeffer wächst. Dann passiert ihnen hier auch nichts.« Seine Stimme war voller Feindseligkeit.

»Willst du damit andeuten, dass es jemand von hier war, der die beiden umgebracht hat?«, fragte Rasmus scharf.

»Ich will überhaupt nichts andeuten.« Eldar Moberg reckte kampfeslustig das Kinn. »Ich habe nichts gesehen, ich weiß nicht, was drüben in Tinnes Haus passiert ist, und es interessiert mich auch nicht. Ich weiß nur, dass es denen recht geschieht. Erst nehmen die Preußen die Düppeler Schanzen ein, stehlen uns das halbe Land, dann besetzen die Deutschen fünf Jahre lang Dänemark, bringen dazu das ganze Pack mit, das wir durchfüttern müssen.« Seine Stimme schraubte sich eine Oktave höher. »Und als wir dachten, wir hätten endlich unsere Ruhe, kommt da irgendeine Pandemie, und die Deutschen fallen schon wieder bei uns ein. Kommen her mit ihren dicken SUV und nisten sich auf unserer Insel ein. Doch eins sag ich euch: Ehe ich einem Deutschen meinen Hof verkaufe, jage ich mir lieb er eine Kugel in den Kopf.« Er hatte sich in Rage geredet und musste erst tief Luft holen, ehe er hinzufügte: »Wenn ihr also über die da etwas wissen wollt«, er deutete erneut in Richtung des Dahlmann-Hauses, »dann fragt woanders und lasst mir gefälligst meine Ruhe.« Er schlug mit Schwung die Haustür zu.

Søren warf Rasmus einen verblüfften Blick zu. »Was für ein schräger Typ.«

»Ein Freund von den Deutschen ist er jedenfalls nicht«, stellte Rasmus fest.

Beide sahen zu dem ockerfarbenen Gebäude. Am Fenster neben dem Eingang bewegte sich eine Gardine.

»Das war fast schon beängstigend«, schob Søren hinterher. »Aber ein Dreiundachtzigjähriger wird wohl kaum zwei Menschen erschlagen haben, oder?«

Padborg, Dänemark

Das Gemeinsame Zentrum der deutsch-dänischen Polizei- und Zollzusammenarbeit war unweit des alten Standorts in einen der neuen Flügel des u-förmig angelegten Gebäudekomplexes umgezogen, mitten im Padborger Industriegebiet zwischen Toldbodvej und Lejrvejen. Ein zweistöckiger Backsteinbau mit drei Eingängen, die mit A, B und C beschriftet waren. An der Fassade leuchtete der Schriftzug POLITI.

Das Büro der Sondereinheit befand sich im ersten Stock, ein großer heller Raum mit sechs Schreibtischen, drei Aktenschränken sowie einem Sideboard, auf dem auch hier die obligatorische Kaffeekanne stand. Die Landkarte des deutsch-dänischen Grenzgebiets, die bereits zahlreiche Beschriftungen und kleine Löcher von den Fähnchen aufwies, die frühere Leichenfundorte markiert hatten, war ebenfalls mit umgezogen und hing an der frisch gestrichenen weißen Wand darüber.

Rasmus trat hinter Søren ins Büro.

»Hej, ihr!« Pernille Larsen, eine dunkelhaarige Schönheit von der dänischen Polizei, ließ ihre charmante Zahnlücke aufblitzen, während sie aufstand und ihnen lächelnd entgegentrat.

Auch Luís Silva, ein portugiesischer Informatiker mit deutscher Polizeiausbildung, der seit einem Kopfsprung in seichtes Gewässer im Rollstuhl saß, rollte hinter seinem Schreibtisch hervor.

Rasmus erwiderte Pernilles Umarmung, gab Luís ein »High five« und wandte sich dann Vibeke Boisen zu, die gerade ein Telefonat beendete und sich jetzt ebenfalls erhob. Sie sah erholt aus. Ihr sonst so blasser Teint hatte ein wenig Farbe bekommen, und ihre gletscherblauen Augen leuchteten noch heller als gewöhnlich. Wie immer wirkte sie wie frisch aus dem Ei gepellt, trug eine ihrer akkuraten weißen Blusen zur Skinny Jeans. Ihr hellbraunes Haar war wie üblich zu einem strengen Zopf gebunden.

»Vibeke!«, rief er, und ein warmes Gefühl der Freude breitete sich in ihm aus. Am liebsten hätte er sie umarmt, doch er wusste, dass sie körperliche Nähe nicht besonders mochte, und beließ es bei einem schiefen Lächeln. »Weihnachten gut überstanden?«

»Hej, Rasmus.« Vibeke lächelte ihn offen und h erzlich an. »Auf den Halligen war das kein Problem. Dort hatte alles geschlossen. Nordseenebel anstatt Glühweinbuden. Und bei dir?«

»Alles in bester Ordnung. Die Weihnachtstage liefen weitestgehend gesittet ab. Zu viel Essen, zu viel Alkohol.« Er klopfte sich auf den nicht vorhandenen Bauch.

Vibeke schmunzelte. Im nächsten Moment wurde ihr Gesicht ernst und ihr Ton bekam etwas Geschäftsmäßiges. »Es ist schon spät, wir sollten also besser anfangen.«

Keine Minute Small Talk, und sie hatte schon wieder ihre betriebsame Gangart eingelegt. Das war nahezu rekordverdächtig.

Rasmus zog die Jacke aus und hängte sie über seinen Schreibtischstuhl. Es war mittlerweile halb sechs, und eigentlich hätte er direkt zur Rechtsmedizin nach Odense aufbrechen müssen, doch zunächst schenkte er sich am Sideboard Kaffee in einen der neuen Becher mit dem Logo des Gemeinsamen Zentrums ein. Zwölf gelbe Sterne auf dunkelblauem Hintergrund bildeten einen Kreis um die deutsche und die dänische Flagge. Den Teller mit üppig belegten Broten ignorierte er. Sobald er an seinem Platz saß, ging sein Blick zu dem leer gebliebenen Schreibtisch. »Was ist mit Jens? Hat er Urlaub?«

»Er liegt flach, irgendein grippaler Infekt«, erwiderte Luís. »Aber er kommt dazu, sobald er sich wieder einigermaßen fit fühlt.«

Søren verschränkte die Arme vor der Brust. »Der soll mit seinen Bazillen bloß zu Hause bleiben. Wir haben das gerade alles durch. Erst die beiden Kleinen, dann Brigitte und zuletzt ich. Und das ausgerechnet an Weihnachten.« Sein Blick ging zu Vibeke. »Falls wir Unterstützung brauchen, können wir ja Michael Bescheid geben.«

»Michael hält in Flensburg die Flagge hoch. Conny ist im Urlaub, und wir haben krankheitsbedingt jede Menge Ausfälle. Wir werden vorerst zu fünft auskommen müssen. Also legen wir los!« Vibeke sah Rasmus an. »Wie weit ist die Spurensicherung?«

Rasmus lehnte sich in seinem Stuhl zurück. »Sie sind mit dem Tatort so weit durch. Im Erdgeschoss wurde einiges an Spuren gefunden. Jede Menge Fingerabdrücke, DNA-Spuren am Mantel des Mannes, Schuhabdrücke. Es wird eine Weile dauern, alles auszuwerten und zuzuordnen, und natürlich ist fraglich, ob irgendetwas davon vom Täter stammt.«

»Oder von der Täterin«, verbesserte ihn Vibeke umgehend.

Søren blähte die Backen. »Dadrinnen sah es aus wie in einem Schlachthaus. Zumindest einem der Opfer wurde der Schädel eingeschlagen. Glaubst du ernsthaft, das könnte eine Frau gewesen sein?«

»Ich möchte es nur nicht von vornherein ausschließen«, erwiderte Vibeke. »Bislang kennen wir weder das Motiv noch haben wir die Tatwaffe. Oder wurde die mittlerweile gefunden?«

Rasmus schüttelte den Kopf. »Weder im Haus noch auf dem Grundstück.« Er langte nach seinem Kaffeebecher und betrachtete die Fotos von den beiden an die Heizung gebundenen Opfern auf dem digitalen Whiteboard. Die Frau war übel zugerichtet, und neben ihr wirkte der Mann nahezu unversehrt, zumin dest, wenn man von der riesigen Blutlache, die sich unter ihm gebildet hatte, absah. Die Aufnahmen mussten entstanden sein, ehe die Spurensicherung eingetroffen war, jedenfalls ließ das Fehlen der Nummerntafeln, die für die Tatortdokumentation notwendig waren, darauf schließen. »Wer hat die Fotos gemacht?«

»Das war ich«, sagte Vibeke. »Wurde im Haus noch etwas Aufschlussreiches gefunden?«

»Nicht wirklich.« Rasmus fasste für das restliche Team den vorherigen Besuch am Tatort zusammen. »Die Räume im Obergeschoss waren bis auf das Schlafzimmer komplett leer. Und auch dort standen nur ein Klappbett und ein provisorischer Kleiderschrank, so ein Faltteil mit Reißverschluss.« Er stellte den Kaffeebecher zurück auf die Schreibtischplatte. »In der Küche war es ähnlich. Von allem nur das Nötigste. Es hat den Anschein, als wären die Dahlmanns noch gar nicht richtig eingezogen. Außerdem sah es so aus, als wäre in dem Haus mindestens dreißig Jahre nichts gemacht worden.«

Søren nickte zustimmend.

»Damit könntest du sogar recht haben«, sagte Vibeke. »Die Tochter erzählte, dass ihre Mutter das Haus erst renovieren wollte, ehe sie einzog. Und ihr Vater hatte wohl ohnehin vor zu pendeln.«

Rasmus verschränkte die Hände im Nacken. »Hatten die Dahlmanns ihren Hauptwohnsitz überhaupt in Sarup gemeldet?«

Für Ausländer war es nicht einfach, in Dänemark eine Immobilie zu erwerben, vor allem nicht, wenn es um Ferienhäuser ging. Seit 1959 gab es sogar ein Gesetz, das verhinderte, dass die dänischen Sommerhäuser von Bürgern anderer Staaten aufgekauft wurden. Doch es existierte eine Ausnahmeregelung für Menschen, die eine besondere Beziehung zu Dänemark nachweisen konnten. Wenn es zum Beispiel familiäre, sprachliche oder kulturelle Anbindungen gab, jemand früher dort gewohnt, gearbeitet oder fünfundzwanzig Jahre seinen Urlaub im selben Ort verbracht hatte, konnte ein Antrag beim Justizministerium in Kopenhagen gestellt werden. Ansonsten durfte nur kaufen, wer seinen Hauptwohnsitz nach Dänemark verlegte und eine EU-Aufenthaltsgenehmigung vorweisen konnte, die man erhielt, wenn man in Dänemark arbeitete, eine Ausbildung absolvierte oder nachweisen konnte, über ausreichend finanzielle Mittel für seinen Unterhalt und den seiner Familie zu verfügen.

»Ich habe schon Erkundigungen bei OIS eingeholt«, sagte Pernille. OIS war eine dänische Immobiliendatenbank, in der unter Eingabe der Adresse unter anderem Besitzerinformationen öffentlich einsehbar waren.

»Luise Dahlmann ist dort als Eigentümerin des Hauses eingetragen. Auch ihr Hauptwohnsitz ist unter der Anschrift gemeldet.«

Rasmus schlug die langen Beine übereinander. »Was ist mit dem Haus der Dahlmanns in Hamburg? Gehört es beiden?«

Pernilles Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. »Ich bin zwar schnell, aber so schnell auch wieder nicht. Wir müssen uns für die Auskunft ans Hamburger Bezirksamt wenden, doch das hat heute geschlossen.«

»Sobald wir einen Durchsuchungsbeschluss haben, sehen wir uns in dem Haus um«, sagte Vibeke. »Vielleicht finden wir dort ein paar Antworten.«

»Wurden bei den Opfern digitale Geräte sichergestellt?«, erkundigte sich Luís.

»Nur ihre Handys«, erwiderte Rasmus. »Sie sind bereits auf dem Weg in die IT.«

»Könnte es sich um Raubmord handeln?« Pernille zwirbelte mit dem Bleistift ihren dunklen Pferdeschwanz. »Das könnte die Fesseln erklären.«

Søren räusperte sich. »Der Gedanke ist uns auch schon gekommen.«

»Thomas Dahlmann erzählte, dass sein Vater immer eine alte Breitling getragen hat«, sagte Vibeke. »Er hat sie nicht einmal beim Schlafen abgelegt.«

»Laut Knudsen trugen die Opfer nur Eheringe.« Rasmus’ Blick ging zu den Fotos auf dem digitalen Whiteboard. An den Handgelenken des Mannes war keine Uhr zu sehen. »Dann hat der Täter sie vermutlich mitgenommen.« Er würde Adam bitten, das Handgelenk des Toten zu checken. Vermutlich hatte die Obduktion längst begonnen, doch bei dem Gedanken daran, was ihn dort erwartete, verspürte er keinerlei Eile. Ihm war bereits flau im Magen, wenn er an geöffnete Leichen dachte. Eigentlich sollte man meinen, dass man sich im Laufe der Jahre daran gewöhnte, doch bei ihm schien vielmehr das Gegenteil der Fall zu sein. Es wurde mit jeder Leiche schlimmer. Und dieses Mal gab es sogar gleich zwei davon.

»Die Uhr soll nicht besonders wertvoll gewesen sein, aber vielleicht wusste der Täter das nicht. Oder er hatte es hauptsächlich auf die Limousine abgesehen.«

»Knudsen hat neben einem Schlüsselbund auch den Autoschlüssel in Konrad Dahlmanns Hosentasche gefunden«, warf Søren ein.

»Profis brauchen nicht unbedingt einen«, sagte Vibeke mit nachdenklichem Gesichtsausdruck. »Oder es gibt einen Zweitschlüssel. Ich habe mit den Kindern der Dahlmanns gesprochen. Sie wussten nichts wegen des Autos.«

»Ich habe das Kennzeichen schon durch das System gejagt«, berichtete Luís. »Dahlmanns Wagen wurde letzten Freitag um 12.09 Uhr am Grenzübergang Ellund-Frøslev bei der Einfahrt nach Dänemark erfasst.«

Bereits im Frühjahr 2016 hatte Dänemark mit der bei Datenschützern nicht ganz unumstrittenen Kennzeichenscannung an den Grenzen begonnen, um die organisierte und grenzübergreifende Kriminalität zu bekämpfen. Mittlerweile war das Netz der Scanner weiter ausgebaut worden, und die ANPG-Kameras für die automatische Kennzeichenerfassung befanden sich nicht nur an sämtlichen Grenzübergängen, sondern auch in Häfen, an Brücken und an Verkehrsknotenpunkten. Alle Fahrzeuge wurden registriert, die Daten gesammelt und bis zu sechzig Tagen gespeichert. Auch die verdachtsunabhängigen. Im Falle von Ermittlungen konnte diese Frist verlängert werden.

»Und danach nicht mehr?«, erkundigte sich Rasmus.

Luís schüttelte den Kopf. »Möglicherweise wurden die Nummernschilder ausgetauscht. Wir sollten den Wagen trotzdem zur Fahndung ausschreiben lassen.«

Vibeke nickte.

Rasmus’ Blick wanderte erneut zu den Fotos der Opfer. »Mir gefällt das nicht … Wenn es hier wirklich um Raubmord geht, weshalb ist die Frau dermaßen zu gerichtet?« Er schüttelte den Kopf. »Irgendetwas passt da nicht. Vielleicht dienen die Uhr und das Auto nur als Ablenkungsmanöver.«

»Wir werden es herausfinden«, sagte Vibeke. »Was wissen wir bislang über die Opfer?«

Pernille zog ein paar Notizen heran. An ihrer linken Hand blitzte ein Ring mit filigranem Unendlichkeitszeichen, den Rasmus noch nie an ihr gesehen hatte.

»Konrad Dahlmann, geboren 1956 in Schleswig«, las sie vor. »Die Eltern sind bereits gestorben. Es gibt noch einen älteren Bruder, Ulrich Dahlmann, sowie zwei Kinder, Mirjam und Thomas Dahlmann, beide wohnhaft in Hamburg.« Sie hob den Blick. »Konrad Dahlmann hat an der Universität Hamburg Volkswirtschaft studiert und nach dem Abschluss laut Xing drei Jahre bei Althaus Immobilien im Vertrieb gearbeitet.« Sie schaute wieder in ihre Unterlagen. »Anschließend hat er zu Kaiser Immobilien gewechselt und sich dort bis zum stellvertretenden Geschäftsführer hochgearbeitet. 1998 hat er die Firma wieder verlassen und Dahlmann Invest gegründet. Das Unternehmen ist auf Mehrfamilienhäuser spezialisiert und handelt vereinzelt mit Einzelimmobilien im Luxussegment. Der Firmensitz befindet sich an der Trostbrücke. Wo auch immer das ist.«

»Am Nikolaifleet in der Hamburger Altstadt«, sagte Vibeke. »Wir sollten mit dem Geschäftsführer sprechen.« Sie sah in ihr Notizbuch. »Julius Faber. Außerdem erwähnte Mirjam Dahlmann einen Erbstreit zwischen ihrem Vater und ihrem Onkel. Dem sollten wir nachgehen.«

Rasmus wippte mit dem Fuß. »Was haben wir über Luise Dahlmann?«

Pernille sah in ihre Unterlagen. »Luise Dahlmann wurde 1963 in Hamburg geboren. Mädchenname Rötgen. Ihr Vater ist bereits verstorben, ebenso ihr älterer Bruder, die Mutter lebt noch.«

»Sie wohnt in einer Pflegeeinrichtung und soll dement sein«, warf Vibeke ein.

»Dann wird es schwierig, sie über den Tod ihrer Tochter zu informieren.« In Pernilles Stimme schwang Mitgefühl. Sie wandte sich wieder ihren Unterlagen zu. »Luise hat Innenarchitektur studiert und anschließend ein Praktikum bei Althaus Immobilien absolviert. Dort haben sich vermutlich ihre Wege mit Konrad Dahlmann gekreuzt. Die beiden haben 1986 geheiratet, im selben Jahr kam Tochter Mirjam zur Welt, ihr Bruder Thomas zwei Jahre später.« Pernille blätterte eine Seite um. »2006 hat sich Luise als Innenarchitektin selbstständig gemacht und eine Agentur für Homestaging gegründet. Nur ein Jahr später hat sie gemeinsam mit ihrem Mann einen neuen Zweig bei Dahlmann Invest aufgebaut. Houseflipping.«

Rasmus sah, wie Vibeke zustimmend nickte, während Pernille von sanierungsbedürftigen Häusern berichtete, die von den Dahlmanns auf Vordermann gebracht und gewinnbringend verkauft worden waren. Sein Blick ging erneut zu den Fotos der Opfer am digitalen Whiteboard.

»Ich frage mich, wer von beiden zuerst umgebracht wurde.«

»Die Frau hat eindeutig mehr abbekommen.« Søren stand auf und ging zum Sideboard, um sich dort ein üppig belegtes Brot mit roter Bete, Lachs und Zwiebeln auf einen Teller zu laden.

»Vielleicht hat sie den Täter überrascht, als er ihren Mann getötet hat«, sagte Pernille, während sich Søren wieder auf seinen Platz setzte.

»Möglich.« Rasmus strich sich über das unrasierte Kinn. »Oder es war umgekehrt. Wenn ich mir die Fotos so anschaue, ist der Täter bei der Frau äußert brutal vorgegangen. Das könnte von ungeheurer Wut zeugen.« Sein Blick glitt zu Vibeke.

»Wir sollten abwarten, was die Obduktion ergibt«, gab sich seine Kollegin zurückhaltend. »Bei dem ganzen Blut ist das Ausmaß an Verletzungen überhaupt nicht zu erkennen. Apropos. Solltest du nicht eigentlich längst in der Rechtsmedizin sein?«

Rasmus nickte. »Ich fahre gleich los.«

»Sobald die Opfer offiziell identifiziert sind, geben wir ihre Namen an die Presse raus.« Vibeke griff nach ihrem Wasserglas und trank einen Schluck, ehe sie sich ihm zuwandte: »Haben die Befragungen der Nachbarn etwas ergeben?«

Rasmus schüttelte den Kopf. »Die haben alle nichts mitbekommen und hatten auch keinen Kontakt zu den Dahlmanns. Man könnte fast den Eindruck gewinnen, als wären sie in Sarup nicht sonderlich willkommen gewesen.«

»Die Leute sind zurückhaltend«, warf Søren ein. »Aber das kann man ihnen auch nicht übel nehmen. Die Zuzugsquote auf Als hat sich in den letzten Jahren nahezu vervierfacht.« Er blähte die Backen. »Generell sind uns die Leute willkommen, aber sie sollten sich auch einbringen und zumindest unsere Sprache lernen. Es gibt Deutsche, die leben schon seit zehn Jahren auf Als und bestellen ihre Brötchen beim Bäcker noch immer auf Deutsch. Und was noch schlimmer ist – viele erwarten, dass jeder ihre Sprache spricht. Es fehlt jeglicher Respekt.« Zwischen seinen buschigen blonden Brauen bildete sich eine steile Falte. »Und dann gibt es natürlich die Leute, die während der Pandemie hergezogen sind. Irgendwelche Querdenker, die ihre Verschwörungstheorien jetzt bei uns verbreiten. Oder Eltern mit Kindern, die Probleme mit dem deutschen Schulsystem haben.« Er schüttelte den Kopf und griff nach dem letzten Stück Brot auf seinem Teller. »Aber natürlich darf man nicht alle Zuzügler in einen Topf werfen, die meisten sind anständige Menschen. Davon abgesehen gibt es auch bei uns spezielle Exemplare, allein wenn man mal an Eldar Moberg denkt.«

Rasmus nickte und fasste für die anderen das Gespräch mit dem nächsten Nachbarn der Dahlmanns zusammen.

»Das klingt schräg«, sagte Vibeke, sobald er seinen Bericht beendet hatte. Sie blickte in die Runde. »Dann lasst uns jetzt die Aufgaben verteilen. Rasmus und ich statten morgen als Erstes dem Bruder von Konrad Dahlmann einen Besuch ab. Anschließend fahren wir nach Hamburg und sprechen mit dem Geschäftsführer von Dahlmann Invest, Julius Faber.«

Rasmus nickte. »Bei der Gelegenheit sollten wir auch im Pflegeheim bei Luise Dahlmanns Mutter vorbeischauen.« Er erhob sich. »Vorbeischauen ist mein Stichwort. Ich mach mich jetzt auf den Weg in die Rechtsmedizin, oder braucht ihr mich hier noch?«

Vibeke schüttelte den Kopf. »Fahr ruhig. Und melde dich, wenn es etwas Interessantes zu berichten gibt. Ansonsten treffen wir uns morgen um neun unten auf dem Parkplatz.«

Rasmus griff nach seiner Jacke. »Bis morgen!« Er hob zum Abschied die Hand.

Hamburg, Deutschland

Mirjam nahm die quadratische Flasche und schenkte einen großzügigen Schwung des bernsteinfarbenen Grappas in das bereitstehende Glas. Die Noten von Karamell, Honig und Holz stiegen ihr in die Nase.

Eigentlich trank sie allein nie Alkohol dieser Art, doch es war ein besonderer Anlass. Es galt nicht nur ein neues Jahr einzuläuten, sondern vielmehr eine neue Ära.

Ihre Eltern waren tot. Keine Zusammenkünfte an Weihnachten mehr, an Geburtstagen oder zu anderen Gelegenheiten. Keine Vorwürfe. Keine Streitereien. All die Verletzungen und das Unausgesprochene gehörten ab sofort der Vergangenheit an.

Es würde still bleiben.

Für Thomas würde es wohl schwer werden. Mit dem Tod der Eltern würde alles wieder hochkommen. Erinnerungen, die er längst verdrängt hatte. Vermutlich würde er sich abkapseln, so wie er es immer tat, wenn ihm alles zu viel wurde. Je mehr Stress er hatte, je größer die Geldsorgen oder die Konflikte waren, desto mehr verschloss er sich. Schon als Kind hatte er s ich während der Jähzornausbrüche ihres Vaters im Schrank unter der Treppe versteckt. Manchmal war sie zu ihm geschlüpft, hatte stumm seine Hand gehalten und abgewartet, bis der Sturm vorübergezogen war. Die restliche Nacht hatte sie dann wach in ihrem Bett gelegen, in der Dunkelheit mit klopfendem Herzen auf Geräusche gelauscht und gewusst, dass es Thomas zwei Türen weiter ähnlich ging. Am nächsten Morgen hatten ihre Eltern stets getan, als wäre nie etwas vorgefallen. Keine Schwäche zeigen. Das war schon das Mantra ihrer Kindheit gewesen.

Mirjam blickte auf das halb gefüllte Glas mit dem Grappa Lagrein. Er stammte aus einer Südtiroler Distillery und war drei Jahre im Eichenfass gereift. Das Geschenk eines Mandanten. Ein besonderer Tropfen für besondere Anlässe, hatte er gesagt, als er ihr die Flasche überreicht hatte.

Sie strich sich eine blonde Strähne hinters Ohr, und mit der Geste kam eine weitere Erinnerung zurück. Ihre Mutter hatte ihr als Kind täglich das Haar gebürstet. Hundert Bürstenstriche. Dabei hatte sie immer leise gesummt.

Auch jetzt meinte Mirjam, ihre Stimme im Ohr zu haben. Someday I’ll wish upon a star and wake up where the clouds are far behind me. Where troubles melt like lemon drops, away above the chimney tops, that’s where you’ll find me …

Mirjam griff nach dem Glas und kurz darauf fanden sich die Karamell- und Honignoten wohlig an ihrem Gaumen wieder. Sie schenkte sich ein weiteres Mal ein, hob dann mit einem »Auf euch!« das Glas und leerte es in einem Zug.

Sie war frei.

Esbjerg, Dänemark

Es war bereits nach dreiundzwanzig Uhr, als Rasmus die Tür zum Whitehouse, einem schneeweißen Hochhaus in der Hafenanlage Esbjerg Brygge, aufschloss. In seinem Apartment im siebten Stock angekommen, ging er direkt unter die Dusche. Trotz der Schutzkleidung, die er in der Rechtsmedizin getragen hatte, schien sich der Leichengeruch nicht nur in seiner Kleidung, sondern in jeder einzelnen Körperzelle festgesetzt zu haben. Während die ersten Wasserstrahlen auf seinen Nacken prasselten, glitten seine Gedanken zur Obduktion zurück.

Luise Dahlmanns toter Körper wies dreiundzwanzig Verletzungen auf, sowohl am Kopf als auch am Oberkörper.

Größtenteils schräg ausgeführte Schläge mit einem kantigen Werkzeug, die zu gradlinigen und winkeligen Rissquetschwunden und an der Schläfe zu einem Terrassenbruch geführt hatten. An anderer Stelle hatte sich eine rechteckige Schlagfläche in der Haut abgeformt. Der Abdruck eines Hammers. Laut Adam Larsen war der erste Schlag auf den Hinterkopf erfolgt und hatte ein Schädel-Hirn-Trauma ausgelöst. Mit hoher Wahrscheinlichkeit war eine Bewusstlosigkeit eingetreten, sodass das Opfer direkt handlungsunfähig gewesen w ar. Das erklärte auch die fehlenden Abwehrverletzungen. Im Halsbereich waren zudem Kehldeckel und Luftröhre eingeschlagen, was bei Luise Dahlmann zum Ersticken geführt hatte. Der Rechtsmediziner hatte in ihrem Fall von Übertötung gesprochen.

Bei Konrad Dahlmann hatte ein einziger Schlag gegen den Hinterkopf ausgereicht. Todesursache war ein schweres Schädel-Hirn-Trauma mit Anschwellen des Gehirns und einer darauffolgenden Atemlähmung. An seinem linken Handgelenk hatten sich Spuren in Form von Einblutungen befunden, die von dem Kabelbinder stammten, mit dem er an die Heizung gefesselt gewesen war. Ob er zuvor eine Armbanduhr getragen hatte, war nicht mehr feststellbar.

Wer von dem Ehepaar als Erstes gestorben war, ließ sich zu diesem Zeitpunkt ebenfalls nicht sagen, doch es standen noch einige Laboruntersuchungen aus. Dabei wurden Proben von den Blutspritzern analysiert, um festzustellen, welche Blutprobe älter war. Den Tatzeitraum hatte Adam Larsen von Freitagvormittag elf Uhr bis Freitagabend neunzehn Uhr eingrenzen können.

Rasmus schloss die Augen, versuchte, die Bilder aus seinem Kopf zu vertreiben. Schließlich stieg er aus der Dusche, schlüpfte in frische Klamotten und ging in die Küche mit dem angrenzenden Wohnbereich. Daneben lag nur noch das Schlafzimmer. Insgesamt zweiundvierzig durchdesignte Quadratmeter mit hohen Decken und bodentiefen Fenstern, die tagsüber einen atemberaubenden Blick über die Nordsee bis zur Insel Fanø boten. Lichtgraue Wände, gerahmte Plakate von Jazz-Festivals, in der Ecke neben der Couch lehnte sein Saxofon, d aneben stand Idas Holzpuppenwagen, in dem sie ihre Lieblingspuppe Elsa über das Parkett schob, wenn sie bei ihm zu Besuch war. Seine Tochter war im Dezember zwei Jahre alt geworden. Ein kleiner Wirbelwind mit rotblonden Locken. Im Schlafzimmer neben der Wickelkommode wartete noch ein großes, in buntes Weihnachtspapier verpacktes Geschenk für Ida. Eine Kinderküche, voll ausgestattet mit Backofen, Herdplatten und kleinen Töpfen. Doch es würde noch ein wenig dauern, ehe seine Tochter damit spielen konnte. Ida war mit Camilla und Liam über die Feiertage nach Florida geflogen, und Rasmus vermisste die Kleine schmerzlich.

Er holte sich eine Flasche Bier aus dem Kühlschrank und setzte sich damit an den Küchentresen. Hunger verspürte er keinen.

Dunkelheit drückte schwer gegen die Scheiben, Nebelbänke waberten dicht über dem Wasser der Nordsee. Der Himmel war noch immer wolkenverhangen, und schon jetzt war klar, dass der kommende Tag genauso kalt, grau und nass werden würde wie der heutige.

Es war die ungemütlichste Zeit des Jahres. Die Stimmung war düster und träge, das Frühjahr noch meilenweit entfernt. Die Menschen wirkten wie ausgebleicht, die Gesichter blass und müde, und mit der Dunkelheit kam die Schwermut. Auch bei ihm. Zusammen mit den Erinnerungen an Anton. Antons Kopf an seiner Schulter, sein stumpfer Blick. Das Blut. Ein Bild, das sich für alle Ewigkeiten in sein Gedächtnis eingebrannt hatte. Dabei hatte Rasmus gedacht, das Schlimmste läge bereits hinter ihm. Doch dann hatte er vor drei Monaten in Kopenhagen Theo getroffen, Antons besten Freund, und das Wiedersehen hatte Rasmus aus der Bahn geworfen. Theo, der sein Leben weiterlebte, während Anton unter der Erde lag. Der Junge war vor ihm weggerannt.

Später hatte Rasmus erfahren, dass es ausgerechnet Theo gewesen war, der bei einem Dealer, der Drogen an Schulen vertickte, die kleinen bunten Tütchen für sich und Anton gekauft hatte. Doch Theo hatte gekniffen, und nur sein Sohn hatte das Zeug genommen, dessen chemische Substanzen Halluzinationen auslösten, wie später anhand der toxikologischen Untersuchung festgestellt worden war. Sie hatten dazu geführt, dass Anton im Drogenrausch vom Hochhausdach über fünfundzwanzig Meter in die Tiefe gesprungen war.

Jahrelang hatte Rasmus den Wunsch nach Rache verspürt an demjenigen, der seinem Sohn den Drogencocktail verabreicht hatte, doch dass er ihn ausgerechnet von seinem besten Freund, einem unbedachten Fünfzehnjährigen, bekommen hatte, dessen Schuldgefühle ihn bis heute nahezu erdrückten, hatte ihn in seinen Grundfesten erschüttert. Seine Wut, die seit Jahren tief in seinem Inneren gebrodelt hatte, war schlagartig verpufft. Zurückgeblieben war eine unsägliche Trauer.

Theo hatte Rasmus zur Polizei begleitet, und gemeinsam waren sie die Dateien der Straftäter durchgegangen, die in Verbindung mit Drogendelikten standen, um den Dealer zu identifizieren. Ohne Erfolg. Theo hatte niemanden wiedererkannt. Doch auch wenn der Dreckskerl, der die Drogen an Antons Schule in Umlauf gebracht hatte, irgendwann hinter Gittern säße, wo er definitiv hingehörte, würde es an der Tatsache, dass Anton tot war, nichts ändern. Rasmus musste endlich seinen Frieden machen.

Er beschloss, ins Bett zu gehen.