3. Kapitel

Aarhus, Dänemark

Der Wecker schrillte um sechs Uhr dreißig. Bjarne Andresen tastete nach seinem Smartphone auf dem Nachttisch, bekam es schließlich zu fassen, doch es rutschte ihm aus der Hand und landete mit einem lauten Knall auf dem Dielenboden.

Neben ihm murmelte Johanne etwas im Halbschlaf. Sie hatte gestern am späten Abend noch einen Anruf bekommen. Ein Gemeindemitglied war plötzlich verstorben, ein Autounfall mit Todesfolge, und man hatte sie zu den Hinterbliebenen gerufen. Erst gegen drei Uhr morgens war sie schließlich zu ihm unter die Bettdecke geschlüpft.

Jetzt richtete sie sich halb auf, rieb sich schlaftrunken die Augen und machte Anstalten aufzustehen. Ihre blonden Locken standen in sämtliche Himmelsrichtungen ab.

»Bleib liegen, Schatz«, sagte Bjarne, während er mit einer Hand nach seinem Smartphone angelte und es schließlich fest mit den Fingern umschloss. »Ich kümmere mich heute früh um die Kinder.« Da er und Johanne wieder arbeiten mussten, verbrachten die Jungs den letzten Ferientag bei seinen Schwiegereltern. Er musste sie nur hinbringen.

»Echt?«, murmelte sie schlaftrunken. »Du musst doch auch zur Arbeit.«

»Nur weil ich ausnahmsweise eine halbe Stunde später komme, bricht nicht gleich die Abteilung zusammen«, erklärte er mit einem Schmunzeln. »Leg dich wieder hin.«

Johanne sank zurück in die Kissen und schien bereits im nächsten Moment wieder einzuschlafen.

Bjarne schob die Bettdecke beiseite und verließ leise das Schlafzimmer. Nach dem Toilettengang sprang er kurz unter die Dusche, erledigte anschließend seine Morgenroutine und nahm noch seine Tabletten, ehe er die Zwillinge weckte. Magnus und Bjørn waren sieben, zwei Wildfänge, die seine Nerven mit ihren ständigen Streitereien häufig strapazierten und zugleich das größte Glück seines Lebens waren. Zusammen mit Johanne. Hätte ihm jemand vor zehn Jahren gesagt, dass er mit Anfang fünfzig tatsächlich heiraten und Vater werden würde, hätte er die Person für verrückt erklärt. Noch immer haderte er damit, ob er dieses Glück tatsächlich verdiente.

Die blauen Vorhänge im Kinderzimmer waren zugezogen. Durch einen schmalen Spalt blinzelte das Licht der Straßenlaternen und malte geisterhafte Schatten an die Wand. Auf dem Boden herrschte heilloses Chaos. Kreuz und quer verteilten sich Legosteine und Superheldenfiguren zwischen Metallrennautos und Transformers.

»Hej, Jungs«, weckte er die Zwillinge mit sanfter Stimme.

»Papa?«, Magnus blinzelte. »Wo ist Mama?«

»Die Mama lassen wir heute mal ausschlafen. Sie hat die halbe Nacht gearbeitet.«

Bjørn, dessen Bett auf der gegenüberliegenden Wandseite stand und der bislang nur ein unwilliges Brummen von sich gegeben hatte, setzte sich auf. »Ist jemand tot?« Er klang schlagartig hellwach.

»Ja, leider.« Bjarne nickte bedächtig. »Es gab gestern einen Autounfall, bei dem jemand gestorben ist. Aber für euch geht es heute trotzdem zu Oma und Opa.« Er bemühte sich um einen strengeren Tonfall. »Also ab ins Bad, putzt euch die Zähne und zieht euch an. Ich machte in der Zwischenzeit Frühstück.«

»Ich möchte ein Brot mit Schokolade«, krähte Magnus.

»Ich auch«, stimmte sein Bruder mit ein.

»Wollt ihr etwa, dass ich Ärger mit eurer Mutter bekomme?« Bjarne schüttelte energisch den Kopf. »Und jetzt raus mit euch aus den Federn.«

Beim Verlassen des Kinderzimmers trat er auf einen Legostein und verzog schmerzerfüllt das Gesicht.

In der Küche stellte er als Erstes das Radio ein, und »555« von Gilli zusammen mit Kesi ertönte, ein Rapsong, der schon seit Wochen rauf und runter gespielt wurde.

Er öffnete einen der oberen Schränke, langte nach den Müslischüsseln, überlegte es sich dann anders und holte stattdessen zwei Teller heraus. Anschließend schnitt er zwei dicke Scheiben von dem Vollkornbrot herunter, das Johanne am Vortag gebacken hatte, be strich sie dick mit Butter und belegte sie anschließend mit den dünnen Schokoladentäfelchen im Waffelmuster, die es sonst nur an den Wochenenden gab. Ihm war bewusst, dass er die Zwillinge zu sehr verwöhnte und ihm Johanne vermutlich später eine Standpauke halten würde, doch er konnte nicht aus seiner Haut. Er wollte einfach, dass seine Jungs glücklich waren. Und Schokolade machte sie definitiv glücklich.

Er öffnete den Kühlschrank, holte die Milch heraus und füllte zwei Gläser. Im Radio beendeten gerade Gilli und Kesi ihren Song, und der Nachrichtensprecher verkündete, dass am Abend der traditionelle Neujahrsempfang der Königin bei Hofe stattfand, ein letztes Mal unter ihrer Regentschaft, ehe er auf die neuen Regierungsvorschläge für den Pflegesektor zu sprechen kam. Schließlich senkte er seine Stimme und berichtete von zwei Leichenfunden auf Als, bei denen es sich laut Polizeimeldung um einen Doppelmord handeln sollte.

Bjarne horchte auf, als der Name des Ortes fiel. Sarup. Er stellte das Radio lauter, doch der Nachrichtensprecher ging bereits zum Wetter über. Ein mulmiges Gefühl machte sich in ihm breit.

Er stellte die Milch zurück in den Kühlschrank, griff anschließend zum Telefon und wählte eine Nummer. Seine Hand zitterte leicht, während er dem Freizeichen lauschte. Niemand hob ab.

Schleswig, Deutschland

Die Wolken hingen wie graue Putzlappen am Himmel, als Vibeke mit ihrem Dienstwagen nach halbstündiger Fahrt die A7 verließ, während Rasmus mit müdem Blick auf dem Beifahrersitz saß.

Schleswig lag rund vierzig Kilometer südlich von Flensburg, am Ende der lang gezogenen Ostseebucht Schlei, und hatte einiges an historischen Schätzen zu bieten. Von Wikinger-Häusern und Moorleichen, den berühmtesten Ausstellungsstücken im Schloss Gottorf, über den mächtigen Dom bis hin zum Danewerk, dem größten Bodendenkmal Nordeuropas, das einst als Verteidigungsanlage die südliche Grenze Dänemarks und den Handelsweg zwischen Nord- und Ostsee gesichert hatte. Zudem luden die malerische Altstadt und die idyllische Fischersiedlung Holm zu Spaziergängen ein.

Das Haus von Ulrich Dahlmann lag am Stadtrand direkt am Wald, ein düsteres Fachwerkgebäude mit niedrigen Decken, das seine Glanzzeiten seit Jahren hinter sich hatte. Putz bröckelte von der Fassade, das Holz der Balken war stellenweise morsch, der weitläufige Garten verwildert und ungepflegt.

Die Tür wurde geöffnet, noch ehe Vibeke die Klingel gedrückt hatte.

»Ja, bitte?« Ein untersetzter Mann um die siebzig mit dicken Tränensäcken unter den Augen sah sie fragend an. Auf seinen Wangen schimmerte ein Geflecht aus roten Äderchen.

Vibeke zeigte ihren Dienstausweis vor. »Vibeke Boisen von der Flensburger Polizei«, sie deutete auf Rasmus, »mein Kollege Rasmus Nyborg von der dänischen Polizei. Sind Sie Ulrich Dahlmann?«

Er nickte.

»Dürfen wir vielleicht hereinkommen?«

»Von mir aus«, er machte eine einladende Handbewegung, und sie traten an dem Mann vorbei ins Haus.

Der Flur war schmal und dunkel, und es roch ein wenig muffig, so als wäre schon lange nicht mehr gelüftet worden. Sie folgten der korpulenten Gestalt ins Wohnzimmer. Schwere Mahagonimöbel, Landschaftsgemälde auf Raufaser, vor den Fenstern hingen Spitzengardinen mit Grauschleier. Alles wirkte ein wenig angestaubt und in die Jahre gekommen, die Luft war stickig und abgestanden von Heizungsluft.

»Wir kommen wegen Ihres Bruders«, sagte Vibeke, nachdem sie die Personalien des Mannes überprüft und auf einem Sofa mit Cordbezug Platz genommen hatte.

»Hat er mich tatsächlich angezeigt?«, fragte Ulrich Dahlmann barsch.

Vibeke wechselte einen raschen Blick mit Rasmus, der neben ihr ins Sofapolster gesunken war. »Ihr Bruder ist tot, Herr Dahlmann. Und nicht nur er. Auch Ihre Schwägerin Luise. Die beiden wurden gestern Vormittag in ihrem Haus auf Als gefunden.«

»Tot?« Die Tränensäcke unter seinen Augen nahmen einen dunkleren Farbton an. »Und da liegt kein Irrtum vor?«

Sie schüttelte den Kopf. »Ihre Identität wurde durch die Rechtsmedizin bestätigt. Ihr Bruder und seine Frau wurden ermordet.«

»Ermordet?«, echote Ulrich Dahlmann. Er klang jetzt sichtlich erschüttert. »Aber wer sollte denn …« Der Rest des Satzes blieb in der Luft hängen. Er fuhr sich mit einer flüchtigen Geste über das schüttere graue Haar.

Vibeke registrierte große, schwielige Hände. Hände, die zupacken konnten.

»Was ist passiert?«

»Die beiden wurden erschlagen.«

»Wie furchtbar.«

»Wann haben Sie Ihren Bruder zuletzt gesehen?«

»Das ist schon eine Weile her. Vor drei oder vier Monaten etwa. Wir kommunizierten ausschließlich über Anwälte.«

»Weshalb?«, erkundigte sich Rasmus. Er schaute ein wenig derangiert aus. Sein Dreitagebart war noch stoppeliger als am Vortag, das Haar vom Schlaf verlegen, zudem sah seine Hose so aus, als hätte er darin geschlafen.

Eine senkrechte Furche bildete sich auf Ulrich Dahlmanns Stirn. »Das ist eine lange Geschichte.«

»Wir haben Zeit«, sagte Vibeke.

Ulrich Dahlmann rieb sich die Schläfen, griff dann nach dem Wasserglas auf dem Couchtisch und trank es in bedächtigen Zügen aus, ehe er es zurückstellte.

»Hatten Sie je mit pflegebedürftigen Angehörigen zu tun?« Sein Blick streifte Vibeke und ging dann weiter zu Rasmus. Beide schüttelten den Kopf.

»Seien Sie froh.« Einen Moment schien er in Gedanken versunken. »Also mein Bruder – Konrad, er brauchte immer viel Aufmerksamkeit, das war schon so, als wir Kinder waren. Er wollte immer im Mittelpunkt stehen, alles sollte sich um ihn drehen. Und das tat es auch. Konrad hier, Konrad da. Das änderte sich auch nicht, als er nach Hamburg zog. Im Gegenteil.« Ein Schatten huschte über sein Gesicht. »Meine Eltern waren so verdammt stolz auf ihn. Sein beruflicher Erfolg, das große schicke Haus«, er knetete die kräftigen Finger, »dabei wurde Konrad mit jedem Karriereschritt überheblicher. Bei unseren Eltern ließ er sich kaum noch blicken, und als sie schließlich krank und pflegebedürftig wurden, hat er die ganze Verantwortung auf mich abgewälzt. Er hätte zu viel zu tun, und er wäre ohnehin zu weit weg.« Seine Stimme troff vor Sarkasmus. »Nur an Geburtstagen und Weihnachten tauchte er auf, von oben bis unten mit Geschenken beladen, und spielte den großen Gönner. Großzügig war er, der Konrad, das muss man ihm lassen, aber mir kam es immer so vor, als wollte er sich damit von seiner Verantwortung freikaufen.« Ulrich starrte auf einen imaginären Punkt auf dem Teppichboden. »Und im Grunde hat es ja auch geklappt. Konrad war für meine Eltern unantastbar, der Goldjunge, während ich derjenige war, der hier alles am Laufen gehalten hat. Ich habe für meine Eltern eingekauft, sie zum Arzt gebracht, und als meine Mutter dann gestorben ist, habe ich mich auch um den Haushalt und die Wäsche gekümmert, da mein Vater keine Fremden im Haus wollte. Neben meinem Job als Bäcker, für den ich jeden Tag um drei Uhr nachts aufstehen musste.« Das Kneten verstärkte sich. »Ohne die Unterstützung meiner Frau hätte ich das nie geschafft. Ich war zeitweise kaum noch zu Hause, stand ständig vor dem Burn-out, deshalb haben wir irgendwann unsere Wohnung aufgegeben und sind hierher zu meinem Vater gezogen.« Er verstummte.

In Vibeke formte sich das Bild, das sie bislang von Konrad Dahlmann gehabt hatte, weiter, und es war kein besonders schmeichelhaftes. »Haben Sie Ihren Bruder je zur Hilfe aufgefordert?«

Ulrich Dahlmann nickte. »Nachdem meine Mutter starb. Er meinte nur lapidar: ›Dann muss Papa halt ins Heim.‹ Doch man kann nicht einfach einen Menschen entmündigen und gegen seinen Willen entscheiden, nur weil er alt ist.«

Vibeke nahm aus dem Augenwinkel wahr, wie Rasmus neben ihr zustimmend nickte. »Und was hat es mit den Anwälten auf sich?«

Ein verbittertes Lächeln streifte die Lippen des Mannes. »Als mein Vater gestorben war, stand Konrad plötzlich auf der Matte. Meine Eltern hatten kein Testament gemacht, und rechtlich gehörte meinem Bruder und mir das Haus nach ihrem Tod gemeinsam. Konrad wollte unbedingt verkaufen.« Er machte eine ausschweifende Handbewegung. »Das Gebäude ist nicht mehr besonders gut in Schuss und müsste dringend saniert werden, aber allein das Grundstück ist einiges wert. Meine Frau und ich wollten hier wohnen bleiben, schließlich hatten wir für meinen Vater unsere Wohnung aufgegeben. Konrad verlangte dann, dass ich ihm seine Hälfte des Erbes auszahle, was natürlich sein Recht war. Also habe ich einen Gutachter bestellt, um den Wert zu ermitteln, doch Konrad war mit dem Ergebnis nicht einverstanden. ›Das muss mehr wert sein‹, hat er gesagt. Und seitdem streiten sich unsere Anwälte.«

Rasmus beugte sich vor. »Was ja jetzt ein Ende hat«, stellte er trocken fest.

Ulrichs Blick flatterte, und ein harter Zug legte sich um seinen Mund. »Was wollen Sie damit andeuten? Dass ich meinen Bruder und meine Schwägerin umgebracht habe?« Röte kroch seinen Hals hinauf.

»Das ist Ihre Auslegung«, erwiderte Rasmus mit einem Achselzucken, und Vibeke ahnte seine nächste Frage bereits, ehe er sie aussprach. »Und? Haben Sie es getan?«

»Natürlich nicht!«, erboste sich Ulrich Dahlmann. »Ich bin doch kein Mörder.« Er war jetzt puterrot im Gesicht.

Vibeke griff ein. »Wo waren Sie am Freitag?«, erkundigte sie sich sachlich. »Wir müssen das fragen.«

»Freitagvormittag habe ich den Wochenendeinkauf erledigt«, erwiderte er verstimmt, »den restlichen Tag war ich zu Hause. Meine Frau kann das bestätigen.«

»Ist sie hier, Ihre Frau?«

»Nein. Bärbel hat einen Arzttermin.«

»Wir brauchen ihre Handynummer.« Vibeke notierte die elfstellige Ziffernfolge, die Ulrich Dahlmann ihr nannte.

Sie musterte ihn. Er wirkte noch immer angespannt, doch die Röte wich langsam aus seinem Gesicht. »Wie war Ihr Verhältnis zu Ihrer Schwägerin?«

Ulrich Dahlmann lächelte traurig. »Luise war eine nette Frau, und es tut mir leid, dass sie tot ist. Ihr einziger Fehler war es, meinen Bruder zu heiraten. Er hat die Menschen verdorben.« Seine Augen wurden schmal. »Sie kennen doch sicher das Sprichwort ›Ein fauler Apfel verdirbt den ganzen Korb‹.« Beim Klang seiner Stimme schauderte Vibeke unwillkürlich, er war durch und durch gehässig. »Konrad war ein Choleriker und Tyrann. Er hat andere Menschen eingeschüchtert, sie schikaniert. Nicht einmal vor seinen Kindern hat er haltgemacht. Thomas hatte in der Schule anfangs Schwierigkeiten mit dem Lesen, und anstatt sich am Nachmittag mit seinen Freunden zu treffen, musste er permanent üben. ›Ich dulde keinen Schwachkopf in meiner Familie‹, hat Konrad immer gesagt. Brachte eines der Kinder eine schlechtere Note als eine Zwei nach Hause oder bekam bei den Bundesjugendspielen nur eine Siegerurkunde, hat Konrad tagelang nicht mit ihnen geredet. Mirjam, sie ist die Toughere von beiden, hat sich nie einschüchtern lassen, sondern ihrem Vater die Stirn geboten, aber Thomas …«, er machte eine bedächtige Pause, »der hatte immer dran zu knabbern. Ganz ehrlich? Ich bin nicht traurig, dass mein Bruder tot ist. Er war kein sehr netter Mensch.«

»Wissen Sie, ob er von jemandem bedroht wurde?«

»Nein. Wie gesagt, wir hatten keinen Kontakt.«

»Kommen wir noch einmal zurück zu den Anwälten. Sie fragten eingangs, ob Ihr Bruder Sie angezeigt hätte«, hakte Vibeke nach. »Wie kommen Sie darauf?«

Ulrich Dahlmann räusperte sich. »Weil er es immer so macht, wenn er nicht weiterkommt.« Er fuhr sich mit der Hand über das rote Geflecht seiner Wangen. »Konrad hat mich angerufen. Kurz vor Weihnachten.«

Vibeke horchte auf. »Also hatten Sie doch Kontakt.«

»Das erste Mal seit Monaten. Er hat versucht, mich weichzukochen, damit wir das Haus verkaufen. Ich habe dann aufgelegt.« Er presste die Lippen zusammen, und Vibeke spürte instinktiv, dass sie hier nicht mehr erfahren würden.

Sie erhob sich. »Danke für Ihre Zeit.« Sie legte ihre Visitenkarte auf den Tisch. »Sollte Ihnen noch jemand einfallen, der etwas gegen Ihren Bruder hatte, melden Sie sich.«

Rasmus stand ebenfalls auf, und sie verabschiedeten sich.

»Konrad Dahlmann scheint ein ganz schönes Ekel gewesen zu sein«, sagte Vibeke, sobald sie das Haus verlassen hatten.

Rasmus beförderte ein Päckchen Zigaretten und ein Feuerzeug aus seiner Jackentasche. »Für mich steht ihm der Typ dadrinnen kaum nach.« Er zündete sich eine Zigarette an und deutete mit dem Kopf zum Fachwerkgebäude. »Hast du seinen Blick gesehen? Der hat seinen Bruder abgrundtief gehasst.«

Vibeke nickte zustimmend. Etwas Ähnliches war ihr auch durch den Kopf gegangen. »Aber mit dem Tod seines Bruders hat sich das Problem mit dem Haus nicht gelöst. Höchstwahrscheinlich werden die Kinder den Anteil ihres Vaters erben.«

»Vermutlich. Aber vielleicht sind dem Typen auch einfach die Sicherungen durchgebrannt. Zumindest sollten wir schleunigst sein Alibi überprüfen.« Rasmus blies einen Rauchkringel in die Luft.

Vibeke langte in ihrer Jackentasche nach dem Handy. »Ich rufe seine Frau an.«

Wie aufs Stichwort bog ein Auto in die Einfahrt, hinter dem Lenkrad eine grauhaarige Endsechzigerin.

Vibeke zog ihre Hand zurück. »Das wird sie wohl sein.«

Fünf Minuten später hatte Bärbel Dahlmann sämtliche Angaben ihres Mannes bestätigt.

Hamburg, Deutschland

Es war schon fast Mittag, als Vibeke und Rasmus in Hamburg das Pflegeheim verließen, in dem die dreiundneunzigjährige Mutter der toten Luise Dahlmann untergebracht war. Dort war man bereits telefonisch von Mirjam Dahlmann über den Doppelmord unterrichtet worden und übereingekommen, die Patientin vorerst mit der schlimmen Nachricht zu verschonen.

Wie von ihrer Enkelin angekündigt, litt die alte Dame an fortgeschrittener Demenz und hatte laut ihrer Pflegekraft den Großteil ihrer kognitiven Fähigkeiten eingebüßt. Sie lebte in ihrer eigenen Welt, hin und wieder hatte sie lichte Momente, erinnerte sich an Kinder und Ehemann, doch auch dann befand sie sich selten in der Gegenwart, sondern vielmehr in der Vergangenheit. Auf die Ansprache der beiden Kriminalbeamten hatte sie nicht reagiert.

Vibeke hatte die Pflegekraft gebeten anzurufen, s ollte die alte Frau ansprechbar sein, danach hatten sie und Rasmus die Einrichtung nach weniger als zehn Minuten Aufenthalt wieder verlassen.

Zurückgeblieben war ein schales Gefühl der Beklemmung.

Krankheit und Einsamkeit waren in den Räumen des Pflegeheims jede Sekunde spürbar gewesen, dazu der strenge Geruch, eine Mischung aus Urin, Desinfektionsmitteln und verkochtem Essen, und dazu die müden Gesichter der Pflegekräfte.

Wie würde es ihr gehen, wenn sie alt war? Es musste schrecklich sein, die gewohnte Umgebung und all die geliebten Dinge zurückzulassen in dem Wissen, dass man niemals zurückkehren würde. Wenn einem Trost, Nähe und Einbeziehung fehlten. Ein Leben, zusammengeschrumpft auf fünfzehn Quadratmeter. Vibeke spürte einen Kloß im Hals und schob die Gedanken schnell beiseite.

»Ich würde meine Eltern nie in ein Pflegeheim geben«, sagte Rasmus, als sie in Vibekes Dienstwagen einstiegen.

»Das wollen vermutlich die wenigsten. Aber manchmal gibt es Umstände, die so etwas erfordern.« Vibeke legte den Gurt an. »Davon abgesehen haben nicht alle Kinder eine gute Beziehung zu ihren Eltern. Manche sogar gar keine.« Sie spürte Rasmus’ prüfenden Blick auf sich und startete den Motor.

Die Fahrt zu Dahlmann Invest verlief schweigend. Je näher sie Richtung Zentrum kamen, desto mehr staute sich der Verkehr. An der Sechslingspforte waren wegen einer Riesenbaustelle zahlreiche Straßen gesperrt.

Es begann zu regnen, und Vibeke schaltete die Scheibenwischer ein. Der Himmel über der Stadt war grau in grau, und das Thermometer zeigte gerade mal zwei Grad an.

Schließlich erreichten sie den Altstadtbereich um den Nikolaifleet. Die Trostbrücke war aufgrund einer Baustelle für den Durchgangsverkehr gesperrt, doch Vibeke fand einen freien Parkplatz ein paar Straßen weiter. Als sie aus dem Auto stiegen, nieselte es leicht. Vibeke setzte ihre Kapuze auf, während Rasmus mit hochgezogenen Schultern neben ihr ging.

Um diese Jahreszeit flossen in Hamburg sämtliche Grautöne zusammen. Passanten mit winterblassen Gesichtern und beschirmte Anzugträger eilten über die Bürgersteige, von der sechsspurigen Willy-Brandt-Straße wehte Straßenlärm zu ihnen heran.

Als sie kurz darauf die Trostbrücke erreichten, läuteten am Mahnmal St. Nikolai gerade die Glocken.

»Das riecht hier förmlich nach Denkmalschutz«, ließ Rasmus angesichts der Statuen vom heiligen Ansgar und Graf Adolf III. auf dem steinernen Brückengeländer verlauten.

Vibeke nickte. »Die Brücke ist ein bedeutender Teil der Stadtgeschichte. Es gibt sogar eine alte Sage. Demnach rührt der Name der Brücke daher, dass früher die im Rathaus verurteilten Verbrecher hier einen letzten Trost und Segen bekamen.«

Ein erstaunter Blick streifte sie. »Woher kennst du dich so gut aus?«

»Ich hatte früher mal was mit einem Typen, der als Stadtführer gejobbt hat.« Vibeke deutete auf das große neogotische Backsteingebäude, das vor ihnen lag. »Dort muss es sein.«

Kurz darauf drückte sie die schwere hölzerne Eingangstür auf. Hinter ihr stieß Rasmus einen Piff aus.

Der Eingangsbereich hatte etwas Kapellenartiges. Spitzbögen, antike Fliesen im Schachbrettmuster; eine Steintreppe mit gusseisernem Geländer und goldenem Handlauf führte zu den oberen Stockwerken hinauf.

»Haus der Patriotischen Gesellschaft von 1765«, las Rasmus die Überschrift der Firmentafel vor.

»Dahlmann Invest ist im vierten Stock«, sagte Vibeke nach einem Blick darauf. »Fahrstuhl oder Treppe?«

»Ich geh zu Fuß«, murmelte Rasmus und stieg die Stufen in dem turmartigen Treppenhaus hinauf. Hohe schmale Fenster boten Aussicht über den Nikolaifleet.

Vier Etagen höher angekommen, traten sie durch die Eingangstür von Dahlmann Invest. Im Foyer herrschte ein gediegenes Ambiente. Edles Holz, dezente Farben, eine dunkle Kassettendecke.

Die Frau hinter dem Empfangstresen erinnerte Vibeke an eine ihrer Grundschullehrerinnen. Strenger Blick unter dünn gezupften Brauen. Unwillkürlich straffte Vibeke die Schultern.

Sie zückte ihren Dienstausweis. »Vibeke Boisen. Polizei Flensburg. Mein Kollege Nyborg.« Sie deutete auf Rasmus. »Wir möchten mit Herrn Faber sprechen.«

Die dünn gezupften Brauen rutschten in die Höhe. »Haben Sie einen Termin?« Sie betrachtete Vibekes Dienstausweis wie ein ekliges Insekt, ehe ihr Blick weiter zu Rasmus und über seine zerbeulten Hosen glitt. Aus den angrenzenden Büros drangen gedämpfte Stim men und Tastaturklappern in den Flur. Jemand lachte. Irgendwo klingelte ein Telefon.

»Nein«, erwiderte Vibeke. »Herr Faber wird sich die Zeit nehmen müssen. Wir ermitteln in einem Mordfall.«

Die Empfangsdame griff mit säuerlicher Miene zum Telefon. »Herr Faber, die Polizei ist im Haus und wünscht Sie zu sprechen.« Sie lauschte einen Moment, ehe sie ein »In Ordnung, Herr Faber« ins Telefon säuselte und den Hörer auflegte. »Herr Faber erwartet Sie. Gehen Sie einfach den Flur entlang. Es ist das Büro ganz hinten rechts.«

»Danke«, sagte Vibeke und steckte ihren Dienstausweis wieder ein. Rasmus klopfte kurz auf den Tresen, und sie folgten dem Flur mit filigraner Holzverkleidung.

Gleich darauf standen sie in einem großzügig geschnittenen Büro mit Ausblick auf den Nikolaifleet und die Katharinenkirche. Auch hier herrschte der gleiche gediegene Einrichtungsstil wie im Foyer. An den Wänden hingen gerahmte Fotos von prächtigen Gründerzeitvillen, wie man sie rund um die Alster und in den gehobenen Stadtteilen fand.

Ein großer, dunkelhaariger Mann erhob sich hinter dem Schreibtisch. Er hatte kantige Gesichtszüge, die Augen waren grün und ausdrucksstark, die Schläfen grau meliert. Seine athletische Figur steckte in einem weißen Hemd und einer dunkelblauen Anzughose, dazu trug er eine farblich abgestimmte Krawatte.

Julius Faber reichte zunächst Vibeke die Hand, ein selbstbewusstes Lächeln auf den Lippen. »Ich hatte keine Ahnung, dass es in Hamburg so attraktive Polizistinnen gibt.«

Vibeke zog augenblicklich ihre Hand zurück, registrierte, wie sich Rasmus neben ihr versteifte. »Ihre Bemerkung ist unangebracht.«

Julius Fabers Lächeln verschwand. Er verzichtete darauf, Rasmus ebenfalls die Hand zu reichen, deutete stattdessen geschäftsmäßig auf die Sitzgruppe mit Clubsesseln im Retrodesign, die sich um einen kleinen runden Tisch gruppierten.

»Konrad Dahlmann und seine Frau wurden gestern in Dänemark tot aufgefunden«, informierte Vibeke den Geschäftsführer von Dahlmann Invest sachlich, sobald sie Platz genommen hatten. »Sie wurden ermordet.«

Seine Augen weiteten sich. »Das ist ja schrecklich.« Er lehnte sich in seinem Sessel zurück und fuhr sich mit beiden Händen übers Gesicht. Schließlich schüttelte er den Kopf. »Wirklich unfassbar. Weiß man schon Genaueres?«

Seine Stimme klang betroffen, einen Tick zu viel für Vibekes Geschmack, doch vielleicht war sie aufgrund seiner unpassenden Bemerkung auch voreingenommen.

»Die Ermittlungen stehen noch am Anfang«, erwiderte sie reserviert. »Wann haben Sie Konrad Dahlmann zuletzt gesehen oder gesprochen?«

»Freitagvormittag. Er hat mich angerufen.«

Vibeke tauschte einen überraschten Blick mit Rasmus, ehe sie sich wieder dem Geschäftsführer zuwandte. »Wann genau?«

»Vielleicht gegen elf?« Julius Faber lockerte seine Krawatte. »Er meldete sich von unterwegs, um mit mir über einen Vertrag zu sprechen, wegen dem ich heute noch einen Notartermin habe.« Er warf einen schnellen Blick auf seine Armbanduhr. Eine Pilotenuhr mit Edelstahlgehäuse, Chronograph und Lederarmband. Eindeutig teuer.

»Auf dem Handy oder auf dem Festnetz?«

»Festnetz. Frau Düring hat ihn zu mir durchgestellt. Die Telefone waren zwischen den Feiertagen auf die Zentrale umgeleitet. Sonst hätte ich die Uhrzeit auf meiner Anrufliste nachsehen können.« Julius Faber lächelte charmant, doch Vibeke ließ es an sich abprallen.

»Spielt der Zeitpunkt denn eine Rolle?«

»Herr und Frau Dahlmann wurden im Laufe des Freitags ermordet«, informierte sie ihn. »Hat Herr Dahlmann irgendetwas geäußert, was er an dem Tag vorhatte?«

»Nur dass er auf dem Weg zu seiner Frau nach Als war, um sie abzuholen. Sie hatte wohl einen Monat Fahrverbot. Am Abend wollten sie dann gemeinsam zurückkommen, um den Jahreswechsel in Hamburg zu verbringen.« Er verstummte. Einen Moment herrschte im Büro bleierne Stille.

»Herrn Dahlmanns Auto wird vermisst«, sagte Vibeke schließlich. »Hat er am Telefon gesagt, ob damit irgendetwas nicht in Ordnung wäre?«

Julius Faber entfernte einen imaginären Fussel von seinem Hemdärmel. »Nein, was sollte damit nicht in Ordnung gewesen sein? Herr Dahlmann war ja mit dem Wagen unterwegs. Außerdem war das Fahrzeug nagelneu.«

Die Tür ging auf und die Empfangsdame balanc ierte ein Tablett mit einer Kaffeekanne, drei Tassen sowie Milch und Zucker herein. »Möchten die Herrschaften vielleicht Kaffee?« Sie lächelte schmallippig.

Alle drei nickten zeitgleich, und sie stellte das Tablett auf dem Tisch ab und füllte die Tassen.

»Sagen Sie, Frau Düring«, sprach Julius Faber sie an. »Wissen Sie noch, wann Sie Herrn Dahlmann am Freitag zu mir durchgestellt haben?«

»Viertel nach elf«, entgegnete die Empfangsdame prompt. »Ich hatte gerade dem Postboten einen Rückschein mit Datum und Uhrzeit quittiert.« Ihr Blick nahm einen besorgten Ausdruck an. »Wieso? Ist etwas mit Herrn Dahlmann?« Sie stellte die Kaffeekanne ab.

Julius Faber öffnete den Mund, um zu antworten, doch Vibeke kam ihm zuvor. »Darüber würden wir gerne später mit Ihnen sprechen.«

Frau Düring schaute pikiert und rauschte ohne ein weiteres Wort aus dem Raum.

Vibeke wandte sich wieder dem Geschäftsführer zu. »Was denken Sie, wer hätte einen Grund haben können, Herrn Dahlmann und seine Frau umzubringen?«

»Ach, du meine Güte, da fragen Sie mich?« Julius Faber hob die Hände von den Stuhllehnen. »Sollte man nicht lieber die Leute auf dieser dänischen Insel fragen?« In seinen letzten Worten schwang Abfälligkeit mit, so als handelte es sich bei den Bewohnern von Als um irgendwelche Hinterwäldler.

Rasmus beugte sich vor und langte nach seiner Kaffeetasse. »Das geschieht bereits.« Sein dänischer Akzent trat deutlich hervor, und seine Stimme gewann an Schärfe. »Also, was sagst du dazu?«

Für einen Wimpernschlag entgleisten Julius Fabers Gesichtszüge, dann hatte er sich wieder im Griff. »Mir fällt niemand ein.« Es klang jetzt deutlich reservierter.

»Gab es in letzter Zeit irgendwelche Probleme in der Firma?«, hakte Vibeke nach. »Mit Mitarbeitern oder mit Geschäftspartnern?«

Julius Faber rieb sich die grau melierten Schläfen. »Nein, nur das Übliche, nichts, was eine solche Tat rechtfertigen würde.«

»Nichts rechtfertigt einen Mord«, sagte Vibeke, »aber vielleicht können Sie ›das Übliche‹ für uns etwas genauer definieren?«

Der Geschäftsführer lockerte seine Krawatte ein weiteres Mal. »Es gibt ein paar schwebende Verfahren mit Mietern einer unserer Immobilien, aber ohne Beschluss darf ich Ihnen dazu keine näheren Informationen geben.«

»Den bekommen Sie«, versicherte Vibeke. »Hat es Drohungen gegen Herrn Dahlmann oder die Firma gegeben?«

Julius Faber rückte seinen Krawattenknoten zurecht. »Keine ernst zu nehmenden, nur ein paar Briefe. Ich kann mir jedenfalls nicht vorstellen, dass es einen Zusammenhang gibt mit dem, was den Dahlmanns in Dänemark passiert ist.«

»Das zu entscheiden, überlassen Sie bitte uns. Wurden die Briefe aufbewahrt?«

»Nein. Herr Dahlmann hat sie immer direkt entsorgt.« Um den Mund des Geschäftsführers zuckte es kaum merklich. »Was passiert denn jetzt mit der Firma?«

»Darüber werden Sie sich mit den Erben unterhalten müssen«, erwiderte Vibeke. »Nur der Form hal ber: Wo waren Sie letzten Freitag? Ich meine, nach dem Telefonat mit Herrn Dahlmann?«

»Hier im Büro. Bis etwa halb sieben. Anschließend hatte ich noch ein Geschäftsessen. Warten Sie, ich habe noch den Bewirtungsbeleg.« Er stand auf und ging zu dem Garderobenständer, an dem neben einem dunkelblauen Jackett ein gleichfarbiger Blazermantel hing. Aus Letzterem zog er eine Brieftasche heraus und entnahm ihr eine Rechnung, die er an Vibeke weiterreichte. Sie überflog die Daten. Ein gehobenes Restaurant in der HafenCity. Es war mit Kreditkarte bezahlt worden und eine Uhrzeit angegeben. Dreiundzwanzig Uhr fünf. Auch die Spalten mit den bewirteten Personen war bereits ausgefüllt.

Vibeke fotografierte den Beleg mit dem Handy ab und gab ihn zurück. »Sagen Sie, welchen Verantwortungsbereich haben Sie bei Dahlmann Invest?«

»Ich bin für die Finanzen zuständig, vereinzelt betreue ich auch Kunden.«

»Sind Sie in der Firma alleinvertretungsberechtigt?«

Julius Faber schüttelte den Kopf. »Nein, bei größeren Geschäften brauchte ich immer die Unterschrift von Herrn Dahlmann.«

Vibekes Smartphone piepte, und eine Textnachricht erschien auf dem Display. Luís informierte sie, dass die Beschlüsse für Dahlmann Invest und das Hamburger Wohnhaus eingetroffen waren. Vorsorglich hatte sie sich Konrad Dahlmanns Schlüsselbund von der Kriminaltechnik aushändigen lassen. Sie schickte Luís eine kurze Antwort und erhob sich. »Wir würden dann gerne jetzt das Büro von Herrn Dahlmann sehen. Den richterlichen Beschluss finden Sie in ein paar Minuten in Ihrem Faxgerät.«

»Ich gebe meiner Assistentin Bescheid«, sagte Julius Faber und griff zum Telefon. »Sie wird Ihnen alles zeigen.«

Die nächsten dreißig Minuten sichteten sie unter dem wachsamen Blick einer jungen brünetten Frau die Unterlagen in Konrad Dahlmanns Büro. Es war ein Eckbüro, fast doppelt so groß wie das seines Geschäftsführers. Der Einrichtungsstil war derselbe wie in den anderen Firmenräumen, auf einem Tisch stand ein Architekturmodell mit mehreren Gebäuden.

Während Rasmus den Inhalt der Aktenschränke durchging, widmete sich Vibeke dem Schreibtisch. Es war ein antikes und massives Modell aus blank poliertem Mahagoni mit Messingbeschlägen.

Der Computer war im Stand-by-Modus. Vibeke bewegte die Maus. Ein blauer Hintergrund ploppte auf, und ein Eingabefeld verlangte ein Kennwort. Auch das schwarze Laptop, das neben der Tastatur auf der Schreibtischplatte lag, war passwortgeschützt.

Vibeke betrachtete den schmalen Tischkalender mit den Daten der vorherigen Woche. Am Todestag war nur ein einziger Eintrag vorhanden. »D. A.« stand dort. Weder Ort noch Uhrzeit waren angegeben. Die Spalten der restlichen Woche waren leer.

Sie wandte sich zur Assistentin um. »Sagen Ihnen die Initialen ›D. A.‹ etwas?«

Die brünette Frau überlegte einen Moment, schüttelte dann den Kopf. »Nein. Tut mir leid.«

Vibeke widmete sich einer Dokumentenmappe mit Schriftstücken, die auf die Unterschrift des Firmenchefs warteten, doch es war nichts darunter, was ihr interessant für die Ermittlungen erschien.

Sie durchsuchte die Schubladen. Mappen mit Objektbeschreibungen, Pläne von Architekten, ein halbes Dutzend Fachzeitschriften, jede Menge Visitenkarten, Büromaterial und Taschentücher sowie eine angebrochene Tafel dunkler Schokolade. Im untersten Fach befanden sich eine Flasche Single Malt und eine Holzkassette mit kubanischen Zigarren. Nichts von dem Inhalt erregte Vibekes Aufmerksamkeit.

Der Tischkalender geriet erneut in ihr Sichtfeld. Sie blätterte eine Seite zurück. In der Woche vor Weihnachten waren vereinzelte Termine mit Namen und Uhrzeit vermerkt.

Sie wandte sich zu Julian Fabers Assistentin um, die abwartend neben der Tür stand. »Können Sie sich das bitte einmal ansehen? Sind das alles Geschäftstermine?«

Die junge Frau trat zu ihr an den Schreibtisch und überflog die Einträge. »Die meisten schon, zumindest bis auf den am Mittwochmorgen.«

Vibeke blickte auf die betreffende Spalte. Ein Dr. Bornkamp war dort für acht Uhr eingetragen. Vielleicht ein Arzttermin.

Sie blätterte noch eine Seite zurück. Dort gab es ebenfalls Einträge, jedoch kein weiteres Mal »D. A.«, auch nicht die Wochen davor. Vielleicht hatte es gar nichts zu bedeuten. Eine flüchtige Kritzelei. Doch ausgerechnet am Todestag?

Ihr Blick fiel auf die Rollkartei, die oberhalb der Schreibtischunterlage stand. Kurzerhand sah sie unter den betreffenden Buchstaben nach. Kein Kontakt, zu dem die Initialen passten.

Sie machte ein Handyfoto von dem Eintrag und von den Seiten davor, ehe sie sich erneut der Assistentin zuwandte.

»Können Sie mir bitte eine Liste mit den Kontaktdaten der Geschäftspartner erstellen, mit denen Herr Dahlmann in den letzten vier Wochen vor Weihnachten Termine hatte?«

Die Assistentin blickte unsicher. »Jetzt?«

»Ja. Bitte.« Vibeke reichte ihr den Tischkalender, und die Frau verließ den Raum. Sie schob die Unterschriftenmappe beiseite und hob die Schreibtischunterlage an, um nachzusehen, ob etwas darunterlag. Nichts.

»Ist dir eigentlich aufgefallen, dass Julius Faber gar nicht danach gefragt hat, wie die Dahlmanns ermordet wurden?« Sie ließ die Schreibtischunterlage wieder sinken.

»Vielleicht wusste er bereits, was passiert ist«, murmelte Rasmus.

Vibeke wandte sich um. Ihr Kollege hatte den Aktenschränken den Rücken gekehrt und stand stattdessen mit verschränkten Armen vor dem Tisch mit dem Architekturmodell. »Wie meinst du das?«

»Entweder hat ihm jemand davon erzählt, oder Faber hat durch die Presse Wind davon bekommen. Der Doppelmord auf Als ist in vielen Zeitungen Titelthema.« Rasmus wandte ihr den Blick zu. »Oder aber er war am Tatort. Seine Betroffenheit wirkte auf mich zumindest nicht echt. Und den Spruch am Anfang hätte e r sich direkt schenken können.« Er richtete seine Aufmerksamkeit wieder dem Modell zu.

»Ist das irgendeins von Dahlmanns Bauvorhaben?«, erkundigte sich Vibeke.

Rasmus runzelte die Stirn. »Es sieht zumindest so aus.«

Vibeke erhob sich hinter dem Schreibtisch und trat neben ihn.

»Scheint ein riesiges Gelände zu sein«, stellte sie nach näherer Betrachtung fest. Dreißig schwarze Gebäude, die einander wie ein Ei dem anderen glichen, umgeben von Wiesen und Wäldern, und ein größerer dreistöckiger Komplex, der direkt an einen hellen Sandstrand grenzte. »Offenbar plante Konrad Dahlmann etwas Größeres. Und es scheint nicht in Hamburg zu sein.«

Rasmus deutete auf die Stelle, wo eine lange Zufahrtsstraße dargestellt war. »Siehst du den Straßen- und den Küstenverlauf? Wenn ich mich nicht täusche, ist das die Ostküste von Als. Genauer gesagt Sarup.«

Ihre Blicke verweilten auf dem hellen Sandstreifen.

»Er plante ein Strandresort«, sprach Vibeke den Gedanken aus, der ihr durch den Kopf schoss, »oder eine Ferienhaussiedlung.«

Rasmus nickte. »Vielleicht sogar beides.«

Sarup, Dänemark

Jeppe trat unter das Auto auf der Hebebühne und leuchtete mit der UV-Lampe den Unterboden ab, kontrollierte Rohrleitungen, Schlauchstücke und Verbindungsteile. Irgendwo musste im Kühlerschlauch ein Leck sein, zumindest hatte das Auto, ein deutscher Kleinwagen mit jeder Menge Kilometer auf dem Buckel, Kühlflüssigkeit verloren. Doch bislang war nichts von dem eingefüllten Kontrastmittel zu sehen, das zusammen mit dem Kältemittel in der Anlage zirkulierte. Möglicherweise handelte es sich um einen Haarriss, der sich mit bloßem Auge nicht erkennen ließ.

Jeppe wischte mit einem sauberen Lappen über die Leitungen einer schwer einsehbaren Stelle und begutachtete ihn anschließend unter der UV-Lampe, doch er wies kein fluoreszierendes Leuchten vom Kontrastmittel auf. Wie es aussah, waren die Schläuche nicht das Problem. Sein Blick glitt suchend den Unterboden ab. Die Lichtmaschine verdeckte einen Teil des Kühlerschlauchs. Jetzt sah er es. Eine der Schellen war durch Korrosion beschädigt und eingerostet. Sie musste ersetzt werden, doch um daranzukommen, würde er ganz schön rumfummeln müssen. Im schlimmsten Fall würde er die Lichtmaschine ausbauen müssen. Er seufzte. Es war ein zusätzlicher Aufwand und erhöhte die Kosten. Am besten holte er sich vorher das Okay des Kunden ein, sonst blieb die Werkstatt noch darauf sitzen. In dem Fall würde ihm sein Alter die Hölle heiß machen. Olsens Autoværksted ApS gehörte of fiziell seinem Vater, doch der ließ sich in letzter Zeit kaum noch blicken und überließ die meiste Arbeit seinem Sohn. Genau genommen ihm und Ricky, doch der glänzte mal mal wieder durch Abwesenheit.

Jeppe griff nach seinem Kaffeebecher, der zwischen Schraubenschlüsseln auf dem Werkstattwagen stand. Er nahm ein paar Schlucke und ließ dabei den Blick durch die Halle schweifen.

Die Werkstatt hatte eine Größe von rund hundert Quadratmetern, zwei Boxen mit Hebebühnen, in denen die Fahrzeuge repariert und gewartet wurden, jede Menge Regale, befüllt mit Werkzeugen, Prüfgeräten und Ersatzteilen sowie Lagerkästen mit Kleinteilen, dazu eine Reifenmontiermaschine, Auswuchtgewichtzangen und Ölbefüller und vollgeladene Werkzeugwände. Vieles von der Ausstattung stammte noch vom Vorbesitzer. Auch die drei alten Metallspinde, in denen sie ihre Arbeitskleidung und ihren Privatkram untergebracht hatten.

Jeppe leerte den Rest seines Kaffeebechers. Er fragte sich, wo Ricky steckte. Hoffentlich hatte der nicht die Fliege gemacht. Schon seit Jahren sprach er davon, ins Land seines Ururgroßvaters, eines spanischen Großgrundbesitzers, auszuwandern, um dort den ganzen Tag auf der faulen Haut zu liegen. Sonne, Chicas und Sangria, was will man mehr, sagte Ricky immer.

Wer konnte es ihm verdenken? Auch Jeppe träumte hin und wieder von einem Leben auf einer spanischen Insel. Dort, wo es immer warm war, selbst im Winter. Nicht wie hier auf Als, wo ständig Stürme über die Insel fegten und Regen und Kälte die Landschaft und Menschen im konturlosen Grau verschwinden ließen.

Doch Ricky fehlte die Kohle, um zu verschwinden. Der Deal mit dem Luxusschlitten war wegen eines dummen Anfängerfehlers geplatzt. Ihnen war unterwegs der Motor abgesoffen. Kein Benzin mehr im Tank.

Sie waren zu spät am vereinbarten Treffpunkt erschienen, und von ihren Abnehmern war weit und breit nichts mehr zu sehen gewesen. Jetzt mussten sie einen neuen Deal aushandeln. Doch die Polen drückten den Preis immer weiter nach unten.

Jeppe ärgerte sich, dass er sich überhaupt von Ricky zu der Sache hatte überreden lassen. Fürs Erste hatten sie vereinbart, die Füße still zu halten. Er legte keinen Wert darauf, dass die Bullen bei ihm vor der Tür standen, schließlich musste er aufpassen, dass seine kleinen Nebeneinkünfte nicht publik wurden. Keinesfalls wollte er im Knast enden. So wie Ricky.

»Machste dir hier einen flotten Lenz, oder was?!« Sein Vater kam in die Werkstatt geschlurft.

Albert Olsen war ein untersetzter, grobschlächtiger Mann mit schmalen Bullterrieraugen und aufgedunsenen Gesichtszügen, das Resultat jahrelangen Alkoholkonsums. Seine wenigen grauen Haare hatte er im Nacken zu einem dünnen Zopf zusammengefasst. Er trug eine seiner zerbeulten Cordhosen. Auf dem weißen Unterhemd unter seiner offen stehenden Strickjacke prangten gelbliche Flecken.

Jeppe schnappte sich die Stablampe und trat wieder unter das Auto auf der Hebebühne.

Der Alte kam zur Box und beäugte mit seinen Bullterrieraugen, wie er den Bereich um die korrodierte Schelle beleuchtete. »Wo steckt Ricky?« Zusammen mit seiner Frage stieß er eine mächtige Alkoholfahne aus.

Jeppe wich angewidert zurück. »Keine Ahnung. Vermutlich kommt er gleich.« Er fragte sich, weshalb sein Alter so früh auf den Beinen war. Normalerweise schlief er bis in den Nachmittag seinen Rausch aus.

»Eigentlich müsste ich euch das Gehalt kürzen, wenn hier jeder nur tut, wozu er gerade lustig ist.«

Jeppe lag auf der Zunge, dass sich ihr Hungerlohn kaum noch kürzen ließ, doch er schluckte den Einwand hinunter. »Gib mir mal den Fünfer.«

Er erwartete Widerstand, doch sein Vater wühlte zwischen den Schraubendrehern auf dem Werkstattwagen herum und reichte ihm den gewünschten. »Bei den Deutschen ist was passiert.«

Jeppe brach augenblicklich der Schweiß aus. »Wie, da ist was passiert?«, fragte er scheinbar unbeteiligt.

»Mathias hat gestern Abend schon beim Stammtisch erzählt, dass überall Polizei im Ort war. Und im Radio kam, dass es einen Doppelmord gegeben haben soll.«

Jeppe biss sich auf die Unterlippe. Seine Gedanken rotierten. Ein Doppelmord bei den Deutschen? Es gab auf der Insel zahlreiche Deutsche. Auch in Sarup. Nicht nur die Leute, bei denen sie das Auto geklaut hatten. Er schmeckte den metallischen Geschmack von Blut im Mund. Hektisch begann er, an der Wunde zu saugen.

»In Tinnes altem Haus«, schob sein Vater hinterher und stieß dabei einen weiteren Schwall seiner Alkoholfahne aus.

Der Schraubendreher rutschte Jeppe aus der schweißnassen Hand und fiel unter lautem Scheppern zu Boden.

Padborg, Dänemark

»Julius Faber, dem Geschäftsführer von Dahlmann Invest, ist kein Bauvorhaben auf Als bekannt«, informierte Rasmus das restliche Team, während er sich am Sideboard einen Kaffee einschenkte. »Er hat zwar das Modell in Dahlmanns Büro gesehen, aber sein Chef tat wohl sehr geheimnisvoll, was es mit dem Projekt auf sich hat.«

Es war bereits nach achtzehn Uhr. Ehe sie zurück nach Padborg gefahren waren, hatten sie in Hamburg die Alibis von Mirjam und Thomas Dahlmann überprüft und sich anschließend im Haus ihrer toten Eltern umgesehen. Neben einigen privaten Unterlagen hatten sie in dem sterilen Bungalow zwei Tablets und ein Laptop sichergestellt.

Rasmus lud sich noch eine der köstlich duftenden Zimtschnecken auf einen Teller, die jemand in einer großen Papiertüte bereitgestellt hatte, ehe er sich wieder an seinen Platz setzte. Abgesehen von einem pappigen Käsebrötchen, dass er sich an einer Tankstelle zwischen Hamburg und Flensburg geholt hatte, war dies seine erste Mahlzeit seit dem Frühstück.

Ihr Team war wieder vollzählig. Jens Greve, der hellhäutige Brillen- und Anzugträger von der Landes polizei Schleswig-Holstein, saß an dem zuletzt frei gebliebenen Schreibtisch, wirkte mit seiner geröteten Nase und der heiseren Stimme jedoch noch immer ein wenig angeschlagen. Er hatte neben seiner Computertastatur ein kleines Medikamentenarsenal aufgebaut. Mehrere Packungen Taschentücher, Halsbonbons und Nasentropfen sowie ein kleines Spray, dessen Name auf dem Etikett Rasmus nicht kannte.

»Es ist doch sicher auch nicht ganz so einfach, in Dänemark ein Ferienresort zu eröffnen«, krächzte Jens gerade. Er verzog das Gesicht, als hätte er Zahnschmerzen, und entließ im nächsten Moment einen ohrenbetäubenden Nieser, gefolgt von zwei weiteren.

»Hey, hey«, polterte Søren. »Behalte deine Viren gefälligst für dich. Ich bin gerade erst wieder gesund.«

Jens schnäuzte sich geräuschvoll die Nase.

Rasmus stellte seinen Kaffeebecher beiseite. »Jens hat recht. Vor allem, wenn man bedenkt, wie schwierig bereits der einzelne Hauskauf für Interessenten aus dem Ausland ist.«

»Ein Großteil des Areals ist in Privatbesitz«, berichtete Pernille. »Außerdem kann man an der Küste nicht einfach so bauen. Da gibt es zahlreiche Bau- und Schutzlinien, die einzuhalten sind, und man benötigt für alles Mögliche eine Genehmigung. Und so eine Feriensiedlung ist ein wesentlicher Eingriff ins Landschaftsbild.«

Alle Blicke richteten sich auf das digitale Whiteboard, auf dem ein Foto des Architekturmodells aus Konrad Dahlmanns Büro projiziert war.

Søren verschränkte die muskelbepackten Oberarme. »Es gibt immer Mittel und Wege. Und es gibt Ausnahmegenehmigungen.« Er sah Rasmus an. »Erinnerst du dich noch, was dieser Moberg gesagt hat?«

»Du meinst, dass er sich eher eine Kugel in den Kopf jagt, als einem Deutschen seinen Hof zu verkaufen?« Rasmus griff nach der Zimtschnecke.

»Ganz genau«, bestätigte Søren. »Vielleicht hat Dahlmann versucht, ihm das Grundstück abzuluchsen. Und nicht nur ihm.«

Vibeke, die bislang still zugehört hatte, wandte sich an Luís. »Kannst du uns die Karte von Sarup mit aufs Whiteboard holen?«

Der Portugiese gab ein paar Befehle in seine Computertastatur ein, und neben dem Modell erschien ein Kartenausschnitt vom südöstlichen Als.

»Und jetzt bitte noch die Umgebung vom Dahlmann-Haus heranzoomen.«

Luís kam ihrer Aufforderung nach und der Kartenausschnitt wurde deutlicher. Auch die Übereinstimmungen vom Straßen- und Küstenverlauf mit dem Modell waren nun erkennbar.

»Seht ihr das?« Vibeke stand auf und deutete auf ein graues Rechteck am Ende der Straße, in unmittelbarer Nähe zum Strand. »Dort steht noch ein Haus.«

Luís wechselte von der Kartenansicht in den Echtbildmodus. Zwischen Bäumen und Büschen blitzte ein Dach hervor.

Vibeke wandte sich an Søren. »Wart ihr dort schon?«

Der Hüne schüttelte den Kopf. »Ich hätte ehrlich gesagt auch nicht gedacht, dass da überhaupt noch ein Haus kommt.« Sein Blick glitt zu Pernille, die zustimmend nickte.

»Auf dem Modell ist es jedenfalls nicht zu sehen«, stellte Rasmus fest und wischte sich mit einer Serviette den Mund ab. Die Zimtschnecke war köstlich gewesen. Süß und klebrig, nahezu perfekt.

»Dann würde ich vorschlagen, wir sprechen mit den Leuten, die dort wohnen«, sagte Vibeke. »Pernille, kannst du herausfinden, wem die Grundstücke gehören, auf denen Dahlmann sein Projekt plante?«

Pernille nickte.

»Was ist mit Faber?« Rasmus umriss für die restlichen Teammitglieder das vorausgegangene Gespräch mit dem Geschäftsführer von Dahlmann Invest und erwähnte auch den Spruch, den er sich gegenüber Vibeke geleistet hatte. »Vibeke hat dem Kerl ordentlich Bescheid gestoßen.«

Fabers unseliger Versuch, seinen Fauxpas durch dämliches Lächeln wiedergutzumachen, kam ihm in den Sinn, und er musste innerlich grinsen. Jemand wie Vibeke ließ sich nicht so einfach um den Finger wickeln, da biss man eher auf Granit. »Der Typ wirkte auf mich wie ein überheblicher Schnösel, und seine Betroffenheit habe ich ihm nicht ganz abgekauft.«

»Ging mir ähnlich«, bestätigte Vibeke.

»Vielleicht, weil er es war, der die beiden umgebracht hat.« Jens schnäuzte sich erneut geräuschvoll die Nase. »Hat Faber ein Alibi?«

»Am Abend war er bei einem Geschäftsessen«, erwiderte Vibeke. »Jedenfalls hat er uns eine Restaurantrechnung gezeigt, aber wir sollten das sicherheitshalber noch einmal überprüfen. Für den Nachmittag hat er jedenfalls kein Alibi.« Sie griff nach der Wasserflasche auf ihrem Schreibtisch und schenkte etwas davon in das danebenstehende Glas. »Die Empfangsdame ist um vierzehn Uhr nach Hause gegangen, anschließend war Faber allein in der Firma. Offiziell hatte Dahlmann Invest zwischen den Feiertagen geschlossen.«

Pernille tippte nachdenklich mit ihrem Stift auf der Schreibtischplatte herum. »Wie lange braucht man von Hamburg nach Sarup?«

»Rund zweieinhalb Stunden. Vorausgesetzt, man kommt gut durch.«

»Also hin und zurück fünf Stunden«, fasste Rasmus zusammen. »Dann hätte er vor Ort maximal eine halbe Stunde Zeit gehabt, die Dahlmanns umzubringen. Eine enge Kiste. Aber machbar.« Er wandte sich an Luís. »Kannst du in Erfahrung bringen, ob Fabers Auto von der Kennzeichenscannung erfasst wurde?«

Luís nickte. »Ich kümmere mich darum. Die auf Mirjam und Thomas Dahlmann zugelassenen Wagen habe ich bereits gecheckt. Keines der Fahrzeuge wurde an einem der Grenzübergänge registriert.«

»Was nicht unbedingt etwas heißen muss«, warf Søren ein. »Wenn ich vorhätte, jemanden umzubringen, und dafür über die Grenze müsste, würde ich mir ein anderes Auto besorgen.«

»Nicht allen Leuten sind die Kennzeichenscanner bekannt«, gab Vibeke zu bedenken. »Doch so oder so müssen wir das überprüfen. Was Faber betrifft, müsste er natürlich auch ein Motiv haben. Wir haben uns vorhin die Personalunterlagen bei Dahlmann Invest angesehen, da gab es keinerlei Auffälligkeiten, aber wir nehmen ihn unter die Lupe. Genau wie den Bruder.« Sie gab in kurzen Worten für das restliche Team das Gespräch mit Ulrich Dahlmann wieder. »Seine Frau hat s eine Angaben bestätigt, aber wir wissen natürlich, wie viel das Alibi eines Ehepartners wert ist. Und ein jahrelanger Erbstreit taugt durchaus als Mordmotiv.«

»Was ist mit den Kindern der Dahlmanns?«, erkundigte sich Søren. »Haben die ein Alibi?«

Rasmus nickte. »Mirjam Dahlmann war von morgens um sieben bis zum späten Abend in der Kanzlei Hegebaum & Partner. Das wurde von mehreren Kollegen bestätigt.« Er trank einen Schluck Kaffee, ehe er weitersprach. »Thomas Dahlmanns Zahnarztpraxis hatte zwischen den Feiertagen geschlossen. Er hat angegeben, am Vormittag beim Einkaufen gewesen zu sein und anschließend zu Hause.« Noch immer hatte er Thomas Dahlmanns Ungläubigkeit vor Augen, als er nach seinem Alibi gefragt worden war.

Søren blähte die Backen. »Und seine Frau hat das vermutlich bestätigt.«

Rasmus nickte.

»Was habt ihr da eigentlich mitgebracht?« Pernille deutete auf das halbe Dutzend Aktenordner, das neben Vibekes Schreibtisch auf dem Boden stand.

»Das sind Unterlagen aus dem Haus der Dahlmanns«, erwiderte Vibeke. »Möglicherweise finden wir darin einen Hinweis, der uns weiterbringt.«

»Wir sollten mit ihrem Anwalt sprechen«, warf Jens ein, »wie das mit dem Erbe geregelt ist. Vielleicht erleben wir dabei eine Überraschung.«

»Ich habe die Kontaktdaten schon vorliegen«, sagte Pernille, »und ich habe mit Konrad Dahlmanns Bank gesprochen. Man hat mir zugesagt, dass wir spätestens morgen Einblick in die Kontodaten bekommen.«

Einen Moment sagte niemand etwas.

»Was haben eure Befragungen heute ergeben?«, erkundigte sich Vibeke bei Søren.

Der Hüne ließ die Finger seiner linken Hand knacken. »Es ist wie mit den drei Affen. Nichts hören. Nichts sehen. Nichts sagen.«

»Es ist also nichts dabei rumgekommen«, fasste Rasmus zusammen. Er trank den restlichen Inhalt seines Kaffeebechers.

»Der Bericht der Kriminaltechnik ist da«, sagte Luís in diesem Moment, und Rasmus horchte auf. »Die Fingerabdrücke am Tatort konnten größtenteils den beiden Opfern zugeordnet werden. Zu den anderen hat die Datenbank leider nichts ausgespuckt.« Der Portugiese hatte den Blick auf den Bildschirm gerichtet. »Darüber hinaus wurden am Küchentisch Handschuhspuren gefunden. Aufgrund der Oberflächenstruktur gehen die Kollegen davon aus, dass es sich dabei um Textilhandschuhe aus Mikrofaser handelt. Keine Besonderheiten. Also schwieriges Terrain. Zumal die Spuren nicht unbedingt vom Täter stammen müssen.«

»Wurden auch im restlichen Haus Fingerabdrücke gesichert?«, hakte Jens nach.

Luís nickte. »Aber die Auswertung erfolgt sekundär.« Er wandte sich wieder seinem Bildschirm zu. »Kommen wir zu den Schuhabdrücken. Knudsen hat es bereits anklingen lassen, leider sind sie nicht zu rekonstruieren, das ist in erster Linie dem Umstand geschuldet, dass der Täter sich umherbewegt hat. Die Abdrücke sind nicht nur überlappend, sondern wurden auch nachträglich verwischt. Sie sind daher nicht verwertbar.« Er hob für einen kurzen Moment den Blick, ehe er wieder auf den Bildschirm sah. »An der Kleidung der Toten konnten DNA-Spuren in Form von Haaren und Hautschuppen genommen werden. Sie befinden sich in der Auswertung. Zudem wurde zwischen den Dielen im unteren Flur Snus gefunden. Auch das wird im Labor untersucht.« Er schob die Computertastatur beiseite. »Die Kabelbinder sind eine Sackgasse. Ein Standardmodell, in jedem Baumarkt oder im Internet erhältlich.«

»Sind die Tatortaufnahmen vom 3-D-Laserscanner schon mitgekommen?«, erkundigte sich Rasmus.

Die 3-D-Rekonstruktion von Verbrechen, die digitale Tatortanalyse, bildete seit Jahren einen wichtigen Bestandteil der Spurensicherung. Dabei hielten die Kriminaltechniker die Räumlich- und Örtlichkeiten mit ihren Scannern dreidimensional bis ins letzte Detail fest.

Luís schüttelte den Kopf. »Das wird wohl noch dauern. Dafür haben die Kollegen von der IT die Anruflisten von den Handys geschickt. Ich hatte noch nicht die Zeit, alles durchzugehen, und habe mich vorerst auf die Anrufe vom Todestag konzentriert. Luise Dahlmann hat am Freitagmorgen nur zwei Anrufe getätigt. Gegen neun hat sie ihren Mann angerufen und rund eine Stunde später mit einer Firma für Trockenbau in Sønderborg telefoniert.« Er warf einen Blick auf seine Unterlagen. »Bei Konrad Dahlmann stehen der Anruf seiner Frau auf der Liste sowie einer bei seinem Hausarzt, Dr. Bornkamp. Dabei ging es wohl um die Ergebnisse seines jährlichen Gesundheitschecks. Der letzte Anruf, den er getätigt hat, war um elf Uhr fünfzehn mit seinem Geschäftsführer Julius Faber.«

Rasmus nickte. Das deckte sich mit dem, was sie bei Dahlmann Invest erfahren hatten. »Gibt es schon irgendwelche Rückmeldungen von der Fahndung nach Konrad Dahlmanns Wagen?«

»Bislang nicht. Aber ich bin auf etwas anderes Interessantes gestoßen. Etwas außerhalb von Sarup gibt es eine kleine Kfz-Werkstatt.« Luís blickte auf seinen Computerbildschirm. »Besitzer ist Albert Olsen. Und bei ihm arbeitet ein gewisser Ricky Ahlgren.« Er machte eine bedeutungsvolle Pause. »Ricky saß eine Zeit lang im Knast. Und ratet mal, weshalb.«

»Autodiebstahl?«

Der Portugiese nickte. »Vor sieben bis acht Jahren gab es im Grenzgebiet einige Fälle von Homejacking. Vielleicht erinnert ihr euch.«

Jens war der Einzige, der nickte.

Homejacker drangen in der Nacht meist zwischen zwei und fünf Uhr morgens in Häuser ein und stahlen die Autoschlüssel der schlafenden Bewohner, die dann irgendwann nach dem Aufstehen nicht nur bemerkten, dass die Schlüssel fehlten, sondern auch das dazugehörige Auto. Doch zu dem Zeitpunkt waren die Diebe längst auf und davon, vermutlich jenseits der Grenze.

»Wir waren uns damals sicher, dass eine Bande dahintersteckt«, fuhr Luís fort, »aber bis auf Ricky Ahlgren haben wir nie einen gekriegt. Und er ist lieber in den Knast gewandert, als zu zwitschern.«

»Dann sollten wir ihn auf jeden Fall befragen«, sagte Rasmus.

Vibeke nickte. »Hat sonst noch jemand etwas?« Sie blickte in die Runde.

Allgemeines Kopfschütteln.

»Dann lasst uns kurz durchgehen, was für morgen ansteht. Rasmus und ich statten der Kfz-Werkstatt einen Besuch ab. Luís, du kümmerst dich um die Telefonlisten, und Pernille, du kontaktierst den Anwalt der Dahlmanns und gehst die Unterlagen aus ihrem Haus durch.«

»Dann kümmere ich mich um Dahlmann Invest«, schlug Jens vor.

»Prima«, sagte Vibeke. Ihr Blick ging zu Søren. »Sind noch Anwohnerbefragungen offen?«

»Nur bei den Leuten, die wir nicht angetroffen haben, aber da haben wir Nachrichten hinterlassen. Und das Haus am Ufer.«

»Das übernehmen Rasmus und ich. Du unterstützt bitte deine Kollegen.«

Søren nickte.

»Gut, dann treffen wir uns morgen wieder hier.«

Stühle scharrten, und der Raum leerte sich, bis nur noch Rasmus und Vibeke übrig waren.

»Wenn du möchtest, kannst du bei mir auf der Couch übernachten«, bot seine Kollegin freimütig an, während sie sich ihre Winterjacke überzog. »Oder willst du noch nach Esbjerg hoch?«

»Nein. Das ist zu viel Fahrerei.« Rasmus löschte hinter Vibeke das Licht, als sie den Raum verließen. »Danke für dein Angebot, aber ich suche mir irgendwo ein Plätzchen mit dem Bus.«

»Bei der Kälte?«

»Hey, ich bin ein Nyborg«, brüstete er sich. »Ich war gestern in der Ostsee schwimmen.«

»Na dann.« Ein Schmunzeln streifte ihre Lippen. »Wie du willst.« Sie gingen die Treppe hinunter. »Ich habe übrigens deine Maja kennengelernt.«

Rasmus rollte die Augen. »Sie ist nicht meine Maja. Ich hätte dir nicht von ihr erzählen sollen.«

»Hast du aber«, stellte Vibeke ungerührt fest und trat durch die Tür ins Freie. »Und weißt du was? Sie gefällt mir. Also meinen Segen hast du.«

»Als wenn ich den bräuchte«, murmelte Rasmus, während er hinter seiner Kollegin das Gebäude verließ.

Der Abendhimmel war wolkenverhangen, und es regnete leicht.

»Dann morgen um neun an der Werkstatt«, sagte Vibeke. »Und sei pünktlich.«

Rasmus hob zum Abschied die Hand.

Hamburg, Deutschland

Auf der anderen Elbseite brannten die Lichter auf den Docks in der Dunkelheit. Kräne ragten wie stählerne Riesen in den Abendhimmel, reckten ihre Arme im Flutlicht nach den bunten Boxen auf den Containerriesen. Überall rumpelte und krachte es, hin und wieder traf Stahl auf Stahl. Der Betrieb im Hafen stand niemals still.

Mirjam schloss das Fenster und fuhr ihren Computer herunter. Es war kurz vor zweiundzwanzig Uhr und sie war wie so häufig eine der Letzten im Büro. Hegebaum & Partner war eine der führenden Wirtschaftskanzleien Hamburgs, ihre Historie an der Elbe reichte bis ins Jahr 1883 zurück. Sie waren auf IT-Recht spez ialisiert und vertraten Unternehmen vom Start-up bis zum Großkonzern in juristischen Fragen, überwiegend im Kartellrecht, Gesellschafts- und Handelsrecht oder Internetrecht. Mirjam war Senior Associate, und ihr Fachgebiet war das Individual- und Kollektivarbeitsrecht, in dem sie deutsche und internationale Firmen sowie Führungskräfte beriet. Ihr Job beinhaltete zudem die arbeitsgerichtliche Prozessführung, die Vertretung in betriebsverfassungsrechtlichen Einigungsstellen und die Begleitung von Unternehmen bei Restrukturierungen. Aktuell arbeitete sie in einem Team, das die Eigenverwaltung eines Automobilzulieferers beim Verkauf des Geschäftsbetriebs im Wege eines Asset Deals beriet, und Mirjam erhoffte sich nach dem Abschluss der Akquisition, der in der ersten Jahreshälfte erwartet wurde, die Ernennung zur Partnerin.

Sie löschte das Licht und verließ den Raum. Die meisten ihrer Kollegen hatten schon vor Stunden Feierabend gemacht, nur am Ende des Flurs, beim Büro von Dr. Raimund Vorsmann, dem federführenden Partner, schimmerte es hell hinter dem satinierten Glaseinsatz neben der Tür. Einen kurzen Moment war Mirjam versucht, hinzugehen und anzuklopfen, um ihm noch einen schönen Abend zu wünschen, doch angesichts dessen, dass er noch immer hinter dem Schreibtisch saß, würde dies vermutlich nicht gut ankommen. Zudem wollte sie nicht den Eindruck erwecken, sich einzuschmeicheln. Steigbügelhalter gab es bei Hegemann & Partner bereits zur Genüge, auch wenn sie sich in der Regel nicht lange hielten. Raimund Vorsmann ließ sich nur von Engagement, Erfolg und Durchsetzungskraft beeindrucken, und Mirjam hatte vor, ihm genau diese Dinge zu liefern.

Sie verließ die Kanzlei durch den Empfangsbereich und nahm den Fahrstuhl in die Tiefgarage. Dort angekommen, eilte sie auf klackernden Pumps und mit einem leicht mulmigen Gefühl zu ihrem Wagen, der mit nur zwei weiteren Fahrzeugen auf der Parkebene stand.

Schließlich fuhr sie durch die menschenleeren Straßen der HafenCity, passierte die roten Backsteinbauten der Speicherstadt, kam an den Deichtorhallen und dem Hauptbahnhof vorbei, ehe sie die Kennedybrücke überquerte und wenig später vor einer schneeweißen Stadtvilla in Rotherbaum zum Stehen kam. Burgartige Türme und Zinnen zierten die klassizistische Fassade, prächtige Säulen umrahmten den Hauseingang. Hinter den Fenstern in der zweiten Etage schimmerte schwaches Licht.

Kurz darauf schloss sie die Wohnungstür auf, streifte sich die hochhackigen Schuhe von den Füßen und ging in die Küche, wo ein Glas Rotwein für sie bereitstand. Davor lag eine handgeschriebene Notiz. »Weck mich, wenn du ins Bett kommst. Unbedingt.« Das letzte Wort war doppelt unterstrichen.

Mirjam lächelte. Sie nippte am Wein. Er schmeckte hervorragend. Kraftvoll. Ein Hauch von Waldbeeren. Feinkörniges Tannin. Mit dem Glas in der Hand ging sie ins angrenzende Wohnzimmer. Die ultramoderne Einrichtung stand im Kontrast zu Fischgrätparkett, Stuck und Flügeltüren. Den einzigen Wandschmuck bildete ein Fünfundfünfzig-Zoll-Fernseher mit Dolby-Surround-System und Lautsprechern in allen Ecken und Winkeln. Auf einem Sideboard brannte die oran gefarbene Panthella, Mirjams Weihnachtsgeschenk. Die Lampe passte perfekt.

Mirjam zog ihren Mantel aus und schmiss ihn achtlos über die Couch. Auf dem niedrigen Beistelltisch lagen ein paar geöffnete Briefe.

Ihre Gedanken glitten zu Thomas. Ihr Bruder hatte heute schon zweimal angerufen, um sich danach zu erkundigen, ob sich Dr. Altmann, ihr Familienanwalt, zurückgemeldet habe. Schließlich mussten mit dem Tod der Eltern einige Dinge geregelt werden, nicht zuletzt die Beisetzung und alles, was damit einherging. In Mirjam keimte der Verdacht, dass es Thomas in erster Linie ums Geld ging. Um sein Erbe. Ihr Erbe. Wenn es überhaupt eins gab. Wer wusste schon, welche Bosheiten ihr Vater nach seinem Tod für sie bereithielt.

Mirjam führte das Weinglas erneut an die Lippen. Der Streit zwischen Thomas und ihrem Vater an Weihnachten kam ihr in den Sinn, und sie hielt so abrupt inne, dass ein wenig der roten Flüssigkeit über den Glasrand schwappte und ihr das Kinn herunterlief. Konnte es sein, dass Thomas … Sie brachte den Gedanken nicht zu Ende, wischte stattdessen den Wein mit dem Handrücken ab. Niemals.

Mirjam ließ sich in die handschuhweichen Polster der hellen Ledercouch sinken. Der oberste Brief auf dem Beistelltisch stach ihr ins Auge. Das Schreiben eines Anwalts.

Sie lauschte in Richtung Schlafzimmer nach Geräuschen, doch alles war still. Wohl wissend, dass sie so etwas nicht tun sollte, zog sie das Schriftstück zu sich heran. Unterhaltsforderungen für die beiden Kin der und die Noch-Ehefrau. Angesichts der geforderten Summe zuckte Mirjam zusammen.

Sie legte das Schreiben zurück auf den Stapel. Im nächsten Moment schämte sie sich für ihre Herumschnüffelei. Das Ganze ging sie nichts an. Sie leerte den Rest ihres Weinglases und erhob sich von der Couch. Auf dem Weg zum Schlafzimmer knöpfte sie ihre Seidenbluse auf. Leise schob sie die Flügeltür auf. Gleichmäßige Atemzüge waren zu hören.

Mirjam streifte ihre Bluse ab, ließ sie an Ort und Stelle zu Boden sinken, ehe ihr Hose, Unterwäsche und Seidenstrümpfe folgten. Sie schlüpfte unter die Bettdecke zu dem schlafenden Mann, legte den Arm um seine Hüfte und schmiegte sich eng an ihn. Dabei küsste sie ihn zunächst sanft im Nacken, dann weiter den Hals entlang.

»Da bist du ja endlich«, murmelte Julius Faber schlaftrunken und drehte sich zu ihr herum.