Regentropfen prasselten gegen das Schlafzimmerfenster. Schon seit Tagen herrschte typisches Weihnachtstauwetter. Regen, Wind und trüber Himmel, dazu milde Temperaturen um die zehn Grad. Der Traum von weißer Weihnacht war für ein weiteres Jahr ausgeträumt.
Edith zog den Reißverschluss der Tasche mit den Geschenken für ihren Cousin und seine Familie zu. Sie hoffte, dass sie die richtige Wahl getroffen hatte, nicht wie Otto, der ihr an Heiligabend mit stolzem Lächeln dieses unsägliche Nachthemd aus grünem Samt überreicht hatte, als handelte es sich dabei um die Kronjuwelen. Nicht dass sie auf teuren Schmuck Wert gelegt hätte, dafür war sie nach zwanzigjähriger Ehe längst zu ernüchtert, doch das neue Kleidungsstück erinnerte sie an die Vorhänge ihrer Großtante Hilde, und beide mochte sie nicht besonders. Sie würde das Nachthemd gleich im neuen Jahr umtauschen.
Die Geschenke ihres Mannes waren fast immer eine Enttäuschung, und Edith versuchte, sich keine Hoffnung mehr zu machen, dass sich daran noch et was änderte. In den Anfangsjahren hatte Otto ihr nützliche Dinge geschenkt. Einen Eierkocher, eine Gurkenschneidemaschine, Küchenmesser mit leuchtend grünen Griffen. Nach dezenten Hinweisen ihrerseits hatte er im Folgejahr ein Fläschchen Parfüm gekauft. Es hatte wahnsinnig gestunken, doch aus Rücksicht auf Ottos Gefühle hatte Edith nichts gesagt. Daraufhin hatte ihr Mann es im nächsten Jahr wieder besorgt. Mittlerweile war er dazu übergegangen, ihr etwas Schönes zum Anziehen zu schenken, gute Stücke, die sie sich selbst nicht gönnte und die jahrzehntelang hielten.
Es zählt der Gedanke, sagte sich Edith, trotzdem wuchs ihre Frustration von Jahr zu Jahr, dass Otto ihren Geschmack offenbar so gar nicht kannte. Vielleicht würde sie ihm vorschlagen, dass sie das mit den Geschenken künftig lieber lassen sollten. Letztendlich kam es an Weihnachten auf andere Dinge an. Das Beisammensein mit den Kindern, ein schön geschmückter Weihnachtsbaum, die gemeinsamen Spaziergänge, nachdem sie alle viel zu viel gegessen hatten.
Edith freute sich auf den Jahreswechsel, den sie wie üblich mit ihrem Cousin und seiner Familie verbringen wollten.
Sie stellte die Reisetasche auf den Boden und hob stattdessen den bereitstehenden Koffer mit dem roten Schottenmuster aufs Bett. Auf der Treppe waren Ottos stampfende Schritte zu vernehmen. »Edith! Wie weit bist du mit dem Packen?«, rief er ihr schon vom Flur aus entgegen. »Wir müssen los.« Schnaufend erreichte er das Schlafzimmer, das Gesicht von der vorherigen Anstrengung leicht gerötet. Unter seinem karierten Hemd wölbte sich sein Bauch, der über die Feiertage noch deutlich an Umfang zugelegt hatte.
»Jetzt schon?« Sie sah ihren Mann entrüstet an. »Wir wollten doch erst am Nachmittag fahren. Ich muss noch unseren Koffer packen. Und für die Kinder habe ich auch noch nichts fertig.«
Otto zog die kräftigen Brauen zusammen, sodass sie eine Linie bildeten. »Dann beeil dich, Edith. Sie haben Unwetter angesagt. Soll ich dir schnell helfen?«
»Nicht nötig«, winkte Edith ab. Packen gehörte nicht gerade zu Ottos Kernkompetenzen. Die wenigen Male, wo er es übernommen hatte, waren sämtliche Kleidungsstücke zerknittert angekommen, und sie hatte die ersten Urlaubstage mit Bügeln verbracht. »Kümmer du dich darum, dass das Auto startklar ist.« Sie klappte den Koffer auf.
»Wie du meinst. Dann hole ich noch schnell einen guten Tropfen aus dem Keller und sage den Kindern Bescheid, dass wir etwas eher fahren. Und Edith«, er deutete auf den Koffer, »sieh zu, dass du fertig wirst. Es muss nicht immer alles Kante auf Kante liegen.« Er verließ das Schlafzimmer, und kurz darauf waren seine polternden Schritte auf der Treppe zu hören.
Ediths Blick glitt zum Fenster. Draußen regnete es noch immer Bindfäden. Von einem Unwetter war weit und breit nichts zu sehen. Otto übertrieb mal wieder. So schlimm würde es schon nicht werden.
Vibeke stand mit ihrem Kaffeebecher auf der Dachterrasse und blickte über die Dächer der Stadt und die Förde.
Die Konturen von Himmel und Meer verschwammen am Horizont, und auch die dänische Küste war in der Dunkelheit nicht auszumachen. Der Wind verschluckte die frühmorgendlichen Straßengeräusche.
Es hatte endlich aufgehört zu regnen, doch es war kälter geworden. Noch kälter. In der Nacht waren die Temperaturen auf minus zwölf Grad gesunken.
Vibeke konnte sich nicht erinnern, wann es in Flensburg zuletzt so kalt gewesen war. Sie zog ihre Strickjacke enger um ihren Körper und nippte an ihrem dampfenden Kaffee. Es gehörte zu ihrem täglichen Ritual, am Morgen und am Abend mindestens ein paar Minuten hier oben zu stehen, um die Aussicht und die Ruhe zu genießen.
Sie hatte endlich mal wieder halbwegs gut geschlafen. Tief und traumlos, ohne ihren toten Ex-Freund oder ihre gesichtslosen Großeltern. Erst vor einigen Monaten hatte Vibeke von Werner erfahren, dass Letztere bei ihm und Elke vor vielen Jahren aufgetaucht waren, um sich nach ihr zu erkundigen. Damals war sie gerade elf gewesen. Doch ihre Großeltern waren genauso schnell wieder verschwunden, wie sie aufgetaucht waren, und hatten Vibeke aus ihrem Leben radiert, so als gäbe es sie nicht.
Vibeke hatte all das weit von sich geschoben und entschieden, nach vorne zu blicken anstatt in die Ver gangenheit. Seitdem ging es ihr besser. Ihr Job bei der Polizei, ihr regelmäßiges Wing-Tsun-Training, das alles gab ihr Halt und Struktur. Auch die Zusammenarbeit mit der Sondereinheit tat ihr gut. Sie begegneten sich auf Augenhöhe und waren zu einem perfekten Team zusammengewachsen, wo ein Rädchen ins andere griff. Auch menschlich kamen sie gut miteinander aus.
Ihre Gedanken glitten zu dem Doppelmord. Vor zwei Tagen waren die Dahlmanns tot aufgefunden worden. Worum ging es dabei? Habgier? Streit? Oder spielte das Bauprojekt eine Rolle? Doch weshalb hatte man die Opfer an die Heizung gefesselt? Hatte Pernille recht, und es war am Ende ein missglückter Raubüberfall?
Laut Rechtsmedizin war die Tatwaffe ein Hammer gewesen. Zudem war das Wort Übertötung im Zusammenhang mit Luise Dahlmann gefallen.
Vibeke fröstelte. Ihre Hände waren mittlerweile rot und steif vor Kälte, der Kaffee nur noch lauwarm. Schnell leerte sie den restlichen Becherinhalt und nahm die Stahltreppe, die ins Schlafzimmer hinunterführte.
Sie hatte mit Rasmus vereinbart, sich um neun an der Werkstatt von Albert Olsen zu treffen, doch vorher wollte sie noch einmal zum Tatort fahren. Bislang war sie nur im Flur gewesen, und sie wollte sich auch den Rest des Hauses ansehen, um alles in sich aufzunehmen.
Rund anderthalb Stunden später durchtrennte Vibeke am Dahlmann-Haus das Polizeisiegel mit dem Schlüs sel, den sie sich zuvor im Gemeinsamen Zentrum hatte aushändigen lassen.
Der Geruch von abgestandenem Blut hing in jedem Winkel des Hauses, hatte sich tief in Tapeten, Fliesen und Böden gefressen, drang aus sämtlichen Ritzen und war bis ins Gemäuer gekrochen.
Die Nummerntafeln der Kriminaltechnik waren verschwunden, die roten Abdrücke in Flur noch immer vorhanden. Obwohl sie längst untersucht worden waren, bemühte sich Vibeke, nicht draufzutreten. An der Schwelle zur Küche blieb sie stehen.
Das Blut an den Wänden, die roten Schlieren, die sich von der Küchenmitte zum Heizkörper zogen, die dunkle Lache auf den Fliesen. Es schien, als hätte sich das Bild für die Ewigkeit eingefroren. Nur die beiden Toten fehlten.
Im Raum war es vollkommen still, auch die Wanduhr tickte nicht mehr. Durch die Sprossenfenster fiel mattes Tageslicht herein.
Vibeke streifte sich Einweghandschuhe über und trat in den Raum. Sie warf einen Blick in die Küchenschränke und Schubladen, die neben ein wenig Geschirr und Besteck lediglich ein paar Lebensmittel enthielten. Im Kühlschrank herrschte, abgesehen von einem abgelaufenen Joghurt und einem Tetrapack Milch, gähnende Leere.
Sie inspizierte die Werkzeugkiste auf dem Küchentisch. Schraubenzieher, Nägel, Schrauben und Muttern, eine Zange, verschiedene Schraubenschlüssel, ein Zollstock und eine Wasserwaage. Kein Hammer.
Sie verließ die Küche, schaute in die angrenzende Abstellkammer, ins Gäste-WC und stand schließlich im Wohnzimmer. Verblichene Blümchentapete, zum Teil bereits von den Wänden gelöst, ausgetretener Dielenboden, keinerlei Möbel. Stattdessen standen in einer Ecke mehrere Eimer mit Farbe, ein Tapeziertisch, diverse Pinsel und Abdeckfolien.
Vibeke kehrte dem Raum wieder den Rücken zu und nahm die Treppe ins Obergeschoss. Die Stufen knarzten unter jedem ihrer Schritte.
Oben angekommen, bot sich ihr ein ähnliches Bild wie im Erdgeschoss. Leere Zimmer, abgenutzte Böden, halb entfernte Tapeten. Nur das Muster war ein anderes. Lediglich im letzten Raum standen das Klappbett und der faltbare Kleiderschrank, von denen Rasmus und Søren berichtet hatten. Obwohl ihre Kollegen den Inhalt mit Sicherheit bereits durchgegangen waren, öffnet Vibeke den Reißverschluss des Kleiderschranks. Frauenkleidung in Größe 36, gedeckte Farben, vornehmlich teure Marken. Keinerlei Überraschungen. Was hatte sie erwartet?
Vibeke trat ans Fenster. Der Blick reichte über die Felder und Wiesen bis zum Meer. Schiefergraue Wolken bedeckten den Großteil des Himmels. Nicht mehr lange, und es würde wieder regnen, angesichts der Kälte vielleicht sogar schneien.
Im Sommer musste es hier herrlich sein, schoss es Vibeke durch den Kopf. Plötzlich verstand sie, weshalb Luise Dahlmann dieses Haus gekauft hatte. Die Stille. Das Meer. Die Abgeschiedenheit. Hier konnte man zur Ruhe kommen.
Hatte Luise Dahlmann von den Plänen ihres Mannes gewusst? Auf diesem Landstrich alles dem Erdboden gleichzumachen, um eine Ferienhaussiedlung oder ein Strandresort für Urlauber zu schaffen?
Vibeke versuchte, das Haus am Ufer auszumachen, doch entweder waren ihre Augen zu schlecht, oder es verbarg sich hinter Büschen und Bäumen. Sie würden den Bewohnern später noch einen Besuch abstatten.
Sie ließ den Blick ein letztes Mal durch den Raum schweifen, ging dann hinaus in den Flur und sah sich der Vollständigkeit halber noch im Badezimmer um, doch auch hier erwartete sie keinerlei Überraschung. Kellerräume gab es keine.
Wieder im Freien, brachte Vibeke an der Tür ein neues Polizeisiegel an und schloss sorgfältig ab. Unschlüssig blieb sie stehen. Auf dem Grundstück gab es keine Garage, nur einen Geräteschuppen, in dem ein Rasenmäher und ein paar Gartengeräte aufbewahrt wurden.
Ihr fiel auf, dass neben der Haustür kein Briefkasten hing.
Merkwürdig. Doch vielleicht befand er sich irgendwo vorne an der Straße, so wie es häufig bei Ferienhaussiedlungen der Fall war.
Ihr Handy klingelte. Sie zog es aus ihrer Jackentasche und betrachtete stirnrunzelnd die Nummer auf dem Display.
»Boisen«, meldete sie sich knapp.
»Guten Tag, Frau Boisen«, sagte eine Frauenstimme. »Es geht um Solveigh …«
»Stopp«, unterbrach Vibeke sie umgehend. »Bevor Sie weiterreden … es interessiert mich nicht, was Sie über die Frau zu sagen haben. Bitte rufen Sie mich nicht wieder an.« Sie drückte das Gespräch weg. Anschließend verstaute sie ihr Handy wieder in der Ja ckentasche, strich den Anruf aus ihren Gedanken und ging die Auffahrt entlang.
Kalter Wind blies ihr entgegen, und sie setzte die Kapuze ihrer Winterjacke auf.
Der Briefkasten stand an der Grundstücksgrenze, halb verdeckt durch einen Hagebuttenstrauch. Er war nicht verschlossen.
Vibeke nahm eine Ansichtskarte aus Mexiko heraus, die an Tinne Nygaard gerichtet war, die Vorbesitzerin des Hauses. Wie es aussah, hatte die Spusi den Briefkasten übersehen. Zudem befanden sich mehrere handgeschriebene Zettel im DIN-A4-Format darin. Feinsäuberlich mit einer Heftklammer zusammengefasst, waren dort die Regeln zum Hissen des Dannebrogs aufgelistet. Um welche Uhrzeit die Flagge gehisst oder eingeholt werden musste, die Relation von Flaggengröße und Flaggenmasthöhe, der Einsatz von Spitzflaggen und Sturmflaggen, sogar die Stellung der Hochzieh- und der Runterziehleine waren exakt beschrieben. Zudem waren die dänischen Flaggentage aufgeführt.
Vibeke runzelte die Stirn. Was, um Himmels willen, sollte das?
Rasmus betrachtete die Zettel in seiner Hand. »Das ist das Flaggengesetz.«
»Ihr habt ein Flaggengesetz?«, fragte Vibeke er staunt. Sie hatte gewusst, dass es im Nachbarland einige Vorschriften zum Hissen des Dannebrogs gab, doch nicht in diesem Ausmaß.
Ihr Kollege schmunzelte. »Nicht offiziell, also es steht nicht im Grundgesetz oder so, aber es gibt einige Regeln, an die man sich halten sollte. Vor allem, was ausländische Flaggen betrifft. Bis letzten Juni war das Hissen ohne Sondergenehmigung unter Strafe gestellt, aber dann hat das Höchstgericht entschieden, dass es keine rechtliche Grundlage dafür gibt.« Er reichte ihr die Schriftstücke zurück. »Die Regierung hat jetzt vor, die Gesetzgebung anzupassen und das Hissen ausländischer Flaggen erneut zu verbieten, um den Stellenwert des Dannebrogs zu sichern.«
Die Dänen sind schon ein seltsames Volk, dachte Vibeke und steckte die Zettel zurück in ihre Tasche. »Ich würde gerne wissen, wer das Flaggengesetz in den Briefkasten der Dahlmanns gesteckt hat und weshalb. Es scheint mir, als wären nicht alle Inselbewohner über ihren Zuzug begeistert gewesen.«
Rasmus nickte. »Den Eindruck habe ich auch.«
Sie standen vor der Kfz-Werkstatt von Albert Olsen, die in einem schlichten Flachdachbau untergebracht war. Haushohe Rolltore. Wellblechverschalung mit stark verwitterter Patina. Auf dem Vorplatz standen zwei ausgeschlachtete Autos, von denen kaum mehr als die Karosserie übrig geblieben war, sowie mehrere Stapel alter Reifen. Alles an diesem Ort wirkte ein wenig heruntergekommen, nur das blaue Schild mit der Aufschrift Olsens Autoværksted ApS oberhalb der Rolltore war halbwegs gut in Schuss.
Aus dem angrenzenden Gebäude kam ein unter setzter Mann heraus, dessen graues Haar im Nacken zu einem dünnen Zopf gebunden war. Er hatte grobe Gesichtszüge, trug eine braune Strickjacke zu einer zerbeulten Cordhose.
»Albert Olsen?«, fragte Rasmus.
»Wer will das wissen?«, gab der Mann mit schmalen Augen zurück. Er kam näher heran und beäugte den Dienstausweis, den Rasmus ihm hinhielt. Vibeke bemerkte zahlreiche Wollmäuse auf seiner Strickjacke.
»Ich bin von der Politi Esbjerg.« Rasmus deutete auf Vibeke. »Meine Kollegin Vibeke Boisen von der deutschen Polizei.«
»Albert Olsen. Mir gehört die Werkstatt.«
»Dann weißt du sicher, was in Sarup passiert ist.«
Der Werkstattinhaber nickte. »Die Deutschen in Tinnes altem Haus wurden umgebracht. Ich weiß zwar nicht, was ihr von mir wollt, aber ich hab nix davon mitgekriegt, was dort passiert ist.« Ein einzelnes Haar ragte aus seiner Nase.
»Wo warst du am Freitag?«
»Wo soll ich schon gewesen sein?«, blaffte er. »Hier natürlich.«
»Das Auto von Konrad Dahlmann wird vermisst«, informierte ihn Vibeke. »Es ist nicht zufällig hier bei dir in der Werkstatt?«
»Nein.« Er schnalzte mit der Zunge. »Der Herr wäre sich ohnehin zu fein gewesen, seinen schicken Schlitten zu uns zu bringen.«
»Dann kanntest du Konrad Dahlmann?«
Eine senkrechte Furche bildete sich auf Albert Olsens Stirn. »Ich wusste, wer er ist – so wie jeder in Sarup. Er hat Tinne das Haus abgeluchst, jetzt sitzt sie im Heim bei den bekloppten Alten. Bei anderen Nachbarn hat er es auch versucht. Bei der alten Birga zum Beispiel.«
»Ach«, warf Rasmus ein. »Bei dir auch?«
Albert Olsen schüttelte den Kopf, dabei presste er die Lippen zusammen. Er schien jetzt auf der Hut zu sein.
Vibeke musterte ihn. »Ricky Ahlgren, der arbeitet doch hier, oder?«
»Daher weht also der Wind.« Die Augen des Werkstattinhabers wurden erneut schmal und erinnerten sie an einen Bullterrier. »Ihr sucht ein vermisstes Auto, und da kommt euch natürlich sofort Ricky in den Sinn.« Er rieb sich das stoppelige Kinn. »Ich weiß, was Ricky in der Vergangenheit angestellt hat und auch, dass er im Knast saß.« Seine Stimme gewann an Schärfe. »Aber seitdem hat sich der Junge nichts mehr zuschulden kommen lassen.«
»Wir würden trotzdem gerne mit ihm sprechen«, sagte Rasmus. Sein Blick ging zur Werkstatt. »Ist er da?«
»Sollte er zumindest.«
Sie gingen ins Gebäude hinein.
Ein weißblonder Mittzwanziger im Blaumann schraubte an einem Mini Cooper herum, wippte zwischendurch mit dem Kinn zu den Beats einer Metal Band, deren Stimmen blechern aus einem alten Transistorradio grölten, das zwischen Schraubenschlüsseln und Knarren auf dem Werkzeugwagen stand. In der Werkstatt hing der Geruch nach Motoröl und Schmierstoffen.
»Ricky Ahlgren?« Rasmus zückte erneut seinen Dienstausweis.
Der Blonde wandte ihnen den Blick zu. Seine Wim pern und Brauen waren so hell, dass sie kaum erkennbar waren. »Nein. Ich bin Jeppe. Jeppe Olsen.« Er trat unter der Hebebühne hervor, legte seinen Schraubenschlüssel auf dem Werkzeugwagen ab und stellte das Radio leiser. »Kann ich euch irgendwie helfen?« Er zog einen Lappen aus seiner Hosentasche und wischte sich damit die Hände ab.
Vibeke registrierte dunkle Trauerränder unter seinen Nägeln.
»Wir sind von der Polizei und führen eine Befragung in der Nachbarschaft durch«, informierte ihn Rasmus. »Du hast sicher davon gehört, dass es im Ort einen Doppelmord gegeben hat.«
»Klar. Schreckliche Geschichte.« Um seinen Mund zuckte es kaum merklich. »Und da wollt ihr mit Ricky sprechen?«
»Am besten gleich mit euch beiden«, erwiderte Rasmus und schob noch ein »Reine Routine« hinterher.
»Natürlich.« Jeppe Olsens Blick und Tonfall sprachen Bände; es war klar, dass er Rasmus den letzten Spruch nicht abkaufte. Er ging zu einer offen stehenden Tür. »Ricky! Komm mal! Die Polizei ist hier und will mit uns sprechen.«
Eine gedämpfte Stimme rief etwas zurück, das Vibeke nicht verstehen konnte.
Wenige Sekunden später tauchte ein drahtiger dunkelhaariger Mann in der Tür auf, ebenfalls im Blaumann. Sein linkes Augenlid hing ein wenig herab, der Blick darunter war misstrauisch.
»Sie sind wegen den Deutschen da.« Jeppe deutete mit dem Kopf auf die beiden Kriminalbeamten.
»Konrad und Luise Dahlmann«, warf Vibeke ein und zückte ihr Notizbuch. »Die beiden wurden erschlagen.«
»Und jetzt denkt ihr, dass ich das war?« Ricky Ahlgren verschränkte die Arme vor der Brust. »Weil euer Computer ausgespuckt hat, dass ich im Knast war. Aber ich verrate euch was: Ich war es nicht. Ich kannte die Leute noch nicht mal.«
»Das Auto der Dahlmanns ist verschwunden«, sagte Rasmus. »Eine Mercedes S-Klasse Limousine. Ihr kennt euch doch aus mit Autos, oder?« Er ließ den Blick demonstrativ durch die Werkstatt schweifen, ehe er sich Ricky Ahlgren zuwandte. »Und du ganz besonders, habe ich mir sagen lassen.«
Vibeke registrierte, wie es um Rickys Mund kaum merklich zuckte.
»Homejacking«, schob ihr Kollege hinterher. »Klingelt da was bei dir? Wolltest du mit dem Wagen der Dahlmanns vielleicht dein Gehalt aufbessern? So ein Mercedes bringt ja einiges ein. Vor allem, wenn das Fahrzeug noch neu ist.«
»Damit habe ich nichts zu tun«, beteuerte Ricky Ahlgren. Sein Blick flackerte.
»Wo warst du am Freitag?«
»Ricky war hier«, kam Jeppe seinem Kollegen mit der Antwort zuvor. »Wir haben das Auto für Lutz Kerber fertig gemacht.«
Kerber, fiel es Vibeke ein, so hieß die Nachbarin, die die Dahlmanns gefunden hatte. Vermutlich war Lutz ihr Mann. Sie notierte sich seinen Namen.
»Bis wann?«, hakte Rasmus nach.
Jeppe tauschte einen Blick mit Ricky. »So halb sechs oder sechs?«
Ricky nickte.
»Und danach?«
»Waren wir im Mauritz Burger essen«, erwiderte Jeppe. »Und anschließend noch im Penny Lane ein Bier zischen. Um halb zwölf rum sind wir nach Hause gefahren.«
Vibeke schrieb die Angaben in ihr Notizbuch.
»Wir werden das natürlich überprüfen«, sagte Rasmus.
»Natürlich.« Ricky grinste. Dabei zupfte er mit der Hand an seinem Ohrring. Etwas Verschlagenes lag in seinem Blick.
»Ist es ein Problem, wenn wir uns hier ein wenig umsehen?«, fragte Rasmus.
»Braucht ihr dafür nicht so einen Wisch?«
»Du meinst, einen Durchsuchungsbeschluss?«
Ricky nickte.
»Nicht wenn ihr zustimmt«, gab Rasmus zurück. »Und wenn hier alles mit rechten Dingen zugeht, gibt es doch sicher keinen Grund, meine Bitte abzuschlagen, oder?«
Ricky öffnete den Mund, um zu antworten, doch Jeppe kam ihm erneut zuvor. »Nur zu, wir haben nichts zu verbergen.«
Rund zehn Minuten später verließen Vibeke und Rasmus die Autowerkstatt. Nichts in den Räumen oder auf dem Hof hinter dem Gebäude hatte ihren Argwohn erweckt. Kein Hinweis auf die Limousine von Konrad Dahlmann.
»Wenn sie das Auto tatsächlich gestohlen haben«, sagte Vibeke, »haben sie es längst vertickt.«
»Vermutlich«, erwiderte Rasmus finster. »Trotzdem gehen bei den Typen meine Alarmglocken an.«
»Glaubst du, die haben mit den Morden zu tun?«
»Mord und Autodiebstahl sind in der Regel zwei Paar Schuhe«, sagte Rasmus nachdenklich. »Aber wer weiß. Vielleicht ist das Ganze aus dem Ruder gelaufen.«
Vibekes Handy klingelte. Auf dem Display erschien der Name von Pernille. Sie nahm das Gespräch an und lauschte einen Moment ihrer Kollegin am anderen Ende der Leitung. »Danke, Pernille.« Sie legte wieder auf.
Rasmus hob fragend die Brauen.
»Pernille hat herausgefunden, wem das Haus am Ufer gehört. Einer gewissen Birga Andresen.«
»Das ist dann wohl die alte Birga, von der Albert Olsen vorhin erzählt hat.«
»Davon ist auszugehen. Ich würde vorschlagen, wir statten der Frau gleich einen Besuch ab.« Vibeke zückte ihren Autoschlüssel.
Das Haus hatte etwas Verwunschenes an sich. Ein altes verwittertes Ziegeldach, eine blau gestrichene Tür zur gelb getünchten Fassade, deren Farbe zum Teil verblichen war. Eine Pflanze, deren Name Vibeke nicht kannte, rankte sich vom Sockel bis in den ersten Stock hinauf. Beim genaueren Hinsehen ließen sich die Spuren erkennen, die Wind, Regen und Salzwasser am Gebäude hinterlassen hatten. Flechtenbewuchs an der unteren Fassade, stellenweise bröckelten Putz und Farbe, doch der umliegende Garten mit den zurechtgestutzten Pflanzen und winterfesten Beeten ließ erahnen, wie prächtig es dort in den Sommermonaten blühte.
Hinter dem Grundstück war das Meer in Aufruhr, meterhohe Wellen schlugen krachend an den menschenleeren Strand.
Eine kleine schwarze Katze begrüßte sie mit einem Mauzen und drängte sich dicht an Rasmus’ Beine.
»Schau mal, wie niedlich die ist.« Der Däne bückte sich, um sie zu streicheln.
»Ich habe es nicht so mit Katzen.« Vibekes Blick ging zum Carport, in dem ein weißer Kleinwagen stand. Eiskalter Wind pfiff ihr in den Nacken, und sie zog den Reißverschluss ihrer Jacke ein Stück höher. »Bringen schwarze Katzen nicht auch Unglück?«
»Hör nicht hin«, sagte Rasmus zu dem Tier und kraulte es unter dem Kinn. Augenblicklich begann die Katze zu schnurren.
Vibeke starrte ihn an. Rasmus, der Katzenflüsterer. Wer hätte das gedacht? In ihren Augen waren Katzen undankbare Geschöpfe. Einen Moment strichen sie einem um die Beine, schnurrten und ließen sich streicheln, um im nächsten urplötzlich und ohne Grund die Krallen auszufahren. Da waren ihr Hunde eindeutig lieber.
Sie steuerte an Rasmus vorbei auf die blau gestrichene Haustür zu. Da keine Klingel vorhanden war, klopfte sie.
Eine Gardine bewegte sich an einem der Fenster, k urz darauf wurde die Tür einen Spalt weit geöffnet, und ein misstrauisches Paar Augen blickte ihr entgegen. Vibeke bemerkte irritiert, dass die rechte Iris zweifarbig unterteilt war. Die obere Hälfte war blau, wie beim linken Auge, die untere braun. Ungewöhnlich.
»Birga Andresen?« Vibeke zog ihren Dienstausweis aus der Jackentasche und hielt ihn der Frau zum Betrachten hin. »Wir untersuchen den Tod von Konrad und Luise Dahlmann und sprechen mit allen Nachbarn. Dürfen wir vielleicht hereinkommen?«
Birga Andresen öffnete die Tür ein Stück weiter. Sie war eine stämmige Frau mit kurzen grauen Haaren und einem leichten Buckel. Zahlreiche Altersflecke zierten ihre Hände, das Gesicht war von tiefen Falten durchzogen, ihr Alter nur schwer einschätzbar, vermutlich lag es irgendwo zwischen Mitte siebzig und Anfang achtzig.
»Von mir aus.« Ihr Blick war noch immer argwöhnisch.
Eine dreifarbige Katze schlüpfte an Vibeke vorbei ins Haus hinein. Wie viele von denen gab es hier noch?
Rasmus tauchte neben ihr auf, die schwarze Katze auf dem Arm. »Das ist ja eine ganze Süße hier.« Er grinste schief.
»Das ist Mimi.« In Birga Andresens Stimme schwang leichte Verwunderung mit. »Sie mag eigentlich keine Fremden.«
»Ach. Das hätte ich jetzt nicht gedacht.« Rasmus setzte die Katze auf dem Boden ab, und sie flitzte ins Haus davon.
Als Vibeke eintrat, bemerkte sie einen leicht strengen Geruch. Sie folgte Birga Andresen durch einen schmalen Flur in ein gemütlich eingerichtetes Wohnzimmer. Ein Sofa mit blauen Bezügen, viel Holz und warme Töne, im Kamin knisterte ein Feuer. Auf dem danebenstehenden Ohrensessel hatte sich eine rote Katze auf der Sitzfläche zusammengerollt und schlief.
Ein aufgeschlagenes Buch neben einer halb gefüllten Teetasse auf dem Couchtisch ließ vermuten, dass Birga Andresen gerade noch darin gelesen hatte. Auf dem Buchrücken stand der Name einer amerikanischen Bestsellerautorin, den Vibeke mit kitschigen Liebesromanen in Verbindung brachte. Sie lehnte sich gegen die Fensterbank, während Rasmus neben der alten Frau auf dem Sofa Platz nahm.
»Du weißt, was im Haus der Dahlmanns passiert ist?«, eröffnete ihr Kollege das Gespräch.
»Du meinst Tinnes Haus«, erwiderte Birga Andresen. Es klang halsstarrig, aber nicht unfreundlich.
Vibeke lag der Hinweis auf der Zunge, dass das rechtlich gesehen nicht ganz stimmte, doch sie hielt sich zurück. Auf der Insel herrschten andere Gesetze, und vermutlich würden es die Bewohner noch ewig Tinnes Haus nennen, egal wie häufig die Besitzer zwischenzeitlich gewechselt hatten.
»Ist dir am Freitag irgendetwas aufgefallen?«, fragte Rasmus. »Vielleicht ein Auto oder jemand, der nicht aus der Gegend stammte?«
»Am Freitag, sagst du?« Birga Andresen legte die Stirn in Falten, schien nachzudenken. »Nein. Aber ich war auch fast die ganze Zeit im Haus. Meine alten Knochen mögen das feuchte Wetter nicht besonders. Außer dem verirrt sich nach hier draußen nur selten jemand. Alle denken, nach Tinnes Haus kommt nichts mehr.«
»Warst du noch woanders?«, hakte Rasmus nach.
»Ich habe zwischendurch ein paar Schritte am Wasser gemacht. Mimi hat mich begleitet.« Sie deutete mit ihrer mit Altersflecken übersäten Hand auf die kleine schwarze Katze, die jetzt ins Wohnzimmer tapste und sich dabei das Maul schleckte. Offenbar hatte sie gerade gefressen. Sie steuerte geradewegs aufs Sofa zu, machten einen Satz und ließ sich schnurrend auf Rasmus’ Schoß nieder.
Was haben die bloß alle mit ihm, dachte Vibeke. Es hatte sie schon häufiger erstaunt, welche Wirkung Rasmus auf Frauen hatte. Sogar ihre Mutter Elke geriet ins Schwärmen, sobald der Name Rasmus fiel, und wurde nicht müde zu betonten, er sehe aus wie der junge Lars Mikkelsen. Es musste an seinen Augen liegen. Die Intensität in seinem Blick, rebellisch, spöttisch, mit einem Hauch von Melancholie. Und offenbar wirkte Rasmus nicht nur auf Frauen, sondern auch auf Katzen. Sie konnte sich keinen Reim darauf machen.
»Kann jemand bezeugen, dass du Freitag zu Hause warst?«, fragte Rasmus gerade.
»Meine Katzen«, entgegnete Birga Andresen trocken.
»Schade, dass die nicht reden können«, murmelte Vibeke und drehte sich zum Fenster um. Am Ende des Grundstücks schimmerte dunkelgrau das Meer. Es schien zum Greifen nah. Das Bauvorhaben des Immobilieninvestors kam ihr in den Sinn. Sie wandte sich wieder um. »Ist Konrad Dahlmann an dich herangetreten, um dein Grundstück zu kaufen?«
»Ist er.« Birga Andresen reckte angriffslustig das Kinn. »Aber das hätte er sich sparen können. Mein Haus ist nicht zu verkaufen. Zumindest nicht, solange ich lebe. Meine Großeltern haben es gebaut, und ich bin hier aufgewachsen. Wenn ich weggehe, dann nur mit den Füßen voraus. Genauso habe ich es auch dem Dahlmann gesagt.«
»Wie war dein Kontakt darüber hinaus zu ihm und seiner Frau?«
»Es gab keinen.«
»Das überrascht mich. Immerhin warst du ihre nächste Nachbarin.«
»Ich habe es nicht so mit den Menschen.« Die alte Frau griff nach ihrer Teetasse und trank einen Schluck.
»Konrad Dahlmann plante in der Gegend ein größeres Bauvorhaben«, setzte Vibeke nach. »Wusstest du davon?«
»Jeder kann planen, was er will.« Birga Andresen stellte die Teetasse so abrupt auf dem Unterteller ab, dass sie klirrte. »Ich habe ihn gesehen, den Dahlmann. Letztes Jahr war er zusammen mit einem anderen Mann am Strand. Der hatte ein Stativ und eine Kamera dabei und außerdem so eine Mappe, in die er viel hineingeschrieben hat. Ich habe mir gleich gedacht, dass die nichts Gutes im Schilde führen.« In Gedanken versunken, schüttelte sie den Kopf. »Aber er hätte niemals eine Genehmigung dafür bekommen. Es gibt für die Gegend einen Küstenschutz.«
»Dein Haus steht auch hier«, stellte Vibeke fest.
Birga Andresens Augen wurden schmal. »Seit über siebzig Jahren. Was auch immer dieser Dahlmann vorhatte, er hätte auf jeden Fall Gegenwind bekommen. Die Leute hier wollen ihre Ruhe.« Dass sie sich damit einbezog, war deutlich rauszuhören.
Schweigen breitete sich aus.
Rasmus räusperte sich. »Du lebst hier allein?« Er ließ den Blick durch den Raum schweifen.
Sie nickte. »Mein Mann ist schon vor Jahren gestorben. Ein Herzinfarkt. Und mein Sohn Bjarne lebt mit seiner Familie in Aarhus. Aber ich habe ja meine Katzen.«
Rasmus lächelte. »Wie viele sind es?«
»Sieben.« Sie sagte es voller Stolz.
»Darf ich vielleicht kurz deine Toilette benutzen?«, erkundigte sich Rasmus.
Die alte Frau nickte. »Es ist die Tür direkt neben dem Hauseingang.« Sie klang jetzt nahezu freundlich.
Rasmus gab der kleinen Katze auf seinem Schoß einen Stups, und sie sprang mauzend herunter, ehe er sich erhob und den Raum verließ.
Erneut machte sich Schweigen breit.
Vibeke fielen die Zettel mit dem Fahnengesetz ein, und sie zog sie aus ihrer Tasche. »Stammt das zufällig von dir?«
Birga Andresen beäugte das oberste Schriftstück. »Nein.« Etwas blitzte in ihren Augen auf.
»Kennst du vielleicht die Handschrift?«
Die alte Frau schüttelte den Kopf. Irgendwo im Haus läutete ein Telefon, doch sie machte keinerlei Anstalten aufzustehen. Fast schien es, als wollte sie Vibeke in ihrem Wohnzimmer nicht allein lassen. Vielleicht hegte sie ebenfalls Groll gegen Deutsche. So wie dieser Moberg, von dem Søren und Rasmus erzählt hatten.
Das Klingeln des Telefons verstummte, und Rasmus kam zurück. Er legte seine Karte auf den Tisch. »Für den Fall, dass dir doch noch etwas einfällt. Und besser, du schließt die nächste Zeit gut ab.«
Birga Andresen nickte.
Die beiden Kriminalbeamten verabschiedeten sich.
»Das gefällt mir nicht«, sagte Rasmus, sobald sie das Haus verlassen hatten, »dass eine alte Frau allein so weit draußen lebt.«
»Sie hat doch ihre Katzen«, scherzte Vibeke und stieg in ihren Dienstwagen.
Doch Rasmus hat recht, dachte sie, als sie hinter seinem Bulli die lange schmale Straße zurück nach Sarup fuhr. Die Gegend war einsam. An den wenigen Häusern, an denen sie vorbeikamen, waren Türen und Fenster verschlossen. Weit und breit war keine Menschenseele zu sehen.
Gräser und Büsche wiegten sich im Wind, und der regenschwere Himmel hüllte den Landstrich in ein diffuses trübes Licht. Etwas Düsteres lag über dem Ort, etwas, das sie nicht greifen konnte, so als lauerten hinter jeder Mauer Geheimnisse.
Ein hellblauer VW-Bus und ein dunkelblauer Kombi mit deutschem Kennzeichen kamen Bjarne entgegen, als er in die Straße bog, die zum Strand und zum Haus seiner Mutter führte.
Er war beunruhigt, weil sie nicht ans Telefon ging. Schon seit gestern nicht. In Gedanken sah er sie bereits schwer verletzt und hilflos am Fuß der Treppe liegen. Normalerweise hätte er Tinne gebeten, nach ihr zu schauen, doch die Nachbarin lebte seit einiger Zeit in einer Senioreneinrichtung in Sønderborg, und ehe er den alten Moberg um Hilfe bat, sah er lieber selbst nach dem Rechten. Ihre Familien waren schon seit Jahren zerstritten.
Wenige Minuten später stieg er vor dem gelben Haus mit dem verwitterten Ziegeldach aus dem Wagen. Aus dem Schornstein drang Rauch. Also war seine Mutter zu Hause. Sie würde den Kamin nie unbeaufsichtigt brennen lassen.
Bjarne wühlte in seiner Jackentasche nach dem Schlüssel, doch die Tür war unverschlossen. Er trat über die Schwelle und stellte erleichtert fest, dass die Fläche vor der Treppe frei war. »Mama?!«
»Hier!«
Das kam aus der Küche. Smilla, die bunte Glückskatze, lief ihm mit aufgerichteter Schwanzspitze im Flur entgegen und stieß ein wohliges Gurren aus.
Auf der Schwelle zur Küche hielt er inne. Seine Mutter stand an der Arbeitsfläche neben dem Herd und schälte Kartoffeln. »Kannst du bitte mal das Fleisch aus dem Kühlschrank nehmen?«, fragte sie, als wäre er gerade aus dem Obergeschoss gekommen und nicht aus dem rund zweihundert Kilometer entfernten Aarhus. »Es lässt sich besser zubereiten, wenn es zimmerwarm ist.«
Ärger wallte in Bjarne hoch. »Weshalb gehst du nicht an dein Telefon?«, fragte er aufgebracht, während er das Fleisch aus dem Kühlschrank nahm. »Ich habe seit gestern zigmal angerufen.«
»Ich hatte zu tun«, erwiderte seine Mutter, ohne ihre Arbeit zu unterbrechen. »Isst du etwas mit?« Sie legte die geschälte Kartoffel in ihrer Hand in das Sieb zu den anderen und langte nach der nächsten.
Bjarne seufzte. »Wenn ich schon mal hier bin.« Es machte keinen Sinn, mit seiner Mutter zu streiten. Sie war der pragmatischste Mensch, den er kannte. »Du solltest die Haustür abschließen.« Er zog seine Jacke aus und hängte sie über den Küchenstuhl.
Sie sah ihn erstaunt an. »Warum?«
»Zwei Morde in der Nachbarschaft?«, erinnerte er sie.
»Aber das hat doch nichts mit mir zu tun.«
»Tu es trotzdem«, bat Bjarne. »Mir zuliebe. Im Übrigen habe ich mir Sorgen gemacht.«
»Das musst du nicht. Ich komme sehr gut allein zurecht.«
Bjarne nickte. Sie hatten dieses Gespräch schon oft geführt, und obwohl ihre Mutter-Sohn-Beziehung mehr auf Abstand als auf Nähe basierte, fühlte er sich für sie verantwortlich. So hatte er ihr mehrfach vorgeschlagen, das Haus zu verkaufen und zu ihm und Johanne nach Aarhus zu ziehen, doch sie hatte stets abgelehnt. »Einen alten Baum verpflanzt man nicht«, hatte sie gesagt.
Seine Mutter war im Laufe der Jahre zu einer Eigenbrötlerin geworden, doch vielleicht war sie das schon immer gewesen. Anders als andere Mütter es mit ihren Kindern taten, hatte sie ihn nie mit Liebe und Fürsorge überschüttet, und es gab auch keine Umarmungen zwischen ihnen. Stattdessen war sie häufig harsch, nahe der Grenze zur Unfreundlichkeit. Es schien, als befände sich eine unsichtbare Wand zwischen ihnen, die sich durch nichts verschieben ließ, egal wie sehr er sich bemühte. Trotzdem wusste er, dass seine Mutter ihn auf ihre Art liebte und er im Zweifelsfall immer auf sie zählen konnte.
Sein Blick glitt zum Fenster. Ein paar Sonnenstrahlen hatten sich durch den wolkenverhangenen Himmel gekämpft. Zwischen den Büschen am Ende des Gartens blitzte das Meer hervor. »Weißt du noch, wie Magnus und ich versucht haben, nach Ærø rüberzuschwimmen?« Bjarne nahm aus dem Augenwinkel wahr, wie seine Mutter beim Kartoffelschälen innehielt. »Wir wären ertrunken, wenn Eldar nicht mit seinem Boot gekommen wäre und uns gerettet hätte. Er hat Magnus anschließend den Hintern grün und blau versohlt.« Er wandte sich zu seiner Mutter um. »Aber du hast nicht einmal geschimpft, sondern mir stattdessen etwas über Strömungen erzählt und mir die Stellen gezeigt, an denen es gefährlich ist hinauszuschwimmen.«
»Ich war einfach froh, dass dir nichts passiert war«, murmelte Birga, und für einen kurzen Moment lag ein melancholischer Ausdruck in ihrem Blick, doch er war so schnell wieder verschwunden, dass Bjarne sich nicht sicher war, ob er es sich nur eingebildet hatte. »Was wohl aus ihm geworden ist? Aus Magnus, meine ich.«
Seine Mutter zuckte die Achseln und widmete ihre Aufmerksamkeit wieder den Kartoffeln.
»Die Polizei war vorhin hier«, erzählte sie wie nebenbei. »Sie fragen in der Nachbarschaft herum, ob jemand etwas davon mitbekommen hat, was bei den deutschen Leuten passiert ist.«
Es klang völlig unbeteiligt, doch er wusste, dass ihr die neuen Nachbarn ein Dorn im Auge gewesen waren. Vermutlich lag es daran, dass Tinne nicht mehr dort wohnte. »Und, hast du? Etwas mitbekommen, meine ich.«
Birga schüttelte den Kopf. »Du weißt ja, wie abgeschnitten man hier draußen lebt. Zum Glück.« Sie griff nach einer weiteren Kartoffel. »Eine deutsche Polizistin war dabei und hat mir ein handgeschriebenes Fahnengesetz gezeigt, das wohl dort im Briefkasten gelegen hat.« Ein leichtes Schmunzeln streifte ihre Lippen.
»Von Eldar?«
Seine Mutter nickte. »Wer sonst sollte so etwas in fremde Briefkästen stecken? Ich habe seine Handschrift jedenfalls sofort erkannt. Aber das habe ich der Polizei natürlich nicht verraten.«
»Weshalb nicht?«
»Warum sollte ich?«, antwortete Birga mit einer Gegenfrage. »Es geht keinen etwas an, was Eldar tut, auch uns nicht. So haben es die Menschen hier schon immer gehandhabt. Und wir tun das auch.«
Bjarne schaute seine Mutter lange an, schließlich nickte er und sah ihr dabei zu, wie sie das Kartoffel messer beiseitelegte und eine Pfanne aus einem der Schränke holte.
Seine Mutter hatte recht. Es ging niemanden etwas an.
Die Kerbers wohnten in einem großen zweistöckigen Backsteinhaus mit Walmdach und Doppelgaube kurz vor dem Ortsausgang.
»Es stimmt, das Auto war am Freitag in der Werkstatt«, bestätigte Larissa Kerber, nachdem sie die beiden Kriminalbeamten zuvor in ihre Küche gebeten hatte, die überwiegend in Weiß gehalten war. Farbenfrohe Bilder im Bauhausstil und ein Fliesenboden im Schachbrettmuster setzten Farbakzente. Vor dem Fenster im Garten neigte sich ein Baum gefährlich im Wind. »Es gab irgendwelche Probleme mit dem Vergaser. Lutz hatte sich dann für den Tag mein Auto geliehen, was ein wenig problematisch war. Eigentlich hatte ich vor, die Einkäufe für das Silvesterwochenende zu erledigen, aber ohne fahrbaren Untersatz ist man hier aufgeschmissen.« Sie verstummte, und ein betroffener Ausdruck huschte über ihr Gesicht. »Ich sollte so etwas eigentlich nicht sagen, angesichts dessen, was den armen Dahlmanns passiert ist.«
Rasmus betrachtete die Familienfotos, die neben ein paar Ansichtskarten mit Magneten am Kühlschrank befestigt waren. Darauf war neben Larissa Kerber und zwei blondschöpfigen Kindern ein großer, kräftiger Mann mit aschblonden Haaren zu sehen. »Wo können wir deinen Mann erreichen?«
»Bei Danfoss. Er arbeitet dort als Ingenieur.« Sie strich sich eine dunkle Haarsträhne hinters Ohr. »Meistens kommt er gegen fünf nach Hause.«
»Was machst du beruflich?«
»Ich bin Krankenschwester im Sygehus Sønderborg und arbeite dort im Schichtdienst. Zwischen Weihnachten und Neujahr hatte ich frei.«
»Was hast du am Freitag gemacht, als du ohne Auto warst?«
»Ich habe mich um den Haushalt gekümmert, mit den Kindern gespielt, Mittagessen gekocht, am Nachmittag waren wir bei meinen Eltern oben.« Larissa Kerber deutete mit dem Kopf zur Decke. »Sie sind letztes Jahr zu uns nach Dänemark gezogen. Gegen fünf kam Lutz nach Hause, und wir haben sein Auto bei der Werkstatt abgeholt.«
»Gab es dort irgendwelche Probleme?«
»Da müsstet ihr Lutz fragen. Ich habe ihn nur hingebracht und bin gleich wieder nach Hause gefahren.«
Vibeke, die sich wie immer Notizen machte, zog die Zettel mit dem Fahnengesetz aus ihrer Tasche. »Das hat im Briefkasten der Dahlmanns gelegen. Haben Sie eine Ahnung, wer es dort eingeworfen haben könnte?«
Rasmus registrierte, dass Vibeke Larissa Kerber förmlich siezte, obwohl sie in Dänemark längst zum üblichen »Du« übergegangen war. Vermutlich hing es damit zusammen, dass sie einer Landsmännin gegen übersaß. Warum mussten die Deutschen immer alles so unnötig verkomplizieren?
»Das haben wir auch bekommen, als wir hergezogen sind«, sagte Larissa Kerber mit einem Schmunzeln. »Wir tippen darauf, dass es von Eldar stammt.«
»Eldar Moberg?«
Sie nickte. »Er ist ein wenig gewöhnungsbedürftig, aber seine Frau Agnete ist wirklich sehr nett. Sie bringt hin und wieder Kuchen für die Kinder vorbei, und meine Mutter singt mit ihr in Lysabild zusammen im Chor.«
»Habt ihr Eldar darauf angesprochen?«, erkundigte sich Rasmus.
»Nein. Wir wollten keinen Ärger.« Larissa Kerber senkte die Stimme. »Agnete hat erzählt, dass Eldars Vater früher der dänischen Minderheit in Südschleswig angehörte. Irgendwas passierte dann wohl während des Krieges, Agnete wollte da nicht genauer werden, jedenfalls hasst Eldar seitdem alle Deutschen.« Sie nestelte an ihrer Armbanduhr. »Einige von uns machen es ihm aber auch nicht leicht. Etwas weiter südlich in Skovby hat letztes Jahr ein Zuzügler die bayerische Flagge gehisst. Das kam bei den Inselbewohnern nicht besonders gut an.«
Rasmus nickte. »Sie hing vermutlich nicht lange.«
»Keine vierundzwanzig Stunden.« Larissa Kerber lächelte ihn an. Es war ein freundliches und warmherziges Lächeln, und er tippte darauf, dass sie eine wunderbare Krankenschwester war.
»Konrad Dahlmann soll einigen Leuten in Sarup Angebote für ihre Grundstücke gemacht haben«, warf Vibeke ein. »Wissen Sie etwas darüber?«
Das Lächeln verschwand, stattdessen runzelte sie die Stirn. »Also, uns hat er kein Angebot gemacht, aber mir ist eine Geschichte zu Ohren gekommen, bei der es um das Dahlmann-Haus ging.«
Rasmus sah sie interessiert an. »Worum genau?«
Larissa Kerber zögerte einen Moment. »Ich weiß natürlich nicht, ob etwas dran ist, aber es hieß, Konrad hätte Tinne, das ist die Vorbesitzerin des Hauses, so lange zugesetzt, bis sie ihr Haus an ihn verkaufte. Jetzt sitzt sie in Sønderborg in irgendeinem Seniorenheim und ist todunglücklich.«
»Von wem haben Sie das gehört?«, fragte Vibeke.
Larissa Kerber errötete leicht. »Zwei Frauen aus dem Dorf haben sich im Supermarkt in Skovby darüber unterhalten. Ich habe nicht gelauscht oder so, sondern es nur zufällig mitbekommen.« Sie nestelte an ihrer Armbanduhr.
Rasmus wechselte das Thema. »Weshalb bist du mit deiner Familie nach Als gezogen?«
»Wir haben in Schleswig-Holstein jahrelang nach einem Eigenheim gesucht«, erwiderte Larissa Kerber, »aber alles, was uns gefiel, war unbezahlbar. Dann habe ich bei eBay Kleinanzeigen dieses Haus entdeckt und mich auf der Stelle darin verliebt. Ich war schon als Kind immer mit meinen Eltern in Dänemark.« Ein flüchtiges Lächeln streifte ihre Lippen. »Dieses Haus zu kaufen, war eine der besten Entscheidungen unseres Lebens. Unsere Kinder besuchen die Deutsche Schule in Sønderborg und haben dort Freunde gefunden, und wir haben hier alles nach unseren Wünschen umgebaut. Mit jeder Menge Platz. Meine Eltern wollten ursprünglich nur für den Urlaub herkommen, aber dann hat es ihnen so gut gefallen, dass sie geblieben sind. Wir sind alle sehr glücklich hier.«
»Wie wurdet ihr im Ort aufgenommen?«, fragte Rasmus.
»Anfangs war es schwierig«, gab Larissa Kerber offen zu. »Die Leute waren sehr zurückhaltend. Die ersten Kontakte kamen dann durch die Kinder, aber mittlerweile haben wir zu allen in der Nachbarschaft ein gutes Verhältnis. Richtige Freundschaften sind allerdings noch nicht entstanden, aber dafür braucht es vermutlich Zeit.«
Vibeke tippte mit ihrem Stift auf die Tischplatte. »Ich weiß, ich habe Sie danach schon einmal gefragt, Frau Kerber, aber gab es zwischen den Dahlmanns und jemandem aus dem Ort irgendeinen Vorfall? Hat Luise Dahlmann vielleicht einen Streit erwähnt? Möglicherweise auch in der Familie oder in der Firma ihres Mannes. Ist Ihnen dazu noch irgendetwas eingefallen oder zu Ohren gekommen?«
Luise Kerber schüttelte den Kopf. »Leider nein, sonst hätte ich Sie selbstverständlich sofort angerufen. Ich glaube immer noch, dass es Einbrecher waren. Das Auto der Dahlmanns wurde doch gestohlen, oder?«
»Es ist zumindest nicht wieder aufgetaucht«, bestätigte Vibeke und klappte ihr Notizbuch zu. »Danke für Ihre Zeit, Frau Kerber.«
Die beiden Kriminalbeamten erhoben sich.
»Zweihundert Quadratmeter?«, fragte Jens gerade, als Rasmus hinter Vibeke ins Büro der Sondereinheit trat, den Blick auf Sørens Handy gerichtet. Er klang noch immer ein wenig heiser. »Wer soll das denn alles putzen? Und was macht ihr, wenn ihr alt werdet? Allein die Instandhaltung.«
Rasmus wandte sich grinsend an Søren. »Zeigst du ihm gerade dein neues Haus?«
Der Hüne nickte. »Ich versuche unserem deutschen Kollegen zu erklären, dass wir in der Gegenwart leben.« Sein Blick wanderte von Rasmus zurück zu Jens. »Wir wollen es jetzt schön haben, nicht erst in fünfundzwanzig Jahren. Kein Mensch weiß, was bis dahin ist. Vielleicht leben wir da schon längst nicht mehr.«
Jens zog ein verdrießliches Gesicht. »Aber was das alles kostet«, beharrte er. »Der Strom. Die Heizung. Allein die ganzen Versicherungen. Habt ihr daran schon mal gedacht?«
»Ihr immer mit euren Versicherungen«, erwiderte Søren kopfschüttelnd. »Schau mal, Vibeke«, er hielt ihr das Display seines Handys hin, »unser neues Zuhause.« Stolz schwang in seiner Stimme mit.
Vibeke, die sich gerade einen Kaffee eingeschenkt hatte, trat zu ihm an den Schreibtisch und betrachtete das Foto. »Wow! Das ist ja schön. Da werdet ihr euch sicher wohlfühlen.« Sie lächelte Søren an. »Wann zieht ihr ein?«
»Brigitte hat den Umzug für Mitte Februar geplant. Sobald wir mit dem Gröbsten durch sind, gibt es eine Party, die sich gewaschen hat.« Søren blickte mit breitem Grinsen in die Runde. »Ihr seid natürlich alle eingeladen«, erklärte er großzügig, »und du darfst auch kommen, Jens. Solange du Ruhe mit deinen Versicherungen gibst.«
Als Antwort kam ein kräftiges Niesen.
Rasmus schälte sich aus seiner Jacke und hängte sie an der Garderobe auf. Nach dem Gespräch mit Larissa Kerber waren Vibeke und er nach Nordborg, in den Norden von Als, gefahren, wo Lutz Kerber und ein Großteil der Inselbevölkerung bei Danfoss, einem Unternehmen für Wärme-, Kälte- und Antriebstechnik, beschäftigt waren. Der Ingenieur hatte ihnen bestätigt, was sie bereits zuvor von seiner Frau erfahren hatten, und ihnen zudem noch die Rechnung von Olsens Autoværksted ApS präsentiert, die er in seiner Brieftasche aufbewahrt hatte.
Im Anschluss hatten sie noch einen Abstecher nach Sønderborg gemacht. Sowohl im Pub als auch im Restaurant, wo sich Jeppe Olsen und Ricky Ahlgren am Freitag nach Feierabend aufgehalten hatten, waren ihre Alibis bestätigt worden.
»Legen wir los?« Vibeke sah zu Pernille, die in ein paar Unterlagen blätterte. »Was gibt es Neues?«
»Ich habe heute mit dem Anwalt der Dahlmanns gesprochen.« Pernille zog einen Zettel heran. »Dr. Altmann. Laut dem Testament der Dahlmanns sind ihre beiden Kinder, Mirjam und Thomas, die einzigen Erben. Dabei geht Dahlmann Invest komplett auf die Tochter über, das restliche Vermögen, dazu gehören die Hamburger Stadtvilla, das Haus auf Als sowie ein siebenstelliges Anlagevermögen, wird zu gleichen Teilen unter den Kindern aufgeteilt. Ebenso der Erbanspruch auf Konrad Dahlmanns Elternhaus.«
»Dann bekommt die Tochter also den Löwenanteil«, stellte Vibeke fest. »Über wie viel Geld reden wir?«
»Laut dem Anwalt muss der Nachlasswert erst noch ermittelt werden«, erwiderte Pernille.
»Ich habe mir einen ersten Überblick über das Portfolio von Dahlmann Invest verschafft«, sagte Jens. »Aktuell hat die Firma acht Mehrfamilienhäuser mit rund einhundertzwanzig Wohnungen im Bestand, dazu ein halbes Dutzend Einzelobjekte im Luxussegment.« Er zog einen DIN-A4-Zettel heran, auf dem einige Berechnungen standen. »Damit bewegen wir uns grob geschätzt im mittleren zweistelligen Millionenbereich, je nachdem, wie hoch die Verbindlichkeiten sind. Das muss ich mir noch in Ruhe anschauen. Zudem wird ein Großteil der Häuser gerade saniert, danach dürfte sich die Preisschraube weiter nach oben drehen. In Hamburg haben sich die Bodenpreise in den letzten fünfzehn Jahren nahezu vervierfacht.«
Rasmus stieß einen Pfiff aus. »Auf jeden Fall reden wir hier über jede Menge Schotter. Thomas Dahlmann wird sicher nicht glücklich sein über das Testament.«
»Das ist anzunehmen«, sagte Pernille. »Dazu fällt mir gerade noch etwas ein.« Sie zwirbelte mit ihrem Stift ihren dunklen Pferdeschwanz. »Ich bin die Unterlagen der Dahlmanns durchgegangen. Vor vier Jahren gab es eine Schenkung von Konrad Dahlmann an sei nen Sohn. Und zwar in Höhe von vierhunderttausend Euro. Das ist der Steuerfreibetrag.«
»Das ist eine ganze Menge Kohle«, warf Rasmus ein. »Aber verglichen mit dem, was seine Schwester zu erwarten hat, sind das Peanuts.«
»Zudem existiert noch ein Darlehensvertrag zwischen Konrad und Thomas Dahlmann über einhunderttausend Euro«, fuhr Pernille fort. »Als Verwendungszweck ist im Vertrag der Kauf einer Zahnarztpraxis angegeben. Allerdings«, sie machte eine bedeutungsschwangere Pause, »hat Thomas Dahlmann die letzten beiden Kreditraten nicht bezahlt. Sein Vater hatte ihm deshalb eine Mahnung geschickt.«
»Interessant.« Vibeke nippte an ihrem Kaffee. »Möglicherweise gab es deshalb Ärger zwischen den beiden. Fragt sich nur, weshalb Thomas Dahlmann wegen des Kredits nicht zu einer Bank gegangen ist.«
»Vermutlich hat der Vater weniger Zinsen verlangt.« Rasmus erhob sich hinter seinem Schreibtisch, um sich am Sideboard ebenfalls einen Kaffee einzuschenken. »Oder er hat gleich ganz darauf verzichtet.« Er hob die Kaffeekanne. »Noch jemand?«
Allgemeines Kopfschütteln.
»Konrad Dahlmann hat seinem Sohn die üblichen Bankzinsen berechnet«, sagte Pernille nach einem weiteren Blick in ihre Unterlagen.
»Das hätte ich jetzt nicht gedacht.« Rasmus setzte sich mit dem Kaffeebecher in der Hand wieder an seinen Platz.
»Na ja, Dahlmann war Geschäftsmann«, sagte Jens. »Von nichts kommt nichts.« Er langte nach einem Päckchen Papiertaschentücher.
»Aber dem eigenen Sohn Zinsen abknöpfen?«
»Viel interessanter ist doch, weshalb Thomas Dahlmann die letzten Raten nicht bezahlt hat.« Jens schnäuzte sich geräuschvoll die Nase. »Höchstwahrscheinlich hat er Geldprobleme. Wir sollten dem nachgehen.«
»Er hat ein Alibi«, meldete sich erstmals Luís zu Wort.
»Von seiner Frau«, bestätigte Jens, »und wir wissen alle, wie viel so etwas wert ist. Das Gleiche trifft auf seinen Onkel zu.«
»Hattest du schon Zeit, dir die Unterlagen von Dahlmann Invest anzusehen?«, fragte Vibeke.
Sie hatten neben zahlreichen Aktenordnern auch Konrad Dahlmanns Firmenlaptop mitgenommen, doch das lag noch in der IT.
»Ich bin dabei.« Jens rieb sich die gerötete Nase, dabei rutschte seine Brille für einen Moment ein Stück höher, ehe sie wieder zurück an ihren Platz glitt. »Ich habe mich vorerst auf die Mietshäuser konzentriert, die umgewandelt werden sollen und in denen noch Mieter leben. In einem davon, in St. Georg, gibt es Widerstand. Die Bewohner haben einen offenen Brief an die Verantwortlichen in der Politik geschrieben und weigern sich auszuziehen.«
»Gibt es in Hamburg keine Gesetze, die Mieter dagegen schützen?«, erkundigte sich Luís.
»Die gibt es«, bestätigte Jens. »Aber auch die Möglichkeit, diese auszuhebeln. In Hamburg gilt in zahlreichen Stadtteilen die sogenannte Soziale Erhaltungsverordnung, die Mieter schützen soll. Bis 2021 gab es eine Ausnahmeregelung, um die Genehmigung zur Umwandlung zu erhalten, indem den Bestandsmietern der Kauf ihrer Mietwohnung angeboten wird. Sie haben sieben Jahre lang Zeit, auf das Angebot einzugehen, währenddessen sind sie als Mieter geschützt. Doch abgesehen davon, dass die Immobilienpreise in Hamburg in den letzten Jahren durch die Decke gegangen sind und die Mieter sich den Kauf schlichtweg nicht leisten können, müssen sie unter Umständen sieben Jahre auf einer Baustelle leben.«
»Die Mieter werden also systematisch verdrängt«, sagte Vibeke.
Jens nickte. »Deshalb ist in Hamburg 2021 eine neue Verordnung in Kraft getreten, die Umwandlungen erschweren soll, aber auch hier sind Genehmigungen möglich. Und bei Umwandlungen von bis zu fünf Wohneinheiten fällt die Genehmigungspflicht komplett weg. Die Investoren haben jedenfalls zahlreiche Hebel, die sie ansetzen können. Davon abgesehen hat Dahlmann Invest den Großteil seiner Mehrfamilienhäuser bereits vor der neuen Verordnung erworben. Und Ende nächsten Jahres läuft sie auch schon wieder aus.«
»Könntest du eine Auflistung mit den Mietern machen, die sich gegen den Auszug wehren? Womöglich ist da etwas eskaliert.«
»Ist bereits in Arbeit.«
»Und ist dir dabei zufällig jemand mit den Initialen D.A. untergekommen?«
»Leider nicht.«
»Schade.« Vibekes Blick ging kurz zu Rasmus, ehe sie sich ans restliche Team wandte. »Rasmus und ich haben heute mit Ricky Ahlgren und Jeppe Olsen gesprochen.« Sie gab in wenigen Worten das Gespräch mit den beiden Werkstattmitarbeitern wieder. »Ihre Alibis wurden bestätigt, sowohl was die Reparatur von Lutz Kerbers Auto anbelangt als auch ihren Aufenthalt im Restaurant und im Pub. Von dort sind sie gegen dreiundzwanzig Uhr dreißig aufgebrochen.« Sie trommelte mit den Fingerspitzen auf die Schreibtischplatte. »Laut Rechtsmedizin waren die Dahlmanns zu dem Zeitpunkt bereits tot.«
»Das Alibi ist trotzdem nicht bombenfest«, warf Luís ein. »Keiner von uns weiß, wie aufwendig die Reparatur an einem Vergaser ist. Vielleicht waren sie schon gegen Mittag damit fertig. Theoretisch könnte auch zwischendurch einer von beiden zu den Dahlmanns gefahren sein. Wenn die zusammen ein Bier trinken gehen, sind sie mit Sicherheit befreundet. Vielleicht decken sie sich gegenseitig.«
»Das müssten wir ihnen aber erst einmal nachweisen«, sagte Jens.
Luís nickte. »Da hast du natürlich recht.«
»Mir ist da noch etwas Interessantes über Ricky Ahlgren untergekommen«, sagte Pernille.
Vibekes Handy klingelte, und Rasmus sah, wie sie beim Blick aufs Display einen harten Zug um den Mund bekam.
»Entschuldigt.« Sie stand auf und verließ den Raum.
»Ricky Ahlgren ist der Enkel von Eldar Moberg«, fuhr Pernille fort, den Blick irritiert auf die Tür gerichtet, durch die Vibeke gerade verschwunden war. »Mir ist bei der Durchsicht der Personendaten aufgefallen, dass beide dieselbe Anschrift haben, also habe ich ein wenig recherchiert. Rickys Vater ist Magnus Moberg, der Sohn von Eldar Moberg. Er und Rickys Mutter waren nie verheiratet.«
»Eldar Moberg?« Sørens Blick suchte den von Rasmus. »Das ist doch der schräge Alte vom Nachbarhof der Dahlmanns.«
Rasmus nickte.
Die Tür ging auf, und Vibeke kam zurück, das Gesicht starr wie eine Maske.
»Alles in Ordnung?«, fragte Pernille besorgt.
»Alles bestens.« Vibeke setzte sich wieder an ihren Platz. »Wo sind wir gerade?« Sie mied jeden Blickkontakt.
»Ricky Ahlgren ist Eldar Mobergs Enkel«, informierte Rasmus sie. »Keine Ahnung, ob das für unsere Ermittlung relevant ist. Sarup ist ein kleiner Ort, vermutlich sind dort einige verwandt oder verschwägert.«
Vibeke betrachte gedankenverloren das Handy, das jetzt vor ihr auf der Tischplatte lag, doch schon im nächsten Moment schien ein Ruck durch ihren Körper zu gehen, und sie straffte sich. »Dieser Eldar beginnt mich langsam zu interessieren. Erst diese eigenartige Sache mit dem Fahnengesetz und dazu die Geschichte seines Vaters.«
»Was für eine Geschichte?«, fragte Jens. »Klär uns Unwissende doch bitte auf.«
»Larissa Kerber hat erzählt, dass Eldar Mobergs Vater früher der dänischen Minderheit angehörte und wohl irgendetwas während des Krieges passiert ist. Was immer das auch heißen mag.«
Søren ließ die Finger knacken. »Eldar Moberg ist über achtzig. Der wird wohl kaum die Dahlmanns umgebracht haben, oder?«
»Schwer vorstellbar.« Jens schob sich eine Lutschpastille in den Mund. »Allerdings erfolgte laut Rechtsmedizin bei beiden Opfern der erste Schlag auf den Hinterkopf. Damit hatte der Täter das Überraschungsmoment auf seiner Seite.«
»Konrad Dahlmann hatte eine kräftige Statur«, gab Vibeke zu bedenken. »Der Täter musste einiges an Kraft aufbieten, um ihn zum Heizkörper zu schleifen und dort festzubinden.«
»Mit der nötigen Motivation …« Jens räusperte sich. »Das mit der Kriegsgeschichte interessiert mich jedenfalls. Es wäre nicht das erste Mal, dass wir dort auf einen Zusammenhang stoßen.« Damit spielte er auf den Fall Karl Bentien an, bei dem ein dreiundsiebzigjähriger Studienrat und Mitglied der dänischen Minderheit brutal zu Tode getreten am Idstedt-Löwen aufgefunden worden war. »Ich sehe mir das auf jeden Fall genauer an.«
Schweigen breitete sich aus, und für einen Augenblick hing jeder seinen Gedanken nach.
Rasmus sah zu Vibeke, die in ihrem Notizbuch blätterte. Er fragte sich, wer sie angerufen hatte, dass sie dafür sogar die Besprechung verließ. Er konnte sich nicht daran erinnern, dass sie das vorher je getan hätte.
»Ich habe mir bei OIS angesehen, wem die Grundstücke gehören, auf denen Konrad Dahlmann sein Bauvorhaben plante«, sagte Pernille in die Stille hinein. »Die beiden Flurstücke links und rechts neben Birga Andresens Haus gehören einem Landwirt namens Steen Damgaard. Seine Familie hat den Grund Ende der 1950er-Jahre von Eldar Mobergs Mutter gekauft und seitdem bewirtschaftet. Bislang habe ich Steen nicht erreicht.«
»Dort war ich auch schon«, warf Søren ein. »Laut den Nachbarn ist er verreist.«
»Gut zu wissen. Ich bleibe dran.« Pernille machte sich eine Notiz. »Übrigens gehörte Tinnes Haus früher ebenfalls den Mobergs«, fuhr sie mit ihrem Bericht fort. »Die beiden restlichen Grundstücke befinden sich noch immer in Eldar Mobergs Besitz. Einmal der Hof, wo er mit seiner Frau wohnt, und das gegenüberliegende Stück Ackerland.« Sie griff nach ihrem Wasserglas und trank einen Schluck. »Ich habe auch mit dem Architekten gesprochen, der das Modell angefertigt hat. Er hat bestätigt, dass Konrad Dahlmann ein Bauvorhaben auf Als plante. Dreißig Ferienhäuser zusammen mit einem Hotel. Er orientierte sich dabei an einem Bauprojekt, das gerade auf Rømø umgesetzt wird.«
»Davon habe ich gehört«, sagte Jens. »Bauprojekt Kongsmark. Ein Hamburger Immobilienunternehmen hat das Projekt an einen deutschen Investor vermittelt. Dabei wurden auf Rømø im Rahmen eines Hotelkomplexes sechsunddreißig neue Ferienhäuser und dreizehn große Poolhäuser gebaut. Das Projekt ist höchst umstritten, denn das Konzept macht es wohl möglich, Ferienhäuser an Deutsche zu verkaufen. Auch ohne starke Bindung zu Dänemark.«
Rasmus sah ihn irritiert an. »Wie das?«
»Es gibt wohl eine spezielle Regelung, wonach die Käufer nur fünf Wochen selbst dort verbringen dürfen, die restliche Zeit wird es über einen Ferienhausanbieter an Urlaubsgäste vermietet. Damit soll gesichert werden, dass die Häuser nicht die Hälfe des Jahres leer stehen.«
»Und wer kontrolliert das?«
Jens zuckte die Achseln. »Keine Ahnung.«
»Also hat man ein schönes Hintertürchen für die Deutschen geschaffen«, empörte sich Søren. Er hob beschwichtigend die Hände. »Sorry, damit meine ich natürlich nicht euch. Ich kann mir nur vorstellen, dass die Leute auf Rømø nicht sonderlich begeistert darüber sind.«
Pernille nickte. »Das ist wohl auch der Grund, weshalb Konrad Dahlmann sich mit seinem Vorhaben bedeckt gehalten hat.«
Jens nickte. »Durchaus möglich. Das Bauprojekt in Kongsmark ist seit Ende des Jahres abgeschlossen, doch es hagelt massiv Kritik am fertigen Ergebnis. Die Leute sind sauer, weil die Feriensiedlung und das Hotel nicht das sind, was sie sich vorgestellt haben.« Er griff nach seinem Glas und trank einen Schluck. »Dabei ist das nächste große Bauprojekt auf Rømø bereits in Planung. Ein Badehotel in Lakolk. Ein mehrstöckiger Millionenbau, geplant von einer deutschen Hotelkette.«
»In meinen Augen ist das Ganze eine riesige Sauerei«, erboste sich Søren erneut. »Wenn jetzt alle ausländischen Investoren mit ihren Bauprojekten kommen und unsere Grundstücke kaufen, dann verschandeln sie nicht nur unsere schöne Landschaft, dann bleiben auch Leute wie meine Familie und ich künftig auf der Strecke.« Sein Blick wurde finster. »Weil wir Preise wie in Deutschland kriegen und uns gar nichts mehr leisten können. Und das nur, weil die reichen Herrschafte n ihren Hals nicht vollkriegen.« Er verschränkte die Arme vor der Brust.
»So weit wird es schon nicht kommen«, beruhigte ihn Pernille.
»Wollen wir es hoffen.«
Rasmus sah, dass Vibeke die Fingernägel in ihre Handflächen grub. Das hatte er schon ganz zu Anfang bei ihr beobachtet. Sie schien unter großer Anspannung zu stehen.
»Lasst uns weitermachen«, sagte Vibeke im nächsten Moment leicht ungehalten. Sie griff nach einem Stift und wandte sich an Luís. »Was ist mit dem Tablet und dem Laptop aus Dahlmanns Haus? Wurden die schon ausgewertet?«
»Bislang nicht, aber ich hake da gleich mal nach.«
»Was hat die Funkzellenauswertung ergeben?«
»Die ist leider nur wenig aussagekräftig«, erwiderte Luís. »Die Reichweite der Funkzelle hat einen Radius von rund fünf Kilometern. Wir haben für den Tatzeitraum vom Provider die Verkehrsdaten von rund zweitausend Teilnehmern, die in der Funkzelle am Tatort eingeloggt waren. Ich habe die Daten mit den Handynummern der Personen abgeglichen, die uns bislang untergekommen sind. Unter denen, die in Sarup wohnen, hatten wir mehrere Treffer, was nicht weiter verwunderlich ist, aber weder die Dahlmann-Geschwister noch ihr Onkel oder Julius Faber waren zur Tatzeit in der Funkzelle eingeloggt.«
Rasmus strich sich über das unrasierte Kinn. »Wobei das nicht zwingend bedeutet, dass sie nicht vor Ort gewesen sind. Sie könnten ihre Handys ausgeschaltet oder zu Hause liegen gelassen haben.«
Luís nickte.
»Das bedeutet, wir sind keinen Schritt weitergekommen«, stellte Vibeke fest. Sie feuerte den Stift in ihrer Hand auf die Schreibtischunterlage.
Rasmus fragte sich, was plötzlich mit ihr los war.
Es war bereits halb acht, als Rasmus die Tür zur Polizeistation aufstieß. Silje Sørensen saß nicht mehr am Empfang, stattdessen hockte dort Gunder Admundsen, ein kleiner, hagerer Mann mit runzeligem Gesicht, den er noch nie hatte lächeln sehen.
»Hej, Gunder«, begrüßte ihn Rasmus im Vorbeigehen, doch wie immer kam keine Antwort zurück.
Der Flur lag fast vollständig im Dunkeln, nur im Büro von Vizepolizeiinspektorin Maja Eriksen brannte noch Licht.
Rasmus klopfte gegen die offen stehende Tür. »Hej, Maja. Wir haben uns noch gar nicht gesehen.« Er lächelte. »Frohes neues Jahr.«
Seine Chefin löste den Blick vom Computerbildschirm. »Hej, Rasmus. Danke, das wünsche ich dir auch.« Sie erwiderte sein Lächeln, und sein Herz schlug augenblicklich einen Takt schneller. Verdammt.
»Ich lese mir gerade die Berichte im Fall Dahlmann durch, aber setz dich doch.« Maja deutete auf den Besucherstuhl vor ihrem Schreibtisch. Er trat in ihr Büro und nahm Platz. »Schrecklich, dieser Doppelmord. Seid ihr schon vorangekommen?«
Rasmus erzählte ihr von den vorausgegangenen Befragungen und erwähnte auch das Bauprojekt, das Konrad Dahlmann auf Als geplant hatte.
»Könnte das mit dem Mord zu tun haben?« Maja musterte ihn. Bis zu ihrem Wiedersehen im letzten Herbst hatten sie sich über zwanzig Jahre nicht gesehen, und er hatte sich noch immer nicht an ihre optische Veränderung gewöhnt. Sie war natürlich älter geworden, so wie er selbst, doch auf eine attraktive Weise. Eine neue Haarfarbe, blond statt brünett, die früheren Rundungen waren verschwunden, die Figur jetzt straff und durchtrainiert, wie bei einer Marathonläuferin, die feinen Gesichtszüge prägnanter, fast schon herb. Nur ihr Lächeln, bei dem sich ihr linker Schneidezahn leicht über den rechten schob, und ihre Augen, um die sich ein Netz von Fältchen gebildet hatte, waren nahezu unverändert geblieben. Er hätte sie unter Tausenden wiedererkannt. Eine Mischung aus Grün und Braun. Bernsteinfarben.
»Möglich«, gab sich Rasmus verhalten, »aber das Projekt steckte noch in den Kinderschuhen. Konrad Dahlmann hätte erst an die Grundstücke kommen müssen, um es umsetzen zu können.«
»Vielleicht wollte das jemand verhindern«, sagte Maja nachdenklich. »Was habt ihr sonst?«
Rasmus fasste zusammen, was Pernille über das Erbe der Dahlmanns in Erfahrung gebracht hatte, und erwähnte auch den Darlehensvertrag zwischen Konrad Dahlmann und seinem Sohn sowie die ausstehenden Kreditraten. »Vibeke und ich knöpfen ihn uns morgen noch einmal vor.«
Für einen kurzen Moment glitten seine Gedanken zu seiner Flensburger Kollegin. Er hatte Vibeke im Anschluss an die Besprechung auf dem Parkplatz vor dem Gemeinsamen Zentrum abgepasst, um herauszufinden, was es mit dem Anruf auf sich hatte. Doch sie hatte ihn abgewimmelt, ehe er überhaupt danach hätte fragen können, und einen Termin vorgeschützt.
»Halt mich da auf dem Laufenden«, riss ihn Maja aus seinen Gedanken. Sie schloss eine Aktenmappe auf ihrem Schreibtisch und legte sie in ihr Ablagefach. »Sie gefällt mir übrigens. Vibeke, meine ich.«
Rasmus krauste die Stirn. »Komisch. Sie hat das Gleiche über dich gesagt.«
»Was ist daran komisch?« Majas Augen blitzten spitzbübisch. »Sei froh, dass du es gleich mit zwei so fähigen Polizistinnen zu tun hast.«
Flirtete Maja etwa mit ihm? Eher nicht. Sie hatte die Grenzen gleich zu Anfang abgesteckt. Außerdem hatte Rasmus nach seiner Beziehung mit Vicky, einer deutschen Streifenbeamtin, nicht vor, denselben Fehler ein zweites Mal zu begehen und etwas mit einer Polizistin anzufangen. Und schon gar nicht mit seiner Vorgesetzten. Für den Bruchteil einer Sekunde flackerte das Bild ihrer nackt verschlungenen Körper vor seinem inneren Auge auf.
Er räusperte sich. »Das bin ich, glaub mir.«
»Feierabend.« Majas beugte sich vor und stellte ihren Computer aus. »Was ist mit dir?«
»Ich wollte kurz nach meinem Schreibtisch sehen, ob dort in den letzten Tagen etwas liegen geblieben ist.«
»Dann mach das.« Sie erhob sich von ihrem Schreibtischstuhl und griff nach dem camelfarbenen Blazermantel, der an der Garderobe hing. »Ich muss sehen, dass ich etwas in den Magen bekomme. Meine letzte Mahlzeit war das Frühstück.«
»Wollen wir eine Kleinigkeit zusammen essen gehen?«, schlug Rasmus spontan vor und hätte sich im nächsten Moment am liebsten auf die Zunge gebissen.
»Warum nicht«, entgegnete Maja zu seiner Überraschung. »Dann können wir uns noch ein wenig über den Fall unterhalten.«
»Na dann.« Rasmus erhob sich vom Besucherstuhl. »In der Nähe hat ein neuer Italiener aufgemacht.« Er hoffte bloß, dass er nicht im Begriff war, einen riesigen Fehler zu begehen.
Rund zweieinhalb Stunden später beglich Rasmus im Restaurant die Rechnung. Sie hatten ausgezeichnet gegessen – Pasta, gegrillten Fisch – und dazu Wein getrunken, während draußen der Regen gegen die Fenster getrommelt hatte.
Anfangs hatten sie sich noch über den Fall unterhalten, doch irgendwann hatten sie in alten Erinnerungen geschwelgt, viel gelacht, und zwischen dem Fortschreiten des Abends und der zweiten Flasche Wein war Rasmus aufgegangen, dass er sich schon lange nicht mehr so unbeschwert gefühlt hatte.
Sie zogen an der Garderobe Jacke und Mantel an, und Rasmus hielt Maja die Tür auf. Draußen war der Regen in leichten Schneefall übergegangen.
»Das war ein schöner Abend«, sagte Maja und blieb auf dem Bürgersteig stehen. Sie lächelte ihn an, und Rasmus verspürte urplötzlich den Drang, sie zu küssen.
»Die Autos sollten wir wohl besser stehen lassen«, sagte sie. »Hast du es weit?«
»Nicht wirklich.« Er fuhr sich mit der Hand in den Nacken.
»Ja, dann sehen wir uns morgen.« Maja lächelte erneut, wirkte mit einem Mal verlegen. Er verspürte ein leichtes Kribbeln.
Eine Schneeflocke verfing sich in ihrem Haar, und er ertappte sich bei dem Gedanken, sie zu berühren.
Meine Güte, Rasmus. Sie ist deine Chefin. Lass es.
Das Leben ist zu kurz, um verpassten Chancen hinterherzutrauern, schossen ihm plötzlich Jonnas Worte durch den Kopf. In der nächsten Sekunde warf er sämtliche Bedenken über Bord, trat auf Maja zu und küsste sie.
Vibeke ballte die Hände zu Fäusten, fixierte das an die Wand montierte Schlagpolster und schlug zu. Abwechselnd, in schneller Abfolge, wie eine einzige fließende Bewegung.
Zwanzig Kettenfauststöße. Eine kurze Pause, und sie wiederholte die Prozedur. Unter ihren Füßen knarzte der Dielenboden. Ihre Anspannung ließ nicht nach.
Sie feuerte die nächste Salve Fauststöße ab. Schnelligkeit und Härte nahmen zu, zusammen mit den Schlaggeräuschen.
Jemand bollerte von unten gegen die Decke, doch Vibeke blendete es aus, beschleunigte die Abfolge ihrer Schläge erneut.
Schweiß lief ihr über die Stirn und in ihre Augen. Sie biss die Zähne zusammen, und es dauerte drei weitere Einheiten, bis sie schließlich völlig ausgepowert zum Stillstand kam. Das Bollern verstummte, und sie hörte nur noch ein dumpfes Fluchen.
Vibeke langte nach dem Handtuch auf der Fensterbank und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Sie würde sich bei den Nachbarn entschuldigen müssen.
Bis letzten Herbst hatte sie immer auf den Sandsack in Werners Keller eingedroschen, wenn kein Wing-Tsun-Training möglich war und sie dringend Dampf ablassen musste. Hatte sich wie eine Einbrecherin heimlich ins Reihenhaus ihrer Eltern geschlichen, wenn niemand zu Hause war. Doch natürlich war Werner trotzdem irgendwann dahintergekommen.
Deshalb hatte sie sich für ihre Wohnung nicht nur eine Holzpuppe besorgt, an der sich ein Großteil der Wing-Tsun-Techniken trainieren und ihre Gliedmaßen abhärten ließen, sondern auch ein extra angefertigtes Schlagpolster.
In der Regel hielt sie sich an die Ruhezeiten, die in der Hausordnung festgehalten waren, heute war eine Ausnahme gewesen. Ein Notfall.
Doch zumindest ging es ihr jetzt besser. Der Anruf von Kathrin Kleiber, der jungen Sozialtherapeutin, die das Wohnprojekt ihrer leiblichen Mutter betreute, hatte sie aus der Bahn geworfen. Solveigh war tot. Und obwohl sie mit der Frau, die sie auf die Welt gebracht hatte, nicht mehr als dreiundzwanzig Chromosomen verband, hatte sie die Nachricht kalt erwischt. Sie empfand weder Trauer noch Mitleid, vielmehr war es erneut die Erkenntnis, dass das Leben endlich war. Dass der Tod manchmal unerwartet zuschlug und von einer Sekunde auf die andere alles vorbei war.
Sie legte sich das feuchte Handtuch um den Nacken und ging in die Küche. Dort füllte sie ein Glas mit Leitungswasser und leerte es in einem Zug. Die Uhr an der Wand zeigte auf kurz vor halb zwölf. Vor dem Fenster schwebten vereinzelte Schneeflocken herab.
Vibeke beschloss, unter die Dusche zu gehen.
Sie befanden sich auf der A7, irgendwo zwischen Bordesholm und Schleswig. Um sie herum herrschte dichtes Schneetreiben, die Autos fuhren Schrittgeschwindigkeit. Im Radio erklärte der Sprecher gerade, dass sich ein starkes Sturmfeld über der Ostsee entwickelt hatte. Schuld daran waren eisige, trockene Luftmassen aus Skandinavien und feuchte Warmluft aus dem Rheinland, die über Norddeutschland aufeinander getroffen waren und Temperaturunterschiede von bis zu siebenundvierzig Grad minus zur Folge hatten. Es wurde den Bewohnern Schleswig-Holsteins geraten, in ihren Häusern zu bleiben und vor allem die Autobahnen zu meiden. Bereits Dutzende Fahrzeuge steckten im Schnee fest.
Der Wetterumschwung war nahezu plötzlich gekommen. Während es am Vormittag, als Edith mit Kofferpacken beschäftigt gewesen war, noch geregnet hatte, waren die Temperaturen am frühen Nachmittag schlagartig in den Keller gestürzt, und es hatte zu schneien begonnen. An den Küsten tobte zeitgleich ein schwerer Sturm.
»Was habe ich dir gesagt?«, knurrte Otto hinter dem Lenkrad. Im Radio wurde der Nachrichtensprecher von den Village People abgelöst.
Edith seufzte. »Ja, du hattest recht, Otto. Wie oft willst du das noch hören?«
Ihr Mann reagierte nicht, hatte den Blick missmutig auf die Windschutzscheibe gerichtet. Ihr Opel Kadett schob sich wenige Meter voran. Vor ihnen leuchteten die Bremslichter des Vordermanns.
Edith schwieg beleidigt. Weshalb musste bloß alle Welt wegen so einem bisschen Schnee solch ein Aufhebens machen? »Nicht Auto fahren«, hatten sie in den Nachrichten gesagt. Und wie sollten sie dann mit dem ganzen Gepäck zu ihrem Cousin kommen? Etwa mit dem Zug?
Sie drehte sich zur Rückbank um. Die Kinder schliefen und boten ein ungewohnt friedliches Bild. Eine halbe Stunde zuvor hatten sie sich noch wie die Kesselflicker um die neueste Ausgabe der Bravo ge stritten. Jetzt lag die Zeitschrift aufgeschlagen im Fußraum, und das Gesicht von Nastassja Kinski blickte ihr leicht vorwurfsvoll entgegen.
»Vielleicht sollten wir umkehren«, murmelte Otto.
»Bist du verrückt?« Edith sah ihren Mann empört an. »Ich habe mir extra noch die Haare gerichtet.« Sie fuhr mit der Hand zu ihrer aufwendigen Föhnfrisur mit den nach außen gedrehten Spitzen. »Und denk doch nur, was Christel alles vorbereitet hat. Nein, das kommt überhaupt nicht infrage.« Das Auto setzte sich wieder in Gang, und sie fügte hinzu: »Wir sind doch eh schon bald da, und wenn wir umdrehen, wird es auch nicht besser.« Sie deutete auf die Gegenfahrbahn, wo die Fahrzeuge Stoßstange an Stoßstange standen.
Otto folgte ihrem Blick und fuhr dann mit zusammengepressten Lippen weiter.
Die nächsten anderthalb Stunden schwiegen sie. Aus den Lautsprecherboxen des Radios ertönte gerade »You’re the One That I Want«, als sie schließlich im Schleichtempo die Autobahn verließen. Mittlerweile war es dunkel und im Schneegestöber nicht mehr zu erkennen, wo die Straße aufhörte und der Bürgersteig anfing. Die Stille im Auto wurde nur durch das Quietschen der Scheibenwischer unterbrochen.
Als sie schließlich das Ortsschild von Hederup passierten, hatten sie für die Strecke anstatt der üblichen anderthalb Stunden rund fünf gebraucht.
»Sind wir endlich da?«, kam es von der Rückbank.
»In ein paar Minuten«, flötete Edith unter dem genervten Blick ihres Mannes. »Ich sage euch, Kinder, Silvester wird wunderbar.«
Kurz darauf bogen sie in die Straße zum Haus ihres Cousins ein. Auch hier lag der Schnee auf den Bürgersteigen bereits an die dreißig bis vierzig Zentimeter hoch. Die Anwohner schippten emsig mit ihren Schaufeln die Gehwege frei, Kindern bauten unter dem Licht der Straßenlaternen Schneemänner in den Gärten oder bewarfen sich mit Schneebällen. Hinter den Scheiben der angrenzenden Häuser leuchteten elektrische Lichterbögen auf den Fensterbänken.
Die Szene erinnerte Edith an einen schwedischen Weihnachtsfilm, den sie vor Jahren mit den Kindern im Fernsehen angesehen hatte.
»Herrlich«, seufzte sie gerührt. »Ich habe mir immer weiße Weihnachten gewünscht.«
»Weihnachten ist vorbei«, murrte Otto und blieb mit dem Auto am Straßenrand vor dem Haus ihres Cousins stehen. Sowohl Auffahrt als auch Bürgersteig waren nicht geräumt. »Deine Familie hat es wohl nicht nötig, hier draußen Klarschiff zu machen. Worauf warten die?«
»Auf die Heinzelmännchen«, gluckste Volker von der Rückbank.
»Können wir endlich aussteigen«, maulte seine Schwester und rüttelte am Vordersitz. »Ich muss aufs Klo.«
»Na, dann wollen wir mal.« Otto schob sich hinter dem Lenkrad ins Freie, und gleich im nächsten Moment hörte Edith ihn fluchen.
Sie wickelte sich ihren Schal um den Hals, den sie die Fahrt über abgelegt hatte, setzte die Kapuze auf und öffnete die Beifahrertür. Gleich darauf versackte sie bis zu den Waden im Schnee.
Eisiger Wind fegte ihr die nasskalten Flocken ins Gesicht. Schnell klappte sie den Beifahrersitz nach vorne, und die Kinder kletterten aus dem Auto.
»Geil, so viel Schnee.« Volker warf seiner Schwester eine Ladung ins Gesicht.
»Vollidiot!«, fauchte sie und stapfte wütend die Auffahrt entlang.
Das Haus von Ediths Cousin war das vorletzte in der Straße, ein Architektenhaus mit asymmetrischem Satteldach, Balkon und Zimmerdecken aus Sichtbeton und einer großzügig verglasten Giebelseite. Durch das Wohnzimmerfenster waren die brennenden Kerzen am Weihnachtsbaum zu erkennen.
Edith sah die Straße entlang. Das Nachbarhaus lag im Dunkeln. Die angrenzenden Wiesen und Weiden, die zu einem Bauernhof mit Milchkühen gehörten, waren vollständig vom Schnee verschluckt.
Im ersten Stock des Nachbarhauses bewegte sich eine Gardine. Stand dort jemand und beobachtete sie?
»Sag mal, Edith, träumst du?«, blaffte Otto, der am Kofferraum rumhantierte. »Jetzt hilf mir mal mit dem Gepäck. Herrje, weshalb musst du auch immer so viel mitschleppen. Man könnte meinen, wir bleiben mehrere Wochen.«
Edith riss sich vom Nachbarhaus los, nahm die Reisetasche entgegen, die Otto ihr hinhielt, und stapfte damit die Auffahrt entlang.
Der Schneefall wurde immer dichter, und schon jetzt kroch ihr die Kälte in die Knochen. Sie musste an die Worte des Nachrichtensprechers denken, und erstmals machte sich ein mulmiges Gefühl in ihr breit.
Vor ihnen öffnete sich die Haustür, und die rundliche Gestalt von Christel erschien.
Sie umarmte erst die Kinder und nahm Edith mit einem Lächeln die Reisetasche ab.
»Wie schön, dass ihr es geschafft habt. Wir waren schon in Sorge.« Sie zog Edith ins Haus hinein.
Der Duft nach Rouladen und Rotkohl nahm sie in Empfang.
Edith lief das Wasser im Mund zusammen. Es würde schön werden. Ganz bestimmt.