Vor den Fenstern war es noch dunkel, als Jeppe das Wohnzimmer betrat. Umgehend entdeckte er seinen Vater schlafend auf der Couch. Speichel lief ihm aus den offenen Mundwinkeln, begleitet von Schnarchgeräuschen, die etwas von einem leidenden Walross hatten. Das Unterhemd unter der verfilzten braunen Strickjacke war bis zum Bauchnabel hochgerutscht, seine rechte Hand ruhte im Bund seiner Hose.
Angeekelt wandte sich Jeppe ab und ging in die angrenzende Küche. Dort füllte er den Wasserbehälter der Kaffeemaschine, ersetzte den alten Filter durch einen neuen und schaufelte etwas von dem Kaffeepulver hinein, das sich in einer bunten Dose auf dem Regal befand. Eines der wenigen Dinge, die noch von seiner Mutter stammten.
Jeppe erinnerte sich kaum an sie, nur an ihren Geruch nach grünen Äpfeln und ihre weiche Stimme, aber nicht daran, wie sie ausgesehen hatte. Sein Vater hatte sämtliche Fotos aus dem Haus verbannt.
Er stellte die Kaffeemaschine an. Es zischte und dampfte, und kurz darauf tröpfelte die dunkle Flüssigkeit in die Glaskanne.
Während der Kaffee durchlief, brachte Jeppe ein wenig Ordnung in die Küche, beförderte dreckige Teller und Tassen von der Arbeitsplatte in den Geschirrspüler, wischte anschließend die Fläche mit einem Lappen ab und entsorgte leere Bierdosen und Essensverpackungen im Müll.
Unter dem Kaffeefilter stach ihm etwas Weißes ins Auge. Eine Visitenkarte. Er zog sie heraus. Der Name Konrad Dahlmann stand darauf.
»Was machst du da?«, ertönte die Stimme seines Vaters hinter seinem Rücken.
Als hätte Jeppe sich die Finger verbrannt, segelte die Visitenkarte zu Boden.
»Verdammt, musst du mich so erschrecken?«, blaffte er.
»Das ist noch immer mein Haus«, knurrte Albert. »Wenn dir hier was nicht passt, such dir was Eigenes.«
»Das würde ich ja, wenn du mir ein anständiges Gehalt zahlen würdest. Aber bei dem Hungerlohn …« Er ließ den Satz unbeendet. Es brachte ja doch nichts. Am besten, er beschaffte sich endlich einen neuen Job. Dann konnte sein Alter sehen, wo er mit seiner Werkstatt blieb.
Sein Vater schlurfte in die Küche, das Gesicht fahl und aufgedunsen, die Hose auf Halbmast. Er betrachtete die Visitenkarte am Boden und bückte sich mit einem grunzenden Laut, um sie aufzuheben.
»Schnüffelst du hier rum, oder was?« Er stank aus sämtlichen Poren nach Schweiß und Alkohol.
Jeppe drehte es den Magen um. »Ich schnüffel nicht rum. Das da«, er deutete auf die Visitenkarte in der Hand seines Vaters, »lag im Müll. Was hattest du mit dem Dahlmann zu schaffen?«
»Nichts, was dich was angehen würde.«
Jeppe fixierte ihn. »Wissen die Bullen davon?«
»Das bringt die nur auf dumme Gedanken.«
»Dann pass auf, dass sie es nicht rausfinden.«
»Wer sollte denen davon erzählen?« Sein Vater trat einen Schritt näher an ihn heran. »Du ganz bestimmt nicht, oder?« Er stieß ihm seine Alkoholfahne ins Gesicht.
Jeppe wich ein Stück zurück.
»Ricky hat sich übrigens heute freigenommen.« Albert kratzte sich im Schritt. »Aber jetzt geh ich erst mal pissen.« Er schlurfte wieder aus der Küche.
Jeppe blieb verwirrt zurück. Ricky hatte sich freigenommen? Gestern hatte er keinen Ton davon gesagt. Er zog sein Handy aus der Hosentasche und wählte Rickys Nummer. Nur die Mailbox. Er verzichtete darauf, eine Nachricht zu hinterlassen, und legte wieder auf.
Kurz überlegte er, den alten Moberg anzurufen. Möglicherweise wusste der, wo Ricky steckte, doch bei dem saßen eindeutig ein paar Schrauben locker, und Jeppe verwarf den Plan. Hoffentlich machte sein Kumpel keinen Unsinn und versuchte, Dahlmanns Schlitten auf eigene Faust zu verticken. Zuzutrauen wäre es ihm. Am Ende schnappten ihn noch die Bullen.
Jeppe brach der Schweiß aus. Er hatte Handschuhe getragen, aber man hörte doch immer wieder von Tätern, die anhand ihrer DNA überführt wurden. Was, wenn irgendwo in der Karre ein Haar von ihm klebte? Dann wäre er geliefert. Er wählte erneut Ri ckys Handynummer. Wieder nur die Mailbox. Dieses Mal hinterließ er eine Nachricht, in der er auf Rückruf drängte. Unruhe machte sich in ihm breit.
Jeppe verließ die Küche. Der frisch aufgebrühte Kaffee blieb unangetastet zurück.
Rasmus sah aus dem Seitenfenster. Schnee hatte sich wie eine frisch aufgeschüttelte Decke über die Landschaft gelegt, ein paar Flocken tanzten vor seiner Scheibe.
Die Temperaturen waren weiter in den Keller gerutscht, doch die Heizung in Vibekes Dienstwagen war hochgedreht, sodass es warm und behaglich war. Auf dem Nord-Ostsee-Kanal schoben sich Containerschiffe entlang. Der Himmel war trüb und farblos. Es sollte weitere Schneefälle geben.
Seine Gedanken glitten zu Maja. Nachdem er sie vor dem Restaurant geküsst hatte, war sie mit einem »Das ist keine gute Idee, Rasmus« vor ihm zurückgewichen, nur um ihn gleich im nächsten Moment wieder zu sich heranzuziehen.
Anschließend waren sie in Majas Wohnung gelandet. Bilder von Maja stiegen vor seinem inneren Auge auf. Ihr nackter Körper. Ihr Gesicht. Ihre Lippen.
»Gibt es etwas Neues?«, riss ihn Vibekes Stimme aus seinen Gedanken.
Rasmus zuckte zusammen, und er brauchte ein paar Sekunden, um sich zu sammeln. »Nein.«
Vibeke scannte ihn mit ihren Gletscheraugen von der Seite. »Bist du etwa verliebt?«
Er bemühte sich um eine unbeteiligte Miene. »Wie kommst du darauf?«
»Du hast die ganze Zeit vor dich hin gelächelt.« Sie konzentrierte sich wieder auf die Fahrbahn.
»Ist das etwa verboten?«
»Nein. In deinem Fall nur ungewöhnlich.« Vibeke betätigte den Blinker und überholte einen Lkw, ehe sie wieder auf die rechte Spur rübersetzte. »Du hast was mit Maja angefangen«, stellte sie fest.
Rasmus runzelte die Stirn. Konnte sie etwa hellsehen? »Woher zum Teufel weißt du das?«
»Ich wusste es nicht, du hast nur gerade meine Vermutung bestätigt«, erwiderte Vibeke trocken. »Ich gönne es dir.« Sie betätigte erneut den Blinker und nahm die Ausfahrt HH-Schnelsen.
»Das ist nett von dir«, murmelte Rasmus und sah wieder aus dem Seitenfenster. »Wobei ich nicht weiß, ob das mit uns überhaupt weitergeht.«
Am Morgen, als er aufgewacht war, hatte Maja nicht mehr neben ihm gelegen. Sie hatte auch keine Nachricht hinterlassen, und er wusste nicht, wie er das deuten sollte. Bereute Maja ihre gemeinsame Nacht? War es für sie nur eine einmalige Sache gewesen? Ein Ausrutscher?
Ihm entfuhr ein Seufzen.
Vibeke warf ihm einen Seitenblick zu. »Aber du magst sie?«
An der Ampel vor ihnen stauten sich die Autos.
Er nickte.
»Dann vermassel es nicht.«
Der Spruch hätte auch von Jonna stammen können, dachte Rasmus und schwor sich, seiner Schwester kein Sterbenswort über seine Nacht mit Maja zu verraten. Sie würde sich nur einmischen, so wie sie es immer tat, seit Camilla und er sich getrennt hatten. Er schob die Gedanken beiseite.
»Und bei dir?« Rasmus musterte Vibeke, die den Blick wieder auf die Fahrbahn gerichtet hatte. »Was war das gestern für ein Anruf während der Besprechung?« Er hob beschwichtigend die Hände. »Nicht dass es mich etwas anginge.«
»Du hast recht, es geht dich nichts an«, erwiderte Vibeke spröde. »Es war ohnehin nicht wichtig.« Ein mattes Lächeln streifte ihre Lippen.
Natürlich, dachte Rasmus. Sie wusste über ihn und Maja Bescheid, und er war genauso schlau wie vorher.
Die restliche Fahrt verlief schweigend. Der Verkehr wurde dichter, und das Stadtbild veränderte sich. Die vierspurige Fahrbahn wurde zweispurig, kleine Geschäfte, Cafés und Restaurants reihten sich in stuckverzierten Jugendstilgebäuden aneinander, beschirmte Fußgänger eilten in dicken Mänteln und mit winterblassen Gesichtern die Schaufenster entlang, eine rot-silberne U-Bahn überquerte die oberhalb der Fahrbahn gelegene Brücke.
Vibeke bog in eine schmale Seitenstraße. Auch hier reihten sich repräsentative Jugendstil-Etagenhäuser aneinander, in den Parklücken und teilweise halb auf den Bürgersteigen drängten sich die Autos dicht an dicht.
»Laut Navi muss es hier irgendwo sein.« Sie drosselte die Geschwindigkeit und fuhr im Schritttempo weiter. »Nummer elf.«
»Da vorne.« Rasmus deutete auf ein cremefarbenes Gebäude mit schmiedeeisernen Balkongeländern. Am Eingang wies ein Schild auf die Zahnarztpraxis hin. Weit und breit war kein freier Parkplatz in Sicht.
Vibeke kurvte einmal um den Block und parkte schließlich in einer frei gewordenen Lücke unweit vom Hauseingang.
Die Zahnarztpraxis lag im Erdgeschoss und erinnerte Rasmus in der Ausstattung an ein Wellness-Spa. Edles Eichenholzparkett, cremefarbene Wände zu zeitlos modernen Designmöbeln von USM Haller. Aus einem dezent eingebauten Bluetooth-Audiosystem rieselte leise Hintergrundmusik.
»Schön guten Morgen«, flötete die Blondine hinter dem Empfangstresen und entblößte dabei makellose Zähne, die mit ihrem eng geschnittenen weißen Poloshirt um die Wette strahlten. »Haben Sie einen Termin?«
Vibeke zückte ihren Dienstausweis. »Wir würden gerne mit Herrn Dahlmann sprechen.«
Das Lächeln verschwand. »Da muss ich schauen, ob der Doktor Zeit hat.« Sie erhob sich von ihrem Stuhl und verschwand im Gang zu den hinteren Räumen.
Rasmus ließ den Blick in den angrenzenden Wartebereich gleiten. Sämtliche Stühle und auch die Garderobe waren verwaist. »Viel ist hier ja nicht gerade los«, bemerkte er. »Bei meinem Zahnarzt muss ich wochenlang auf einen Termin warten.«
Vibeke nickte zustimmend.
Die Arzthelferin kam zurück. »Dr. Dahlmann erwartet Sie. Es ist die letzte Tür am Ende des Gangs.«
Kurz darauf standen sie in einem Behandlungsraum.
Thomas Dahlmann, ganz in Weiß gekleidet, löste den Blick von einem Bildschirm mit Röntgenaufnahmen.
»Ich nehme an, es gibt etwas Neues?« Sein Blick glitt von Vibeke zu Rasmus und wieder zurück.
»Wir haben Einblick in die Unterlagen Ihrer Eltern genommen«, begann Vibeke, während sich Rasmus gegen die Fensterbank lehnte. »Demnach hat Ihnen Ihr Vater einen Kredit gewährt, bei dem Sie mit den Raten in Rückstand waren«, kam sie direkt zum Punkt.
Thomas Dahlmann bekam einen harten Zug um den Mund. »Zwei, um genau zu sein.«
»Für die Ihnen Ihr Vater eine Mahnung geschickt hat«, ergänzte Vibeke.
»Ich hatte vorübergehend einen finanziellen Engpass, aber mein Vater und ich haben das geklärt.«
»Was er uns leider nicht mehr bestätigen kann.«
Rasmus begann, unter seiner Jacke zu schwitzen, er zog den Reißverschluss auf.
»So wie Sie ihn bei unserem ersten Gespräch geschildert haben«, fuhr Vibeke fort, »war er doch mit Sicherheit verärgert, oder? Ich meine, er hat Ihnen erst vor vier Jahren eine recht großzügige Schenkung gemacht, dazu noch der Kredit. Wo ist das ganze Geld geblieben?«
»Ich habe die Praxis gekauft. So eine Neugründung kostet einiges.«
»Weshalb haben Sie sich für die Finanzierung nicht an eine Bank gewandt? Wenn ich es richtig verstanden habe, waren Sie und Ihr Vater ja nicht sonderlich gut aufeinander zu sprechen.«
Kurz presste Thomas Dahlmann die Lippen zusammen. »Er war mein Vater«, erwiderte er knapp, so als erklärte das alles.
Rasmus beugte sich vor. »Zumindest müssen Sie sich jetzt keine Gedanken mehr um die Rückzahlung machen.« Er hielt sich an die deutschen Gepflogenheiten und siezte den Mann. »Ihr Erbe ist ja recht beachtlich. Wenn auch nicht im Vergleich zu dem Ihrer Schwester.«
Die Züge des Zahnarztes versteinerten. »Was wollen Sie eigentlich von mir?« Sein Blick wanderte von Rasmus zu Vibeke. »Glauben Sie etwa, ich hätte meine Eltern umgebracht?« Resigniert schüttelte er den Kopf. »Ich habe für den Tatzeitraum ein Alibi, wie Sie wissen. Meine Frau hat Ihnen das bestätigt.«
Rasmus lag der Spruch auf den Lippen, dass Ehefrauen gerne mal für ihren Partner logen, um ihn zu schützen, doch er hielt sich zurück. Es war an ihnen, dergleichen zu beweisen, und bislang gab es nicht den geringsten Hinweis darauf, dass Thomas Dahlmann am Tatort gewesen war.
»Machen Sie das eigentlich auch mit Mirjam?«, schob der Zahnarzt mit angesäuerter Miene hinterher. »Ihr einen Mord zu unterstellen?«
»Wir unterstellen Ihnen gar nichts, Herr Dahlmann«, erwiderte Vibeke sachlich, »sondern haben Ihnen lediglich eine Frage zum Darlehen Ihres Vaters gestellt.«
»Natürlich.« Thomas Dahlmanns Stimme troff vor Sarkasmus. Im nächsten Moment blitzte es hinter seinen Brillengläsern auf. »Aber vielleicht sollten Sie sich lieber mal darum kümmern, was meine Schwester und Julius so treiben.«
»Julius Faber?«, fragte Vibeke irritiert.
»Die beiden haben eine Affäre. Sie denken, dass es niemand weiß.« Er lächelte zufrieden. »Julius kann sich nicht so einfach scheiden lassen. Seine Frau ist diejenige mit dem Geld. Und wenn ihr zu Ohren kommt, dass er etwas mit meiner Schwester am Laufen hat, lässt sie ihn das mit Sicherheit teuer zu stehen kommen.«
Vibeke und Rasmus tauschten einen erstaunten Blick.
»Weshalb schwärzt er seine eigene Schwester an?«, fragte Rasmus, sobald sich die doppelflügelige Haustür hinter ihnen schloss.
»Vielleicht kann er sie nicht leiden«, mutmaßte Vibeke. »Nicht alle Geschwister mögen sich. Außerdem erbt sie die Firma. Vermutlich ist er nicht gerade gut auf sie zu sprechen.«
»Oder er will von sich ablenken.« Rasmus zog den Reißverschluss seiner Jacke hoch.
»Möglich. Viel interessanter finde ich, was Thomas Dahlmann über seine Schwester und Faber erzählt hat, auch wenn ich nicht weiß, ob das für unseren Fall eine Rolle spielt. Wir behalten es mal im Hinterkopf.«
Es hatte wieder zu schneien begonnen. Dicke Flocken segelten vom farblosen Himmel herab und lösten sich auf, sobald sie die feuchten Bürgersteige berührten.
Sie gingen in Richtung ihres parkenden Autos.
»Du warst gestern sonderbar«, brachte Rasmus das Thema mit dem Anruf erneut aufs Tapet. Es wurmte ihn, dass sie ihn nicht an ihrem Leben teilhaben ließ. »Irgendetwas beschäftigt dich.«
Vibeke blickte ihn von der Seite ausdruckslos an.
»Jetzt komm schon, Vibeke. Du weißt schließlich auch von mir und Maja.« Rasmus grinste schief. »Damit hast du mich quasi in der Hand.«
»Du kannst ganz schön nerven, Nyborg, weißt du das eigentlich?«
Rasmus nickte. »Meine Spezialität. Frag meine Schwester.«
Er hatte ein Schmunzeln erwartet, doch Vibekes Gesicht blieb ernst.
Eine Frau mit einem Kinderwagen kam ihnen entgegen, und sie machten ihr auf dem Bürgersteig Platz.
»Solveigh ist tot«, sagte Vibeke beim Weitergehen unvermittelt. »Meine Erzeugerin.«
Rasmus blieb abrupt stehen. »Deine Mutter ist gestorben? Und das sagst du mal eben so?« Fassungslos blickte er sie an.
»Du hast gefragt.« Sie zuckte die Schultern und setzte ihren Weg fort.
Rasmus eilte wieder an ihre Seite, suchte in Gedanken nach den passenden Worten. Doch was war in diesem Fall angebracht? Vibeke hatte nie von ihrer leiblichen Mutter erzählt. Hatten sie überhaupt miteinander Kontakt gehabt?
Er hätte am liebsten nachgefragt, doch er wusste, dass er sich damit direkt ins Minenfeld begab. Sie hätte letzten Herbst fast mit Werner gebrochen, weil er ihr jahrelang einen Besuch ihrer leiblichen Großeltern verschwiegen hatte.
Trotzdem. Wenn die eigene Mutter starb, war das ein tiefer Einschnitt. Egal wie gut oder wie schlecht die Beziehung gewesen war.
Vibekes Blick streifte ihn. »Jetzt mach dir keinen Kopf. Die Frau hat mich geboren. Mehr nicht.« Sie erreichten den Dienstwagen. »Solveighs Betreuerin hat mich gestern angerufen, um mich über die Beisetzung zu informieren. Sie dachte wohl, ich würde kommen wollen. Tja. Da hat sie dann wohl falsch gedacht.«
»Wie, du gehst nicht hin?«
»Hast du was mit den Ohren?« Vibeke öffnete das Auto. »Die Sache ist jedenfalls erledigt. Also spar dir weitere Kommentare. Lass uns jetzt nach St. Georg fahren.«
Sache? Der Tod der eigenen Mutter war doch keine Sache.
Ehe Rasmus protestieren konnte, stieg Vibeke in den Dienstwagen und startete den Motor.
Rund anderthalb Stunden und ein Dutzend Mietergespräche später verließen sie das Mehrfamilienwohnhaus in St. Georg, das Dahlmann Invest Anfang 2021 erworben hatte und in dem es nach der Genehmigung zur Umwandlung zu Widerstand gekommen war.
Die Bewohner aus allen fünfzehn Wohneinheiten hatten den offenen Brief an die Senatorin für Stadtentwicklung und Wohnungen unterschrieben. Ohne Erfolg. In einem formellen Schreiben war ihnen mit geteilt worden, dass das Baugesetz, das die Umwandlung unter der Bedingung erlaubte, sieben Jahre nur an aktuelle Mieter zu verkaufen, für ihr Wohnhaus griff. Die Neureglungen für ein Umwandlungsverbot waren erst im November 2021 in Kraft getreten und konnten nicht rückwirkend geltend gemacht werden.
Ein Teil der Mieter war bereits ausgezogen. Von den verbliebenen war keiner dem Immobilienspekulanten je persönlich begegnet oder hatte bei Rasmus und Vibeke den Verdacht erregt, mit dem Doppelmord auf Als in Verbindung zu stehen.
Die Eingangstür war gerade hinter ihnen ins Schloss gefallen, als Vibekes Handy klingelte. Nach einem Blick aufs Display nahm sie das Gespräch an. »Hej, Pernille.« Sie wandte sich ab, um zu telefonieren.
Rasmus blickte die Fassade des Altbaus hinauf. Einige der Geschichten, die sie zuvor gehört hatten, bewegten ihn. Ein altes Ehepaar, das bereits seit über fünfzig Jahren in der Wohnung lebte, die alleinerziehende Mutter eines Fünfjährigen, die gerade so über die Runden kam, die sechsköpfige Familie, in der die Frau mehreren Jobs nachgehen musste, da das Gehalt ihres Mannes als Industriemechaniker kaum für die Miete reichte. Sie alle würden sich über kurz oder lang eine neue Bleibe suchen müssen, doch der Wohnraum in Hamburg war knapp. Die Verzweiflung war mitunter greifbar gewesen.
»Danke, Pernille«, sagte Vibeke gerade. Sie klang angespannt. »Wir fahren hin.« Sie steckte das Handy zurück in ihre Jackentasche.
Rasmus sah sie fragend an.
»Die Kriminaltechnik hat sich gemeldet. Erinnerst du dich noch an das Snus, das zwischen den Dielen im Flur gefunden wurde?«
Er nickte.
»Die Auswertung der DNA hat einen Treffer in der Datenbank ergeben.« Sie zog ihren Autoschlüssel hervor. »Wie es aussieht, hat sich Ricky Ahlgren im Haus befunden.«
Die Straßen in Sarup waren mit Schnee bedeckt, stellenweise war es darunter vereist, und Vibeke musste aufpassen, dass sie mit ihrem Dienstwagen nicht ins Rutschen geriet. Große Schneeflocken flatterten vor der Windschutzscheibe und erschwerten die Sicht. Aus dem Radio ertönte ein Song von Ed Sheeran, aus den Lüftungsschlitzen blies warme Luft ins Innere des Autos. Die Temperaturanzeige am Armaturenbrett zeigte minus acht Grad.
Vibeke nahm den Fuß vom Gas und lenkte das Auto in die Hofeinfahrt zu einem u-förmig angelegten Gebäude mit ockerfarbener Fassade.
»Ich muss pinkeln«, murmelte Rasmus und stieß die Beifahrertür auf, sobald sie standen.
Vibeke warf einen Blick auf die beiden Kaffeebecher, die ihr Kollege während der Fahrt geleert hatte, und stellte den Motor aus.
Rasmus hatte eindeutig ein Koffeinproblem. Er trank Kaffee zu gefühlt jeder Tages- und Nachtzeit, und abgesehen von einem gelegentlichen Schluck Wasser oder seinem obligatorischen Kakao zum Hotdog hatte sie ihn kaum etwas anderes trinken sehen. Doch vielleicht kompensierte er damit auch seine Nikotinsucht in Situationen, in denen er nicht zur Zigarette greifen konnte. Zumindest war ihr Dienstwagen eine rauchfreie Zone.
Vibeke griff nach ihrer Tasche, die sie hinter dem Fahrersitz verstaut hatte, und stieg aus dem Auto. Schnee knirschte unter ihren Schuhsohlen, als sie Rasmus zum Hauseingang folgte, wo bereits ein großer, hagerer Mann um die achtzig in der offenen Tür stand. Eldar Moberg.
Rasmus war es offenbar gelungen, ihn zu überreden, dass er seine Toilette nutzen durfte, denn die beiden Männer verschwanden jetzt im Innern des Hauses.
Vibeke trat sich auf der Fußmatte sorgfältig den Schnee von den Schuhsohlen ab und ging dann über die Schwelle in einen karg eingerichteten Vorraum. Eine Garderobe mit Jacken und Mänteln, am Boden standen Schuhe und Stiefel in zwei unterschiedlichen Größen. An der Wand neben der Eingangstür hing ein altmodischer Spiegel, dessen Glas im Laufe der Jahre blind geworden war. Auf den braunen Fliesen lagen kleine feuchte Häufchen, die offenbar von Rasmus’ Schuhsohlen stammten.
Sie schloss die Tür hinter sich und lief den Flur entlang. Landschaftsaufnahmen auf vergilbter Raufasertapete, eine Kommode aus dunklem Holz, ein schmaler Läufer mit Fransen. Hinter einer angrenzenden Tür ertönte erleichtertes Stöhnen zusammen mit dem Geräusch von Wasserlassen. Schnell ging Vibeke weiter.
Sie fand Eldar Moberg in dem Raum neben der Küche über einen Tisch mit einer in Einzelteile zerlegten Langwaffe gebeugt. Ein älteres Modell, das Vibeke bislang noch nicht untergekommen war. Sie ließ den Blick durch das Zimmer schweifen, und es dauerte einen Moment, ehe sie sämtliche Details erfasst hatte.
Den Massivholzwaffenschrank, dessen Tür aus Panzerglas offen stand, die neun Halterungen, die bis auf eine mit weiteren Langwaffen gefüllt waren, die alte Uniform auf dem Bügel, dunkelblau mit goldfarbenen Knöpfen und rotem Kragen, der zerschlissene Dannebrog, der über eine halbe Wandfläche gespannt war, die gerahmten Abbildungen von Soldaten auf dem Schlachtfeld. Schwere Vorhänge und eine dunkle Holzvertäfelung gaben dem Raum etwas Düsteres.
»Hej, ich bin Vibeke Boisen von der Polizei Flensburg«, stellte sie sich Eldar Moberg vor, während hinter ihr im Flur das Rauschen der Toilettenspülung zu hören war. Sie deutete auf den Waffenschrank. »Sie haben hoffentlich einen Waffenschein.« Intuitiv siezte sie den Mann. Nach allem, was sie bislang über ihn und seine Abneigung gegenüber Deutschen erfahren hatte, erschien ihr das angebracht. Neben ihr tauchte Rasmus auf.
»Det har jeg«, sagte Eldar Moberg an ihren Kollegen gewandt. Den habe ich.
Offenbar zog er es vor, Vibeke zu ignorieren und stattdessen mit seinem Landsmann auf Dänisch zu kommunizieren. Gerade führte Eldar Moberg eine Spi ralbürste in den Lauf der Langwaffe, um den Grobschmutz zu beseitigen.
Vibeke konnte verstehen, dass einige ältere Dänen den Deutschen aufgrund der Geschehnisse während des Zweiten Weltkriegs und der Besatzung noch immer zurückhaltend begegneten, zu viele Menschen hatten während des Krieges schreckliches Leid erfahren. Trotzdem hatte sie nicht vor, es dem alten Mann so einfach zu machen.
»Es tut mir leid, wenn Sie und Ihre Familie in der Vergangenheit schlimme Erfahrungen mit den Deutschen gemacht haben«, sagte Vibeke auf Dänisch, ehe ihr Rasmus zuvorkommen konnte, »aber wir müssen den Mord an Ihren Nachbarn aufklären. Karl und Luise Dahlmann können nichts dafür, was damals passiert ist.«
Eldar Moberg schnaubte und legte die Spiralbürste beiseite. Anschließend griff er in ein bereitstehendes Gefäß mit kleinen runden Filzen und schraubte ein Exemplar auf den Filzadapter eines Messingstabs, ehe er damit fortfuhr, den Waffenlauf zu säubern.
Vibeke wollte noch etwas hinzufügen, doch Rasmus deutete ihr mit einem leichten Kopfschütteln an, es dabei zu belassen.
Er ging ein paar Schritte in den Raum hinein. »Wir möchten eigentlich nur von dir wissen, wo Ricky steckt. Danach bist du uns gleich wieder los.«
»Ricky?« Eldar hielt mitten in der Bewegung inne. »Was wollt ihr von ihm?«
»Darüber kann ich dir leider keine Auskunft geben«, sagte Rasmus mit leichtem Bedauern in der Stimme. »Also, wo hält sich dein Enkel auf?«
»Bei der Arbeit, nehme ich an.«
»Dort ist er nicht. Kann es sein, dass er weggefahren ist?«
»Davon weiß ich nichts.« Eldar Moberg zog die Brauen zusammen. »Aber vielleicht ist er bei seiner Freundin. So ein junges blondes Ding, arbeitet bei Føtex in Sønderborg an der Kasse. Ich glaube, sie heißt Lissi.«
Vibeke notierte sich den Namen.
»Hatte Ricky Kontakt zu den Dahlmanns?«, erkundigte sich Rasmus.
»In dem Fall hätte er es mir besser nicht erzählt.« Der Alte verzog missbilligend den Mund. »Ich hoffe für Ricky, dass er nicht wieder etwas angestellt hat, ansonsten fliegt er hier hochkant raus.« So wie er es sagte, handelte es sich kaum um eine leere Drohung.
»Könnte deine Frau wissen, wo Ricky sich aufhält?« Rasmus blickte zum Flur. »Ist sie da?«
»Agnete ist im Historiecenter.«
»In Sønderborg?«
Der Alte nickte.
Rasmus ging näher zu ihm an den Tisch heran und deutete auf die zerlegte Langwaffe. »Was ist das für eine?«
»Eine Dornbüchse. 1948. Achtzehntausend Stück wurden davon angefertigt.«
Ihr Kollege stieß einen anerkennenden Pfiff aus. »Und die anderen?«
Eldar Moberg ließ die beiden Gegenstände in seinen Händen auf die Tischplatte gleiten und erhob sich. Der Filz am Filzadapter war verschmutzt. War mit der Waffe kürzlich geschossen worden?
Die beiden Männer gingen zum Waffenschrank. Dabei registrierte Vibeke, dass sie nahezu gleich groß waren.
Eldar Moberg deutete nacheinander auf die unterschiedlichen Langwaffen, nannte Namen und Baujahr und erzählte etwas über die jeweilige Beschaffenheit. Dabei leuchteten seine Augen vor Begeisterung. Unwillkürlich schauderte es Vibeke.
»Werden die Waffen noch benutzt?«, fragte Rasmus, der aufmerksam zugehört hatte.
»Hin und wieder«, erklärte Eldar Moberg mit dem Anflug von Stolz in der Stimme. »Wir spielen die Schlacht auf Dybbøl Banke nach.«
Vibeke hob die Brauen. Dybbøl Banke? Sie erinnerte sich daran, den Namen schon einmal gehört zu haben.
»Deutsch-Dänischer Krieg. 1864. Der Kampf um Schleswig.« Eldar Moberg warf ihr einen vernichtenden Blick zu. »Am 18. April haben die Preußen nicht nur an die tausendsechshundert Dänen massakriert, sondern uns auch einen Großteil unseres Landes geraubt.« Die letzten Worte spie er förmlich aus, so als hätte sie persönlich auf der Seite der Preußen gestanden.
Er wandte sich an Rasmus. »Hattest du nicht gesagt, dass ich euch gleich wieder los bin?« Er setzte sich zurück an den Tisch. »Ich will die da nicht länger in meinem Haus haben.« Er wies mit dem Kopf zu Vibeke.
Einen Moment blieb es völlig still im Raum.
Rasmus räusperte sich. »Der Krieg ist vorbei, Eldar.« Er massierte seine Handknöchel. »Wir sind gleich weg. Versprochen. Aber vorher würden wir gerne noch einen Blick in Rickys Zimmer werfen.«
Vibeke rechnete damit, dass Eldar ihm den Wunsch abschlagen würde, doch zu ihrer Überraschung brummte er: »Von mir aus. Es ist im Obergeschoss. Das letzte Zimmer rechts.« Dann fuhr er damit fort, den Lauf der Waffe mit einem neuen Stück Filz zu säubern.
Rasmus bedeutete Vibeke, ihm zu folgen.
»Der Typ ist mit Vorsicht zu genießen«, flüsterte sie, als sie die Treppe hinaufstiegen. »Hast du seinen Blick gesehen, als er dir die Waffen gezeigt hat?«
»Hunde, die bellen, beißen nicht.«
»Da wäre ich mir nicht so sicher«, raunte Vibeke. Sie lief hinter Rasmus den Gang entlang.
Rickys Zimmer lag im Halbdunkel, schmal geschnitten und mit Dachschräge, die Vorhänge bis auf einen Spalt zugezogen. Rasmus trat ans Fenster und schob sie beiseite. Fahles Tageslicht fiel herein.
Das aus Europaletten bestehende Bett war ungemacht, überall lagen verstreute Klamotten und Autozeitschriften herum. An den Wänden hingen mit Heftzwecken befestigte Plakate von Sportwagenrennen, auf der Fensterbank standen zwei leere Bierdosen und ein kleiner Keramikbehälter mit ausgespucktem Snus zwischen daumendickem Staub. Auch der Dielenboden war mit zahlreichen Wollmäusen übersät.
»Gemütlich.« Rasmus grinste.
Vibeke streifte sich Einweghandschuhe über, und ihr Kollege tat es ihr nach.
Systematisch durchforsteten sie den Kleiderschrank, blickten in Hosen- und Jackentaschen, zogen Schubladen heraus, fuhren mit ihren behandschuhten Händen Unterböden und Rückwände entlang, hoben die Matratze an und zogen sogar die Bettwäsche ab, ohne etwas zu finden, das ihr Interesse weckte. Ricky Ahlgren hatte nichts hinterlassen, was Aufschluss über einen Zusammenhang mit dem Doppelmord oder über seinen Aufenthaltsort gab.
Vibeke verharrte einen Moment reglos vor der geöffneten Schranktür. Es kam ihr so vor, als würden sie etwas übersehen.
»Ich glaube nicht, dass wir hier noch etwas finden«, sagte Rasmus. »Wenn überhaupt etwas da war, dann hat Ricky es mit Sicherheit längst weggeschafft. Spätestens nachdem wir in der Werkstatt waren.«
Vibeke nickte. Der Gedanke, den sie nicht zu fassen bekam, löste sich auf. Sie schloss die Schranktür und ging mit Rasmus zurück ins Untergeschoss. Eldar Moberg war noch immer mit der Säuberung seiner Waffe beschäftigt. Sie verließen das Haus.
Mittlerweile hatte es aufgehört zu schneien, doch die tief hängende Wolkendecke schluckte einen großen Teil des Tageslichts. Zudem war es schneidend kalt.
Rasmus zündete sich eine Zigarette an. »Dann fahren wir jetzt zu Føtex und anschließend zum Historiecenter.«
»Klingt gut. Irgendwo muss Ricky ja zu finden sein.«
»Vorausgesetzt, er hat nicht die Fliege gemacht«, erwiderte Rasmus und blies einen Rauchkringel in die Luft.
»Wenn weder diese Lissi noch Agnete wissen, wo Ricky steckt, schreiben wir ihn zur Fahndung aus.«
Einen Moment blickten sie beide schweigend zum Hof der Mobergs zurück. Die Vorhänge zu Rickys Zimmer waren wieder zugezogen, die Haustür geschlossen. Etwas Abweisendes und Düsteres umgab das Anwesen.
Vibeke fröstelte. »Lass uns los.«
Rasmus nahm noch einen letzten Zug von seiner Zigarette und trat den Stummel mit der Schuhsohle aus.
Stille schlug ihr entgegen, als Mirjam den Bungalow in Niendorf betrat. Es war ein merkwürdiges Gefühl, vollkommen allein im Haus ihrer toten Eltern zu stehen.
Auf den ersten Blick wirkte alles wie immer. Der blank polierte Marmorboden, die weißen Wände, das schlichte Mobiliar. In der abgestandenen Luft hing ein Hauch von Maiglöckchen, der Duft, der ihre Mutter umgeben hatte, seit Mirjam denken konnte. Auf dem Wohnzimmertisch stand noch eine Tasse mit eingetrockneten Kaffeeresten, daneben lag eine aufgeschlagene Zeitung.
Nichts erinnerte mehr an Weihnachten. Dort, wo vor rund anderthalb Wochen noch die geschmückte Nordmanntanne gestanden hatte, befand sich eine leere Fläche. Ihre Mutter hatte den Baum vermutlich wie jedes Jahr direkt am 27. aus dem Haus geschafft.
Als Nächstes registrierte Mirjam eine nicht vollständig zugeschobene Schublade, die Kissen, die normalerweise akkurat auf der Couch drapiert waren, lagen durcheinander, und die Bücher in den Regalen standen nicht wie sonst in Reih und Glied. Auch die Türen der Schrankwand waren offen. Dort, wo sonst die Aktenordner mit den privaten Unterlagen ihrer Eltern verstaut waren, herrschte gähnende Leere. Natürlich. Die Polizei hatte sie mitgenommen. Mirjam fragte sich, was sie finden würden.
Sie ging zu dem Tisch mit der Zeitung. Das Hamburger Abendblatt stammte vom Todestag ihrer Eltern. Sie berührte mit den Fingerspitzen die Lehne des Stuhls, auf dem ihr Vater zuletzt gesessen hatte. Ein elfenbeinfarbener Freischwinger aus Kunststoff, preisgekrönt für sein minimalistisches Design und schrecklich unbequem, wie sie an Heiligabend festgestellt hatte. Erinnerungen kamen in ihr hoch, und sie schob sie schnell beiseite. Es war vorbei. Jetzt mussten nur noch die Beerdigung und die finanziellen Dinge geregelt werden.
Gestern Morgen war sie zusammen mit Thomas bei Dr. Altmann in seiner Kanzlei gewesen. Laut dem Familienanwalt existierte ein Testament, in dem ihre Eltern sie und ihren Bruder als Erben benannt hatten, doch ehe es rechtskräftig wurde, befand es sich zur Prüfung beim Nachlassgericht. Das konnte einige Wochen in Anspruch nehmen. Vorausschauend hatte ihr Vater Vollmachten auf Mirjam ausstellen lassen, die sie befugten, Bank- und Notargeschäfte abzuwickeln und Entscheidungen im Namen des Unternehmens zu tätigen.
Thomas war aus allen Wolken gefallen, als er von der Verfügung seines Vaters betreffend Dahlmann Invest erfahren hatte, und es war in der Kanzlei zu hitzigen Wortgefechten zwischen ihnen gekommen. Mirjam hatte ihren Bruder anschließend um ein klärendes Gespräch gebeten, auch hinsichtlich darauf, wie sie mit dem Haus der Eltern verfahren wollten, doch Thomas hatte abgeblockt. Er sei zu aufgewühlt, um irgendwelche Entscheidungen zu treffen. Mirjam hatte das anstandslos akzeptiert, und sie hatten vereinbart, sich am Wochenende zusammenzusetzen, um alles in Ruhe zu besprechen. Bis dahin wollte sie sich einen Überblick über das Inventar im Bungalow und die Besitztümer ihrer Eltern verschaffen.
Mirjam war über die Verfügung ihres Vaters, was Dahlmann Invest betraf, nicht sonderlich überrascht. Er hatte schon im Vorfeld angekündigt, dass er seinem Sohn die Firma niemals überlassen würde, da er sie ohnehin nur an die Wand fuhr. Gerechtigkeit musste man sich verdienen, hatte er gesagt.
Sie ging ins Schlafzimmer. Auch hier spiegelten sich Einrichtungsstil und Farbkonzept des restlichen Hauses wider. Ein schlichtes Doppelbett, weiße Leinenbettwäsche, ein Einbauschrank mit Hochglanzfronten, der sich über eine komplette Wandlänge zog.
Zögernd blieb sie davor stehen. Es fühlte sich falsch an, in den Sachen ihrer Eltern zu wühlen. Sie atmete tief durch und öffnete eine der Türen. Beim Anblick der pastellfarbenen Blusen, die ihre Mutter so häufig getragen hatte und die jetzt zum Teil schief auf den Bügeln saßen, wurde ihr der Hals eng. Zwischen der Kleidung schien noch Luises Duft zu hängen.
Schnell schloss sie die Schranktür wieder und sank auf das nebenstehende Bett. Auf dem Nachttisch lag die Lesebrille ihrer Mutter auf einem Buch. Der Gesang der Flusskrebse von Delia Owens.
Mirjam griff danach und schlug die Stelle auf, an der ein Foto als Lesezeichen diente. Darauf war ein kleines, weiß gekalktes Haus mit Sprossenfenstern abgebildet.
Es war das Haus, das ihre Mutter vor ein paar Monaten auf Als gekauft hatte. Mit urigen Dachbalken, ausgetretenen Holzdielen, auf denen schon mehrere Generationen Kinderfüße gelaufen waren, Farbe, die von Türen und Fenstern blätterte, und vergilbte Tapetenschichten, hinter denen noch die Geheimnisse früherer Bewohner nisteten.
Das komplette Gegenteil des sterilen Bungalows, in dem Mirjam sich gerade befand. Hatte ihre Mutter sich deshalb nach diesem Ort gesehnt? Oder wollte sie einfach nur ihrer Ehe entfliehen?
Mirjam wurde plötzlich klar, wie wenig sie über ihre Mutter wusste. Sie klappte das Buch wieder zu und legte es beiseite, um es später mitzunehmen. Thomas würde sicher nichts dagegen haben. Ihr fiel auf, dass die Schublade des Nachttischs ein Stück offen stand. Vermutlich hatte die Polizei auch hier alles durchwühlt.
Sie zog die Schublade ein Stück weiter auf und sichtete den Inhalt. Ein paar Wohnzeitschriften, ein Notizbuch, in dem ihre Mutter einige Ideen für Raumgestaltungen festgehalten hatte, ein kleiner Kunststoffbehälter mit Ohropax, die Hülle ihrer Lesebrille, mehrere Päckchen Taschentücher sowie ein altes Deutschheft mit dem Mädchennamen ihrer Mutter.
Mirjam blätterte es flüchtig durch. An einem Gedicht von Rilke blieb sie hängen. Der Panther . Darunter waren ein paar Blümchen gemalt. Erneut spürte Mirjam die Enge in ihrem Hals. Auch ihre Schulhefte waren voll mit Kritzeleien gewesen. Blumen, Herzchen, Figuren oder einfach nur irgendwelche Muster, zumindest hatte es kaum eine Seite gegeben, die sie nicht mit ihrem Stift verziert hatte. Offensichtlich hatte sie das mit ihrer Mutter gemeinsam gehabt. Luise hatte nur selten von ihrer Kindheit erzählt, und Mirjam hatte auch nicht danach gefragt. Stattdessen hatte sie es immer als selbstverständlich hingenommen, dass ihre Mutter da war. Doch sollten sich Kinder nicht genauso für ihre Eltern interessieren wie umgekehrt?
Auch von der Kindheit ihres Vaters wusste sie wenig, sie hatten die Großeltern nur selten in Schleswig besucht. Meist an Geburtstagen und an Weihnachten. Sie hätte nachfragen sollen, vielleicht hätte sie erfahren, wie er zu dem Mann geworden war, der er gewesen war. Möglicherweise hätte sie dann sogar Verständnis gehabt, für seine Unnachgiebigkeit und seine Strenge, und ihr Leben wäre ganz anders verlaufen. Doch es gab Dinge, die ließen sich nicht nachholen. Mit dem Tod der Eltern war ihre eigene Kindheit unwiederbringlich vorbei. Jetzt gehörte sie zu der Generation, die als Nächstes starb.
Das Klingeln ihres Handys riss sie aus den Gedanken. Die Kanzlei. Sie nahm das Gespräch an. Es gab Probleme bei dem Asset Deal. Mirjam versprach zu kommen und erhob sich vom Bett. Dabei segelte das Deutschheft zu Boden, und ein alter Zeitungsartikel rutschte zwischen den Seiten heraus. »Der Eiswinter« lautete die Überschrift. Das Smartphone noch am Ohr, schob sie den Artikel achtlos zurück ins Heft, langte dann nach dem Buch und eilte zusammen mit beiden Dingen aus dem Haus.
Der Asset Deal durfte unter keinen Umständen platzen.
Das Historiecenter Dybbøl Banke lag am westlichen Stadtrand von Sønderborg auf dem südjütländischen Festland, direkt am Originalschauplatz, wo einst Dänen und Preußen zusammen mit dem Kaisertum Österreich um das Herzogtum Schleswig gekämpft hatten. Museumsgebäude und Außenanlagen waren einer großen Schanze nachempfunden, und soweit Rasmus wusste, beinhalteten sie neben einem Soldatendorf auch Gräben, Palisaden, Geschütze und Gerät.
Anton hatte ihm nach einem Schulausflug vor einigen Jahren davon erzählt. Ein historischer Ort, der nicht nur eines der wichtigsten Ereignisse in der dänischen Geschichte dokumentierte, sondern auch das Selbstverständnis ihres Landes und ihr Verhältnis zu Deutschland und Europa bis heute prägte.
»Dybbøl Banke wurde 2008 zur Sehenswürdigkeit von nationalem Interesse gekürt«, sagte Rasmus, wäh rend Vibeke das Auto die schneebedeckte Hügelkette hinauflenkte.
Zuvor waren sie beim Føtex gewesen und hatten mit Lissi Malmberg, Ricky Ahlgrens Freundin und mittlerweile Ex-Freundin, gesprochen, doch das hätten sie sich sparen können. Die beiden waren schon seit einigen Wochen kein Paar mehr, und die junge Frau wusste weder, ob ihr Ex-Freund Kontakt zu den Dahlmanns gehabt hatte, noch, wo er sich derzeit aufhielt.
»Ich bin beeindruckt, dass du sogar das Jahresdatum kennst«, gab Vibeke mit einem Lächeln zurück.
»Anton war mit der Schule dort und hat mir davon erzählt.«
Es hatte wieder zu schneien begonnen, und einen Moment war nur das Quietschen der Scheibenwischer zu hören.
»Ich hätte Anton gerne kennengelernt«, sagte Vibeke in die Stille hinein. »Er muss ein toller Junge gewesen sein.«
»Das war er«, bestätigte Rasmus. Kurz war er versucht, ihr von Theo, Antons bestem Freund, zu erzählen. Von ihrem zufälligen Zusammentreffen in Kopenhagen und dass es Theo gewesen war, der seinem Sohn die Drogen gegeben hatte. Doch das führte zu nichts. Es würde nur all die Dinge aufwühlen, die er zu vergessen versuchte.
Linker Hand erhob sich die weiß getünchte Dybbøl Mølle, eine 1744 gebaute Holländerwindmühle, die wegen ihrer strategischen Bedeutung in zwei Kriegen als dänisches Nationalsymbol galt.
Rasmus deutete aus dem Fenster. »Das ist Dybbøl Mølle. Sie wurde insgesamt viermal neu errichtet. Zweimal wurde sie im Krieg zerstört, zweimal ist sie abgebrannt. Heute ist dort ein Museum untergebracht.«
Auf der rechten Straßenseite kam das helle Betongebäude des Historiecenters in Sicht. Vibeke fuhr auf den angrenzenden Parkplatz, auf dem ein einzelner Reisebus stand.
Kurz darauf traten die beiden Kriminalbeamten in das lichtdurchflutete Foyer. Ein Kassentresen, ein kleiner Museumsshop und ein paar Sitzgelegenheiten.
»Das Geschichtszentrum ist während der Winterzeit nur auf Anmeldung für Gruppen geöffnet«, informierte sie eine ältere Grauhaarige hinter dem Kassentresen, noch ehe sich die Tür hinter ihnen geschlossen hatte.
»Bist du Agnete?« Rasmus zeigte ihr seinen Dienstausweis.
»Nein. Ich bin Bodil.« Ihr neugieriger Blick inspizierte Vibeke und ihn. »Agnete ist draußen mit einer Besuchergruppe.« Sie griff nach einem Flyer und legte ihn auf den Tresen. Es war ein Lageplan vom Historiecenter.
Bodil tippte mit dem Finger auf einen roten Kreis. »Ihr müsstet Agnete bei der Schmiede finden. Und wenn sie dort nicht mehr ist, versucht ihr es bei der Festungskanone.« Ihre Hand wies zur Treppe, die ins Untergeschoss führte. »Geht einfach dort hinunter und dann geradeaus durch die Tür.«
»Danke.« Rasmus deutete auf den Flyer. »Dürfen wir den mitnehmen?«
Bodil nickte.
Rasmus langte nach dem Plan, warf einen kurzen Blick darauf und schob ihn in seine Jackentasche.
Draußen schneite es mittlerweile dicke Flocken. Sie nahmen die Treppe und gingen ins Freie. Verschiedene Holzbaracken bildeten das Soldatendorf. Dahinter war die Front mit großen Teilen einer Schanze samt Wall und Graben, mehreren Kanonenstellungen, Pulvermagazinen, einem Blockhaus und einer Zugbrücke als Eingang dargestellt.
An der Schmiede trafen sie auf eine Gruppe Schüler im Alter von etwa dreizehn oder vierzehn Jahren, die sich in der Reihe angestellt hatten, um Gewehrkugeln zu gießen.
Neben dem Schmied stand eine kleine dralle Frau in dunklem Rock und Wolljacke und instruierte die Schüler. Sie war etwa Mitte siebzig und hatte ein warmherziges Lächeln. Ihr Haar war unter einer Mütze versteckt, um ihre Schultern war ein graues Fransentuch drapiert.
»Agnete Moberg?«, sprach Rasmus sie an.
»Ja?« Das Gesicht der Frau war vor Kälte gerötet.
»Wir sind von der Polizei und ermitteln im Fall Dahlmann«, er zeigte ihr diskret seinen Dienstausweis, »können wir uns vielleicht irgendwo in Ruhe unterhalten?«
Agnete Moberg nickte. »Einen Moment. Ich muss nur rasch eine Kollegin holen, die mich so lange vertritt.« Sie eilte in den schräg gegenüberliegenden Küchenschuppen.
Rasmus sah zur Schmiede, wo gerade ein hoch aufgeschossener Blondschopf an der Reihe war, eine Gewehrkugel zu gießen. Er erinnerte ihn an Anton, und für einen kurzen Moment wurde ihm schwer ums Herz.
Agnete Moberg kam mit einer jüngeren Frau in Rock und Schürze zurück, die sich zu den Schülern gesellte.
»Am besten, wir gehen ins Warme.« Agnete führte die beiden Kriminalbeamten zu einem kleinen Kinosaal im Hauptgebäude. »Während des Regelbetriebs werden hier Filme über den Krieg auf der Dybbøl Banke gezeigt«, erklärte sie. »Aber bitte, setzt euch doch. Möchtet ihr einen Kaffee?«
Rasmus wollte gerade zustimmen, doch Vibeke winkte ab.
»Danke, nein.« Sie nahmen auf den Kinostühlen Platz.
»Also, ihr seid wegen Luise und Konrad da?« Agnete Mobergs Gesicht nahm einen bekümmerten Ausdruck an. »Es ist schrecklich, was diesen armen Leuten zugestoßen ist, und das keine fünfhundert Meter von unserem Haus entfernt.« Sie zog sich die Mütze vom Kopf, und kurze graue Haare kamen zum Vorschein. Sie ordnete sie mit ein paar Handgriffen. »Eldar und ich waren zwar den ganzen Tag zu Hause, aber wir haben überhaupt nichts mitbekommen. Das habe ich auch schon eurem Kollegen erzählt, der vor ein paar Tagen da war. Søren hieß er, glaube ich.«
»Das wissen wir natürlich«, bestätigte Rasmus. »Eigentlich sind wir auch auf der Suche nach Ricky.«
»Ricky?« Ihre Augen weiteten sich kaum merklich. »Was sollte er denn damit zu tun haben?«
»Dazu können wir im Moment leider nichts sa gen«, hielt sich Rasmus bedeckt. »Weißt du, wo er sich zurzeit aufhält?«
»Nein.« Zur Untermauerung ihrer Worte schüttelte sie den Kopf. »Ricky erzählte nur, dass er einen Job zu erledigen hätte.«
Rasmus tauschte einen Blick mit Vibeke. »Wann war das?«
»Gestern Abend. Ich habe Ricky ein paar Kekse gebracht, da war er gerade dabei, seine Tasche zu packen.«
»Und wann ist er los? Gestern Abend noch?«
»Das kann ich nicht sagen, ich bin früh ins Bett gegangen. Heute Morgen war er jedenfalls schon aus dem Haus.« Agnetes Blick wurde unsicher. »Ihr glaubt doch nicht, dass er die Dahlmanns umgebracht hat, oder? Nur weil er früher Autos geklaut hat?« Ihre Stimme schraubte sich eine Oktave höher. »Mein Ricky ist kein Mörder.«
»Was wir glauben, spielt keine Rolle«, ergriff erstmals Vibeke das Wort. »Doch Rickys Name ist im Zusammenhang mit unseren Ermittlungen aufgetaucht, und niemand kann uns sagen, wo er sich aufhält. Um den Sachverhalt zu klären, müssen wir dringend mit ihm sprechen.«
»Ich kann ihn anrufen«, bot Agnete hilfsbereit an.
»Bitte mach das.«
Die alte Frau zog ein lilafarbenes Smartphone hervor und tippte erst umständlich auf dem Display herum, ehe sie es sich ans Ohr hielt und lauschte.
»Nur die Mailbox«, sagte sie und hinterließ ihrem Enkel eine Nachricht, in der sie ihn um Rückruf bat.
»Ist Konrad Dahlmann eigentlich an euch heran getreten, um euren Hof zu kaufen?«, erkundigte sich Rasmus.
»Du meinst, wie bei Tinne?«
Er nickte.
»Davon weiß ich nichts. Da müsste ich meinen Mann fragen.«
Rasmus erinnerte sich an Eldars Äußerung bei ihrem ersten Gespräch, als es darum ging, dass sich die Deutschen auf Als einnisteten. »Dein Mann sagte, er würde sich eher eine Kugel in den Kopf jagen, als einem Deutschen seinen Hof zu verkaufen.«
Ein müdes Lächeln streifte Agnetes Lippen. »Er meint es nicht so.« In der nächsten Sekunde wurde ihr Gesicht ernst. »Ihr müsst wissen, dass Eldar es nicht einfach hatte. Seine Familie lebte früher über mehrere Generationen in Südschleswig, zu einer Zeit, als es noch zur dänischen Monarchie gehörte. Sein Urgroßvater ist 1864 bei Düppel gefallen. Nach dem Krieg wanderte die Hälfte der Südschleswiger nach Dänemark aus. Eldars Familie blieb. Es war ihre Heimat. Sie gehörten dann der dänischen Minderheit an.« Sie fuhr sich mit der Hand durch die Haare. »Das blieb auch nach der Volksabstimmung und der neuen Grenzziehung so. Jeder in der Familie fühlte sich als Däne, auch wenn sie Ausweispapiere vom Deutschen Reich besaßen.« Sie nestelte an den Knöpfen ihrer Wolljacke herum. »Dann wurde Eldars Vater Alfred 1939 nach Kriegsausbruch von der Wehrmacht eingezogen und musste am Angriffskrieg der Deutschen teilnehmen. Es interessierte niemanden, dass er sich als Däne fühlte. Alfred wurde quasi in die deutsche Uniform gezwungen.« Sie stockte einen Moment, ehe sie mit leiser Stimme weitersprach. »Er geriet in russische Gefangenschaft und kehrte erst 1949 schwer traumatisiert zurück. Seine Frau war nach dem Krieg mit Eldar zu ihrer Familie nach Dänemark gezogen. Sie stammte aus Sarup.« Agnete machte eine bedeutungsvolle Pause. »Ein Jahr später erhängte sich Alfred dort auf dem Dachboden. Eldar hat seinen Vater gefunden. Da war er gerade zehn.«
Bleierne Stille breitete sich aus.
Das erklärt einiges, dachte Rasmus. Mitgefühl für den Zehnjährigen kam in ihm hoch. Kein Wunder, dass er die Deutschen hasste. Doch war sein Hass so weit gegangen, dass er deshalb zwei Menschen getötet hatte? Und wenn ja, warum ausgerechnet diese Deutschen? Eldars Familie war schon einmal das Zuhause von den Deutschen weggenommen worden, fiel es ihm ein. Was, wenn er befürchtet hatte, es würde ein weiteres Mal passieren?
Rasmus räusperte sich. »Konrad Dahlmann plante den Bau von Ferienhäusern und einem Hotel auf Als. Genauer gesagt an der Küste von Sarup. Für die Umsetzung brauchte er euer Grundstück. Zumindest für die Zufahrt.«
Um Agnetes Mundwinkel zuckte es. »Ich weiß nicht, was du damit andeuten willst«, erklärte sie mit gepresster Stimme, »aber das wusste ich nicht. Und Eldar hätte mir davon erzählt.« Sie stand auf. »Ich muss mich wieder um meine Besuchergruppe kümmern. Wenn Ricky anruft, richte ich ihm aus, dass er sich bei euch melden soll.« Sie deutete mit der Hand zum Ausgang des Kinosaals.
Rasmus und Vibeke erhoben sich.
Wenige Minuten später standen sie auf dem Hügel auf der anderen Straßenseite, umgeben von schneebedeckten Grünflächen, Überresten der preußischen Befestigungen, Denkmälern und Grabsteinen für die Gefallenen des Krieges 1864, und blickten über das Meer und die Bucht von Sønderborg. Zuvor hatten sie Ricky Ahlgren zur Fahndung ausschreiben lassen.
Rasmus’ Gedanken glitten für einen Moment zu Maja. Vielleicht sollte er sie anrufen. Sie einfach fragen, was sie über letzte Nacht dachte.
»Eine herrliche Aussicht«, sagte Vibeke neben ihm.
Er blendete seine Gedanken an Maja aus.
»Hier auf Düppel hat damals alles gebrannt«, erzählte Rasmus. »Um vier Uhr morgens haben die Preußen angegriffen. Sechs Stunden Artilleriefeuer. Danach folgten die Sturmtruppen. Insgesamt vierzigtausend Mann. Ihnen gegenüber standen fünftausend Dänen. Die dänische Reserve von sechstausend Mann war nicht rechtzeitig alarmiert worden. Es war das reinste Massaker.«
»Das muss schrecklich gewesen sein.«
Rasmus nickte. »Du kannst es von hier aus nicht sehen, aber dort unten am Wasser führt der Gendarmenpfad entlang.« Er deutete mit der Hand in Richtung Ufer. »Zumindest das, was die Sturmflut davon übrig gelassen hat.«
Vibeke zog die Kapuze ihres Winterparkas ein wenig enger und folgte seinem Blick. Am Horizont nahm bereits das Tageslicht ab.
»Werner hat immer davon gesprochen, den Gen darmenpfad entlangzuwandern, wenn er in Rente ist.« Sie wandte Rasmus ihr Gesicht zu.
»Wie geht es Werner?«
»Er langweilt sich.« Vibeke lächelte spröde. »Zumindest wenn Elke ihn nicht gerade mit ihrem Aktionismus in den Wahnsinn treibt. Sie hat ihm zu Weihnachten einen Kochkurs geschenkt.«
»Klingt nicht so, als würde ihm das gefallen.«
»Er sucht nach einer Ausrede, wie er aus der Nummer rauskommt.«
Sie lächelten sich an, und da war es wieder, das unsichtbare Band zwischen ihnen.
»Vielleicht sollte er Elke einfach die Wahrheit sagen.«
Vibeke hob die Achseln. »Werner will sie wohl nicht verletzen.«
»Ich rufe ihn mal an«, sagte Rasmus und dachte daran, wie er letzten Herbst gemeinsam mit Werner im Rahmen eines Cold Case ermittelt hatte. Sie hatten sofort einen Draht zueinander gehabt, und er hatte Lust dazu, sich mal wieder mit ihm auszutauschen. Ob Werner davon wusste, dass Vibekes leibliche Mutter gestorben war?
Am liebsten würde er sie noch einmal auf das Thema ansprechen, doch sie arbeiteten jetzt schon eine ganze Weile zusammen, und ihm war klar, wann er besser die Klappe hielt. Trotzdem konnte er nicht aus seiner Haut. In seinen Augen war Vibeke dabei, einen fatalen Fehler zu begehen. Er legte sich im Kopf die passenden Worte zurecht.
»Lass uns losfahren«, sagte Vibeke. »Es wird bald dunkel.« Sie machte auf dem Absatz kehrt und steuerte mit schnellen Schritten in Richtung Parkplatz.
Nicht zum ersten Mal fragte er sich, ob Vibeke seine Gedanken lesen konnte, zumindest hatte es gerade den Anschein, als wäre sie auf der Flucht.
Er eilte an ihre Seite.
»Wir sollten Eldar Moberg auf jeden Fall im Auge behalten«, sagte Vibeke, während sie die Straße überquerte.
»Du denkst, er hat mit den Morden zu tun?«
»Wir sollten es zumindest nicht ausschließen. Sein Hass gibt mir jedenfalls zu denken.«
Dem konnte Rasmus nur beipflichten. Dabei fiel ihm ein, was er noch ein paar Stunden zuvor über Eldar Moberg gesagt hatte. Hunde, die bellen, beißen nicht. Nach dem Gespräch mit Agnete war er sich da nicht mehr ganz so sicher.
Sie erreichten den Parkplatz und stiegen ins Auto.
»Außerdem wird es Zeit, dass wir mit Tinne Nygaard sprechen«, schob Vibeke hinterher. »Sie lebt doch in einer Seniorenresidenz in Sønderborg, oder?«
»So habe ich es zumindest verstanden.«
Seine Kollegin zog ihr Handy aus der Jackentasche. »Ich frage Pernille nach der Adresse.« Während sie telefonierte, ging Rasmus’ Blick zum Seitenfenster.
Gerade öffnete sich die Tür des Historiecenters, und die Schulklasse kam heraus. Automatisch suchten seine Augen nach dem Jungen, der Anton ähnelte. Er fand ihn nicht.
»Wollen wir?« Vibeke hatte ihr Telefongespräch beendet und musterte ihn von der Seite.
Er fühlte sich ertappt. »Jep.«
Sie startete den Motor.
Ob er jemals damit aufhören würde, in fremden Gesichtern nach seinem Sohn zu suchen?
Jeppe verteilte einen Klecks der Waschpaste zwischen den Händen und begann damit, Finger, Handflächen und Zwischenräume gründlich unter dem warmen Wasserstrahl zu säubern.
Die letzten neun Stunden hatte er nahezu durchgängig geschuftet. Der erste Schnee des Jahres hatte auf den Straßen der Insel für einige Unfälle gesorgt, doch zum Glück handelte es sich bislang ausschließlich um Blechschäden.
Linne Mensing war beim Abbiegen in ein geparktes Auto gerutscht, ein Mann aus Mommark mit seinem Kombi in der Kurve vor Sarup ins Schleudern gekommen und gegen das Ortsschild geprallt, und der alte Sven war mit einem Motorschaden in Lysabild liegen geblieben. Jeppe hatte hinfahren müssen, um seinen Kleinwagen abzuschleppen. Das hatte ihn jede Menge Zeit gekostet, und sein Alter war natürlich nicht auf die Idee gekommen, in der Werkstatt mit anzupacken.
Doch zumindest hatte ihm der Abschleppservice ein paar Kronen extra beschert, und auch Linne hatte sich dafür erkenntlich gezeigt, dass er die Stoßstange ihres Autos gerichtet hatte, ehe ihr Mann Wind davon bekam.
Jeppe war für seine Diskretion bekannt. Er stellte keine Fragen, woher ein Schaden stammte, dafür wanderte die eine oder andere Krone in seine Tasche, mit der er sein spärliches Gehalt aufbesserte. Eine Win-win-Situation für alle Beteiligten.
Jeppe beäugte seine Hände. Öl und Dreck saßen noch immer hartnäckig unter den Rändern seiner Fingernägel. Er langte nach der Handbürste, schmierte zentimeterdick Waschpaste auf die Borsten und bearbeitete damit seine Nägel. Dies war eindeutig der Teil seines Jobs, der ihn mit am meisten nervte. Egal wie sehr man schrubbte, etwas Dreck blieb haften. Dazu wurden seine Hände immer rauer und rissiger.
Auf dem Spülkasten der Toilette klingelte sein Handy, und Rickys Name erschein auf dem Display.
Schnell griff Jeppe nach dem Handtuch und trocknete sich damit notdürftig die Hände ab, ehe er nach dem Smartphone langte. Fast wäre es ihm durch die feuchten Finger direkt in den offenen Tiefspüler gerutscht, doch im letzten Moment bekam er es zu packen.
Er nahm das Gespräch hastig an, während er den Toilettendeckel nach unten klappte und sich daraufsetzte.
»Mensch, Ricky«, schnauzte er los, ehe sein Kumpel zu Wort kam. »Ich hab dich zigmal angerufen. Wo steckst du?«
In der Leitung rauschte es. Kurz darauf ertönte Rickys Stimme. »Reg dich ab, Alter. Ich hatte etwas zu erledigen. Was ist denn jetzt so dringend?«
Angesichts seiner Gleichgültigkeit schoss augenblicklich Jeppes Puls in die Höhe. »Ich soll mich abregen? Weißt du eigentlich, was hier los ist? Die Bullen waren heute schon wieder in der Werkstatt. Sie suchen dich.« Er knirschte mit den Zähnen. »Ich hoffe, du bist nicht gerade dabei, Dahlmanns Karre an die Polen zu verticken. Das ist verdammt noch mal heiße Ware. Wenn die Bullen dich dabei schnappen, machen die ein Riesenfass auf. Und ich hänge dann mit drin.«
»Das tust du sowieso«, ertönte Rickys Stimme zwischen erneutem Rauschen. Wo zum Teufel steckte er?
Als Nächstes drang leises Lachen an Jeppes Ohr. »Du hältst mich echt für vollkommen bescheuert, oder? Aber ich kann dich beruhigen. Es ist alles in bester Ordnung.« Er klang vergnügt. »Ich habe eine bessere Geldquelle aufgetan.«
»Wovon redest du, verdammt?«
Am anderen Ende der Leitung wurde irgendwo eine Tür zugeschlagen.
»Besser, du weißt nichts davon.«
Bei Jeppe klingelten augenblicklich die Alarmglocken. Er hasste es, wenn sein Freund in Rätseln sprach. Das war nie ein gutes Zeichen. »Hauptsache, du brennst nicht mit der Kohle durch.«
Sein Kumpel lachte erneut, und Jeppes Blut geriet in Wallung. »Ich meine es ernst, Ricky. Wehe, du lässt mich hier mit der Scheiße sitzen.«
»Keine Sorge. Ich bin bald zurück.«
»Besser, du meldest dich bei den Bullen, ehe sie eine Fahndung nach dir einleiten.«
»Weshalb sollten sie?«, fragte Ricky selbstgefällig, und Jeppe wusste, auch ohne ihn zu sehen, dass dabei sein hängendes Augenlid zuckte. »Ich habe diese Leute nicht abgemurkst. Also gut, Alter. Ich muss los. See you.« Er legte auf.
Jeppe starrte auf das Smartphone in seiner Hand. Eine bessere Geldquelle? Was hatte Ricky damit gemeint? Hatte er Dahlmanns Luxusschlitten einfach an jemand anderen als an die Polen vertickt? Hatten die Bullen vielleicht Lunte gerochen und suchten deshalb nach seinem Kumpel?
Jeppe musste es unbedingt wissen. Schließlich hatte er Ricky für den Freitagnachmittag ein Alibi verschafft, während dieser das Haus der Dahlmanns ausspioniert hatte. Zumindest hatte sein Kumpel das behauptet. Was, wenn er gelogen hatte? Wenn Ricky die Dahlmanns erschlagen hatte? In dem Fall hätte Jeppe einen Mörder gedeckt.
Unsinn, dachte er gleich im nächsten Moment. Er kannte Ricky fast sein ganzes Leben. Sein Kumpel drehte zwar das eine oder andere krumme Ding, doch er war niemand, der Menschen umbrachte. Besser, er machte sich nicht länger verrückt. Vermutlich gab es für alles eine gute Erklärung.
Jeppe betrachtete seine Hände. Noch immer waren an zwei Fingern hauchfeine schwarze Ränder unter den Nägeln zu erkennen. Er stand auf, legte das Smartphone beiseite und stellte den Wasserhahn an.
Er hätte wetten können, dass Ricky Dahlmanns Schlitten vertickt hatte. In dem Fall könnte man ihnen zumindest den Diebstahl nicht mehr nachweisen. Die Sache wäre ein für alle Mal vom Tisch. Eine Welle der Erleichterung durchflutete Jeppe.
Im nächsten Moment fiel ihm Dahlmanns Visitenkarte ein, die bei ihnen im Müll gelegen hatte. Fluchend griff er zur Handbürste.
Tinne Nygaard thronte auf einem Ohrensessel mit floralem Muster, ein Kissen im Rücken und ein Kreuzworträtsel in der Hand, als die beiden Kriminalbeamten in ihr Apartment geführt wurden. Ihre silbergraue Perücke saß ein wenig schief auf dem Kopf, und ihr pflaumenfarbener Cardigan war falsch geknöpft.
Rasmus stellte sich und Vibeke vor. Sichtlich erfreut über den unerwarteten Besuch, erhob sich Tinne von ihrem Sessel und eilte flink zu einer kleinen Küchenzeile, nahm dort zwei zusätzliche Tassen aus dem Schrank und füllte sie am Couchtisch mit Tee. »Bitte, greift zu.« Sie deutete auf ein Schälchen mit Gebäck.
Das ließ Rasmus sich nicht zweimal sagen. Er langte nach einem Schokoladenkeks und hätte sich im nächsten Moment fast daran verschluckt. Das Gebäck war steinhart und nahezu ungenießbar. Schnell spülte er das abgebissene Stück mit einem Schluck lauwarmem Tee hinunter und legte den Rest auf die Untertasse.
»Tinne, du weißt, was bei den Dahlmanns passiert ist?«
Die alte Frau nickte bedächtig. »Agnete hat mich am Montag angerufen. Außerdem steht es überall in den Zeitungen.« Sie strich einen pflaumenfarbenen Fussel von ihrer dunkelgrauen Stoffhose. »Die beiden wurden also erschlagen?« Es klang nicht sonderlich betroffen.
»Das stimmt«, bestätigte Rasmus. »Kannst du uns etwas über die Dahlmanns erzählen? Hast du vielleicht irgendeine Vermutung, wer etwas gegen die beiden hatte?«
»Ich hatte etwas gegen sie«, entgegnete Tinne prompt.
Rasmus und Vibeke tauschten einen erstaunten Blick, der auch der alten Frau nicht verborgen blieb.
»Jetzt schaut nicht so entsetzt. Das wird man doch wohl sagen dürfen.« Empörung schwang in ihrer Stimme mit.
»Natürlich. Was war der Grund?«
Ein Schatten legte sich über Tinnes Gesicht. »Ich hatte nie vor, mein Haus zu verkaufen. Konrad hat mich da reingedrängt.« Sie verflocht ihre Finger miteinander und legte sie in den Schoß. Rasmus registrierte bläuliches Venengeflecht und zahlreiche Altersflecken auf ihren Handrücken. »Dabei fand ich die Dahlmanns zu Anfang noch sympathisch. Vor allem Luise. Sie hatte sich unsterblich in mein Haus und in seine Lage verliebt. Jemand im Ort hatte ihr wohl erzählt, dass es zu verkaufen sei, was natürlich vollkommener Humbug war, aber jedenfalls stand sie deshalb eines Tages vor meiner Tür.« Ihre Lippen kräuselten sich. »Luise war furchtbar enttäuscht, dass ich nicht verkaufen wollte, hat aber Verständnis gezeigt und mir ihre Karte dage lassen für den Fall, dass ich es mir irgendwann anders überlegen würde.«
Rasmus deutete ein leichtes Nicken an als Zeichen, dass er zuhörte. Neben ihm auf dem Sofa hielt Vibeke Stift und Notizbuch parat.
»Ein paar Wochen später kam dann Konrad«, fuhr Tinne fort. »Er war höflich und charmant. Ein Mann von Welt, dachte ich mir. Er erzählte mir, dass seine Frau von nichts anderem mehr redete als von meinem Haus, und ob ich es mir vielleicht nicht doch noch einmal überlegen wollte mit dem Verkauf. Schließlich läge es doch auch sehr abgeschieden.« Sie löste die Finger aus der Verschränkung, zupfte gedankenverloren an ihrer Perücke und rückte sie dabei noch ein Stück schiefer.
»Ich hatte Luise erzählt, dass ich mich hin und wieder ein wenig einsam fühlte, und Konrad hat das geschickt genutzt. Leider ist mir das erst später klar geworden.« Sie führte ihre Teetasse zum Mund, dabei zitterte ihre Hand. Das Gespräch schien sie aufzuwühlen, zumindest war Rasmus das Zittern zuvor nicht aufgefallen. »Konrad bot mir einen sehr fairen Preis für das Haus«, erzählte Tinne weiter, nachdem sie die Tasse wieder abgestellt hatte. »Er hatte einen Prospekt von der Seniorenresidenz dabei und schwärmte davon, was ein Leben hier zu bieten hätte. Geselligkeit, hervorragendes Essen, eine Bibliothek, ein großes kulturelles Angebot und bei Bedarf eine 24-Stunden-First-Class-Betreuung.« Sie lächelte müde. »›Mit Verlaub, Tinne‹, hat Konrad gesagt, ›klingt das nicht allemal besser, als vollkommen allein und auf Hilfe angewiesen in einem Haus mit feuchten Wänden zu wohnen?‹«
Unwillkürlich ließ Rasmus den Blick durch das Apartment schweifen, und er neigte dazu, dem Immobilieninvestor zuzustimmen. Der Raum war geschmackvoll eingerichtet, hatte einen hellen Boden in Holzoptik, cremefarbene Tapeten und einen Zweisitzer in einem ähnlichen Ton, dazu Kissen und Vorhänge in verschiedenen Blautönen und eine kleine Küchenzeile. Zwei geschlossene Türen führten zu Nebenzimmern. Fast alles im Raum schien nagelneu zu sein. Einzig der geblümte Ohrensessel und die antike Kommode, auf der eine Reihe gerahmter Familienfotos standen, wirkten wie die Reliquien einer vergangenen Zeit.
»Aber nichts kann einem das gewohnte Zuhause ersetzen«, flüsterte Tinne leise. Ihre Schultern sackten herab, und sie sah in ihrem Ohrensessel plötzlich winzig und verloren aus. Ihr Blick ging zu einem Schwarz-Weiß-Foto, auf dem sie als junge Frau mit einem blonden Wonneproppen auf dem Schoß auf einer Bank vor ihrem Haus abgebildet war.
»Ich habe meinen Sohn gebeten, den Kauf rückgängig zu machen, doch Konrad war plötzlich nicht mehr zu sprechen.« Tränen schwammen jetzt in Tinnes Augen. »Stattdessen bekam ich Post von seinem Anwalt.«
»Kannst du uns das Schreiben zeigen?«
»Jørgen hat es. Mein Sohn.«
»Was war mit Luise Dahlmann?«, fragte Vibeke, die sich bislang im Hintergrund gehalten hatte.
»Sie ignorierte meine Anrufe.« Die alte Frau schüttelte den Kopf, so als könnte sie es noch immer nicht fassen. »Ich dachte immer, Konrad hätte ihr das Haus geschenkt, doch die Überweisung für den Kaufpreis kam von Luise. Als sie dann nicht auf meine Anrufe reagierte, fühlte es sich an, als hätte sie mich reingelegt.«
Rasmus bemerkte, dass Vibeke ihn ansah und dabei leicht die Brauen hob. Sie hatten sowohl den Kaufvertrag des Hauses als auch den Grundbucheintrag überprüft und wussten, dass Luise Dahlmann die Besitzerin gewesen war, doch bei Tinnes Worten kam ihm der Gedanke, dass sie der toten Luise Dahlmann bislang zu wenig Augenmerk geschenkt hatten. Sie hatten sich bei ihren Ermittlungen hauptsächlich auf den Immobilieninvestor konzentriert. Dabei hieß es doch immer, stille Wasser seien tief. Hatte am Ende die freundliche und umgängliche Luise etwas zu verbergen gehabt, das zu dem Doppelmord geführt hatte?
Er wechselte das Thema. »Wie gut kennst du eigentlich Ricky Ahlgren?«
Tinne kräuselte die Lippen. »Ich kenne ihn, seit er ein kleiner Junge war, trotzdem löst seine Gegenwart immer ein unangenehmes Gefühl bei mir aus.«
Rasmus sah sie interessiert an. »Gibt es dafür einen bestimmten Grund?«
»Es ist mehr intuitiv«, erklärte sie zurückhaltend. Die Tränen in ihren Augen waren verschwunden. »Weshalb fragt ihr nach Ricky?«
»Es gibt Hinweise darauf, dass er am Tatort gewesen ist«, erklärte Rasmus.
»Ach.« Tinne Nygaard legte die Stirn in Falten. Etwas schien in ihr vorzugehen. Sie blickte zum Fenster. Hinter den Scheiben war es bereits dunkel.
»War Ricky früher schon mal bei dir im Haus?«
Das Gesicht unter der silbergrauen Perücke nahm einen betrübten Ausdruck an. »Tja, da war vor ein paar Monaten diese Sache …«
Bjarne schreckte hoch aus dem Schlaf. Im ersten Moment war er vollkommen orientierungslos, doch gleich im nächsten stellte er erleichtert fest, dass er sich in seinem Bett befand. Neben ihm ertönten Johannes gleichmäßige Atemzüge.
Durch den Spalt der Vorhänge fiel das spärliche Licht der Straßenlaternen.
Er hatte schlecht geträumt. Von Schnee, der sich vor Türen und Fenster schob, von einem furchtlosen Sprung aus der Dachluke in einen Schlund aus kaltem Weiß. Schnee hatte sich um sein Gesicht gepresst und ihm die Atemwege versperrt, und das übermächtige Gefühl zu ersticken hatte sich wie ein eiserner Panzer um seine Brust gelegt. Er hatte in Todesangst nach Luft gerungen, mit Armen und Beinen gerudert, doch anstatt freizukommen, war er immer tiefer im Schnee versunken. Erst als seine Lunge kurz davor gewesen war zu kollabieren, war er schließlich keuchend aufgewacht.
Das Herz schlug ihm bis zum Hals, und Bjarne musste mehrfach tief durchatmen, ehe es wieder in den normalen Rhythmus kam. Mit zittrigen Beinen stand er schließlich auf, um sich in der Küche ein Glas Wasser zu holen.
Im Vorbeigehen warf er einen Blick durch die halb offen stehende Kinderzimmertür. Die Zwillinge schlummerten unter ihrer dunkelblauen Astronautenbettwäsche tief und fest. Die kleine rotierende Projektionslampe, die als Nachtlicht fungierte, zauberte einen Kosmos aus Mond und Sternen an die Zimmerdecke.
In der Küche angekommen, nahm Bjarne ein Glas aus dem Schrank und füllte es mit Leitungswasser. Während er trank, warf er einen Blick aus dem Fenster.
Dicke Flocken segelten vom nächtlichen Himmel herab, legten sich wie ein weißes Kleid über Dächer und Bürgersteige und führten ihn zu seinem Traum zurück. Er spürte wieder diese unsägliche Kälte. Tief verborgen in seinem Hinterkopf öffnete sich eine Schublade.
Im nächsten Moment umschlangen ihn von hinten zwei Arme. »Du zitterst ja«, flüsterte Johanne und liebkoste seinen Nacken.
Ein Schluchzen steckte in Bjarnes Kehle. Er drehte sich zu seiner Frau um, erwiderte ihre Umarmung, vergrub das Gesicht in ihren blonden Locken und atmete ihren vertrauten Duft ein.
»Ist alles in Ordnung?« Johanne strich ihm über den Kopf.
»Natürlich.« Seine Stimme war ungewohnt rau. »Ich habe nur schlecht geschlafen. Aber es geht schon wieder.«
Johanne küsste ihn.
»Lass uns ins Bett gehen« Sie griff nach seiner Hand. »Wir müssen beide morgen früh raus.«
Bjarne nickte und leerte sein Wasserglas.
Zurück im Schlafzimmer, zog er den Spalt zwischen den Vorhängen zu, sodass es komplett dunkel wurde. Dann schlüpfte er neben Johanne unter die Decke. Sie schmiegte sich eng an seinen Rücken, und schon im nächsten Augenblick wurden Johannes Atemzüge ruhiger.
Bjarne lag mit offenen Augen neben seiner schlafenden Frau, dachte an den Schnee und an die ermordeten Deutschen und an seine Mutter, die völlig allein in ihrem abgelegenen Haus am Meer schlief.
Aber ich habe doch meine Katzen, hatte Bjarne ihre Stimme im Ohr. Sie schien keinerlei Angst zu haben.
Er schloss die Augen, versuchte sämtliche vorherigen Gedanken aus seinem Kopf zu verdrängen, doch es dauerte noch bis in die frühen Morgenstunden, ehe er schließlich in einen kurzen, unruhigen Schlaf fiel.