6. Kapitel

Padborg, Dänemark

Um kurz nach sieben betrat Vibeke das Büro der Sondereinheit. Die Schreibtische ihrer Kollegen waren verwaist, gegen die Fenster drückte Dunkelheit. Frühestens in anderthalb Stunden würde es draußen hell werden. In der Nacht war ein halber Meter Neuschnee gefallen, und es schneite noch immer.

Vibeke zog ihren Parka aus, hängte ihn an die Garderobe und stellte ihren Computer an. Während die Programme hochfuhren, ging sie in die Küche, um Kaffee zuzubereiten.

Sie hatte eine unruhige Nacht hinter sich. Einer ihrer früheren Albträume war zurückgekehrt. Darin trug sie wieder das weiße Nachthemd, steif und rau aus juteähnlichem Stoff, und saß auf einem Stuhl. Den Kopf gesenkt, die Hände an den Lehnen fixiert, den Blick auf ihre nackten Füße gerichtet. In einer anderen Ecke des Raumes schrie eine Frau und riss sich büschelweise Haare aus …

Wie Hunderte Male zuvor hatte Vibeke im Traum langsam den Kopf gehoben und in der Erwartung, ihr älteres Ich zu sehen, in den gegenüberliegenden Spie gel geschaut. Doch stattdessen hatte sie in das aufgeschwemmte Antlitz einer Frau mit kurzen blonden Haaren geblickt. Solveigh.

Anschließend hatte Vibeke kein Auge mehr zugekriegt, sich stattdessen im Bett von links nach rechts gewälzt. Um halb sechs hatte sie es schließlich aufgegeben und war aufgestanden, seitdem steckte ihr die Müdigkeit wie Blei in den Knochen.

»Vibeke?« Pernilles Stimme drang wie durch Watte an ihre Ohren. »Meinst du nicht, dass langsam mal genügend Kaffee im Filter ist?«

Vibeke betrachtete irritiert den Papierfilter in ihrer Hand, wo sie das braune Pulver zu einem kleinen Berg aufgetürmt hatte. Ein Teil davon war bereits auf die Arbeitsplatte gerieselt. »Da war ich wohl mit den Gedanken woanders.« Sie beförderte den Großteil zurück in die Kaffeedose und wischte mit einem Lappen über die Arbeitsplatte.

»Das scheint mir auch so.« Pernille musterte sie mit ihren dunklen Augen. »Alles in Ordnung bei dir?«

»Ja, klar. Ist nur ein bisschen früh.« Vibeke zwang sich zu einem Lächeln. »Und bei dir? Schöner Ring.« Sie deutete auf das filigrane Schmuckstück mit dem Unendlichkeitszeichen an Pernilles Hand.

Ihre Kollegin errötete leicht. »Ich habe ihn von Hanne zu Weihnachten bekommen.«

»Von Hanne?«, fragte Vibeke überrascht. »Ich dachte, du datest online?«

»Das war auch so. Bis ich erfahren habe, dass hinter meinem Online-Date ausgerechnet Hanne steckte. Sie wollte zeigen, dass sie auch andere Seiten hat und dass es sich lohnt, wenn wir uns noch eine Chance ge ben. Und es hat funktioniert.« Pernilles Zahnlücke blitzte auf, als sie übers ganze Gesicht strahlte. »Ich habe mich ein zweites Mal in sie verliebt.«

»Das freut mich für dich.« Vibeke füllte Wasser in die Kaffeemaschine. »Ich fand es sehr schade, als ihr euch getrennt habt. Ich habe Hanne immer sehr gemocht.« Sie stellte die Maschine an, und kurz darauf lief der Kaffee durch.

»Wir hatten eine schwierige Zeit. Hanne wollte unbedingt ein Kind und ich nicht. Unsere Lebensmodelle passten einfach nicht zusammen. Deshalb haben wir uns getrennt.«

Vibeke nickte verständnisvoll. Auch sie wollte keine Kinder, machte das jedoch nie zum Thema. Noch immer herrschte bei vielen Menschen Unverständnis, wenn eine Frau keine Mutter werden wollte, und sie hatte weder Lust, sich zu rechtfertigen, noch dumme Sprüche zu ertragen. »Und jetzt habt ihr euch geeinigt?«

»Hanne macht mir keinen Druck mehr. Sie sagt, sie würde im Zweifelsfall lieber auf ein Kind verzichten als auf mich.«

»Dann liebt sie dich sehr.«

Pernille lächelte. »Ich gehe noch schnell zur Toilette. Bis gleich.« Sie verließ die Küche.

Der Kaffee war durchgelaufen, und Vibeke füllte die dampfende Flüssigkeit in die Warmhaltekanne. Im Flur traf sie mit Luís zusammen. »Hej, du bist auch schon hier.«

»Morgen, Vibeke. Die Kfz-Fahndung hat mich um Unterstützung gebeten. Dauert aber nicht lange.«

»Apropos, gibt es etwas Neues zum Verbleib von Ricky Ahlgren?«, fragte Vibeke. Nach dem Besuch bei Tinne Nygaard in Sønderborg war sie nicht mehr ins GZ fahren, sondern in die Polizeidirektion zu einem Termin mit ihrem Vorgesetzten. Immer mehr Medien berichteten über den Doppelmord, und Kriminalrat Petersen hatte sich persönlich auf den neuesten Ermittlungsstand bringen wollen.

Luís schüttelte den Kopf. »Er hat jedenfalls nicht mit seinem Auto das Land verlassen. Zumindest wurde es nicht von den Kennzeichenscannern erfasst.«

»Was ist mit der Handyortung?«

»Sein Handy hat sich zuletzt gestern Nachmittag im Sendemast von Lsyabild eingeloggt.«

Vibeke runzelte die Stirn. »Dann war er zu dem Zeitpunkt also in der Gegend. Wen hat er angerufen?«

»Jeppe Olsen. Das Gespräch dauerte exakt eine Minute und zwei Sekunden.«

»Ich wüsste zu gerne, was die besprochen haben. Da fällt mir gerade ein … Bist du mit den Telefonlisten fertig geworden?«

»Jep. Keine Auffälligkeiten. Nur auf eine Sache bin ich dabei gestoßen. Eine der Nummern, die Konrad Dahlmann angerufen hat, gehört Troels Jacobsen. Er ist bei der Kommune Sønderborg bei der Küstendirektion beschäftigt und bearbeitet die Anträge zur Befreiung von der Strandschutzlinie.«

»Ach.«

»Ich habe gestern mit ihm telefoniert.« Luís klopfte mit den Händen auf die Reifen seines Rollstuhls. »Konrad Dahlmann hat sich bei ihm erkundigt, welche Möglichkeiten es gibt, von den Regeln für die Küstenzone abzuweichen und eine Ausnahmegenehmi gung von den Bestimmungen für die Strandschutzlinie zu bekommen.«

»Was hat Troels Jacobsen ihm geantwortet?«, fragte Vibeke interessiert.

»Dass es vom Standort und vom jeweiligen Bauprojekt abhängig ist. Wenn sein Strategieplan vorsieht, den Küsten- und Naturtourismus auf Als anzukurbeln, sei die Kommune dafür durchaus aufgeschlossen. Er verwies dabei auf das Nordborg Resort, das nächstes Frühjahr im Norden der Insel seine Pforten öffnet. Er hat Dahlmann geraten, sich mit den Projektentwicklern und der Kommune zu vernetzen.«

»Hat Konrad Dahlmann etwas davon erwähnt, was er in Sarup plante?«

»Nein, laut Troels Jacobsen war das Gespräch allgemein gehalten«, erwiderte Luís. »Allerdings wollte sich Dahlmann im neuen Jahr wieder bei ihm melden. Was er dann aber nicht mehr konnte.«

»Offenbar meinte Dahlmann es wirklich ernst mit seinem Inselprojekt«, sagte Vibeke. »Hast du in den Telefonlisten irgendeinen Hinweis auf ›D. A.‹ gefunden?«

Luís lächelte verschmitzt. »Dann hätte ich dir längst Bescheid gegeben. Ich habe übrigens mit der IT geredet. Sie haben versprochen, die Daten von den sichergestellten Geräten schnellstmöglich auszuwerten.« Es war ein wiederkehrendes Problem. Bei fast allen Ermittlungen wurden Handys, Computer, Laptops und Tablets mit mehreren Gigabyte an Daten sichergestellt. Die Kollegen von der IT-Forensik waren mit ihren Auswertungen mehrere Monate im Rückstand. Dabei stieg das Datenvolumen Tag für Tag weiter an.

»Danke, Luís.« Sie hielt die Kanne hoch. »Möchtest du einen Kaffee?«

Luís grinste. »Den hole ich mir bei den Kollegen.«

»Dann sehen wir uns später.« Vibeke kehrte zurück ins Büro der Sondereinheit, schenkte sich dort etwas aus der Kanne in einen Becher ein und setzte sich hinter ihren Schreibtisch.

Ihr ging durch den Kopf, was Tinne Nygaard ihnen gestern am Ende des Gesprächs über ihren verschwundenen Schmuck erzählt hatte. Ein paar Wochen bevor sie aus ihrem Haus ausgezogen war, hatte sie das Fehlen eines Medaillons bemerkt und gedacht, sie hätte es verlegt. Doch dann hatte sie festgestellt, dass noch weitere Teile verschwunden waren. Eine Armbanduhr, zwei Goldketten sowie drei Ringe. Alles kostbare Erbstücke. Da es keine Einbruchspuren gegeben hatte, hatte Tinne schnell ihre Reinigungshilfe in Verdacht gehabt und sie zur Rede gestellt. Diese war daraufhin beleidigt abgerauscht und nicht wieder aufgetaucht. Das hatte Tinne in ihrer Annahme bestätigt, dass sie die Diebin war. Doch jetzt, wo sie wusste, dass Ricky in ihrem Haus gewesen war, erschien ihr die Angelegenheit in einem neuen Licht. Schon als Teenager war der Enkel ihrer Nachbarn dabei erwischt worden, wie er nachts in die Sommerhäuser eingestiegen war. War er also zu einem früheren Zeitpunkt in Tinnes Haus gewesen und hatte ihren Schmuck gestohlen und dabei eine Spur hinterlassen? Oder hatte er dort Luise und Konrad Dahlmann mit dem Hammer erschlagen?

Im Flur wurden Stimmen laut und rissen sie aus ihren Gedanken. Kurz darauf kam Søren, gefolgt von Jens, Rasmus und Pernille, herein.

»Das ist vielleicht ein Kühlschrank da draußen.« Jens nahm die Brille ab, die vor Kälte beschlagen war, und zog ein Mikrofasertuch aus seiner Hosentasche.

»Hej, Vibeke, ich habe uns etwas zum Futtern mitgebracht.« Søren schwenkte eine riesige Papiertüte in der Hand, aus der ein betörender Duft nach Frischgebackenem strömte, und hielt sie ihr hin. »Wienerbrød. Möchtest du?«

»Danke, später vielleicht.«

Rasmus trat an ihren Schreibtisch. »Du bist hier?« Er musterte sie. Seine Ohren und Nase waren gerötet, und er roch nach kaltem Rauch.

»Wo soll ich sonst sein?«, gab Vibeke zurück.

Rasmus sah sie bedeutungsvoll an und befreite sich kopfschüttelnd aus seiner Jacke.

Pernille, die als Letzte das Büro betreten hatte, blickte irritiert von einem zu anderen.

Vibeke wartete, bis alle an ihren Plätzen saßen. »Wer fängt an?«

Jens hob die Hand. »Ich habe mir gestern die laufenden Anwaltsverfahren von Dahlmann Invest angesehen. Da geht es meist um irgendwelche anfallenden Reparaturen, Dinge, die nicht instand gesetzt wurden, oder darum, dass trotz erheblicher Mängel keine Mietminderung gewährt wurde. Nichts Auffälliges.« Er strich sich mit zwei Fingern über den Nasenrücken. »Dann gibt es noch einen Rechtsstreit wegen Sachmängeln im Rahmen eines Immobilienverkaufs. Im Schriftverkehr ging es vonseiten des Käufers sehr hitzig zu. Ich habe mit ihm gesprochen, und er konnte für den Tatzeitraum ein Alibi vorweisen.«

»Danke, Jens. Dann haben wir in dieser Richtung zumindest alles abgeklopft.« Vibeke spürte wiederholt Rasmus’ Blick auf sich. Hatte er tatsächlich erwartet, dass sie zu der Beisetzung einer Frau gehen würde, die versucht hatte, sie umzubringen? Doch Letzteres wusste Rasmus nicht, rief Vibeke sich ins Gedächtnis. Sie hatte ihm nie davon erzählt. Trotzdem. Die ganze Sache ging ihn nichts an. Sie wandte sich an Pernille. »Wie weit bist du mit Julius Faber gekommen?«

Pernille zog ihren Notizblock heran. »Fabers Frau Alina ist vermögend. Ihrer Familie gehört ein großes Handelsunternehmen im Bereich Food & Fashion. Sie haben zwei Kinder« – sie blätterte eine Seite um und warf einen kurzen Blick darauf –, »acht und elf Jahre alt, und leben seit einem Dreivierteljahr getrennt. Alina Faber hat bereits die Scheidung eingereicht.«

Jens zog ein Taschentuch aus der Verpackung. »Vielleicht hält Faber deshalb seine Affäre mit Mirjam Dahlmann geheim. Damit sich das nicht nachteilig auf die Scheidung auswirkt.« Er schnäuzte sich die Nase.

»Das spielt doch heutzutage keine Rolle mehr«, sagte Rasmus, der sich lässig auf seinem Schreibtischstuhl zurückgelehnt hatte.

»Zumal uns keiner der Beteiligten die Affäre bislang bestätigt hat«, erinnerte Vibeke. »Wir wissen nur durch Mirjams Bruder davon.«

»Es hätte ohnehin keine Auswirkung auf die Scheidung«, sagte Pernille. »Ich habe mit Alina Faber gesprochen. Es gibt wohl einen Ehevertrag, der alles regelt. Im Fall einer Scheidung bekommt ihr Mann keinen einzigen Cent. Alles gehört ihr. Das Haus. Die Autos. Das komplette Vermögen. Das Einzige, was ihm bleibt, ist sein Job bei Dahlmann Invest.«

»Ach.« Jens krauste die Nase und stieß in der nächsten Sekunde einen gewaltigen Nieser aus, gefolgt von zwei weiteren.

»Mein Gott, da wackeln ja die Wände«, stöhnte Søren und fing sich dafür einen bösen Blick seines Kollegen ein.

»Nach wie vor ist Julius Fabers Alibi nicht wasserdicht«, fuhr Pernille mit ihrem Bericht fort. »Ich habe mit dem Restaurant gesprochen, wo Faber am Abend sein Geschäftsessen hatte. Dort hat man sich daran erinnert, dass er verspätet zu seiner Reservierung auftauchte. Es kam wohl zu einem unangenehmen Disput, weil der Tisch bereits anderweitig vergeben war.« Sie spitzte die Lippen. »Faber bestand auf einem anderen Tisch. Das Restaurant kam dann seinem Wunsch nach.«

»Über was für eine Verspätung reden wir?«, fragte Vibeke und griff nach ihrem Kaffeebecher. Die Müdigkeit saß wie Blei in ihren Knochen.

»Etwa eine halbe Stunde.«

»Demnach hätte Faber in Dänemark einiges mehr an Spielraum gehabt«, sagte Vibeke nachdenklich. »Zeitlich gesehen hätte er die Dahlmanns zumindest umbringen können. Zumal er uns gegenüber die Verspätung nicht erwähnt hat.« Ihr Blick wanderte zu Rasmus.

Ihr Kollege kratzte sich hinter dem Ohr. »Damit stellt sich immer noch die Frage, weshalb er die beiden hätte umbringen sollen. Sollten Dahlmanns Erben die Firma verkaufen, verliert er im Zweifelsfall seinen Job. Wie profitiert er durch ihren Tod?«

»Faber war doch bei Dahlmann Invest für die Fi nanzen zuständig«, sagte Søren. »Vielleicht hat er auf irgendeine Weise in die eigene Tasche gewirtschaftet, nachdem ihm seine Frau den Geldhahn zugedreht hatte.«

»Dafür gibt es bislang keinerlei Anhaltspunkte«, warf Vibeke ein. Sie unterdrückte ein Gähnen.

»Konrad Dahlmann könnte ihn dabei erwischt haben«, spann Søren den Faden weiter. »Oder Faber und Dahlmanns Tochter machen gemeinsame Sache. Sie ist Wirtschaftsjuristin, möglicherweise hatten die beiden Pläne, bei denen Dahlmann im Weg war. Zumindest ist Mirjam Dahlmann jetzt eine reiche Frau.« Er griff nach dem Wienerbrød, das neben ihm auf dem Teller lag.

Vibeke klopfte mit ihrem Stift auf die Schreibtischplatte. »Das klingt alles schön und gut, aber leider sind es reine Spekulationen. Wir brauchen etwas Handfestes.«

»Gibt es eigentlich Neuigkeiten von Ricky Ahlgren?«, fragte Jens.

»Bislang nicht.« Vibeke fasste in wenigen Worten die Befragungen von den Mobergs zusammen und berichtete auch von dem Snus in Rickys Zimmer und dem Waffenarsenal seines Großvaters.

Søren wischte sich mit dem Handrücken ein paar Gebäckkrümel aus dem Mundwinkel. »Ganz schön spooky, der Alte. Da kann man nur hoffen, dass er nicht irgendwann das Ballern anfängt.«

»Nur weil er einen Krieg nachspielt?«, warf Jens ein. »Damit ist er doch nicht der Einzige. In vielen Ländern ist das gang und gäbe. Denkt allein an die USA, und der Krieg 1864 war ja sehr schicksalsträchtig. Ich finde das Thema jedenfalls spannend. Auch im Hin blick auf das, was später mit Eldar Mobergs Vater im Zweiten Weltkrieg passiert ist.« Er schob sich die Brille mit dem Zeigefinger hoch. »Ich meine, das muss man sich mal vorstellen. Da wird ein junger Mann, der sich selbst als Däne sieht, gezwungen, für ein anderes Land in den Krieg zu ziehen. Kein Wunder, dass Eldar die Deutschen hasst.«

»Der Krieg ist vorbei«, wiederholte Rasmus, was er bereits am vorherigen Tag zu Eldar Moberg gesagt hatte.

»Aber nicht in den Köpfen der Kriegskinder und der Nachkriegsgeneration«, sagte Jens. »Viele leiden bis heute unter verschleppten oder verschwiegenen Traumata, das hat auch Spuren bei der nächsten Generation hinterlassen.« Sein Gesicht wurde grimmig. »Glaubt mir, ich weiß, wovon ich spreche.«

Für einen Moment herrschte betretenes Schweigen.

»Könnte es sich lohnen, mit dem Sohn von Tinne Nygaard zu sprechen?«, fragte Pernille in die Runde.

Vibeke warf ihr einen dankbaren Blick zu. Obwohl sie mittlerweile ein eingefleischtes Team waren, gab es hin und wieder Themen, bei denen sich die Gemüter erhitzten. Sie hatte nur in allzu guter Erinnerung, wie sich Jens und Søren im Fall Karl Bentien in die Haare gekriegt und wie zwei Kampfhähne gegenübergestanden hatten. Damals war es um die deutschen Flüchtlinge in dänischen Lagern am Ende des Zweiten Weltkriegs gegangen, darum, wer Täter und wer Opfer gewesen war. Dabei hatte der sonst so gutmütige Søren mit seiner Baritonstimme so laut gebrüllt, dass der ganze Raum gebebt hatte.

Vibeke streifte die Erinnerung ab und richtete ihre Aufmerksamkeit Pernilles Frage zu. »Du meinst, weil Tinne den Verkauf ihres Hauses rückgängig machen wollte?«

Ihre Kollegin nickte. »Irgendwie scheint sich doch vieles um das Haus zu drehen. Schließlich wurden die Dahlmanns dort ermordet. Wenige Wochen nachdem sie es gekauft hatten.«

»Luise Dahlmann war die Eigentümerin«, erinnerte Rasmus. »Auch wenn einiges dafür spricht, dass ihr Mann das eigentliche Ziel des Doppelmordes war, dürfen wir die Frau nicht aus den Augen verlieren.«

»Rasmus hat recht«, sagte Vibeke. »Wir müssen ihr Leben genauer durchleuchten. Mit sämtlichen Freunden und Nachbarn sprechen. Wie ist Luise Dahlmann aufgewachsen? Wie war sie als Kind? Wohin ist sie mit ihren Eltern in den Urlaub gefahren? Solche Dinge. Vielleicht finden wir in ihrer Vergangenheit Überschneidungen mit Sarup, die uns bisher nicht bekannt sind. Das Gleiche gilt für ihren Mann. Pernille, du hast doch eine Liste mit den Namen von Freunden. Vielleicht kannst du bei denen noch einmal nachhaken.«

»Ich kümmere mich darum.« Pernille machte sich eine Notiz.

»Mir fällt gerade ein … Was ist mit den DNA-Spuren an Konrad Dahlmanns Mantel? Ist da etwas gekommen?«

Pernille nickte. »Sie konnten Luise Dahlmann zugeordnet werden.«

»Also Übertragungsspuren«, sagte Vibeke nachdenklich. »Wäre ja auch zu schön gewesen.«

»Vielleicht hat der Täter Mütze und Handschuhe getragen«, kam es von Søren. »Immerhin ist Winter.«

»Gut möglich. Hat sonst noch jemand etwas?«

Allgemeines Kopfschütteln.

Vibeke wollte nach ihrem Kaffeebecher greifen, doch er war leer. Ihr Blick ging zu Rasmus. »Wollen wir dem Sohn von Tinne Nygaard einen Besuch abstatten?«

»Von mir aus.« Er erhob sich von seinem Stuhl und griff nach seiner Jacke. Am Sideboard spähte er in die Papiertüte und zog ein Wienerbrød mit weißer Glasur heraus. »Reiseproviant.«

Schon im Treppenhaus biss er genüsslich in das Gebäckstück.

Vibeke fragte sich, wo er den ganzen Süßkram ließ, hager, wie er war.

Draußen schneite es noch immer. Auf dem angrenzenden Lejrvejen war ein orangefarbenes Winterdienstfahrzeug zu sehen.

»Ich fahre.« Rasmus steuerte auf den hellblauen VW-Bus zu, der ganz vorne auf dem Parkplatz stand.

Er öffnete die Fahrertür, schob sich den letzten Rest vom Wienerbrød in den Mund und schwang sich hinter das Lenkrad. Ehe er sich über den Beifahrersitz beugte, um Vibeke zu öffnen, beförderte er noch schnell den fleckigen Pizzakarton in den hinteren Laderaum und stopfte den Pappbecher mit angetrockneten Kaffeeresten zu den anderen in die Getränkehalterung. Zuletzt fegte er mit der Hand ein paar Krümel beiseite, ehe sie endlich einsteigen konnte.

Vibeke verkniff sich die Bemerkung, die ihr angesichts des Chaos im hinteren Laderaum auf der Zunge lag. Unter dem zerwühlten Schlafsack auf der Matratze lugten diverse Kleidungsstücke von der einzelnen Socke bis zur getragenen Unterhose hervor, ein weiterer fettiger Pizzakarton und die zerknüllte Tüte eines Fast-Food-Restaurants klemmten zwischen der Klarsichtbox mit Schutzkleidung und einer Bierkiste.

»Ich hoffe nur, die Heizung springt an«, sagte Rasmus.

Vibekes Brauen schnellten in die Höhe. »Echt jetzt? Dann lass uns lieber…« Sie brach ab, als sie es um seine Mundwinkel zucken sah. Offenbar machte er sich lustig über sie. »Manchmal bist du echt unmöglich.«

»Ich wollte nur mal sehen, wie du reagierst.« Er grinste schief. »Passiert schließlich nicht jeden Tag, dass ich dich rumkutschieren darf.«

»Gewöhn dich lieber nicht dran.« Vibeke schnallte sich an. Rasmus steckte den Zündschlüssel ins Schloss. Am Anhänger baumelte die kleine Luke-Skywalker-Legofigur. »Was sagtest du noch, um welche Uhrzeit findet die Beisetzung statt?«

Sie lächelte müde. »Netter Versuch. Fahr lieber los.«

Er drehte den Zündschlüssel um. Der Motor gab ein kurzes ratterndes Geräusch von sich und ging wieder aus. Rasmus startete erneut. Der Motor sprang an und fiel in seinen Arbeitsrhythmus.

Rund anderthalb Stunden später waren sie bereits wieder auf dem Rückweg nach Padborg. Das Gespräch mit Jørgen Nygaard hatte keinerlei neue Erkenntnisse gebracht. Er hatte die Aussagen seiner Mutter bestätigt und ihnen das Schreiben von Konrad Dahlmanns Anwalt gezeigt. Im Juristenjargon und gespickt mit zahlreichen Paragrafen, wurde Tinne Nygaard darin mitgeteilt, dass die gesetzliche Frist für die Geltendmachung des Rücktrittsrechts bereits verstrichen und der Kaufvertrag somit rechtsverbindlich und nicht anfechtbar sei. Zudem hatte Jørgen Nygaard angegeben, weder Konrad noch Luise Dahlmann jemals persönlich getroffen zu haben. Zum Zeitpunkt des Mordes hatte er sich wegen einer Blinddarmreizung im Krankenhaus aufgehalten.

Vibeke war hundemüde. Es schneite noch immer unentwegt, und im Bulli lief das Gebläse der Heizung auf Hochtouren. Ihr fielen die Augenlider zu.

Sie erwachte, als sie mit der Schläfe gegen das Seitenfenster schlug. In ihrem Mundwinkel hing ein Speichelfaden.

Gerade überquerten sie die Brücke oberhalb einer Autobahn.

Vibeke gähnte. »Wo sind wir?«

»Hej, du Schlafmütze«, sagte Rasmus.

Neben der Fahrbahn waren hübsche Häuser mit kleinen Vorgärten zu sehen. Vibeke konnte sich nicht erinnern, schon einmal hier gewesen zu sein. Ihr fiel auf, dass kein Schnee lag. Stattdessen wirbelten die Autos Schmutzwasser auf. Sie registrierte am vorausfahrenden Kombi und auch an den Fahrzeugen auf der Gegenfahrbahn Kieler Kennzeichen.

Ein braunes Schild mit dem Hinweis auf einen Friedhof geriet in ihr Sichtfeld. Noch ehe ihr Kollege den Blinker setzte, gingen Vibekes innere Alarmglocken an.

Sie richtete sich auf. »Was soll das?«

»Gleich.« Rasmus bog ab und folgte dem Hinweisschild. Kurz darauf hielt er mit dem Bulli direkt gegenüber von einem offen stehenden schmiedeeisernen Friedhofstor.

Vibeke sah ihn fassungslos an. »Das ist jetzt nicht dein Ernst, oder?«

»Doch«, erwiderte Rasmus seelenruhig.

Ihr Blut geriet in Wallung. »Du tickst doch nicht ganz sauber. Weißt du eigentlich, wie übergriffig das ist?«

»Manche Leute muss man eben zu ihrem Glück zwingen«, erwiderte Rasmus mit einem Achselzucken. »Wobei ›Glück‹ in diesen Fall vielleicht nicht ganz der passende Ausdruck ist.« Er deutete zum Friedhofseingang. »Wir sind ein bisschen spät dran, aber wenn du dich beeilst, schaffst du es noch.«

Vibeke rührte sich keinen Millimeter. »Woher weißt du überhaupt, wo die Beisetzung stattfindet?«

»Von Werner.« Rasmus fuhr sich mit der Hand in den Nacken. Eine schuldbewusste Geste, die sie bereits aus der Vergangenheit kannte. »Ich habe doch gesagt, dass ich ihn anrufen werde.« Er war in den Selbstverteidigungsmodus übergegangen.

»Du und Werner, ihr redet über mich?« Vibeke wusste nicht, was sie gerade mehr erboste. Dass Rasmus sie einfach vor dem Friedhof ablud oder dass er hinter ihrem Rücken mit ihrem Vater über sie sprach. Sie sah aus dem Autofenster. Direkt vor dem Friedhofseingang parkte eine dunkle Limousine.

»Du weißt nicht, was diese Frau mir angetan hat«, sagte sie leise.

»Das stimmt.« Seine Augen nahmen einen melancholischen Ausdruck an. »Aber ich weiß, was es bedeutet, wenn man sich nicht mehr verabschieden kann.«

Vibeke starrte ihn an. »Du spielst jetzt nicht wirklich die Anton-Karte, oder?«

Rasmus hielt ihrem Blick stand, ohne mit der Wimper zu zucken. »Ich weiß, dass mich das alles im Grunde nichts angeht. Aber du bist mir wichtig, Vibeke, und auch wenn es pathetisch klingt … sehe ich es als meine Pflicht an, dich vor einem großen Fehler zu bewahren.« Seine Stimme wurde eindringlich. »Du willst das alles doch hinter dir lassen, oder?«

»Das habe ich bereits.«

»Und deshalb hast du letzte Nacht auch so gut geschlafen?«, fragte Rasmus süffisant. »Oder weshalb sonst schläfst du am helllichten Tag ein?«

Vibeke hasste es, wenn er sarkastisch wurde, und noch mehr, wenn er dabei auch noch recht behielt. Sie dachte an ihren Albtraum zurück. An das weiße Nachthemd. Ihre nackten Füße. Die festgebundenen Hände. Solveighs tote Augen.

»Du kannst manchmal ganz schön nerven. Weiß du das eigentlich?« Sie stieß die Bullitür auf und glitt vom Beifahrersitz ins Freie.

»Das hat man mir schon öfter gesagt«, erwiderte Rasmus trocken. »Soll ich mitkommen?«

»Untersteh dich!« Vibeke schlug die Autotür zu.

Sie atmete tief durch, dann straffte sie sich und ging durch das schmiedeeiserne Eingangstor auf der anderen Straßenseite. Weiß der Himmel, weshalb ich das tue.

Bei der Friedhofsverwaltung erkundigte sie sich nach Solveighs Grabstelle und traf dort gerade ein, als der Sarg in die Erde hinabgelassen wurde.

Neben dem Pastor in seinem Talar und den Sargträgern, die jetzt in den Hintergrund traten, waren drei weitere Personen anwesend. Eine elegant in Schwarz gekleidete Frau mit Hut, an ihrer Seite ein hochgewachsener älterer Herr im dunklen Blazermantel sowie eine schmale Person in Leoleggins, Armeeparka und Wollmütze in Regenbogenfarben. Alle drei standen mit dem Rücken zu ihr.

Vibeke hielt in ausreichendem Abstand inne. Ob das ihre Großeltern waren? Sie sind keine netten Menschen , hatte Werner vor einigen Monaten gesagt.

Sie verspürte das unbändige Gefühl wegzulaufen, doch sie riss sich zusammen, lauschte den Worten des Pastors, die so belanglos waren, dass sie nichts über den Menschen aussagten, der hier zu Grabe getragen wurde. Es hätte jede x-beliebige Person sein können.

Vibeke sah in den Himmel. Tief hängende Wolken in der Farbe von gebleichtem Schiefer türmten sich unheilvoll übereinander, an den dunklen Baumstämmen bogen sich Äste und Zweige im Wind.

Das Vaterunser ertönte, und Vibeke vernahm murmelnde Stimmen. Sie spürte keinerlei Trauer, nur das seltsame Gefühl von Leere. Warum hast du das getan, Solveigh? Weshalb wolltest du mich umbringen ? War es nur die beschissene Krankheit? Oder hattest du noch andere Gründe?

Der Pastor verstummte. Als nichts geschah, nä herte sich die Gestalt in Leoleggins dem Grab, und Vibeke erkannte Katja Kleiber, die junge Sozialtherapeutin von Solveighs Wohngruppe, die jetzt mit einer kleinen Schaufel etwas Erde auf den Sarg hinabrieseln ließ. Anschließend trat sie beiseite, um dem älteren Herrn Platz zu machen, dabei streifte ihr Blick Vibeke, und sie formte mit dem Mund ein lautloses »Hallo«.

Die Schwarzgekleidete, die ihr bislang den Rücken zugewandt hatte, drehte sich um, und für den Bruchteil einer Sekunde trafen sich ihre Blicke. Ihr Gesicht lag im Schatten ihres Hutes, das weiße Haar war fast gänzlich darunter versteckt, doch Vibeke registrierte versteinerte Züge, bleistiftdünne Lippen und gefühlskalte Augen. Die eingefrorene Miene, mit der ihr die Frau, deren Alter Vibeke auf Anfang bis Mitte achtzig schätzte, wieder den Rücken zuwandte, erinnerte sie an die Figuren in einem Wachskabinett.

Vibeke warf einen letzten Blick auf die Grabstelle, in der sich der Sarg mit ihrer toten Erzeugerin befand, und blendete alles drumherum vollständig aus.

Mach’s gut, Solveigh. Möge es dir dort besser gehen, wo du jetzt bist. Dann machte sie auf dem Absatz kehrt.

Vibeke hatte noch nicht ganz den Ausgang erreicht, als jemand ihren Namen rief. »Frau Boisen!«

Sie ging unbeirrt auf das schmiedeeiserne Friedhofstor zu. Auf der anderen Straßenseite sah Rasmus in seinem Bulli zu ihr herüber.

»Bitte, so warten Sie doch.« Die Stimme klang jetzt deutlich außer Atem.

Vibeke blieb seufzend stehen und drehte sich um. Der Herr im Blazermantel eilte auf sie zu. In seinem Gesicht spiegelten sich Anstrengung und Erleichterung.

»Gott sei Dank.« Er rang nach Atem. »Sie haben einen ganz schönen Schritt drauf.«

»Was wollen Sie von mir?« Vibeke hörte selbst, wie unhöflich sie klang, doch sie wollte einfach nur weg von diesem Ort. Sie ärgerte sich, dass sie überhaupt stehen geblieben war.

Aus der Nähe wirkte der Mann ein wenig jünger als zunächst angenommen, vermutlich war er irgendwo in Werners Alter, um die sechzig, und damit zu jung, um ihr Großvater zu sein. Seine silbergrauen Haare waren ordentlich gescheitelt, die Nase dominant, der Blick aus hellen Augen messerscharf. Jetzt zog er eine Visitenkarte aus der Innenseite seines Mantels und reichte sie ihr. Weißes Büttenpapier. Schnörkellose schwarze Schrift. Dr.  Dr. Hardenberg. Rechtsanwalt und Notar. Darunter standen sowohl Anschrift als auch Telefonnummer und E-Mail-Adresse.

»Ich vertrete die Interessen der Familie. Können Sie mich morgen in meiner Kanzlei aufsuchen? Sagen wir gegen fünfzehn Uhr? Wir haben einiges zu bereden.«

»Das denke ich nicht.« Vibeke gab ihm die Karte zurück und ließ ihn stehen.

Der Himmel öffnete seine Schleusen, und erste Regentropfen fielen herab.

Vibeke eilte über die Straße zur Beifahrerseite des Bullis und stieg ein. »Sag nichts. Fahr einfach!« Das Herz klopfte ihr bis zum Hals.

Rasmus startete den Motor.

Padborg, Dänemark

Die Stille im Bulli wurde nur durch das Quietschen der Scheibenwischer und das Gebläse der Heizung durchbrochen. Sie hatten gerade die Grenze passiert, als Rasmus’ Handy klingelte. Er fischte es aus der Innentasche seiner Jacke, doch es glitt ihm aus den Fingern und landete im Fußraum. Auf dem Display leuchtete Luís’ Name.

»Du solltest dir langsam mal eine Handyhalterung anschaffen«, sagte Vibeke und bückte sich. »Oder am besten, du nimmst dir gleich einen Dienstwagen. Die habt ihr doch in Esbjerg, oder?«

Rasmus ließ sich nicht provozieren. Vibeke wirkte aufgewühlt. Das hatte er sofort gesehen, schon als sie mit diesem piekfeinen Typen am Friedhofstor gesprochen hatte. Wer das wohl gewesen war?

»Soll ich rangehen?«, fragte Vibeke, die jetzt sein Handy zwischen ihren Fingern hielt.

Der Klingelton verstummte, und ein anderer ertönte.

Vibeke legte sein Smartphone beiseite und zog ihr eigenes hervor. »Scheint wichtig zu sein«, murmelte sie und nahm das Gespräch an. »Hej, Luís. Warte, ich stell dich auf laut, dann kann Rasmus mithören.« Sie drückte die Lautsprechertaste.

»Uns wurde ein Leichenfund gemeldet«, schallte ihnen die Stimme des Portugiesen entgegen. »Und zwar am Sarupvej kurz vor Ny Pøl. Søren und Jens sind unterwegs.«

»Weiß man schon, um wen es sich dabei handelt?«

»Bislang nicht.«

»Wir fahren hin«, entschied Rasmus. »Hej hej.«

Sie legten auf.

Dicke Schneeflocken tanzten vor der Windschutzscheibe, hefteten sich daran fest und wurden von den Wischblättern wieder beiseitegeschoben.

Rasmus drückte auf das Gaspedal. Anstatt die Ausfahrt nach Padborg zu nehmen, blieb er auf der E45.

Rund eine Dreiviertelstunde später näherten sie sich Sarup. Anders als die Autobahn war die Landstraße nicht geräumt. Das Schneetreiben wurde immer dichter. Ein einzelnes Auto kam ihnen entgegen, dem vorne ein Licht fehlte. Danach waren sie wieder allein unterwegs. Vor der Ortseinfahrt drosselte Rasmus das Tempo und bog kurz darauf in den Sarupvej. Die Räder seines VW-Busses gruben sich in die weiße Fahrbahn.

»Ich nehme an, du hast keine Schneeketten dabei«, kam es vom Beifahrersitz.

»Nein, so etwas besitze ich nicht. Ich kann mich auch nicht erinnern, wann es in dieser Region jemals nötig gewesen wäre.« Rasmus fuhr jetzt kaum schneller als Schritttempo. »Hauptsache, wir kommen nicht von der Straße ab, ansonsten stecken wir fest.« Neben der Fahrbahn erhob sich ein Schneewall von gut einem halben Meter. Die Temperaturanzeige am Armaturenbrett zeigte minus acht Grad.

Sie fuhren an der Abzweigung vorbei, die zum Hof der Dahlmanns führte. Die Äste der Bäume am Wegesrand bogen sich unter dem Gewicht des Schnees. Dahinter war kaum etwas zu erkennen.

Sie erreichten den Ortsausgang. Von Weitem kam ihnen ein Kleintransporter entgegen, der über der Mittellinie zu fahren schien, die schon längst nicht mehr als solche erkennbar war. Rasmus geriet ins Schwitzen. Wenn der ihn jetzt von der Fahrbahn drängte, käme er mit dem Bulli nicht auf die Straße zurück. Er nahm den Fuß ein Stück weit vom Gas, und kurz darauf schoben sich die beiden Fahrzeuge im Zeitlupentempo aneinander vorbei. Rasmus atmete erleichtert auf.

Nach etwa einem Kilometer nahm die Straße eine leichte Kurve.

»Da vorne ist es.« Vibeke deutete auf eine Stelle ein Stück weiter die Strecke entlang.

Ein Streifenwagen mit eingeschaltem Blaulicht blockierte die Fahrbahn. Dahinter waren ein ziviler Einsatzwagen und ein orangefarbenes Schneeräumfahrzeug zu sehen.

Ein Polizist in Warnweste schwenkte seine Kelle und gab ihnen zu verstehen, dass sie anhalten sollten.

Rasmus kurbelte das Seitenfenster herunter und zeigte seinen Dienstausweis. »Rasmus Nyborg. Wir wurden angefordert.«

Der Uniformierte gab seinem Kollegen im Streifenwagen ein Zeichen, das Fahrzeug setzte ein Stück zurück und ließ sie passieren.

Rasmus stellte seinen VW-Bus hinter dem zivilen Einsatzwagen ab, und sie stiegen aus. Sofort landeten Schneeflocken in seinem Gesicht. Er zog Mütze und Handschuhe aus seiner Jackentasche und streifte beides über. Schnee knirschte unter seinen Boots, während er hinter Vibeke an dem zivilen Einsatzfahrzeug vorbei stapfte. Seine Kollegin trug ebenfalls Handschuhe und Mütze und darüber die Kapuze ihres Parkas.

Etwa anderthalb Meter hinter dem Schneewall am rechten Fahrbahnrand zeichnete sich etwas Unförmiges unter der weißen Fläche ab. Ein Stück entfernt ragte eine alufarbene Schaufel aus dem Schnee.

Auf der Straße davor standen zwei dick eingemummte Gestalten, in denen er Jens und Søren erkannte, sowie ein Dritter in Warnschutzjacke in leuchtendem Orange und mit Reflektoren ausgestattet, bei dem es sich offenbar um den Fahrer des Schneeräumfahrzeugs handelte, das nur wenige Meter entfernt mit eingeschaltetem Warnblinker auf der Straße abgestellt war.

Beim Näherkommen erkannte Rasmus, dass an einer Stelle der Erhebung ein Loch von etwa fünfzig Zentimeter Durchmesser gegraben worden war. Eine schmale Spur mit Schuhabdrücken verriet, wo die Erstankömmlinge entlanggelaufen waren.

»Hej!« Sørens Gesicht unter der Bommelmütze war vor Kälte gerötet. Er trug eine Thermohose, die eine Nummer zu groß zu sein schien, und dazu eine voluminöse Daunenjacke. In diesem Aufzug erinnerte er stark an das Michelin-Männchen. Seine Handschuhe hatten das gleiche Norwegermuster wie seine Kopfbedeckung.

»Das ist Pelle«, Søren deutete auf den Mann in Neonkleidung, »er hat die Polizei informiert.«

Sie begrüßten sich.

Jens reichte ihm eine Taschenlampe. »Du musst aufpassen, direkt hinter dem Fahrbahnrand verläuft eine Senke.«

Rasmus machte einen großen Schritt über den her untergetrampelten Schneewall, wo zuvor jemand drinnen versackt war, folgte den vorhandenen Schuhabdrücken und richtete den Lichtstrahl in das Loch im Schnee. Ein steif gefrorener Fuß und Teile eines Beins wurden sichtbar. Er gab die Taschenlampe an Vibeke weiter, die hinter ihn getreten war, und ging zurück zur Straße. Dort wandte er sich an Pelle.

»Und du hast entdeckt, dass hier jemand begraben liegt, während du in deinem Schneepflug gesessen hast?« Rasmus bemühte sich nicht, seine Skepsis zu verbergen.

Der Mann vom Winterdienst räusperte sich unbehaglich. »Ich musste pinkeln. War schon die halbe Nacht unterwegs, und irgendwann fordert die Natur ihren Tribut. Also habe ich angehalten.« Sein Blick wanderte zu der Erhebung im Schnee. »Und als ich dann dabei war, ist mir aufgefallen, dass dort irgendetwas liegt. Also habe ich die Schaufel geholt. Ich dachte aber eher an ein totes Tier. An ein Reh oder einen Hirsch.« Er schwieg betroffen. In seiner Hosentasche vibrierte es, und er zog ein Handy heraus. »Darf ich?«

Rasmus nickte.

»Wir vermuten, die Person wurde von einem Wagen erfasst«, sagte Jens, nachdem sich der Fahrer des Schneepflugs ein paar Schritte entfernt hatte, um zu telefonieren.

»In dem Fall reden wir von Fahrerflucht.« Vibeke trat neben ihn und reichte ihm die Taschenlampe zurück.

»Ich habe die KT in Odense informiert«, sagte Søren, »damit sie die Leiche bergen. Für den Fall, dass sich unter dem Schnee irgendwelche Lackspuren oder anderes befinden. Aber es wird wohl eine Weile dauern, bis die Kollegen hier sind.«

Rasmus deutete mit dem Kopf in Pelles Richtung. »Wir haben die Personalien?«

Søren nickte. »Die Kollegen von der Streife haben alles aufgenommen.«

»Dann hoffen wir mal, dass Pelle mit seiner Schaufel nichts angerichtet hat«, sagte Rasmus und ging zu dem Mann in Neonkleidung, der gerade sein Handy zurück in die Hosentasche schob.

»Das war mein Chef«, erklärte Pelle. »Mein Dienst hätte eigentlich vor einer Stunde geendet.«

»Du kannst jetzt fahren. Danke, dass du Bescheid gegeben hast. Stell dich aber darauf ein, dass wir vielleicht später noch ein paar Fragen haben.«

»In Ordnung, dann weiß ich Bescheid.« Pelle stapfte zu seinem Fahrzeug.

Rasmus ging zu seinen Kollegen zurück. Er sehnte sich nach heißem Kaffee und einer Zigarette.

»Wollen wir hier wirklich alle warten?«, frage Vibeke. Obwohl sie noch nicht lange im Freien stand, wirkte sie bereits völlig durchgefroren. Nase und Wangen in ihrem blassen Gesicht waren sichtlich gerötet.

Rasmus blickte die Straße entlang. »Keine anderthalb Kilometer entfernt wurden vor einer Woche zwei Menschen ermordet. Und jetzt liegt hier eine weitere Leiche. Ich bleibe.«

»Ich auch«, erklärte Søren solidarisch.

Jens klopfte seine behandschuhten Hände aneinander. »Gut, dann fahren Vibeke und ich zurück ins GZ. Ich habe keine Lust, mir gleich die nächste Erkältung aufzusacken. Außerdem bringt es nichts, wenn wir uns hier alle vier die Beine in den Bauch stehen. Zumal wir nicht einmal wissen, wer da überhaupt liegt.«

Rasmus hatte eine vage Vermutung, kaum mehr als ein Bauchgefühl, doch er sprach sie nicht aus, sondern beließ es stattdessen bei einem Nicken. »Dann machen wir es so. Wir melden uns, sobald sich hier etwas tut.«

»Bis später, ihr beiden.« Vibeke wirkte ernst und angespannt, und er hätte sie gerne gefragt, wie es ihr ging. Doch es war weder der richtige Zeitpunkt noch der richtige Ort dafür. Vibeke würde ihm den Kopf abreißen, wenn er es im Beisein der anderen tat. Nach seiner Aktion mit dem Friedhof konnte er froh sein, dass sie überhaupt noch mit ihm sprach. Er hatte jedenfalls nicht vor, sein Glück überzustrapazieren.

»Bis später.« Rasmus schob die Hände tief in die Jackentaschen.

Vibeke und Jens steuerten auf den zivilen Einsatzwagen zu. Gerade fuhr das Schneeräumfahrzeug an. Vor dem rot-weißen Flatterband hatte sich ein halbes Dutzend Fahrzeuge gestaut.

»Ich kümmere mich darum, dass der Verkehr umgeleitet wird.« Søren zückte sein Smartphone. »Und anschließend organisiere ich uns etwas Heißes zum Trinken.« Er entfernte sich ein paar Schritte.

Rasmus griff ebenfalls nach seinem Handy, um Maja zu informieren, doch nur ihre Mailbox ging ran. Er hinterließ eine kurze Nachricht. Noch immer wusste er nicht, wie es mit ihnen weiterging, nur, dass er es wollte.

»Die Kollegen in Sønderborg kümmern sich um die Straßensperrung und die Umleitung«, sagte Søren, als er wieder neben ihn trat.

Rasmus sah nachdenklich die verschneite Straße entlang. Ein paar Bäume, schneebedeckte Wiesen und Felder, ein Stück weiter entdeckte er einen halb zugeschneiten Wegweiser am linken Fahrbahnrand, dahinter ein paar vereinzelte Häuser.

Søren musterte ihn. »Denkst du, es war ein Unfall?«

»Möglich. Ich frage mich, was die Person hier gewollt hat.« Er deutete auf das Schild am Straßenrand. »Weißt du, wo es dort hingeht?«

Søren nickte. »Nach Ny Pøl. Ein kleiner Ort mit vielleicht einem Dutzend Häuser. Es verirren sich nur selten Leute dorthin.« Er zog die Brauen unter seiner Mütze zusammen. »Irgendwie ist es schon eine verkehrte Welt. Die Jungen fliehen in die Städte, lassen die Alten zurück, und Familien aus Deutschland kommen mit ihren Kindern zu uns auf die Insel, weil sie die Idylle suchen.«

Rasmus spürte, wie die Kälte durch die Kleidung in seine Glieder kroch. Sein Blick glitt zur Schaufel, die noch immer im Schnee steckte. »Ich glaube, ich mache mich mal nützlich und fange mit der obersten Schneeschicht an. Dann kommen Knudsen und seine Leute später schneller voran.« Er stapfte durch den Schnee und machte sich an die Arbeit.

»Sag mir, wenn ich dich ablösen soll«, rief ihm Søren hinterher.

Rasmus hatte bereits einen Großteil des Schnees beiseitegeschafft, als ein Streifenwagen an der Absperrung hielt. Er legte die Schaufel beiseite und ging zur ück zur Straße. Unter seiner Kleidung war er komplett nassgeschwitzt.

Zwei Uniformierte kamen mit Thermoskanne und Kaffeebechern.

»Großartig«, sagte Rasmus, als er einen davon entgegennahm. Er instruierte die Beamten, die Häuser in Ny Pøl nach Zeugen abzuklappern.

»Sollten wir nicht die Rechtsmedizin informieren?«, fragte Søren.

»Bislang wissen wir nicht, ob Fremdverschulden vorliegt«, erwiderte Rasmus. »Genau genommen könnte die Person beim Spaziergang einen Herzinfarkt erlitten haben.« Er hörte selbst, wie unwahrscheinlich das klang. »Halt mal.«

Rasmus drückte Søren seinen Kaffeebecher in die Hand, zog sein Handy aus der Jackentasche und rief den zuständigen Staatsanwalt an. Als dieser abnahm, berichtete er ihm von dem Leichenfund.

Er hatte sein Telefonat gerade beendet, als der Transporter der Kriminaltechnik eintraf. Am Horizont nahm bereits das Tageslicht ab.

»Die Leiche wird in die Rechtsmedizin gebracht, sobald sie freigelegt ist«, informierte er Søren, der ihm den Kaffeebecher zurückreichte. Er ging den Neuankömmlingen entgegen.

Knudsen stieg als Erstes aus dem Fahrzeug. »So schnell sieht man sich wieder.«

»Wir hätten uns wohl alle etwas anderes gewünscht«, brummte Søren, der Rasmus gefolgt war, und schob sich seine Bommelmütze tiefer in die Stirn.

Rasmus erläuterte den Kriminaltechnikern die Situation, und sie gingen zurück zum Transporter, um ihre Ausrüstung zu holen. Ein Wärmezelt und Scheinwerfer wurden aufgestellt. Rasmus und Søren stapften hinter den Kriminaltechnikern durch den Schnee zur Fundstelle und sahen ihnen dabei zu, wie sie in ihren Schutzanzügen Schicht um Schicht den Leichnam freilegten.

Zwischendurch ging Rasmus ins Wärmezelt, um sich dort einen weiteren Kaffee zu holen. Er war mittlerweile komplett durchgefroren. Trotzdem ging er zurück und stand mit hochgezogenen Schultern im Schnee. Neben ihm trat Søren von einem Bein aufs andere, die Handschuhe mit dem Norwegermuster tief in die Taschen seiner Daunenjacke geschoben.

Der Nachmittag war unbemerkt in den Abend übergangen, und die Spurensicherer arbeiteten im Scheinwerferlicht. Sie hatten die Geräte gewechselt, gruben mit Handschaufeln, ehe sie auch diese beiseitelegten und mit den Händen weitermachten.

Schließlich gab ihnen Knudsen ein Zeichen, näher zu kommen.

Der Tote lag auf der Seite, ein Arm abgewinkelt, der andere unterhalb des Körpers versteckt, die Beine waren leicht gebeugt. Er hatte kurze dunkle Haare und war mit Jacke, Pullover und Jeans in Schwarz bekleidet. Ein Schuh fehlte. Unter dem Kopf war der Schnee dunkelrot verfärbt. Das Gesicht war vom Frost nahezu unkenntlich, wies diffuse blau-rote Verfärbungen auf. Gewebeschädigungen durch Kälteeinwirkung. Am linken Ohr glänzte ein goldener Ohrring.

Padborg, Dänemark

Es war bereits halb acht, als Rasmus hinter Søren das Büro der Sondereinheit im Gemeinsamen Zentrum betrat. Auf dem digitalen Whiteboard war eine Landkarte vom südlichen Als projiziert. Der Fundort der Schneeleiche war mit einem roten Kreuz markiert.

Rasmus schenkte sich einen Becher Kaffee aus der Kanne am Sideboard ein und lud sich ein Schinken-Käse-Sandwich von dem bereitgestellten Tablett mit Broten auf einen Teller, ehe er zu seinem Platz ging. Dort schälte er sich aus seiner Jacke, nahm die Mütze ab und strich sich über die platt gedrückten Haare.

»Ihr seht ganz schön durchgefroren aus«, meinte Pernille.

Rasmus blickte zu Søren, der noch immer ganz rotgesichtig war. Vermutlich sah er selbst nicht viel besser aus. Zumindest war ihm noch immer scheißkalt. Er setzte sich hinter seinen Schreibtisch und wärmte sich die Hände am Kaffeebecher. »Das war auch kein Spaß da draußen.«

»Und du denkst, dass der Tote Ricky Ahlgren ist?«, erkundigte sich Vibeke.

»Es deutet zumindest alles darauf hin. Die Statur, die Haare und, nicht zu vergessen, der Ohrring.«

»Vermutlich lag er schon länger dort«, schob Søren hinterher. Auf seiner Stirn zeichnete sich ein Abdruck seiner Mütze ab. Er langte nach einem Brot, das mit Rote-Bete-Salat und Lachs belegt war. »Über ihm lag gut ein halber Meter Schnee.«

»Der Leichnam ist jetzt auf dem Weg in die Rechtsmedizin«, sagte Rasmus. Einen kurzen Moment hatte er den steifen Körper vor Augen, wie ihn die Kriminaltechniker vorsichtig von seiner gefrorenen Unterlage gelöst und in den Leichensack umgebettet hatten.

»Gibt es schon Anhaltspunkte darüber, was genau passiert ist?«, fragte Luís.

»Nach dem, was äußerlich erkennbar war, hat Ricky eine schwere Kopfverletzung erlitten. Möglicherweise hat ihn ein Auto mit hoher Geschwindigkeit erfasst und durch die Luft geschleudert.«

»Und dann wurde er liegen gelassen?« In Luís’ Miene spiegelte sich Betroffenheit.

»So hat es den Anschein. Allerdings wurden bislang keine Lackspuren oder Ähnliches gefunden. Die Kriminaltechniker sind noch vor Ort und suchen den Fundort und den umliegenden Bereich ab. Das wird vermutlich die ganze Nacht dauern.«

»Oder er wurde überhaupt nicht angefahren«, warf Pernille ein. »Die Dahlmanns hatten ebenfalls Kopfverletzungen, und sie hat man erschlagen.«

»In ihrem Haus«, sagte Rasmus. »Aber Ricky lag auf dem Acker.«

»Vielleicht wurde er dort abgeladen.«

Vibeke strich sich über ihren streng zusammengebundenen Zopf. »Wir sollten das Ergebnis der Obduktion abwarten, ehe wir voreilige Schlüsse ziehen. Gibt es Zeugen?«

Rasmus schüttelte den Kopf. »Bislang nicht. In der Nähe liegt ein kleiner Ort, Ny Pøl. Ich habe ein paar Uniformierte hingeschickt, aber von den Leuten, die sie zu Hause angetroffen haben, hat keiner etwas mitbekommen.«

Vibekes Blick ging zum digitalen Whiteboard. »Was hat Ricky dort zu suchen gehabt?«

»Das wüsste ich auch gerne.« Rasmus’ Magen knurrte, er griff nach seinem Schinken-Käse-Sandwich. Seit dem Wienerbrød hatte er nichts mehr zwischen die Zähne bekommen.

»Wie könnt ihr sicher sein, dass die Sache etwas mit dem Mord an den Dahlmanns zu tun hat?«, fragte Luís.

»Gar nicht«, erwiderte Rasmus zwischen zwei Bissen. »Es könnte genauso gut einfach nur ein Unfall mit Fahrerflucht gewesen sein. Ein Zufall. Allerdings glaube ich nicht an Zufälle.«

»Aber wenn ein Zusammenhang mit unserem Fall besteht«, resümierte Luís, »dann scheidet Ricky höchstwahrscheinlich als Täter aus.«

Pernille zwirbelte ihren Pferdeschwanz mit einem Stift. »Vielleicht wusste er, wer die Dahlmanns umgebracht hat. Oder er hatte einen Verdacht.«

Vibeke nickte nachdenklich. »Lasst uns noch einmal Rickys Alibi durchgehen. Er hat angegeben, den ganzen Freitag in der Werkstatt gewesen zu sein, was Jeppe Olsen bestätigt hat. Am Abend waren die beiden im Mauritz zum Burgeressen und später noch etwas im Penny Lane trinken, was uns ebenfalls bestätigt wurde.«

»Dahlmanns Auto«, erinnerte Luís. »Was, wenn Ricky es tatsächlich gestohlen hat? Vielleicht war er nicht der Mörder, sondern ein Zeuge.«

Einen Moment wurde es im Büro der Sondereinheit vollkommen still.

Rasmus wischte sich mit der Serviette den Mund ab. »Dann muss Ricky vor Ort gewesen sein zu der Zeit, wo er angeblich in der Werkstatt gewesen ist. Demnach hätte Jeppe Olsen gelogen.«

»Oder die beiden haben gemeinsame Sache gemacht und sich gegenseitig ein Alibi gegeben«, sagte Luís. »Über die Werkstatt hätten sie bestimmt den einen oder anderen Kontakt, um so ein Auto loszuwerden. Oder Ricky kannte noch jemanden von früher.«

»Sobald das Ergebnis der Obduktion vorliegt, werden wir Jeppe Olsen auf den Zahn fühlen«, sagte Vibeke.

Søren schob seinen leeren Teller beiseite. »Seid ihr in der Zwischenzeit eigentlich weitergekommen?« In seinem Bart hing ein kleines Stück rote Bete. Pernille machte ihn mit einer Handbewegung darauf aufmerksam, und er wischte es beiseite.

Jens klopfte mit seinem Stift auf die Tischplatte. »Ich habe mich unter den Kunden umgehört, mit denen Julius Faber Immobiliendeals gemacht hat. Normalerweise wickelt Dahlmann Invest alles über einen Makler ab, aber hin und wieder gibt es bei Einzelimmobilien Ausnahmen. Das spart beiden Seiten die Maklerprovision.« Er griff nach seinem Wasserglas und trank einen Schluck, ehe er weitersprach. »Bei Objekten im sieben- und oder auch achtstelligen Bereich reden wir damit über eine Menge Geld. Faber soll in seinen Verkaufsgesprächen wohl ausdrücklich darauf hingewiesen haben, und es konnte durchaus als Aufforderung verstanden werden. Natürlich hat es keiner von Fabers K unden zugegeben, aber es schimmerte durch, dass bei dem einen oder anderen Deal Geld geflossen ist. Ich habe deshalb das LKA kontaktiert und mich beim Dezernat Interne Ermittlungen erkundigt, ob ihnen hinsichtlich Julius Faber oder Dahlmann Invest etwas bekannt ist.« Er verstummte.

»Und?«, hakte Rasmus nach. »Jetzt mach’s doch nicht so spannend.«

»Ich habe bislang noch keine Rückmeldung bekommen«, erklärte Jens trocken.

Rasmus konnte nur mit Mühe ein Augenrollen unterdrücken. »Gibt es sonst noch etwas Neues?«

»Die Auswertung des Laserscanners und die Blutspurenanalyse sind gekommen.« Luís gab ein paar Befehle über seine Computertastatur ein, und die Küche des Dahlmann-Hauses erschien dreidimensional auf dem digitalen Whiteboard. »Anhand von Form, Größe und Verteilung der aufgefundenen Blutmengen konnten die Kollegen rekonstruieren, dass Luise Dahlmann zunächst in der Mitte des Raumes niedergeschlagen wurde, ehe sie anschließend zum Heizkörper geschleift wurde. Dort wurden ihr die weiteren Verletzungen beigebracht.« Eine Linie aus Tropfspuren ploppte auf, die den Verlauf der Blutspuren simulierten. »Konrad Dahlmann wurde direkt neben der Stelle, an der seine Frau gelegen hat, niedergeschlagen. Dort hat er auch das meiste Blut verloren. Vermutlich haben die beiden eine Weile nebeneinandergelegen. Leider war die Blutaltersbestimmung zu ungenau, sodass sich nicht feststellen lässt, bei wem zuerst Blut aus dem Körper ausgetreten ist. Das lässt allerdings den Schluss zu, dass die Opfer kurz nacheinander attackiert wurden.«

»Ich tippe darauf, dass Luise Dahlmann zuerst niedergeschlagen wurde«, sagte Rasmus. »Und ihr Mann ist ihr zu Hilfe geeilt.« Sein Blick wanderte zu Pernille. »Bist du schon weitergekommen, was sie betrifft?«

»Nicht wirklich. Ich habe heute mit rund zwei Dutzend Freunden und Bekannten gesprochen, alle waren tief schockiert, konnten jedoch keine nützlichen Hinweise geben. Keiner von ihnen kannte Luise vor ihrer Studienzeit.« Pernille strich sich eine dunkle Haarsträhne hinters Ohr.

»Deshalb habe ich heute an ihrer alten Schule angerufen, aber dort will man ohne Beschluss keine Schülerlisten herausgeben. Luís hat bereits einen beantragt.«

Rasmus seufzte. Es war immer das Gleiche.

»Dafür habe ich die Telefonnummer einer früheren Nachbarin der Rötgens, Luises Eltern, herausgefunden«, fuhr Pernille fort. »Gerda Berling. Leider habe ich die alte Dame bislang nicht erreicht, aber ich bleibe dran.«

»Was machen wir mit der Presse?« Vibeke sah Rasmus an.

»Ich rede mit Maja. Am besten, wir geben eine Pressemitteilung mit so wenig Details wie möglich heraus. Alles Weitere können wir später noch sehen.«

»Gut.« Vibeke warf einen Blick auf die Uhr. »Hat sonst noch jemand etwas?«

Allgemeines Kopfschütteln.

»Dann lasst uns die Aufgaben verteilen. Ich hoffe, ihr habt euch am Wochenende nichts vorgenommen.«

Rasmus dachte an Ida. Sie kam Sonntag aus dem Urlaub zurück, und er hatte gehofft, sie in Kopenhagen besuchen zu können, doch notfalls musste ein Videocall ausreichen. Er spürte Vibekes Blick auf sich.

»Wann findet die Obduktion statt?«

Rasmus wippte mit dem Fuß. »Morgen früh um acht. Ich habe vorhin mit Adam telefoniert.«

»Fährst du hin?«

»Ich kann das übernehmen«, bot Søren an, ehe Rasmus antworten konnte. »Brigitte hat in Odense einen Leuchter für das neue Haus bestellt, den ich abholen soll. Das kann ich gut miteinander verbinden.«

Rasmus hatte Mühe, sich seine Erleichterung nicht anmerken zu lassen. Die Obduktion der Dahlmanns steckte ihm noch immer in den Knochen.

»Danke, Søren.« Vibeke wandte sich an Rasmus. »Sobald wir mit Sicherheit wissen, dass es Ricky Ahlgren ist, knöpfen wir uns Jeppe Olsen vor.«

Rasmus nickte. »Ich würde mich morgen gerne noch einmal in der Umgebung vom Leichenfundort umsehen.«

»Ich begleite dich. Bei der Gelegenheit können wir mit den Leuten in Ny Pøl sprechen, die vorhin nicht zu Hause waren. Vielleicht hat jemand eine Beobachtung gemacht.«

»Wir könnten auch einen Zeugenaufruf starten«, schlug Luís vor. »Wenn ihr wollt, kümmere ich mich darum.«

Vibeke nickte. »Danke, Luís.«

Jens rückte seine Brille zurecht. »Ich bleibe an Julius Faber dran und sehe zu, was ich über die Mobergs in Erfahrung bringe. Mich würde interessieren, weshalb Ricky ausgerechnet bei seinen Großeltern gewohnt hat und nicht bei seinen Eltern.«

Vibeke blickte in die Runde. »Dann lasst uns jetzt Feierabend machen. In den nächsten Tagen erwartet uns jede Menge Arbeit.«

Die Stühle scharrten, und der Raum leerte sich.

Nur Rasmus und Vibeke blieben zurück.

Als er nach seiner Jacke griff, sah er, wie sich seine Kollegin wieder ihrem Computer zuwandte. »Hast du nicht gerade etwas von Feierabend erzählt?«

»Ich muss noch die Berichte für Petersen schreiben.« Ihre flinken Finger flogen über die Tastatur.

Rasmus ließ seine Jacke zurück über die Stuhllehne gleiten und setzte sich wieder. Erneut spukte ihm im Kopf herum, wie aufgewühlt Vibeke am Friedhof in seinen Bus gestiegen war. »Der Mann vorhin am Friedhof. Wer war das?«

»Irgendein Anwalt«, erwiderte sie, ohne den Blick vom Bildschirm zu nehmen.

»Vielleicht erbst du etwas und bist bald eine reiche Frau«, scherzte Rasmus. »Dann brauchst du dich nicht länger mit Mord und Totschlag rumzuplagen.«

»Selbst wenn es so wäre … Ich würde keinen einzigen Cent annehmen.« Vibeke schob die Computertastatur von sich und sah ihn unverwandt an. Etwas in ihrem Blick veränderte sich, ohne dass er es einordnen konnte. »Diese Frau ist schwanger mit mir vom Schrank gesprungen, um mich loszuwerden. Als das nicht geklappt hat, ist sie zu einem Arzt gegangen, der mich wegmachen sollte, doch der hat gepfuscht.« Ihr Gesicht war jetzt vollkommen ausdruckslos, ihre Stimme klang seltsam monoton. »Am Tag meiner Geburt hat sie versucht, mich mit einem Kissen zu ersti cken, aber eine Krankenschwester hat sie dabei erwischt, und ich habe überlebt.«

Rasmus starrte sie fassungslos an. Er hatte gewusst, dass Vibeke eine schwierige Kindheit durchgemacht hatte, hin und her geschoben zwischen Heimen und Pflegefamilien, ehe sie zu den Boisens gekommen war, doch was sie jetzt erzählte, erschütterte ihn in seinen Grundfesten. Er selbst war behütet und glücklich in seiner Familie aufgewachsen, und auch wenn ihn seine Arbeit als Mordermittler bereits einiges gelehrt hatte, lag es außerhalb seines Begreifens, wie eine Mutter ihrem Kind so etwas antun konnte. Mit einem Mal verstand er, weshalb Vibeke bislang nie über ihre leiblichen Eltern gesprochen hatte.

»Deshalb mein Name«, fuhr Vibeke fort. »Vibeke, die Kämpferin. Die Schwestern im Krankenhaus haben ihn mir gegeben, und dabei ist es geblieben.« Sie schwieg.

Rasmus war voller Mitgefühl, und er hätte Vibeke am liebsten umarmt, doch er wusste instinktiv, dass sie es nicht zulassen würde.

Er räusperte sich. »Wurde die Frau je dafür belangt, was sie dir angetan hat?« Er brachte es nicht länger über sich, sie als Mutter zu bezeichnen.

Vibeke schüttelte den Kopf. »Nein. Solveigh war krank und hat einen großen Teil ihres Lebens in Krankenhäusern und betreuten Einrichtungen verbracht.« Sie biss sich auf die Unterlippe.

»Das ist alles absolut furchtbar.« Rasmus strich sich über seinen zurückgehenden Haaransatz. Er hätte gerne gewusst, unter welcher Krankheit Vibekes Mutter gelitten hatte, doch er traute sich nicht nachzufragen. Instinktiv wusste er, dass er damit eine unsichtbare Grenze überschritt. »Kein Wunder, dass du mit alldem nichts zu tun haben willst.« Er musterte sie. »Und dein leiblicher Vater?«

»Ich habe ihn nie kennengelernt. Und ich lege auch keinen Wert darauf. Werner ist mein Vater.« Vibekes Gesicht verschloss sich wieder.

Rasmus suchte ihren Blick. »Sorry wegen der Friedhofsache. Wenn ich gewusst hätte …« Der Rest des Satzes blieb unausgesprochen in der Luft hängen.

»Es war unverschämt und übergriffig«, erklärte Vibeke mit strenger Miene, »und ich sollte eigentlich kein Wort mehr mit dir sprechen. Ich treffe meine Entscheidungen allein, Rasmus. Das solltest du eigentlich längst wissen. Ich brauche keinen Beschützer. Also wirf künftig deine Rüstung weg, und wir beide kommen bestens klar miteinander.«

Rasmus nickte. Die Standpauke hatte er wohl verdient.

Im nächsten Moment streifte ein kaum wahrnehmbares Schmunzeln Vibekes Lippen. »Aber ich verstehe, warum du es getan hast, deshalb hast du noch einmal Glück gehabt.« Sie lächelte. Es war dieses offene, herzliche Lächeln, das ihrem Gesicht jegliche Strenge nahm und das er so mochte. »Und jetzt lass mich endlich meinen Bericht fertig schreiben, ansonsten komme ich hier nie raus.« Sie wandte sich wieder ihrem Computer zu.

Rasmus grinste. Fast schien es, als wäre die alte Vibeke zurück. Sein Handy klingelte. Maja. Er stand auf und griff nach seiner Jacke.

»Bis morgen, Vibeke.« Er betrachtete sie noch einen Moment, wie sie konzentriert an ihrem Bericht schrieb, dann verließ er das Büro der Sondereinheit und nahm das Gespräch an. »Hej, Maja.«

Hederup, Deutschland, 30. Dezember 1978

Es schneite und stürmte noch immer. Seit zwei Tagen. Ununterbrochen. In vielen Teilen Schleswig-Holsteins war der Katastrophenalarm ausgerufen worden. Die Infrastruktur war zusammengebrochen, die Schneeverwehungen stellenweise bis zu sechs Meter hoch, und Hederup war eins von rund achtzig Dörfern, die von der Außenwelt abgeschnitten waren. Weder Strom noch Heizung funktionierten, und das bei minus zwanzig Grad Außentemperatur. Sie saßen dicht zusammengedrängt, mit mehreren Schichten Kleidung am Leib, in der Küche und lauschten dem Nachrichtensprecher im Transistorradio.

Gerade wurde von den rund dreißigtausend Helfern von Bundeswehr, DRK, Feuerwehr, Technischem Hilfsdienst und anderen Hilfsorganisationen berichtet, die im ganzen Land pausenlos im Einsatz waren, und auch von den Hubschraubern, die unter schwersten Bedingungen die Eingeschlossenen mit Lebensmitteln und Futtersäcken für die Tiere aus der Luft versorgten. Schiffe waren auf der Ostsee eingefroren, und noch immer steckten Menschen auf den Autobahnen in ihren Fahrzeugen fest. Zudem waren erste Todesopfer zu beklagen.

»Ich will nach Hause«, jammerte Edith und zog die Wolldecke, die hinuntergerutscht war, wieder über ihre Schultern. »Was, wenn wir hier erfrieren? Wenn es nie wieder aufhört zu schneien?« Sie schniefte.

»Dein Gejammere hilft uns jedenfalls nicht weiter«, knurrte Otto neben ihr. Er war von der Kälte und der vorausgegangenen Anstrengung noch immer ganz rot im Gesicht.

Im Zweistundentakt begaben sich die beiden Männer vor die Haustür, um den angelegten Trampelpfad vom Eingang bis zum Gehweg vom Schnee zu befreien. Mit dem Wachsen der Schneeberge schwanden von Mal zu Mal ihre Kräfte. Hin und wieder löste Volker seinen Vater ab.

»Denk lieber an die armen Viecher.«

Bloß das nicht, dachte Edith und presste die Lippen zusammen. Auf dem etwa fünfhundert Meter entfernt liegenden Bauernhof schrien die Tiere schon seit den frühen Morgenstunden. Mit dem Strom waren auch die Melkmaschinen ausgefallen, und die Kühe mussten per Hand gemolken werden.

Bei dem Gedanken an die Milchkühe schossen Edith die Tränen in die Augen. Vor Jahren waren sie auf dem Hof zu Besuch gewesen. Der Bauer hatte den Kindern frisch gemolkene Milch zum Probieren gegeben, und sie hatten sich die Kälber ansehen dürfen. Jetzt hieß es, viele Tiere würden auf den Höfen verenden.

Der Radiosprecher berichtete gerade von einer Hochschwangeren, deren Fruchtblase geplatzt war und die mit dem Hubschrauber ins Krankenhaus geflogen worden war. Mutter und Kind waren wohlauf. Es war bereits das dreiundzwanzigste »Heli-Baby«, verkündete der Radiosprecher und schloss mit den Worten: »Bleiben Sie alle wohlauf.«

Edith schniefte erneut, als die Stimme von Musik abgelöst wurde.

Mittlerweile gingen sie auf dem Zahnfleisch. Morgen war Silvester, doch die Feier, auf die sich alle so gefreut hatten, würde ausfallen. Kein Raclette. Kein Bleigießen. Kein Feuerwerk. Stattdessen würden sie mit den letzten Scheiben Brot und mit Tütensuppen vorliebnehmen müssen, die sich mithilfe des Campingkochers zubereiten ließen. Ihre Wasservorräte gingen ebenfalls zur Neige, schon seit gestern waren die Leitungen zugefroren.

»Kommt, wir gehen raus«, sagte Volker zu den Mädchen. Die Kinder erhoben sich.

»Aber draußen ist es doch viel zu kalt«, protestierte Edith.

»Lass sie doch«, sagte Christel.

»Wir machen eine Schneeballschlacht«, rief Ella, die Jüngste im Bunde. »Da wird uns schnell warm.«

Die Kinder stoben aus der Küche.

Edith erhob sich und ging hinter ihnen zur Haustür, wo die Mädchen und ihr Cousin aus den Hausschuhen in ihre gefütterten Stiefel schlüpften, ehe sie hinaus in den Schnee liefen. Für die Kinder war alles ein Heidenspaß. Ein Abenteuer.

Edith zog die Decke ein wenig enger über ihre Schultern und machte einige Schritte unter das Vordach.

Das Schreien der Tiere war jetzt noch deutlicher zu hören. Ihr Herz zog sich vor Mitleid zusammen. Un willkürlich musste sie Otto recht geben. Sie alle froren, doch zumindest hatten sie keine Schmerzen.

Ihr Blick ging zum Nachbarhaus. Die Vorhänge waren noch immer zugezogen. Vielleicht hatte sie sich bei ihrer Ankunft getäuscht, und die Bewohner waren über die Feiertage verreist.

Edith seufzte. Vom Bürgersteig ertönte das schabende Geräusch von Schneeschaufeln. Irgendwo jauchzten die Kinder.

Schneeflocken fanden den Weg unter das Vordach und in Ediths Gesicht. Zitternd ging sie wieder ins Haus. Es schien ihr plötzlich ein klein wenig wärmer zu sein.

Sei dankbar, Edith. Hier bist du zumindest in Sicherheit.

»Die Nachbarn haben es gut«, verkündete sie, als sie zurück in die Küche kam. »Die sind verreist.«

»Wie kommst du darauf?«, fragte Christel.

»Na ja. Da tut sich schon seit Tagen nichts.«

»Heute früh war die Auffahrt geräumt«, brummte Otto. Seine Gesichtshaut hatte mittlerweile wieder einen normalen Farbton angenommen. »Das werden wohl kaum die Heinzelmännchen gewesen sein, oder?«

Edith sah beleidigt aus dem Fenster. Sie hasste es, wenn sich Otto über sie lustig machte, und seine Kommentare wurden von Mal zu Mal bissiger.

Es schneite noch immer. Wann hörte es endlich auf?

Ein Gedicht, das sie und später auch ihre Kinder in der Schule auswendig hatten lernen müssen, kam ihr in den Sinn. »Das Dorf im Schnee« von Klaus Groth. Noch immer wusste sie die ersten Zeilen:

Still, wie unterm warmen Dach,

Liegt das Dorf im weißen Schnee;

In den Erlen schläft der Bach,

Unterm Eis der blanke See.

Weiden steh’n im weißen Haar,

Spiegeln sich in starrer Flut;

Alles ruhig, kalt und klar

Wie der Tod, der ewig ruht.