Die Landschaft im südöstlichen Als lag unter einer dicken Schneedecke. Die winterkahlen Baumkronen waren in Raureif gehüllt, Nebelschwaden hingen wie milchiger Dunst über den Feldern. Irgendwann in der Nacht hatte es aufgehört zu schneien.
Es war kurz nach halb zehn, als Vibeke rund einen Kilometer südlich von Sarup an der mittlerweile geräumten Landstraße den Warnblinker anstellte und gefolgt von Rasmus aus dem Dienstwagen stieg. Augenblicklich pfiff ihr eisiger Wind um die Ohren, und sie setzte ihre Mütze auf.
Die rot-weißen Absperrbänder waren verschwunden, nur die vom Schnee befreite Ackerfläche neben dem Straßenrand, die sich unter der Frostschicht dunkel vom restlichen Weiß abhob, zeugte von dem vorausgegangenen Polizeieinsatz.
Noch in der Nacht hatten die Kriminaltechniker Lackspuren und Splitter eines Scheinwerfers am Fundort sichergestellt.
Vibeke betrachtete die Stelle, an der man den Toten gefunden hatte, ehe sie die Umgebung dahinter er fasste. Eine weiße Fläche, so weit das Auge reichte, nur hin und wieder unterbrochen von Bäumen und Büschen. Sie wandte sich um, und ihr Blick blieb an den nahe gelegenen Häusern von Ny Pøl hängen.
»Sieh mal, der Baum.« Rasmus deutete auf eine alte Eiche, die in etwa dreißig Metern Entfernung stand. »Was ist das dort am Stamm?« Oberhalb der Schneekante ragte kaum erkennbar eine Leiste am Stamm hervor.
»Vielleicht ein Holzkreuz.« Vibeke folgte Rasmus zum Baum.
Raureif löste sich von einem der Äste und benetzte ihr Gesicht. Unwillkürlich fröstelte sie.
Rasmus schob etwas Schnee von dem Holz beiseite, und eine Aufschrift wurde sichtbar. Die Initialen »M. M.« und das Datum 18.04.2001.
»Hier ist offensichtlich jemand gestorben«, sagte Vibeke. Immer wieder fanden sich solche Kreuze an Landstraßen, erinnerten an die Opfer von Verkehrsunfällen und führten den Vorbeifahrenden vor Augen, wie schnell das Leben vorbei sein konnte. Ein kurzer Augenblick der Unaufmerksamkeit reichte aus. Oftmals schmückten Blumen und Kerzen die Kreuze, und sie wurden zu Erinnerungsstätten für Hinterbliebene, die nicht mehr Abschied nehmen konnten. Stille Orte der Trauer.
»Antons Schulfreunde haben auch ein Kreuz aufgestellt«, sagte Rasmus neben ihr leise. »Und dazu Blumen, Fotos und Kerzen. Einige haben sogar Briefe geschrieben. Es war die reinste Pilgerstätte. Camilla ist ein paarmal hingegangen, aber ich konnte diesen Ort n icht ertragen.« Er strich sich mit einer müden Geste übers Gesicht und wandte den Blick ab.
Unvermittelt gingen Vibekes Gedanken zu der Beisetzung am Vortag. Hatte dort jemand Solveighs Tod beweint? Die Schwarzgekleidete mit den gefühlskalten Augen hatte zumindest nicht so ausgesehen. Doch Trauer hatte viele Gesichter.
Sie zwang ihre Gedanken beiseite und zog ihr Smartphone aus der Jacke, um das Holzkreuz zu fotografieren. Unterdessen umrundete Rasmus die Eiche und inspizierte eine Stelle auf der hinteren Seite des Stamms. »Hier ist ein Hohlraum.«
Vibeke ging zu ihm.
In gut anderthalb Metern Höhe befand sich ein Loch von etwa fünfzehn Zentimeter Durchmesser im Baum.
»Da hat anscheinend jemand nachgeholfen.« Rasmus fasste hinein. »Es ist von innen viel größer. Weshalb macht man so etwas?«
»Vielleicht ist es ein Versteck für Liebesbriefe«, sagte Vibeke.
Rasmus grinste. »Ich wusste gar nicht, dass du eine romantische Ader hast.«
»Habe ich auch nicht. Ich musste früher nur ständig mit Elke Liebesfilme schauen, und in einem davon ist so etwas vorgekommen. Sie hat übrigens heute Geburtstag. Elke.«
»Ach. Dann richte ihr bitte Geburtstagsgrüße von mir aus, wenn du sie siehst.«
»Mache ich. Wir sind am Abend im Restaurant verabredet, vorausgesetzt, ich bekomme es zeitlich hin.« Vibeke spürte, wie ihr die Kälte in die Glieder kroch. »Lass uns nach Ny Pøl fahren, hier finden wir ohnehin nichts mehr.«
Rasmus nickte, und sie stiegen wieder in den Dienstwagen.
Vibeke ließ den Motor an, fuhr ein Stück weiter die Straße entlang und setzte kurz darauf beim Wegweiser Richtung Ny Pøl den Blinker. Direkt hinter der Abbiegung führte eine Einfahrt zu einem gepflegten Gehöft mit weißer Fassade und rotem Ziegeldach.
Vibeke hielt den Dienstwagen an. »Hast du die Liste, wo wir hinmüssen?«
Rasmus zog einen gefalteten Zettel aus seiner Jackentasche und spähte aus dem Seitenfenster nach der Hausnummer. »Fahr weiter«, sagte er, nachdem er sie offenbar entdeckt hatte. »Hier waren die Kollegen schon.«
Vibeke setzte das Auto wieder in Gang. Ein paar Hundert Meter weiter tauchte das nächste Gebäude auf.
»Dort brauchst du nicht anzuhalten«, sagte Rasmus nach einem Blick auf seine Liste.
Kurz darauf kam ein weiteres Gehöft in Sicht. U-förmig angelegt, mit einem rot verklinkerten Haupthaus und zwei Nebengebäuden mit weiß verputzter Ziegelfassade.
Auf dem rechteckigen Vorplatz stand neben einem Fahnenmast mit Dannebrog ein dunkler Kombi, ähnlich wie Vibekes Dienstwagen, nur dass er ein dänisches Kennzeichen trug.
»Laut den Kollegen war hier gestern niemand zu Hause«, sagte Rasmus.
»Dann haben wir heute vermutlich mehr Glück.«
Schnee knirschte unter den Autoreifen, als sie den Dienstwagen in die Auffahrt lenkte. Sie parkte vor dem Eingangsportal mit hübscher weißer Flügeltür.
Eine zierliche Grauhaarige in den Sechzigern öffnete ihnen nach dem Klingeln die Tür. Sie trug einen hellen Strickpullover zur dunklen Hose, auf ihrer Nase thronte eine altmodische Brille, die ihre Augen um ein Vielfaches vergrößerte. »Ja?«
Rasmus zeigte ihr seinen Dienstausweis. »Wir sind von der Polizei. Rasmus Nyborg und Vibeke Boisen.«
»Ich bin Mette. Mette Jensen.« Ihr Blick wurde ängstlich. »Ist etwas mit meinem Mann? Oder mit den Kindern?«
»Keine Sorge«, beruhigte Rasmus sie umgehend. »Wir sind wegen etwas anderem hier. Gestern Vormittag wurde ganz in der Nähe an der Landstraße ein toter Mann aufgefunden. Ist dir in den letzten Tagen irgendetwas in der Gegend aufgefallen?«
»Ein Toter, sagst du?« Mette Jensen blickte erschrocken. »Nein. Mir ist nichts aufgefallen. War es ein Unfall?«
»Dazu können wir im Moment leider nichts sagen.« Rasmus rieb sich die geröteten Hände. »Aber vielleicht weißt du, für wen das Holzkreuz an der Landstraße ist.«
»Das an der alten Eiche?«
Rasmus nickte.
»Ich weiß nur, dass dort ein junger Mann ums Leben gekommen ist, aber das ist schon viele Jahre her. Es heißt, er sei mit Absicht gegen den Baum gefahren.«
»Und sonst ist dir in letzter Zeit nichts aufgefallen? Vielleicht jemand, der hier nicht hingehört, oder ein Auto mit fremdem Kennzeichen?«
Mette Jensen schüttelte erneut den Kopf. Im nächsten Augenblick blitzte es hinter ihren Brillengläsern auf.
»Der alte Hof …« Sie verstummte und zog die Stirn in Falten. »Olaf, mein Mann, erzählte vor Kurzem, er hätte dort Licht gesehen. Dabei steht das Gebäude seit Jahren leer. Niemand will dort wohnen.« Sie zupfte einen Fussel von ihrem Strickpullover. »Ich war überzeugt, dass sich mein Mann irrte. Er war bei den Nachbarn versackt und ziemlich betrunken, als er nach Hause kam. Ich bin dann tagsüber hingefahren, um nachzusehen.«
»Und?«, hakte Rasmus nach, als sie nicht weitersprach.
»Ich hatte recht«, sagte Mette. »Es war niemand dort.«
Enttäuschung spiegelte sich in Rasmus’ Blick.
»Weißt du noch, an welchem Tag das war, als dein Mann dort Licht gesehen hat?«, hakte Vibeke nach.
Die Antwort kam prompt. »Letzte Woche. In der Nacht von Freitag auf Samstag, irgendwann in den Morgenstunden.«
Vibeke und Rasmus tauschten einen bedeutsamen Blick.
Am Freitag waren die Dahlmanns ermordet worden.
Sie zog ihr Notizbuch heraus. »Kannst du uns den Weg zu dem Haus beschreiben?«
Der Hof lag am Rande eines kleinen Waldstücks, zugewuchert von rankenden Pflanzen und Büschen, nur die Eingangstür und zwei danebenliegende Fenster waren frei und starrten ihnen wie ein dunkles Augenpaar schaurig entgegen. Weit und breit war kein anderes Gebäude in Sicht.
Vibeke versank bis zu den Waden im Schnee, während sie neben Rasmus die Einfahrt entlangstapfte. Hinter einer ausladenden Tanne erkannte sie eine Scheune aus verwittertem Holz mit windschiefem Dach. Daneben vergammelte, tief mit der Natur verwachsen, ein ausgedienter Traktor zu landwirtschaftlichem Schrott.
»Wenn wir hier mal nicht auf dem Holzweg sind«, murmelte Rasmus, die Hände tief in den Jackentaschen vergraben.
Vibeke hatte ihren Schal bis zur Nasenspitze hochgezogen, nur ihre Augen schauten unter der Mütze heraus. Obwohl sie Winterstiefel trug, spürte sie mit jedem weiteren Schritt, wie die Feuchtigkeit langsam durch den Stoff ihrer Hose kroch.
Das Hofgebäude wirkte verfallen. Zerbrochene Scheiben, bröckelnder Putz, Moosbewuchs und beschädigtes Mauerwerk. Alles sah einsam und verlassen aus.
Rasmus griff nach der Türklinke, doch es tat sich nichts.
Vibeke spähte durch ein kaputtes Fenster ins Innere. Jede Menge Gerümpel, Dreck und Schutt. In einer Zimmerecke hingen Spinnweben wie Gardinen auf ein zerschlissenes Sofa herab.
Rasmus hatte unterdessen den Eingang vom Schnee befreit und rüttelte an der Haustür.
»Rasmus, lass das«, sagte Vibeke. »Wir können hier nicht einfach eindringen.«
»Weshalb nicht?« Er zog ein weiteres Mal kräftig an der Klinke, und dieses Mal schwang die Tür unter lautem Ächzen auf. »Ist doch offen. Aber wenn du nicht willst …« Achselzuckend wandte er sich um und trat über die Schwelle.
Vibeke seufzte und folgte ihm in einen düsteren Korridor.
Ein ranziger Gestank schlug ihnen entgegen, vermutlich durch zahlreiche Jahre ohne Heizung entstanden. Eine offene Tür führte in den Raum, den Vibeke bereits durch das Fenster gesehen hatte und bei dem es sich offenbar um das frühere Wohnzimmer handelte. Drinnen zog es wie Hechtsuppe. Die Kälte drang nicht nur durch die kaputten Scheiben, sondern auch durch zahlreiche Ritzen im Gemäuer.
Rasmus zog sein Smartphone aus der Hosentasche und leuchtete mit der Taschenlampenfunktion den Flur entlang. Der Boden war übersät mit Staub und Dreck und kleinen schwarzen Krümeln. Mäusekot.
Der nächste Raum war die Küche. Zerschlissener Linoleumboden, kaputte Schränke, die Fliesen bedeckt mit Müll und sonstigem Unrat. Aus uralt aussehenden Konservendosen drang Schimmelgeruch, dazu stank es nach fauligem Abfluss.
»Heilige Scheiße«, fluchte Rasmus leise, als der Lichtstrahl seines Handys eine tote Ratte erfasste.
Er bewegte sich weiter den Flur entlang, doch auch in den anderen Räumen sah es nicht viel anders aus. Zerstörte Möbel, vergammelte Textilien, leere Getränkeflaschen und Lebensmittelreste, die widerwärtige Ausdünstungen verströmten, in einem der Zimmer lag eine durchgelegene Matratze mit eingetrockneten Urinflecken. Keinerlei Anzeichen, dass vor Kurzem jemand darauf geschlafen oder sich sonst irgendwo im Haus aufgehalten hatte.
Schließlich standen sie wieder im Freien.
»Dieser Olaf muss sich geirrt haben«, sagte Rasmus.
»Sehen wir noch in der Scheune nach.« Vibeke stapfte an der Hauswand entlang zum danebenliegenden Gebäude. Ein Teil des Daches war eingefallen.
»Hoffentlich kracht der Rest nicht über unseren Köpfen zusammen«, murrte Rasmus.
»Wo ist deine Abenteuerlust geblieben?«
»Die hat sich mit dem ganzen Gestank dadrinnen in Luft aufgelöst.« Ihr Kollege deutete mit dem Kopf zurück zum Haus. »Da drinnen riecht’s schlimmer als in der Rechtsmedizin.« Er rümpfte die Nase.
Vibeke entdeckte am Eingangstor ein kleines Schloss. Es war aus gebürstetem Edelstahl und wies keinerlei Beschädigungen auf. »Das hängt noch nicht lange hier.«
Sie spähte durch einen Spalt zwischen den Holzlatten. »Da steht ein alter schwarzer Golf drin.« Ihre Augen erfassten das Kennzeichen. »Ich glaub’s ja nicht.«
Rasmus schob sich an ihr vorbei und sah an einer anderen Stelle in die Scheune. »Das ist Rickys Auto.«
Vibeke nickte. »Ich ruf die Spurensicherung an.«
»Warte«, hielt Rasmus sie zurück. Er blickte erneut durch die Öffnung. »Daneben steht noch etwas unter einer Plane.«
»Lass mich mal sehen.«
Rasmus trat beiseite, um ihr Platz zu machen.
Vibeke sah eine grüne Abdeckung neben dem Golf. Der Form nach befand sich darunter ein weiteres und größeres Fahrzeug.
»Wetten, das ist Dahlmanns Wagen?« Aufregung schwang in Rasmus’ Stimme. Er verschwand hinter der Scheunenecke. »Hier kann man rein!«, rief er kurz darauf.
Vibeke wusste, dass ihn jetzt nichts auf der Welt davon abhalten konnte, die Scheune zu betreten, anstatt auf die Spurensicherung zu warten. Seufzend ging sie ihm hinterher.
An der Seitenwand hatten sich zwei Latten gelöst, und die Lücke war gerade breit genug für einen Menschen. Rasmus war bereits im Begriff, sich durchzuzwängen.
»Nimm wenigstens die hier.« Sie griff in ihre Jackentasche und reichte ihm ein paar Einweghandschuhe, die er ohne Widerspruch entgegennahm und über seine vor Kälte geröteten Hände streifte.
Vibeke zog ebenfalls Einweghandschuhe an und schlüpfte hinter Rasmus durch den Spalt. In der Scheune lag allerlei Gerümpel herum. Verrostete Gartengeräte, ein altes Klappfahrrad, ausgediente Autoreifen.
Rasmus hob die grüne Plane an. Er schnalzte. »Habe ich es doch gewusst.«
Die Motorhaube einer schwarzen Mercedes-Li mousine kam zum Vorschein. Das Kennzeichen war abmontiert worden, trotzdem hatte Vibeke keinen Zweifel daran, dass es sich um den gestohlenen Wagen von Konrad Dahlmann handelte.
Sie zog ihr Handy aus der Jackentasche und wählte die Nummer der Spurensicherung.
»Weshalb hast du ihn gehasst?«, frage Mirjam. »Ihr wart doch Brüder.« Sie saß auf dem Sofa mit den Cordbezügen und musterte ihren Onkel, der mit stoischem Blick auf eines der Landschaftsgemälde schaute. Ein röhrender Hirsch an einem Bergsee. Das Bild stammte noch aus dem Besitz ihrer Großeltern und war nach deren Tod an seinem angestammten Platz hängen geblieben. Auch der Großteil der Möbel, schwere Stücke aus Mahagoni, war ebenso vorhanden wie die alten Spitzengardinen, mittlerweile mehr grau als weiß. Durch die kleinen Fenster fiel trübes Tageslicht herein.
»Mensch, Ulli, jetzt sag doch was«, forderte sie ihren Onkel auf. Früher war der Bruder ihres Vaters ein lustiger Zeitgenosse gewesen, vergnügt und zu Scherzen aufgelegt, doch im Lauf der Jahre, nachdem ihre Großeltern erst krank geworden und dann gestorben waren, war er immer mehr zu diesem verbitterten untersetzten Mann geworden. »Es war doch auch mal anders zwischen euch, oder? Erinnerst du dich noch an die Weihnachtsfeste, an denen wir alle zusammen gefeiert haben? Ihr habt euch beim Wichteln ständig gegenseitig aufgezogen. Alle hatten einen Heidenspaß.«
»Das ist lange her.« Sein Blick löste sich von dem röhrenden Hirsch und heftete sich vorwurfsvoll auf seine Nichte. »Warum hast du mich nicht angerufen und mir Bescheid gegeben, dass deine Eltern tot sind?«
Mirjam schluckte. Ihr Onkel hatte recht. »Entschuldige, das hätte ich tun sollen. Ich war einfach überfordert mit der Situation.«
Einige Sekunden vergingen, dann nickte er.
»Ich habe ihn nicht gehasst.« Ulrich strich sich mit der Hand über das rot schimmernde Geflecht auf seinen Wangen. »Ich konnte ihn einfach nur nicht mehr ertragen. Mit seiner Selbstgefälligkeit und seiner Großspurigkeit. Konrad hielt sich für den Nabel der Welt.« Er schlug die Augen nieder, und sein Blick unter den gesenkten Lidern ging von links nach rechts. »Er hat uns alle im Stich gelassen. Mama. Papa. Und auch mich. Ständig hat er irgendwelche Reden geschwungen von wegen, wir müssen dies und jenes für die Eltern tun. Doch gemeint damit hat er mich. Er selbst hat keinen Finger gerührt, sondern nur den großzügigen Gönner gespielt.« Seine Stimme troff vor Verachtung. »Leider hat es außer mir und Bärbel niemand gemerkt. Und am wenigsten die Eltern. Konrad blieb immer ihr Goldjunge.« Sein wässriger Blick richtete sich auf Mirjam. »Entschuldige, dass ich so über deinen Vater spreche, aber du hast gefragt. Und ich will es nicht schönreden, nur weil er tot ist.«
Mirjam nickte. »Glaub mir, ich weiß, wie Papa war. Und nicht nur ich.« Sie schlug die Beine überein ander. »Weshalb ich hier bin … Ich wollte mit dir besprechen, wie es mit dem Haus weitergeht.«
»Konrad und ich haben das doch alles geklärt«, erwiderte ihr Onkel verständnislos. »Vor seinem Tod. Ich war einverstanden, ihm meinen Anteil vom Haus zu verkaufen, dafür wollte er mir und Bärbel lebenslanges Wohnrecht einräumen.«
»Davon weiß ich nichts.«
Die Tränensäcke unter Ulrichs Augen nahmen einen dunkleren Ton an. »Wir haben vor Weihnachten telefoniert«, erklärte ihr Onkel aufgebracht. »Konrad wollte vorbeikommen, um die Einzelheiten zu besprechen.«
»Ach«, sagte Mirjam überrascht. Ihr Vater hatte kein Sterbenswörtchen darüber gesagt. »Und wann sollte das stattfinden?«
Ihr Onkel fuhr sich mit der Hand über den Mund. »Es ist nicht mehr dazu gekommen.«
Mirjam runzelte die Stirn, verkniff sich aber einen Kommentar. Sie hatte Zweifel, dass ihr Onkel die Wahrheit sagte. Weshalb hätte ihr Vater plötzlich einlenken sollen?
»Du glaubst mir nicht«, stellte Ulrich fest. Offenbar sprach ihr Gesicht Bände.
»Es fällt mir zugegebenermaßen schwer«, gab Mirjam unumwunden zu. »Ihr habt euch jahrelang bekriegt, und jetzt, wo Papa tot ist, sagst du, ihr hättet euch geeinigt. Das ist schon ein bisschen merkwürdig, findest du nicht auch? Woher soll ich wissen, dass du mich nicht anlügst?« Der Eintrag, von dem ihr die Polizei erzählt hatte, fiel ihr wieder ein. »Oder bist du vielleicht D. A.? Das stand in Papas Kalender.«
Ulrich blähte die Nasenflügel. »›Der Arsch‹. So hat Konrad mich immer genannt, wenn er dachte, dass ich es nicht mitkriege. Er wollte an dem Freitagnachmittag vorbeikommen, aber er war nicht hier.« Er knetete seine Hände. »Schwer zu begreifen, dass er tot ist.«
Mirjam musterte ihn. Sie wusste nicht, was sie von seiner Eröffnung halten sollte. »Hast du der Polizei davon erzählt, dass Papa vorbeikommen wollte?« Sie klang gereizter als beabsichtigt.
Ulrich schüttelte den Kopf. »Damit hätte ich mich bei denen bloß verdächtig gemacht. Ich habe ihnen nur erzählt, dass Konrad angerufen hat. Sonst hätten sie es anhand der Verbindungsnachweise herausgefunden.«
Mirjams Skepsis wuchs. Sie war sich nicht sicher, ob sie ihrem Onkel trauen konnte. Wer wusste schon, ob er die Wahrheit sagte. Vielleicht hatten sich die beiden doch getroffen, ihr Streit war eskaliert, und ihr Onkel versuchte nun, seine Haut zu retten. Doch war er zu derartig brutalen Morden überhaupt fähig? Noch dazu an ihrer Mutter?
»Möglicherweise hat Konrad es bei irgendjemandem übertrieben«, sagte Ulrich. Offensichtlich wollte er vom Thema ablenken. »Zumindest wundert es mich nicht, dass ihn jemand umgebracht hat. Konrad konnte einen zur Weißglut treiben.«
»Und Mama?«, brach es aus Mirjam heraus. »Sie hat niemandem etwas getan.«
Unangenehmes Schweigen machte sich breit.
Aus der Küche drang das Klappern von Töpfen, und sie meinte, den Geruch nach deftigem Fleisch und Rotkohl wahrzunehmen. Sofort sah Mirjam die riesigen Fettaugen vor sich, die auf fast jedem Essen ihrer Tante schwammen und die von zu viel Gänseschmalz stammten. Unwillkürlich drehte sich ihr der Magen um.
»Du hast recht«, sagte Ulrich versöhnlich und suchte ihren Blick. »Ich hätte das nicht sagen sollen.« Und als sie nichts erwiderte, fügte er hinzu: »Was wird jetzt aus Konrads Firma?«
»Ich weiß es noch nicht«, entgegnete Mirjam reserviert. Dabei streifte ihr Blick die Anrichte, auf der sich eine dicke Staubschicht gebildet hatte. Unwillkürlich spürte sie einen dicken Kloß im Hals. Sie räusperte sich. »Vermutlich werde ich verkaufen.«
»Konrad hatte die Vermutung, dass er betrogen wurde«, sagte ihr Onkel.
Mirjam sah ihn überrascht an. »Von wem?«
»Das hat er nicht gesagt.« Ulrich legte die Stirn in Falten. »Aber vielleicht von seinem Geschäftsführer, diesem Faber. Zumindest hat der ihm wohl dazu geraten, die Firma zu verkaufen.«
Sie betastete ihre Halskette. »Das hat Papa erzählt?« Ihre Gedanken rasten. Weshalb hätte Julius ihren Vater zum Verkauf raten sollen? Und wenn es stimmte, warum hatte er das vor ihr verheimlicht?
Sie rief sich das letzte Familientreffen an Heiligabend in Erinnerung. Ihr Vater hatte von einigen Projekten erzählt, die sie bei Dahlmann Invest in den letzten Wochen des Jahres erfolgreich abgeschlossen hatten, und dass er den Zuschlag für ein Fünf-Parteien-Mehrfamilienhaus in Toplage erhalten hatte, das er umwandeln wollte. Nichts davon hatte sich angehört, als steckte das Unternehmen in Schwierigkeiten, vielmehr hatte ihr Vater zufrieden gewirkt. Doch viell eicht versuchte Ulrich auch nur Zwietracht zu säen. Schließlich gehörten zu einem Streit noch immer zwei. Sicher, ihr Vater war kein Unschuldslamm gewesen, sie wusste das selbst nur allzu gut, doch ihr Onkel war ebenfalls mit Vorsicht zu genießen. Jetzt fiel ihr auf, wie schweigsam er geworden war. Sein Blick ging ins Leere, während er an seinen Fingern herumknibbelte. Die Nägel waren zum Teil bis zum Nagelbett abgepult, die umliegende Haut rot und geschwollen.
Ulrich räusperte sich. »Was habt ihr denn jetzt vor mit dem Haus? Du und Thomas.«
»Wir werden es dir jedenfalls nicht wegnehmen«, presste Mirjam hervor. Ihre Gedanken kreisten noch immer um Julius. Wenn es stimmte, was ihr Onkel erzählte, weshalb hatte Julius ihr keinen Ton davon gesagt? Hatte er noch mehr Geheimnisse vor ihr?
Die teure Uhr fiel ihr ein, die er seit Neuestem trug. Mirjam hatte die Marke gegoogelt. Das Modell kostete eine hübsche Stange Geld. An die zwanzigtausend Euro. Und es war mit Sicherheit kein Geschenk seiner Ex.
»Danke, Miri«, sagte ihr Onkel erleichtert.
Mirjam schob die Gedanken an Julius beiseite. »Ich muss natürlich noch mit Thomas sprechen. Aber ich bin sicher, wir finden eine Lösung, die für uns alle passt.« Sie erhob sich.
Ihre Tante erschien in der offenen Tür. »Du bleibst doch zum Essen, oder? Es gibt Rouladen mit Rotkohl.«
Mirjam zwang sich zu einem Lächeln. »Vielen Dank, Bärbel. Aber ich muss nach Hamburg zurück.« Sie griff nach ihrem Mantel, den sie über einen der Esszimmerstühle gelegt hatte, und bemühte sich um einen freundlichen Tonfall, als sie sich ihrem Onkel zu wandte. »Ich melde mich bei dir, Ulli.« Ohne eine Reaktion abzuwarten, verließ sie das düstere Fachwerkhaus.
Rund anderthalb Stunden später saß sie bei Dahlmann Invest am Schreibtisch ihres Vaters. Er hatte ihr schon vor Jahren für den Notfall einen Schlüssel zu den Büroräumen gegeben, doch bislang hatte Mirjam nie davon Gebrauch gemacht. Aber das, was ihr Onkel über die Firma und Julius erzählt hatte, ließ sie nicht los.
Dort, wo normalerweise der Computer auf dem Schreibtisch stand, befand sich eine freie Fläche. Vermutlich hatte die Polizei ihn mitgenommen.
Sie strich mit den Fingerspitzen über die Lehnen des Stuhls, in dem ihr Vater jahrelang gesessen hatte, zögerte einen kurzen Moment, doch dann beugte sie sich vor und durchsuchte die Schubladen. Objektbeschreibungen, Architektenpläne, Fachzeitschriften, jede Menge Büromaterial, eine Tafel seiner Lieblingsschokolade, Zigarren und eine Flasche Single Malt. Alles Dinge ohne Belang.
Mirjam erhob sich und wandte sich den Aktenschränken zu. Die Bilanzen und Geschäftsberichte waren im Computer gespeichert, doch sie wusste, dass sämtliche Unterlagen auch in Papierform aufbewahrt wurden.
Sie öffnete eine der Türen und wurde sogleich fündig. Feinsäuberlich mit Etikett und Datum versehen, befanden sich dort in schmalen Aktenordnern die Geschäftsberichte. Das vergangene Jahr fehlte, was nicht weiter verwunderlich war, da der Jahresabschluss in den ersten drei Monaten des folgenden Geschäftsjahrs aufgestellt wurde. Und das war erst wenige Tage alt.
Mirjam zog den neuesten Aktenordner heraus, blätterte durch die Seiten und las sich durch Bilanzen und Gewinn-und-Verlust-Rechnungen. Schließlich stellte sie den Aktenordner zurück an seinen Platz und nahm sich den vom Vorjahr vor. Anschließend sah sie sich ein halbes Dutzend weiterer Geschäftsberichte an.
Dahlmann Invest hatte hohe Gewinne gemacht, auch wenn das Unternehmen nicht mehr ganz so gut dastand wie noch vor einigen Jahren. Die Gründe waren vielfältig. Das Interesse an Luxuswohnungen war leicht rückläufig, zudem stiegen die Sanierungskosten, und mit der auferlegten Siebenjahresfrist musste die Firma länger auf den Rückfluss ihrer Investitionen warten. Dabei deckten die Mieteinnahmen nur einen Teil der laufenden Kredite ab. Auch die Neuinvestitionen waren rückläufig, das hing mit der neuen Umwandlungsverordnung zusammen, die bis Ende Dezember 2025 in Kraft blieb.
Im nächsten Schrank waren die Projektunterlagen nach dem Alphabet sortiert. Dazwischen gab es einige Lücken, entweder die fehlenden Akten befanden sich beim zuständigen Sachbearbeiter oder die Polizei hatte sie mitgenommen. Doch es würde Tage dauern, sämtliche Unterlagen zu sichten, zumal sie nicht einmal wusste, wonach sie suchen sollte.
Mirjam öffnete einen weiteren Schrank. Dort befanden sich in einem Hängeregister die Personalunterlagen. Ihr Vater hat die Aufstellung einer HR-Abteilung für die Firma stets abgelehnt. In ihrer Größenordnung lohne es sich nicht, hatte er immer gesagt. Stattdes sen fungierte Frau Düring neben ihrer Empfangs- und Sekretariatstätigkeit auch als Anlaufstelle für die Mitarbeitenden, und die Personalentscheidungen traf ohnehin nur er – in den letzten Jahren unter Mithilfe seines Geschäftsführers.
Ihr Blick blieb am Buchstaben »F« hängen. Wie viel verdiente Julius als Geschäftsführer? Sie zögerte. Was sie vorhatte, war ein Vertrauensbruch. Andererseits würde sie sich spätestens in ein paar Wochen ohnehin um die Belange der Firma kümmern müssen.
Mirjam zog die Mappe mit Julius’ Namen heraus. Direkt hinter dem Personalbogen befand sich sein Arbeitsvertrag. Sie blätterte durch die Seiten, bis sie auf sein Jahreseinkommen stieß. Einhundertzweiunddreißigtausend Euro Grundgehalt plus eine Tantieme von bis zu fünfundzwanzig Prozent. Nicht schlecht, dachte Mirjam, doch angesichts seiner Luxuswohnung und seines Lebensstils und der Forderung seiner Noch-Ehefrau blieb unterm Strich vermutlich nicht viel übrig. Sie überflog noch die Jahresbeurteilungen, blätterte durch die Zeugnisse früherer Arbeitgeber und wollte die Mappe gerade wieder zurück ins Hängeregister stecken, als ihr auffiel, dass sich auf dem hinteren Aktendeckel ein Bleistiftvermerk befand. Der Name des Notars, mit dem Dahlmann Invest zusammenarbeitete, sowie ein zwei Jahre zurückliegendes Datum.
Mirjam wusste, dass ihr Vater Dokumente mit sensiblen Daten mitunter beim Notar eingelagert hatte. Offenbar war dies auch bei Julius’ Personalunterlagen der Fall. Sie ging zum Schreibtisch ihres Vaters und suchte in der Rollkartei nach dem Namen des Notars. Neben dem Festnetzanschluss war auch eine Mobil nummer angegeben. Kurz entschlossen wählte sie die Nummer auf ihrem Handy.
Mirjam biss sich vor Anspannung auf die Unterlippe, während sie darauf wartete, dass am anderen Ende das Gespräch entgegengenommen wurde.
Eldar Moberg riss die Augen auf. »Was sagt ihr da?!« Er spie die Worte förmlich aus, dabei verfehlte ein Speicheltropfen Rasmus nur um Haaresbreite.
Der Anruf von Søren war vor einer halben Stunde gekommen. Der Tote im Schnee war anhand eines DNA-Abgleichs eindeutig als Ricky Ahlgren identifiziert worden, und Rasmus und Vibeke waren zum Hof seiner Großeltern gefahren, um die Todesnachricht zu überbringen.
Hinter Eldar tauchte Agnete auf. »Was ist denn los?« Sie erblickte die beiden Kriminalbeamten. »Ach, ihr seid es.«
»Ricky ist tot«, brummte Eldar.
Agnete wurde aschfahl im Gesicht, klammerte sich hilfesuchend mit einer Hand am Arm ihres Mannes fest, während die andere vor ihren Mund glitt. Sie stieß ein ersticktes Schluchzen aus.
»Können wir vielleicht reinkommen«, bat Rasmus, doch der alte Mann rührte sich keinen Millimeter von der Stelle.
»Hier kommt niemand rein«, bellte er ihnen wütend entgegen. »Und schon gar keine Deutsche.« Sein lodernder Blick richtete sich auf Vibeke. »Ihr seid doch schuld an allem.«
Rasmus hob warnend die Hand. »Hey, hey, beruhige dich, Eldar. Wir verstehen, dass du aufgebracht bist, aber früher oder später wirst du mit uns reden müssen. Du willst doch sicher wissen, was mit deinem Enkel passiert ist, oder?«
Eldars Augen schossen Pfeile ab.
»Ich will es wissen«, antwortete Agnete mit tränenerstickter Stimme anstelle ihres Mannes, dem sie sich jetzt zuwandte. »Lass mich mit ihnen reden, Eldar.« Sie schob ihn sacht beiseite.
»Tu, was du nicht lassen kannst, aber wehe, sie kommen ins Haus.« Er drehte sich um und verschwand in einem der hinteren Räume.
Rasmus runzelte die Stirn. Eldars Worte klangen wie eine handfeste Drohung. Oder interpretierte er zu viel hinein? Waren sie nur ein Ausdruck von Hilflosigkeit angesichts seiner Trauer?
»Er beruhigt sich wieder.« Agnete wischte sich mit dem Handrücken die Tränen aus dem Gesicht. »Und jetzt sagt, was ist mit Ricky passiert?«
Rasmus wechselte einen raschen Blick mit Vibeke. Er fühlte sich unwohl dabei, die Todesnachricht zwischen Tür und Angel zu überbringen.
»Es tut uns sehr leid«, sagte seine Kollegin mitfühlend. »Aber dein Enkel wurde gestern tot an der Landstraße aufgefunden. Ein Auto hat ihn überfahren.«
Agnete starrte sie verwirrt an. »Weshalb wurde er nicht in ein Krankenhaus gebracht?«
Rasmus räusperte sich. »Wir wissen noch nicht genau, was passiert ist, aber Ricky hat bei dem Zusammenprall schwere Verletzungen erlitten.« Er holte tief Luft. »Er starb am Unfallort an Unterkühlung.«
Rasmus hielt die Einzelheiten aus der Rechtsmedizin vor der alten Frau zurück. Dass Ricky neben zahlreichen Knochenbrüchen schwere Kopfverletzungen erlitten hatte und sein Sterben mehrere Stunden gedauert hatte. Dass es erst zum Absinken der Körpertemperatur auf 26 bis 28 Grad gekommen war, ehe schließlich nach Atemlähmung und Herzkammerflimmern der Tod eingetreten war.
Agnete stieß ein ersticktes Schluchzen aus, klammerte sich Halt suchend an den Türrahmen.
Vibeke machte einen Schritt vor, um sie zu stützen. »Komm, ich bringe dich rein.«
»Nein, es geht schon«, wehrte Agnete ab. »Ich will nicht, dass Eldar sich wieder aufregt.«
Vibeke trat zurück hinter die Schwelle. »Hatte Ricky sich noch einmal gemeldet?«
Die alte Frau schüttelte den Kopf. »Wo genau wurde er gefunden?«
»An der Landstraße Höhe Ny Pøl.«
»Aber was hat er denn dort gewollt?«
Rasmus räusperte sich. »Wie es aussieht, hat er den Wagen von Konrad Dahlmann gestohlen und ihn in einer Scheune in Ny Pøl versteckt.«
Agnete schlug erneut die Hand vor den Mund, und es dauerte eine Weile, ehe sie sich wieder gefasst hatte.
»Dann wurde er absichtlich totgefahren?« In ihren Augen schimmerten Tränen.
»Dazu können wir im Moment noch nichts sagen. Es ist Gegenstand der Ermittlungen.« Rasmus rieb sich die kalten Hände. »Rickys Eltern … wo können wir sie erreichen?«
»Seine Mutter ist an einer Überdosis Tabletten gestorben, als Ricky fünfzehn war. Und Magnus …« Sie verstummte.
Rasmus hob fragend die Brauen.
»Ich weiß nicht, wo mein Sohn steckt. Eldar und er haben sich vor Jahren überworfen.« Agnetes Hand krümmte sich um den Türrahmen. »Magnus ist von hier weggegangen. Anfangs hat er noch angerufen, aber das letzte Mal ist schon ewig her.«
»Weißt du, wohin er gegangen ist?«
»Nach Deutschland. Irgendetwas mit Nieder.«
»Niedersachsen?«, half ihr Vibeke auf die Sprünge.
»Das könnte sein.«
»Sollte dir noch irgendetwas einfallen, melde dich bitte bei uns.« Rasmus holte eine Visitenkarte heraus und notierte auf der Rückseite seine Handynummer, ehe er sie an Agnete Moberg weiterreichte. »Dort erreichst du mich jederzeit.«
Die Frau ließ die Karte in ihre Hosentasche gleiten. »Ich muss jetzt nach Eldar sehen.«
Sie verabschiedeten sich.
Vor dem Haus nahm Rasmus den Kombi der Mobergs in Augenschein, doch es stimmte weder die Farbe mit den gefundenen Lackspuren überein, noch gab es einen Hinweis darauf, dass das Fahrzeug vor Kurzem in einen Unfall verwickelt gewesen war.
»Dann holen wir jetzt Jeppe Olsen zur Vernehmung«, sagte Vibeke und öffnete die Tür zu ihrem Dienstwagen. »Ich bin gespannt, was er uns zu alldem zu sagen hat.«
Rasmus nickte. »Das bin ich auch.«
Jeppe Olsen betrachtete seine ineinander verschränkten Hände, die er auf der Tischplatte abgelegt hatte.
»Was genau wird mir eigentlich vorgeworfen?« Er hob den Blick.
»Du wirst im Mordfall Luise und Konrad Dahlmann als Zeuge befragt«, gab Rasmus sachlich zurück. Mittlerweile war es Mittag, und sie saßen im Konferenzraum des Gemeinsamen Zentrums. Ein Kollege von der Polizeistation, die im vorderen Gebäudekomplex untergebracht war, hatte sich als Schreibkraft zur Verfügung gestellt und dokumentierte alles im Hintergrund. »Noch einmal fürs Protokoll: Wo hast du dich letzten Freitag aufgehalten?«
Jeppe verdrehte die Augen. »Das habe ich doch alles schon erzählt.«
»Dann erzähle es noch einmal.«
Der Kfz-Mechatroniker fuhr sich mit der Hand durch die hellblonden Haare. »Ich war gegen acht in der Werkstatt. Wir hatten einige Aufträge, die noch vor dem Wochenende fertig werden mussten. Unter anderem das Auto von Lutz Kerber. Da gab es Probleme mit dem Vergaser. Ricky und ich waren jedenfalls gut be schäftigt. Gegen halb sechs, oder vielleicht war es auch sechs, haben wir dann Feierabend gemacht.«
»Und du hast die Werkstatt nicht zwischendurch verlassen? Vielleicht um etwas zu essen?«
Jeppe schüttelte den Kopf. »Nein, ich hatte mir morgens ein paar Brote geschmiert.«
»Und Ricky?«
»Er war die ganze Zeit bei mir in der Werkstatt.« Jeppe hatte den Blick seiner wasserblauen Augen auf Rasmus gerichtet.
»Dann haben wir ein Problem.« Rasmus tippte mit dem Kugelschreiber auf die vor ihm liegende Mappe, in der sich neben dem vorläufigen Obduktionsbericht auch einige Fotos des toten Ricky Ahlgren befanden.
»Wir haben Konrad Dahlmanns Auto gefunden«, sagte Rasmus bedächtig. »Und wir wissen, dass Ricky mit dem Diebstahl zu tun hat. Daraus ergeben sich jetzt zwei Möglichkeiten.« Er lehnte sich im Stuhl zurück und schlug lässig die langen Beine übereinander. »Entweder, du hast uns angelogen und Ricky für vorletzten Freitag ein falsches Alibi gegeben, oder aber ihr habt das Auto gemeinsam gestohlen.« Er ließ Jeppe nicht aus den Augen.
»Es war so, wie ich es erzählt habe«, beharrte Jeppe. Er knackte mit den Fingern. »Fragt Ricky! Er kann euch alles bestätigen.«
»Ricky ist tot«, sagte Rasmus schonungslos. Er öffnete die vor ihm liegende Mappe und schob ein Foto von Rickys Leiche über den Tisch.
In Jeppes Gesicht zuckte es. »Das ist kein Fake?«
Rasmus schüttelte den Kopf. »Wo warst du letzten Donnerstagabend und in der Nacht?«
Jeppe starrte ihn mit offenem Mund an. »Ihr denkt, ich war das?«
»Was fährst du für ein Auto?«, antwortete Rasmus mit einer Gegenfrage.
»Einen schwarzen Peugeot. Wieso?«
»Weil dein Kumpel Ricky in der Nacht von Donnerstag auf Freitag an einer Landstraße von einem schwarzen Auto angefahren wurde und dort schwer verletzt liegen gelassen wurde. Ganz in der Nähe von Sarup.« Rasmus zog ein weiteres Foto aus der Mappe, das den toten Ricky Ahlgren mit steif gefrorenen Gliedmaßen am Fundort zeigte.
Jeppe warf einen kurzen Blick darauf, und Entsetzen spiegelte sich in seinem Gesicht. »Und jetzt denkt ihr, dass ich das war?« Sein Adamsapfel hüpfte auf und ab. »Dann will ich einen Anwalt.«
»Das ist dein gutes Recht.« Rasmus beugte sich vor. »Bis er eintrifft, müssen wir dich allerdings hierbehalten. Wie ist der Name deines Anwalts? Wir rufen ihn an.«
Jeppe fingerte nervös an seinen Hosenbeinen, schließlich fuhr er sich mit der Hand über den Mund. »Ich habe damit nichts zu tun, hört ihr.«
»Womit genau hast du nichts zu tun?«
Jeppe deutete auf das Foto seines toten Freundes. »Ricky hat mich am Donnerstag angerufen und gesagt, er hätte was am Laufen.«
»Geht das vielleicht auch ein wenig genauer?«
»Was weiß denn ich?«, brauste Jeppe auf. »Ich kann euch nichts sagen, was ich nicht weiß. Ich habe weder etwas mit dem Mord an den Dahlmanns zu tun noch mit dem, was Ricky zugestoßen ist.«
»Was ist mit dem Mercedes?«, setzte Rasmus die Daumenschrauben an. »Wenn du willst, dass wir dir glauben, musst du uns jetzt die Wahrheit sagen.«
Es vergingen mehrere Sekunden, ehe Jeppe schließlich nickte. »Ihr habt recht. Ich war dabei, als Ricky den Wagen der Dahlmanns gestohlen hat. Aber das war Freitagnacht. Nachdem wir im Penny Lane waren. Ricky hatte einen Kontakt zu den Polen, und die haben eine Menge Kohle für die Karre geboten.« Er fuhr sich erneut mit der Hand über den Mund. »Aber dann sind wir liegen geblieben.« Er lachte bitter. »Es war kein Benzin mehr im Tank. Wegen eines dummen Anfängerfehlers ist das Geschäft geplatzt. Ricky wollte den Wagen ein paar Tage unterstellen, bis er einen neuen Abnehmer gefunden hätte, aber dann wurde der Mord an den Dahlmanns bekannt, und es erschien uns zu riskant.«
»Könnte Ricky versucht haben, das Auto auf eigene Faust zu verticken?«
»Gut möglich, aber dann hättet ihr es sicher nicht gefunden, oder? Wo hatte Ricky den Wagen untergestellt?«
»In einer Scheune in Ny Pøl.«
»Bei dem verlassenen Haus?«
Rasmus nickte.
Jeppe vergrub das Gesicht in den Händen. »Ich hab gleich gewusst, dass es keine gute Idee war, aber ich hab mich von Ricky überreden lassen. Er meinte, es wäre eine todsichere Sache.« Er stieß ein bitteres Lachen aus. »Ich hätte es besser wissen sollen. Vielleicht wäre Ricky dann noch am Leben.«
»Was glaubst du, was passiert ist?«
»Ricky sagte nur, er hätte eine Geldquelle aufge tan. In dem Moment dachte ich, er meinte damit einen neuen Abnehmer für das Auto, aber jetzt bin ich mir da nicht mehr ganz so sicher.« Sein Blick flackerte.
Rasmus schwieg, wartete, bis Jeppe von selbst weiterredete. Eine Vorgehensweise, die sich häufig bewährt hatte.
Es vergingen einige Minuten, ehe Jeppe schließlich tief Luft holte.
»Ihr habt recht, ich hab gelogen«, sagte er. »Ich habe nicht nur zusammen mit Ricky den Mercedes gestohlen, sondern ihm auch ein falsches Alibi gegeben. Ungefähr zwischen dreizehn und fünfzehn Uhr war Ricky nicht in der Werkstatt.«
Vibeke warf Rasmus einen bedeutsamen Blick zu. Die zwei Stunden lagen im Mordzeitraum.
»Wo ist Ricky gewesen?«, fragte Rasmus.
»Er sagte, er wolle sich am Haus der Dahlmanns einen Überblick verschaffen. Um herauszufinden, wie wir am besten vorgehen.«
Rasmus spannte sich augenblicklich an. »Bitte denk nach. Was genau hat Ricky hinterher erzählt?«
»Nichts. Nur dass das Auto der Dahlmanns in der Einfahrt stünde.« Sein Blick wanderte von Rasmus zu Vibeke und wieder zurück. »Sagt jetzt nicht, dass die in der Zeit umgebracht wurden?«
Rasmus überging die Frage. »Warum seid ihr nicht gleich mit der Wahrheit rausgerückt? Dann wäre dein Kumpel vielleicht noch am Leben.«
»Weil wir wegen der Karre nicht in den Knast wollten«, brauste Jeppe auf. »Außerdem hättet ihr uns doch nie geglaubt. Nicht bei Rickys Vorgeschichte.«
Rasmus sah ihm direkt in die Augen, und der Kfz- Mechatroniker hielt seinem Blick stand. Alles, was er seit seinem Geständnis, das Auto gestohlen zu haben, gesagt hatte, klang glaubhaft.
»Was passiert denn jetzt?«, fragte Jeppe.
»Es wird ein Protokoll mit deiner Aussage angefertigt, das du uns unterschreiben musst, und du wirst erkennungsdienstlich behandelt.«
»Ihr behaltet mich also hier?«
»Zumindest vorerst. Autodiebstahl ist kein Kavaliersdelikt. Du wirst dich dafür verantworten müssen.«
»Muss ich ins Gefängnis?« Schweiß stand jetzt auf Jeppes Stirn.
»Das kann ich dir nicht sagen. Das hängt vom zuständigen Richter ab. Aber wenn du Glück hast, kommst du mit einer Bewährungsstrafe davon. Am besten, du besorgst dir einen Anwalt. Wenn du keinen hast, wird dir ein Pflichtverteidiger zur Verfügung gestellt.«
Jeppe nickte. »Den brauche ich dann wohl.«
Rasmus erhob sich. »Ich leite das in die Wege.« Auch Vibeke stand auf.
»Glaubst du ihm?«, fragte seine Kollegin, sobald sie vor der Tür waren.
»Jep.« Rasmus krauste die Stirn. »Aber dass Ricky im Mordzeitraum am Tatort war, macht mir Sorgen. Entweder, er war derjenige, der die Dahlmanns umgebracht hat …«
»Oder er hat den Täter gesehen«, vervollständigte Vibeke seinen Satz. »Und ist deshalb jetzt tot.«
Rasmus nickte. »Gehst du schon mal vor? Ich hänge mich ans Telefon, damit Jeppe einen Anwalt kriegt. Der Junge soll nicht für den Rest seines Lebens für einen dummen Fehler büßen.« Er wandte sich ab, um zu telefonieren.
Zehn Minuten später stieß Rasmus die Tür zum Büro der Sondereinheit auf. Obwohl Samstag war, saßen alle Ermittler auf ihren Plätzen.
»Hej.« Rasmus steuerte auf das Sideboard mit der Kaffeekanne zu. Er war hundemüde. Die letzten Tage hatten ihn geschlaucht, und vergangene Nacht hatte er kaum geschlafen. Am Abend war er zurück nach Esbjerg gefahren, in der Hoffnung, Maja in der Polizeistation anzutreffen, doch sie hatte bereits Feierabend gemacht.
Noch immer nagte die Enttäuschung an ihm.
Ihr letztes Telefonat war eher formeller Natur gewesen, und Maja hatte sich von ihm auf den neuesten Ermittlungsstand bringen lassen. Keiner von ihnen hatte das Gespräch auf eine persönliche Ebene gebracht, und fast schien es, als hätte es den Sex zwischen ihnen nie gegeben. Aber vielleicht war es das, was Maja wollte. Die Nacht ungeschehen machen. Weil es für sie eine einmalige Sache gewesen war. Ein Ausrutscher.
Ihm entfuhr ein Seufzen. Er fühlte sich zurückversetzt in seine Teenagerzeit. Eine Achterbahn der Gefühle. Dabei war er für so etwas definitiv zu alt. Alles, was er wollte, war, endlich anzukommen.
»Alles in Ordnung, Rasmus?« Pernilles besorgte Stimme drang an sein Ohr.
Rasmus drehte sich zu ihr um und zwinkerte ihr zu. »Alles bestens.« Er setzte sich mit dem Kaffeebecher in der Hand auf seinen Platz.
»Wie ist der aktuelle Stand?«, fragte Jens. Seine Stimme klang nicht mehr so nasal wie noch vor ein paar Tagen, und auch das Medikamentenarsenal auf seinem Schreibtisch war auf eine Packung Halspastillen geschrumpft.
Vibeke berichtete ihren Kollegen von Jeppe Olsens Befragung. »Wir werden ihn vorerst laufen lassen. Er wird sich zwar für den Autodiebstahl verantworten müssen, aber es gibt keinerlei Hinweise, die auf ihn als Täter im Fall Dahlmann oder Ricky Moberg hindeuten.«
»Dann behandeln wir dessen Tod ebenfalls als Mordfall?«, fragte Luís.
Vibeke nickte. »Wir reden hier von Fahrerflucht mit Todesfolge. Jede Staatsanwaltschaft würde dies als fahrlässige Tötung oder im Zweifelsfall sogar als Mord einstufen, und da wir von einem Zusammenhang mit dem Fall Dahlmann ausgehen müssen, werden wir auch in Ricky Ahlgrens Fall ermitteln. Rasmus und ich haben das mit unseren Vorgesetzten bereits so abgesprochen.«
»Könnte Ricky der Mörder der Dahlmanns sein?«, warf Pernille die Frage auf, die sich auch Rasmus bereits gestellt hatte.
»Auszuschließen ist es natürlich nicht«, erwiderte Vibeke. »Aber da er nun ebenfalls tot ist, ist anzunehmen, dass er etwas über den Täter wusste. Die zwei Stunden, in denen er nicht in der Werkstatt war, fallen in den Todeszeitraum der Dahlmanns. Wenn Ricky also tatsächlich vor Ort gewesen ist, könnte er etwas beobachtet haben.«
»Aber hätte er dann nichts gesagt?«
Søren blähte die Backen. »Das konnte er wohl schlecht, nachdem er das Auto gestohlen hatte.« Er schob die Ärmel seines schwarzen Norwegerpullovers hoch, auf seiner Brust sprangen zwei Hirsche. »Vielleicht kannte er den Täter.«
Rasmus nippte an seinem Kaffee. Er war nur lauwarm. »Oder er hat sich sein Wissen zunutze gemacht und den Täter erpresst.« Er stellte den Becher zurück auf dem Tisch und sah Vibeke an. »Was hatte Ricky zu Jeppe am Telefon gesagt?«
»Dass er eine Geldquelle aufgetan hat.«
»Und weshalb stand er dann an der Landstraße?«, warf Søren ein.
Ratlosigkeit spiegelte sich in den Gesichtern.
»Gibt es schon Neuigkeiten aus der Kriminaltechnik bezüglich der Zuordnung der Lackspuren und Splitter?«, fragte Rasmus.
Luís zog seine Computertastatur heran und gab ein paar Befehle ein. »Bislang ist nichts gekommen. In der Regel dauert das auch ein paar Tage.«
»Ich habe mich ein wenig mit der Geschichte von Eldar Mobergs Vater beschäftigt.« Jens hatte seine Brille abgenommen und war dabei, die Gläser mit einem kleinen Tuch zu putzen. »Gleich bei Kriegsausbruch wurden viele dänische Schleswiger eingezogen. Sie hatten keinerlei Möglichkeit, sich dagegen zu wehren, die einzige Alternative wäre Desertation gewesen. Es hieß, die Teilnahme am Krieg wäre ein Pfand, das das Recht der Minderheit auf eine weitere Existenz im Dritten Reich sicherte.« Er hob die Brille, um die Gläser zu begutachten, war jedoch noch nicht zufrieden und fuhr damit fort, sie zu polieren. »Sie kämpften und fielen für das Recht, als Dänen in ihrer Heimat zu leben. Zahlreiche junge Männer gerieten in Kriegsgefangenschaft, auch Alfred Moberg. Und obwohl die dänische Regierung 1945 versuchte, sie freizubekommen, hat es teilweise Jahre gedauert, ehe es tatsächlich so weit war.« Er setzte seine Brille wieder auf und verstaute das Tuch in seiner Schreibtischschublade. »Die Russen haben sie benutzt, um auf anderen Gebieten diplomatischen Druck auf Dänemark auszuüben. Der letzte Gefangene kam erst im Oktober 1955 nach Flensburg zurück. Das muss man sich mal vorstellen. Der Mann hat über fünfzehn Jahre erst im Krieg und dann in Gefangenschaft verbracht.«
»Schrecklich«, murmelte Rasmus. Derartiges war für ihn unvorstellbar.
»Aber auch die Südschleswiger, die nicht in den Krieg mussten, waren Repressalien ausgesetzt«, erzählte Jens weiter. »Sie durften zum Beispiel kein dänisches Radio mehr hören und wurden bestraft, wenn sie dabei erwischt wurden. Dänisch Gesinnte, die sich negativ über das Regime äußerten oder den Krieg verurteilten, kamen ins Gefängnis, auch Briefe wurden von der Zensur abgefangen. Zweifel am deutschen Endsieg zu äußern, wurde sogar mit Todesstrafe bedroht.«
»Kein Wunder, dass Eldar die Deutschen hasst«, sagte Pernille. »Er hat das alles nicht nur als Kind mitbekommen, sondern auch noch seinen erhängten Vater aufgefunden.«
Jens nickte. »Die Familie hat einiges durchge macht. Und das über Generationen. Wie wir wissen, war sie schon 1864 von den Kriegsgeschehnissen betroffen. Übrigens gibt es einen spannenden Mehrteiler über 1864, die kostspieligste dänische Fernsehproduktion aller Zeiten.« Sein Blick wurde grimmig. »Aber das ist harter Tobak.«
»Wir müssen Rickys Vater ausfindig machen und ihn über den Tod seines Sohnes informieren.« Rasmus fasste zusammen, was er und Vibeke von Agnete über Magnus Moberg erfahren hatten.
»Ich kümmere mich darum«, sagte Pernille.
Rasmus strich sich über sein unrasiertes Kinn. »Da ist schon einiges los für so einen kleinen Ort. Und wer weiß, was es noch alles gibt, was wir bislang nur noch nicht wissen.«
»Apropos Olsen«, sagte Pernille. »Ich habe in Konrad Dahlmanns Unterlagen eine Rechnung von Olsens Werkstatt gefunden.«
»Ach.« Vibeke suchte Rasmus’ Blick. »Hat er uns nicht erzählt, er hätte nichts mit den Dahlmanns zu tun gehabt?«
»Hat er«, bestätigte Rasmus.
»Dann sollten wir dort nachhaken.« Vibeke sah in die Runde.
»Lasst uns noch einmal alle Beteiligten durchgehen.«
Luis ließ die Finger über die Computertastatur gleiten, rief eine Tabelle mit Namen auf.
Zunächst widmeten sie sich den Familienangehörigen.
»Mirjam und Thomas Dahlmann sind als Erben potenziell verdächtig«, sagte Vibeke. »Wobei das Alibi der Tochter von mehreren Personen bestätigt wurde.«
»Vielleicht zieht sie die Strippen im Hintergrund«, warf Rasmus ein, »und es war ein Auftragsmord.«
»Guter Punkt. Wir lassen sie auf der Liste. Den Sohn ebenfalls. Seine Frau hat ihm zwar ein Alibi gegeben, aber sie wäre nicht die Erste, die für ihren Mann lügt. Außerdem hat Thomas Dahlmann Schulden.«
»Was ist mit dem Bruder?«, fragte Søren. »Der Streit könnte während ihres Telefonats vor Weihnachten eskaliert sein.«
Rasmus überlegte. »Du hast recht. Solange wir ihn nicht hundertprozentig als Täter ausschließen können, bleibt er ebenfalls drauf. Das Gleiche gilt für Julius Faber. Sein Alibi wackelt, allerdings haben wir bislang kein Mordmotiv.«
»Aber vielleicht jetzt«, sagte Jens mit einem Blick auf seinen Computerbildschirm. »Die Hamburger Kollegen vom Dezernat Interne Ermittlungen haben sich gemeldet. Gegen Faber liegt eine Anzeige wegen Korruption vor. Genauer gesagt geht es dabei um Schmiergelder.«
Rasmus ballte für einen kurzen Moment die Hand zur Faust. Der Typ war ihm von Anfang an nicht ganz koscher erschienen. »Was ist dabei herausgekommen?«
Jens überflog die Nachricht auf seinem Bildschirm. »Im Grunde nichts. Die Anzeige ist anonym eingegangen, und der Beweiswert wird daher als gering eingestuft.«
Pernille spitzte die Lippen. »Sofern es stimmt, dass Faber korrupt ist, reicht das als Mordmotiv aus?«
»Wenn ihn Dahlmann dabei erwischt hat …«
»Und er bringt dann gleich noch die Frau und Ricky Ahlgren um?«, setzte Pernille nach.
»Vielleicht hat Ricky Faber am Tatort gesehen und ist für ihn gefährlich geworden.«
»Fabers Kennzeichen wurden nicht erfasst«, warf Luís ein.
Jens kniff die Augen hinter seiner Brille zusammen. »Dann hat er sich vielleicht ein Auto geliehen. Von einem Freund oder seiner Ex-Frau. Es gibt tausend Möglichkeiten. Faber wusste jedenfalls, dass Dahlmann an dem Freitag nach Sarup zu seiner Frau wollte.«
Søren schnalzte. »Oder die Morde haben überhaupt nichts miteinander zu tun. Vielleicht hat sich Ricky mit den Polen angelegt. Sofern es überhaupt stimmt, was uns Jeppe Olsen erzählt hat.« Er zuckte mit den Achseln. »Am Ende steckt er selbst hinter allem.«
»Okay, Leute«, beendete Vibeke den Schlagabtausch. »Lasst uns das Augenmerk noch einmal auf das Bauprojekt lenken. Pernille, hast du in der Zwischenzeit mit diesem Steen sprechen können?«
»Steen Damgaard. Ja, heute Vormittag. Er war zwei Wochen auf den Kanaren und hat bislang nichts davon mitbekommen, was in Sarup passiert ist.« Sie spitzte die Lippen.
»Konrad Dahlmann war vor einem Monat bei ihm und hat ihm mündlich ein Kaufangebot für die beiden Grundstücke unterbreitet. Steen hatte sich Bedenkzeit erbeten, doch vorhin am Telefon sagte er mir, dass er verkauft hätte.«
»Dann fehlten Dahlmann nur noch Mobergs und Birga Andresens Grundstücke für seine Baupläne. Was wissen wir bislang über sie und ihre Familie?«
Pernille nickte. »Ich habe mir Birga Andresens Personendaten gleich zu Anfang mit den anderen angesehen. Keinerlei Auffälligkeiten. Vor ihrer Pensionierung hat sie an der Sønderborg Statsskole als Köchin gearbeitet. Laut CPR hat sie einen Sohn.« Das CPR-System war das zentrale Personenregister, in dem jede in Dänemark lebende Person unter einer persönlichen Identifikationsnummer, der CPR-Nummer, erfasst wurde. Neben grundlegenden Informationen wie Name, Adresse, Geburtsdatum und Familienstand wurden dort auch die CPR-Nummern von Kindern eingetragen.
Pernille zog einen Zettel heran. »Bjarne Pedersen, achtundfünfzig Jahre alt. Er lebt mit seiner Frau und seinen Kindern in Aarhus und ist Pädagoge.« Sie strich sich eine dunkle Haarsträhne aus dem Gesicht. »Laut Grundbuch ist Birga Andresen seit 2001 Eigentümerin des Hauses. Vorbesitzer war ihr Vater, der in dem Jahr gestorben ist. Es wurde 1952 gebaut. Haus und Grundstück sind schuldenfrei. Andere Personen sind unter der Adresse nicht gemeldet.«
Rasmus wippte mit dem Fuß. »Das bringt uns nicht weiter.«
»Was ist mit der Vorbesitzerin des Dahlmann-Hauses?«, fragte Søren. »Fühlte die sich nicht von den Dahlmanns über den Tisch gezogen?«
»Tinne Nygaard?« Vibeke tippte mit dem Stift in ihrer Hand auf die Tischplatte. »Ich glaube kaum, dass sie dazu in der Lage wäre, zwei Menschen zu ermor den. Abgesehen von ihrem Alter ist sie eine winzige Person.«
»Was ist mit ihrem Sohn?«
»Er lag zur Tatzeit wegen einer Blinddarmreizung im Krankenhaus. Er fällt also als Täter weg.« Vibeke legte den Stift beiseite. »So kommen wir nicht weiter. Wir drehen uns im Kreis. Was wir brauchen, sind Fakten. Und wir sollten bei alldem nicht Ricky Ahlgren vergessen. Ich würde vorschlagen, wir kontaktieren sämtliche Werkstätten auf Als, ob dort in den letzten zwei Tagen ein Scheinwerfer repariert wurde. Mit Olsens Werkstatt fangen wir an, außerdem überprüfen wir die Autos von sämtlichen Beteiligten.«
Rasmus stöhnte innerlich. Das klang nach jeder Menge Fleißarbeit. »Und wenn der Täter aus Deutschland stammt? Wir können schlecht sämtliche Autowerkstätten in Hamburg und Schleswig anrufen.«
»Da müssten wir notgedrungen abwarten, bis die Kriminaltechnik uns Genaueres zum Fahrzeugfabrikat sagen kann. Sobald wir das haben, muss sich jemand ans Telefon hängen.« Vibeke setzte eine entschlossene Miene auf. »Wenn es sein muss, drehen wir jeden einzelnen Stein um.«
»Jens und ich können nach Als fahren«, schlug Søren vor. »Dann können wir gleich mit Albert Olsen sprechen. Und ich rufe bei meiner Dienststelle an. Vielleicht können sie uns noch ein paar Uniformierte zur Unterstützung schicken.«
»Gut. Dann nehmen wir uns Julius Faber vor. Bei der Gelegenheit konfrontieren wir ihn mit der Anzeige wegen Schmiergeldzahlung. Vielleicht knickt er ein.«
Rasmus grinste. »Da bin ich dabei.«
»Ich sehe zu, dass ich einen Beschluss für Fabers Handy bekomme«, sagte Luís.
Vibeke trank einen Schluck Wasser. »Wissen wir, welches Fahrzeug auf ihn zugelassen ist?«
»Moment.« Luís sah im Computer nach. »Ein schwarzer BMW 5er. Ich schicke dir die Daten aufs Handy und hake auch noch mal bei der Kriminaltechnik nach. Sollte es etwas Neues geben, melde ich mich.«
Rasmus und Vibeke standen auf und griffen zeitgleich nach ihren Jacken.
Die aufgebrachten Stimmen schallten ihnen schon im Treppenhaus der Stadtvilla in Rotherbaum entgegen.
Faber wohnt ganz schön feudal, schoss es Vibeke angesichts der stuckverzierten Eingangshalle durch den Kopf. Der Innenbereich stand der prächtigen Außenfassade mit ihren Türmen und Zinnen in nichts nach.
Je weiter sie die Treppe hinaufstiegen, desto lauter wurden die Stimmen.
»Ist das Faber?«, fragte Rasmus, der zwei Stufen hinter ihr ging.
»Scheint so«, erwiderte Vibeke. »Offenbar hat er Besuch.«
Sie erreichte den obersten Absatz der zweiten Etage und blieb kurz darauf vor der Tür mit Fabers Namen stehen. Sie lauschte. »Wenn ich mich nicht täusche, ist das Mirjam Dahlmann.«
»Kann man verstehen, was sie sagen?« Rasmus trat neben sie und legte sein Ohr an die Tür.
»Was machen Sie denn da, junger Mann?« Seitlich hinter ihnen hatte sich eine Tür geöffnet, und eine ältere Frau im pinkfarbenen Jogginganzug starrte sie erbost an. Ihr blondiertes Haar war zu einem flotten Pixie Cut geschnitten, der Lippenstift farblich auf ihr Outfit abgestimmt.
Vibeke zückte ihren Dienstausweis. »Wir sind von der Polizei.«
»Jetzt lauschen unsere Ordnungshüter schon an den Türen«, stellte sie mehr verblüfft als empört fest. »Da muss man sich über gar nichts mehr wundern.« Ihr Blick nahm einen neugierigen Ausdruck an. »Was wollen Sie denn von dem Herrn Faber?«
»Bitte gehen Sie wieder in Ihre Wohnung«, forderte Vibeke sie höflich, aber bestimmt auf. »Es gibt hier nichts für Sie zu sehen.«
Die Nachbarin schaute pikiert, kam aber ihrer Aufforderung nach. Sobald sie wieder in ihren vier Wänden verschwunden war, drückte Vibeke Fabers Klingelknopf, wohl wissend, dass sie durch den Türspion der Nebenwohnung beobachtet wurden.
Die aufgebrachten Stimmen verstummten.
»Es geht um irgendeinen Vertrag«, raunte Rasmus ihr zu. »Mirjam Dahlmann hat Faber rundgemacht.«
Als niemand öffnete, klingelte Vibeke erneut. Stimmengemurmel. Kurz darauf ging die Tür auf, und Julius Faber stand vor ihnen. Er war leger gekleidet, trug einen hellgrauen Lambswool-Pullover über einem Hemd mit B utton-down-Kragen, dazu beigefarbene Chinos. Unter dem Ärmel blitzte seine Pilotenuhr hervor.
»Ah, Sie sind’s schon wieder.« Julius Faber klang verstimmt. Keinerlei Spur von Charme. »Was gibt’s denn? Sie kommen ein wenig ungelegen. Ich habe Besuch.«
»Das haben wir gehört.« Rasmus grinste breit. »Und es trifft sich gut, dann können wir auch gleich mit Frau Dahlmann sprechen.«
»Wir dürfen?« Vibeke machte einen Schritt vorwärts, sodass Julius Faber reflexartig beiseitetrat, um sie hereinzulassen.
»Danke schön«, sagte Rasmus mit breitem dänischem Akzent und folgte ihr in die Wohnung.
Vibeke scannte in Sekundenschnelle die Umgebung. Ultramoderne Einrichtung zu klassischen Altbauelementen.
»Ich wollte gerade gehen«, sagte Mirjam Dahlmann, als Vibeke das Wohnzimmer betrat. Sie griff nach ihrem Mantel, der über der Sofalehne lag.
Die Juristin trug ein elegantes cremefarbenes Wollkleid, ihre blonden Haare waren zu einem strengen Knoten frisiert, was ihr herbes Aussehen unterstrich. Sie war dezent geschminkt, und anders, als ihre aufgebrachte Stimme zuvor vermuten ließ, wirkte sie ruhig und gefasst.
Die Frau hat sich im Griff, dachte Vibeke.
»Wenn es Ihnen nichts ausmacht, würden wir Sie bitten zu bleiben«, forderte Vibeke sie freundlich auf. »Was wir mit Herrn Faber zu bereden haben, geht Sie als künftige Inhaberin von Dahlmann Invest ebenfalls etwas an.«
Unschlüssig blieb Mirjam Dahlmann stehen. Schließlich presste sie die Lippen zusammen und nickte.
Julius Faber, der hinter Rasmus ebenfalls in den Raum gekommen war, sah sie mit schmalen Augen an.
»Was soll dieser Überfall?« Seine Stimme hatte an Schärfe gewonnen. »Können Sie nicht vorher anrufen und Ihren Besuch ankündigen?« Er hatte offenbar nicht vor, ihnen einen Platz anzubieten.
Vibeke blickte ihn kühl an. »Das ist kein Besuch, Herr Faber. Wie Sie wissen, ermitteln wir in einem Doppelmord.« Aus den Augenwinkeln nahm sie wahr, wie sich Rasmus gegen die Fensterbank lehnte und die Arme verschränkte. »Gegen Sie liegt eine Anzeige wegen Korruption vor. Offenbar geht es um eine Schmiergeldzahlung.«
Julius Faber machte eine wegwerfende Handbewegung. »Deshalb sind Sie hier? Das kann man doch nicht ernst nehmen. Ein Kunde hat sich über mich geärgert. Mit der Anzeige wollte er es mir heimzahlen.«
»Und das wissen Sie woher?«, sagte Vibeke scharf. »Die Anzeige war anonym.«
»Wer sonst sollte es gewesen sein?« Ein arrogantes Lächeln umspielte seine Lippen. Er wiegte sich offenbar in Sicherheit.
»Interessanterweise gibt es noch weitere Kunden, die sich in dieser Richtung geäußert haben«, forderte Vibeke ihn heraus.
Mirjam Dahlmanns Brauen rutschten ein Stück höher, doch sie sagte nichts.
»Das ist lächerlich.« Fabers Lächeln war mit einem Schlag weggewischt. »Gibt es irgendwelche Beweise für diese Anschuldigungen?«
Vibeke sah, wie Rasmus ungeduldig mit seinem rechten Knie wippte, und warf ihm einen warnenden Blick zu.
»Wir werden sie finden.«
Erneut zeigte sich das arrogante Lächeln auf dem Gesicht ihres Gegenübers. »Sie haben also nichts.«
Rasmus löste sich von der Fensterbank. »Wegen welchem Vertrag habt ihr euch eigentlich gestritten?«
Vibeke atmete innerlich tief durch. Sie hatten vorher vereinbart, dass sie die Gesprächsführung übernahm und Rasmus stiller Zuhörer blieb. Trotzdem ließ sie ihn gewähren. Es war sicherlich kein Zufall, dass er Faber erneut duzte. Vielmehr setzte er auf Provokation. Eine Vorgehensweise, die sich in der Vergangenheit schon häufiger bewährt hatte.
»Ich wüsste nicht, dass ich Ihnen das Du angeboten hätte«, entgegnet Faber prompt. Er schien sichtlich verärgert.
Sie verkniff sich ein Lächeln. Rasmus wusste, welche Knöpfe er drücken musste.
»Beantworten Sie bitte die Frage meines Kollegen«, sagte Vibeke. Für einen kurzen Moment glitt ihr Blick zu Mirjam Dahlmann. Ein kaum erkennbares Zucken um ihre Mundwinkel. Mehr nicht.
»Ich weiß nicht, wovon Sie reden.« Seine Stimme klang gepresst. »Und jetzt verlassen Sie bitte meine Wohnung.«
Vibeke öffnete den Mund, um etwas zu entgegnen, als Rasmus neben sie trat, den Blick auf Faber gerichtet. Mit seinen fast zwei Metern Länge überragte er den Geschäftsführer um ein gutes Stück.
»Ich kann riechen, wenn es irgendwo stinkt.« Ras mus fixierte sein Gegenüber. »Und hier stinkt es gerade ganz gewaltig. Ich werde nicht lockerlassen, bis ich die Ursache dafür kenne. Schönen Tag noch.« Er wandte sich um und hob zum Abschied die Hand.
Vibeke registrierte Schweiß auf Fabers Stirn. »Sie hören von uns.« Sie folgte ihrem Kollegen aus dem Raum.
»Warten Sie«, rief ihnen Mirjam Dahlmann hinterher, als sie bereits auf die Wohnungstür zusteuerten.
Ihre Blicke kreuzten sich, und sie kehrten zurück ins Wohnzimmer.
»Es gibt da etwas, was Sie vielleicht wissen sollten.« Die Juristin wirkte entschlossen.
»Mirjam«, setzte Julius Faber mit warnendem Tonfall an, doch Mirjam Dahlmann ließ sich nicht einschüchtern.
»Es gibt eine separate Vereinbarung zu Herrn Fabers Arbeitsvertrag«, fuhr sie unbeeindruckt fort, »sie liegt beim Notar. Demnach erhält er beim Unternehmensverkauf eine Beteiligung in Höhe von einem Prozent am Erlös.«
»Ach«, sagte Vibeke überrascht. »Und haben Sie vor, das Unternehmen zu verkaufen?«
»Ich will natürlich nichts übers Knie brechen, aber ja, über kurz oder lang werde ich Dahlmann Invest veräußern.« Ihr Blick wanderte für einen kurzen Moment zu Julius Faber, der jetzt die Hände in den Taschen seiner Chinos versenkt hatte. »Und Julius wusste das. Er hat mich vor einiger Zeit gefragt, was denn eigentlich aus Dahlmann Invest wird, falls mein Vater unerwartet stirbt. Damals wusste ich nichts von der Klausel und dachte, es ginge ihm nur um seine berufliche Absicherung.«
Julius Faber verzog das Gesicht, als hätte er Zahnschmerzen. »Das ist doch völlig irrelevant. Solche Klauseln sind gang und gäbe.«
»Wir sind hier nicht vor Gericht, Herr Faber«, sagte Vibeke, und an Mirjam Dahlmann gewandt: »Hatten Sie schon Einblick in die Geschäftsunterlagen? Wie hoch ist der Betrag?«
»Ich kenne noch nicht die aktuellen Zahlen und kann daher den Verkaufspreis nicht genau einschätzen, aber ich denke, dass es für Herrn Faber Minimum um einen Betrag im sechsstelligen Bereich gehen wird.«
Rasmus stieß einen leisen Pfiff aus. »Menschen wurden schon für viel weniger ermordet.«
»Das ist eine schamlose Unterstellung«, empörte sich Julius Faber. Er hielt die Hände in seinen Hosentaschen zu Fäusten geballt. »Ich habe ein Alibi.«
»Und das ist so löchrig wie Schweizer Käse«, erklärte Rasmus. Er gab sich keinerlei Mühe, seinen sarkastischen Unterton zu verbergen.
Röte kroch Fabers Hals entlang, und er sah aus, als würde er Rasmus jeden Moment an die Gurgel gehen.
Vibeke übernahm das Ruder, ehe die Situation eskalierte.
»Ich muss Sie bitten, uns zu begleiten«, sagte sie sachlich.
»Überschreiten Sie damit nicht Ihre Befugnisse?«, stieß Faber wütend aus.
Vibeke musterte ihn kühl. »Es war eine höfliche Bitte, Herr Faber.« Sie hätte dem Mann am liebsten auf der Stelle Handfesseln angelegt, doch die Voraussetzungen für eine vorläufige Festnahme waren nicht gegeben. »Wenn Sie ihr nicht nachkommen möchten, lasse ich Sie offiziell ins GZ Padborg vorladen. Wir können also den langen Dienstweg nehmen oder den kurzen. Ihre Entscheidung.«
Julius Faber zog sein Handy aus der hinteren Hosentasche. »Ich rufe meinen Anwalt an.«
Rund zwei Stunden später saßen sie in einem Raum im Polizeipräsidium am Bruno-Georges-Platz, den man ihnen für die Vernehmung zur Verfügung gestellt hatte. Zuvor hatten sich Anwalt und Mandant kurz besprochen.
Cord Gusmann war die Höflichkeit in Person. Grau melierte Schläfen, maßgeschneiderter Anzug und ein freundliches Lächeln im Gesicht, doch die dunklen Augen hinter der randlosen Brille blickten kalt. Er war ein legendärer Hamburger Strafverteidiger, wortgewaltig und streitlustig vor Gericht, bekannt vor allem für seine prestigeträchtigen Prozesse, von denen er den Großteil für sich und seine Mandanten entscheiden konnte.
Dass Julius Faber einen Anwalt von Gusmanns Kaliber engagierte, sprach in Vibekes Augen Bände. Sie war dem Strafverteidiger bislang noch nie persön lich begegnet, doch sein Ruf war ihm vorausgeeilt, und sie war auf der Hut.
»Was genau wird meinem Mandanten eigentlich vorgeworfen?«, fragte Cord Gusmann, sobald die übliche Prozedur an Formalitäten hinter ihnen lag. Er rückte seine Krawatte zurecht und ließ dabei den Blick über die hellgrauen Büromöbel schweifen.
Für Vibeke fühlte es sich seltsam an, wieder in den Räumen des LKA zu sein. Die langen Flure. Die Stimmen aus den Büros, das eine oder andere bekannte Gesicht. Der Fahrstuhl, der sie in der Vergangenheit etliche Male in den dritten Stock zu den Räumen der Mordkommission befördert hatte. Alles wirkte vertraut und gleichzeitig fremd.
»Wir ermitteln wegen des Doppelmords an Konrad und Luise Dahlmann, und Herr Faber wird in diesem Zusammenhang von uns als Zeuge befragt«, erklärte sie sachlich, ehe sie sich dem Geschäftsführer von Dahlmann Invest zuwandte. »Zudem ermitteln wir im Todesfall Ricky Ahlgren.«
Der Anwalt und sein Mandant steckten die Köpfe zusammen.
»Der Name sagt Herrn Faber nichts«, antwortete Cord Gusmann stellvertretend. »Wer ist das?«
»Herr Ahlgren arbeitete bei Olsens Autowerkstatt in Sarup.«
»Tut mir leid, aber auch damit kann ich nichts anfangen«, sagte der Geschäftsführer von Dahlmann Invest. »Ich hatte nie mit diesem Mann zu tun.«
»Wo waren Sie vorgestern Abend?«
»Ich war mit einem Freund im Fitnessclub in Uhlenhorst. Erst haben wir Tennis gespielt, anschließend waren wir Schwimmen und in der Sauna. Danach haben wie noch einen Absacker bei Gundis genommen. Um Mitternacht lag ich zu Hause in meinem Bett. Allein.«
»Wir brauchen den Namen Ihres Freundes und den des Clubs.«
Faber nannte ihr beides, und Vibeke schrieb es in ihr Notizbuch. »Kommen wir zurück zum Fall Dahlmann. Bitte schildern Sie uns noch einmal, wo Sie sich vorletzten Freitag zwischen zwölf Uhr mittags und achtzehn Uhr nachmittags aufgehalten haben.«
»Sie müssen darauf nicht antworten«, sagte Cord Gusmann zu seinem Mandanten.
»Ich habe nichts zu verbergen«, beteuerte Julius Faber. Er wiederholte nahezu wortgetreu die Antwort, die er ihnen bereits bei der ersten Befragung gegeben hatte.
Vibeke sah aus dem Augenwinkel, dass Rasmus zufrieden nickte. Vorab hatte er ihr hoch und heilig versprochen, sogar mit gehobener Hand, dass er sich bei der Vernehmung zurückhalten würde, und sie konnte nur hoffen, dass er sich daran hielt.
Sie öffnete die vor ihr liegende Unterlagenmappe, zog die protokollierte Aussage des Restaurantleiters hervor und schob sie zu dem Anwalt über den Tisch.
»Ihr Mandant hat angegeben, sich um neunzehn Uhr mit seinen Geschäftspartnern im Restaurant zum Essen getroffen zu haben. Diese Aussage belegt allerdings, dass er dort erst eine halbe Stunde später, nämlich um neunzehn Uhr dreißig, eintraf.«
»Da hat sich mein Mandant wohl um eine halbe Stunde vertan«, erwiderte der Anwalt lapidar. »So etwas kann vorkommen. Herr Faber war bis halb sieben in seinem Büro. Was auch von einer Mitarbeiterin bestätigt wurde.«
»Von der Empfangsdame, Dagmar Düring«, ergänzte Vibeke. »Allerdings hat Frau Düring um vierzehn Uhr Feierabend gemacht. Herr Faber kann demnach für die Zeit von vierzehn bis neunzehn Uhr dreißig kein Alibi vorweisen.« Sie machte eine bedeutungsvolle Pause und fuhr mit dem fort, was sie kurz zuvor von Luís erfahren hatte. »Interessanterweise gibt es für den Zeitraum laut unserer IT weder ausgehende E-Mails noch Telefonate über den Festnetzanschluss von Herrn Faber, obwohl er angibt, in seinem Büro gewesen zu sein. Und sein Handy war ausgeschaltet. Er könnte also überall gewesen sein.«
Die dunklen Augen hinter der randlosen Brille wurden eine Spur dunkler.
»Wir reden hier über insgesamt fünfeineinhalb Stunden«, fasste Vibeke zusammen. »Genügend Zeit, um von Hamburg nach Als zu fahren, dort zwei Morde zu begehen und zurück nach Hamburg zu kommen, um dort an einem Geschäftsessen teilzunehmen.«
»Haben Sie irgendwelche Beweise für Ihre Anschuldigungen? Die Tatwaffe? Blutige Kleidung? Zeugen, die meinen Mandaten oder seinen Wagen am Tatort gesehen haben?« Sein Blick wanderte zu Rasmus. »Soweit ich informiert bin, gibt es an den dänischen Grenzübergängen Kennzeichenscanner. Wurde das Auto meines Mandanten dort erfasst?«
»Herr Faber hatte die Möglichkeit, und er hatte ein Motiv«, hielt Vibeke dagegen. Sie fixierte den Geschäftsführer von Dahlmann Invest. »Also noch ein mal, was haben Sie vorletzten Freitag zwischen vierzehn und neunzehn Uhr dreißig getan, Herr Faber?«
»Mein Mandant hat diese Frage bereits beantwortet«, griff Cord Gusmann ein. Er hatte jegliche Freundlichkeit abgelegt. »In unserem Land gilt noch immer die Unschuldsvermutung. Wenn Sie also nicht mehr vorzubringen haben, Frau Boisen, werden mein Mandant und ich jetzt gehen. Sollten Sie eine weitere Vernehmung für notwendig erachten, sorgen Sie dafür, dass der Ladung ein Auftrag der Staatsanwaltschaft zugrunde liegt. Komm, Julius.«
Die beiden Männer erhoben sich.
Vibeke nannte die Uhrzeit und stoppte die Tonaufzeichnung.
Neben ihr schaute Rasmus mit finsterem Blick auf die Tür, die sich gerade hinter Faber und seinem Anwalt geschlossen hatte. »Scheiße.«
Die Vernehmung hatte keine zwanzig Minuten gedauert.
Vibeke hob ihr Glas. »Auf dich, Elke! Happy Birthday!«
»Ja, auf dich, mein Schatz«, sagte Werner.
Zu dritt stießen an.
Sie saßen bei Piet Henningsen, einem renommierten Fisch- und Spezialitätenrestaurant am Hafen, in das s ie zu feierlichen Anlässen gingen, seit Vibeke denken konnte. Sie hatten in dem Lokal schon zahlreiche Geburtstage und Hochzeitstage gefeiert, und es war der Ort, an dem Elke und Werner sie vor vielen Jahren gefragt hatten, ob sie für immer bei ihnen leben und ganz offiziell ihre Tochter sein wolle. Seitdem hatte sich an dem urigen Ambiente kaum etwas verändert. Holzvertäfelung, maritime Gemälde und Souvenirs aus aller Welt, wohin man blickte.
Die Bedienung brachte das Essen. Ihre Mutter und Werner hatten sich für den Flensburger Fischteller entschieden, während Vibekes Wahl auf die Kutterscholle gefallen war.
»Und, wie läuft es bei eurem Doppelmord?«, fragte ihr Vater zwischen zwei Bissen. Wie üblich war er gut informiert, an welchen Fällen sie gerade arbeitete. Er stattete seiner alten Dienststelle regelmäßig einen Besuch ab und ließ sich auf Stand bringen, was aktuelle Ermittlungen und den Flurfunk betraf.
»Aber Werner«, protestierte Elke. »Muss das ausgerechnet beim Essen sein?«
»Also, mich stört es nicht.« Werner lächelte breit. »Wir lassen die blutigen Details einfach weg.« Er spießte zwei Scheiben Bratkartoffeln auf seine Gabel.
Elke schaute unglücklich drein, und er ging in den Verteidigungsmodus über. »Wann soll ich sonst fragen? Ich kriege unsere Tochter schließlich kaum noch zu Gesicht.«
»Tut mir leid, aber ich habe wirklich viel um die Ohren.«
Ihr Vater sah sie erwartungsvoll an.
»Jetzt lass sie doch in Ruhe essen, Werner«, sagte Elke. »Du weißt genau, dass sie ohnehin nicht mit Außenstehenden über ihre Arbeit sprechen darf.«
»Ich bin doch wohl kein Außenstehender«, erboste sich Werner. An den Nebentischen drehten sich Köpfe zu ihnen herum. Er senkte die Stimme. »Ich war bis vor Kurzem stellvertretender Polizeichef.«
»Ganz genau«, bestätigte seine Frau. »Die Betonung liegt auf ›war‹. Außerdem ist heute mein Geburtstag.«
»Von mir aus«, lenkte Werner ein. »Dann schaue ich eben Montag bei Hans vorbei.« Damit sprach er von Kriminalrat Petersen, einem seiner engsten Freunde und Vibekes direktem Vorgesetzten.
Vibeke griff erleichtert nach ihrem Weinglas. Für einen Moment glitt ihr Blick zum Fenster. Die Hafenpromenade war in Weiß gehüllt, eine dünne Eisschicht hatte sich über die Förde gelegt und glitzerte im Mondlicht.
Sie war froh, nicht über den Fall sprechen zu müssen. Dass sie Julius Faber hatten laufen lassen müssen, ohne einen Schritt weitergekommen zu sein, frustrierte sie. Zudem hatte sie sich abhetzen müssen, um pünktlich im Restaurant zu sein, dabei hatte Elke den Tisch in weiser Voraussicht erst für zwanzig Uhr dreißig reserviert.
Vibeke stellte ihr Glas zurück auf den Tisch und sah ihre Mutter an. »Erzähl, was hast du an deinem Geburtstag Schönes gemacht?«
»Werner hat mich mit einem Frühstück überrascht.« Elke strahlte. »Rührei, Obstsalat, Pancakes. Er hat sogar Blumen gekauft.« Sie strich ihrem Mann liebevoll über den Arm. »Anschließend waren wir am Wasser spazieren, und am Nachmittag haben Franziska und Judith auf einen Kaffee vorbeigeschaut.« Sie lachte zufrieden.
Die nächste halbe Stunde sprachen sie während des Essens über Gott und die Welt. Über die junge Nachbarsfamilie mit den fünf Kindern, über Vibekes Freundin Kim, die an Silvester einen Antrag von ihrem Freund bekommen und abgelehnt hatte, und über Werners Kochkurs, der in Kürze beginnen sollte.
Vibeke legte ihr Besteck beiseite. »Ich soll dir übrigens Geburtstagsgrüße von Rasmus ausrichten.«
Elkes Gesicht nahm augenblicklich einen schwärmerischen Ausdruck an. »Danke. Du hättest ihn ruhig mitbringen können.«
Werner rutschte unruhig auf seinem Stuhl herum. Sein Blick suchte den von Vibeke. »Rasmus hat mich gestern angerufen.« Er klang schuldbewusst.
Elke sah ihn irritiert an. »Rasmus hat dich angerufen? Weshalb? Du hast gar nichts davon erzählt.«
Vibeke stöhnte innerlich. Sie ahnte bereits, worauf das Gespräch hinauslaufen würde.
»Er wollte wissen, wann die Beisetzung von Solveigh ist«, erklärte ihr Vater. Sein Blick ging erneut zu Vibeke. »Da er danach fragte, bin ich davon ausgegangen, dass du ihm von ihr erzählt hast. Ich hoffe, ich habe keinen Fehler gemacht.«
Vibeke tupfte sich bedächtig mit der Serviette den Mund ab. »Es wäre mir jedenfalls lieber, ihr würdet nicht hinter meinem Rücken über mich reden. Das fühlt sich ehrlich gesagt nicht besonders gut an.«
Werner schaute betreten.
Die Bedienung räumte die Teller ab.
Vibeke trank einen Schluck Wasser. »Aber damit ihr Bescheid wisst. Ich war dort. Bei Solveighs Beisetzung. Etwa fünf Minuten lang. Ende der Geschichte.«
»Du warst dort?« Elke stand die Verwunderung deutlich ins Gesicht geschrieben.
»Nicht ganz freiwillig, aber ja.« Vibeke verspürte nicht die geringste Lust, die Einzelheiten noch einmal durchzukauen.
»Hast du erfahren, woran sie gestorben ist?«
»Nein. Und es interessiert mich auch nicht. Sie ist tot, und damit ist das Kapitel für mich abgeschlossen.«
Elke sah das offenbar anders, zumindest spiegelten sich in ihrem Gesicht Fragezeichen. »Und ihre Eltern? Waren sie auch dort? Hast du sie kennengelernt?«
»Diese Leute haben mich achtunddreißig Jahre ignoriert«, erwiderte Vibeke. »Ich finde es jetzt ein bisschen zu spät, sich daran zu erinnern, dass es mich gibt, oder?« Ihre Stimme klang ein wenig schärfer als beabsichtigt.
Elke schien es nicht zu bemerken. »Vielleicht bereuen sie es jetzt, wo ihre Tochter tot ist.« Ein Hauch von Mitgefühl schwang in ihrer Stimme mit.
»Das ist dann ihre eigene Schuld.«
Werner nickte zustimmend.
»Können wir das Thema bitte beenden?«, bat Vibeke. »Was haltet ihr von einem Dessert?« Sie hob die Hand und winkte die Bedienung heran.
Rund eine Stunde später schloss Vibeke die Eingangstür zu dem Mehrfamilienaltbau auf, in dem sie wohnte. H inter einer der Türen im Erdgeschoss wummerten Clubbeats. Offenbar feierte die Studenten-WG wieder mal eine Party.
Sie drückte auf den Lichtschalter neben der Tür, und die Lampe im Hausflur flammte auf. Beim Öffnen des Briefkastens fielen ihr einige Briefe und Werbeprospekte entgegen. Sie nahm den Stapel heraus, und ein Stück weißes Papier segelte zu Boden. Sie bückte sich und hob eine Visitenkarte auf.
Vibeke erkannte die schnörkellose schwarze Schrift auf dem Büttenpapier sofort. Dr. Dr. Hardenberg. Rechtsanwalt und Notar. Auf der Rückseite standen ein paar handgeschriebene Worte. »Rufen Sie mich bitte an. Es ist wichtig!«
Vibeke stopfte die Karte zusammen mit der restlichen Post in ihre Umhängetasche. Diese Leute ließen sich offenbar doch nicht so leicht abschütteln.
Seufzend stieg sie die Treppe zu ihrer Wohnung hoch.
Das Licht seiner Stirnlampe flackerte über den unebenen Boden. Rasmus lief seine übliche Strecke: vom Whitehouse die Esbjerg Brygge am Hafenufer entlang, von dort an den Strand von Sædding bis zur neun Meter hohen Skulpturengruppe Der Mensch am Meer und weiter den Weg oberhalb des Grünstreifens paral lel zum Wasser bis zum Strandhotel in Hjerting, wo er in der Regel umdrehte. Mittlerweile befand er sich auf dem Rückweg.
Der Wind hatte nachgelassen, und am Strand türmten sich die Eisschollen wie geschliffene Glasstücke zu eindrucksvollen Formationen.
Schweiß lief ihm über die Stirn, seine Muskeln brannten, und sein Atem ging stoßweise. Er drosselte das Tempo, fand in seinen neuen Rhythmus. Seine Gedanken kreisten um Julius Faber. Ihm war das triumphierende Lächeln, mit dem der Geschäftsführer von Dahlmann Invest den Vernehmungsraum verlassen hatte, nicht verborgen geblieben.
Faber hatte Dreck am Stecken, davon war Rasmus überzeugt. Aber hatte er auch drei Menschenleben auf dem Gewissen? Zumindest was Ricky Ahlgren betraf, konnte Faber ein wasserdichtes Alibi vorweisen. Sowohl sein Freund als auch der Fitnessclub hatten seine Angaben anstandslos bestätigt, zudem untermauerte die digitale Zeiterfassung beim Ein- und Auschecken im Studio seinen dortigen Aufenthalt.
Seit die Medien von dem dritten Todesfall auf Als erfahren hatten, schlug der Fall noch höhere Wellen als zuvor, und einige Pressevertreter spekulierten bereits öffentlich über einen Serientäter, was fatal war. Denn abgesehen von der Anzahl der Toten gab es keinerlei Grundlage für diese Annahme, und es setzte die Ermittler massiv unter Druck.
Rasmus erreichte keuchend das Whitehouse. Unter seinen Laufklamotten war er vollkommen durchgeschwitzt, und er sehnte sich nach einer heißen Dusche.
Er zog den Schlüssel aus der Reißverschlusstasche seiner Laufhose und zuckte zusammen, als sich eine Gestalt aus dem Schatten des Vordachs löste.
»Hej, Rasmus!« Maja trat in den Lichtkegel am Hauseingang.
»Entschuldige, wenn ich dich erschreckt habe.« Sie trug ihren hellen Mantel, das blonde Haar fiel ihr schimmernd und offen auf die Schultern. Ihre Füße steckten in schicken schwarzen Stiefeln.
Umgehend wurde ihm bewusst, welchen Anblick er durchgeschwitzt in Laufklamotten und mit der Stirnlampe auf dem Kopf abgeben musste.
»Hej.« Seine Stimme klang rau. »Was machst du hier?« Er schloss die Tür auf.
»Ich wollte dich sehen. Dein Handy war ausgeschaltet, und ich dachte, ich probiere es einfach auf gut Glück.«
Sein Herz fuhr Achterbahn. »Ich war laufen«, erklärte er überflüssigerweise.
Maja schmunzelte. »Das sehe ich.«
»Möchtest du vielleicht mit hochkommen?«
Sie lächelte. »Gerne.«
Er hielt ihr die Tür auf.