Es war kurz vor acht, als Rasmus seinen VW-Bus vom Lejrvejen auf den Parkplatz des Gemeinsamen Zentrums lenkte.
Er hatte die Nacht in Aarhus verbracht. Nach der Befragung von Bjarne Andresen am gestrigen Vormittag war er spontan zum Hof seiner Eltern gefahren, hatte dort nach einem gemeinsamen Kaffee ein Telefonat mit dem Pressesprecher wegen der Öffentlichkeitsfahndung geführt und später am Nachmittag einen Videocall mit Camilla und Ida gehabt. Seine kleine Tochter schien in kürzester Zeit um mehrere Zentimeter gewachsen zu sein, ebenso ihr Wortschatz. Immer häufiger reihte sie zwei Wörter aneinander. Nicht mehr lange, und sie würde in ganzen Sätzen sprechen.
Die ersten Augenblicke hatte Ida ein wenig gefremdelt, und es hatte Rasmus einen Stich versetzt, doch irgendwann war sie aufgetaut und hatte wie ein Wasserfall geplappert. Er war schier dahingeschmolzen und hatte versprochen, seine Tochter am kommenden Freitag von der Kita abzuholen.
Der Videocall mit Ida und Camilla hatte ihm gut getan, und seine Wehmut, die ihn häufig beim Abschied überfiel, war von Vorfreude überlagert, die Kleine in wenigen Tagen wiederzusehen.
Den Abend hatte er bei Jonna und ihrem Mann in der Küche verbracht, und er war so gut drauf gewesen, dass er seiner Schwester sogar von sich und Maja erzählt hatte. Jonna hatte gelacht, weil sie es hatte kommen sehen, doch sie freute sich für ihn. Sie hatte ihm für die Nacht eines ihrer Gästezimmer gegeben und war bereits wach gewesen, als er um halb sechs wieder auf der Matte gestanden hatte. »Vergeig es nicht«, hatte ihm Jonna noch mit auf dem Weg gegeben und ihm einen Thermosbecher mit Kaffee in die Hand gedrückt. Rasmus hatte eine flapsige Gegenbemerkung auf der Zunge gelegen, trotzdem hatte er nur genickt. Dieses Mal würde er es richtig angehen.
Er parkte seinen Bulli neben Vibekes Dienstwagen und stieg aus. Feuchtigkeit hing schwer in der Luft, nicht mehr lange, und die Sonne würde aufgehen.
Bis auf Jens und Luís saßen alle Teammitglieder an ihren Plätzen, als Rasmus kurz darauf das Büro der Sondereinheit betrat. Auf das digitale Whiteboard war noch immer das Gebiet um Ny Pøl projiziert, neben der Kaffeekanne auf dem Sideboard hatte jemand die Tageszeitung ausgelegt. Ricky Ahlgrens Gesicht prangte auf der Titelseite über einem kleineren Bild der Dahlmanns, dazu hatte man einen schwarzen Volvo 240 als Beispielfoto abdruckt. Die Story über ein weiteres Todesopfer in Verbindung mit dem Doppelmord schien für die Medien ein gefundenes Fressen zu sein.
»Jeder Zweite scheint einen schwarzen Volvo zu fahren«, stöhnte Søren gerade, als er den Hörer auf legte. »Die Leute interessiert gar nicht, welches Modell und Baujahr wir suchen, obwohl das alles haarklein abgedruckt wurde. Ich wette, das sind alles nur Pseudoanrufe von irgendwelchen Sensationslüstlingen.«
Rasmus schenkte sich einen Kaffee ein. »War denn schon etwas Brauchbares dabei?« Sein Blick ging zu Vibeke, die gerade ebenfalls ein Telefonat beendet hatte.
»Der entscheidende Hinweis zumindest noch nicht.«
»Weshalb landen die Anrufe überhaupt hier und nicht in der Pressestelle?«
»Die Leitung ist überlastet.« Pernille hob den Blick von ein paar Unterlagen. »Die auflaufenden Gespräche landen in der Zentrale, und die stellen sie dann zu uns durch. Die Kollegen kümmern sich gerade darum, dass eine Warteschleife geschaltet wird.«
Rasmus ging zu seinem Platz, stellte den Kaffeebecher ab und zog seine Jacke aus. »Wo stecken Jens und Luís?«
»Jens ist in Hederup beim Gemeindeamt, die öffnen montags um acht«, informierte ihn Vibeke. »Und Luís hat verschlafen. Er kommt ein wenig später.«
»Hat sich zwischenzeitlich etwas getan?« Rasmus hängte seine Jacke über den Schreibtischstuhl.
»Nicht wirklich.« Pernille klopfte auf die Liste, die vor ihr lag. »Ich bin schon seit um sieben dabei, die Werkstätten abzutelefonieren. Nirgends wurde in den letzten Tagen der Scheinwerfer eines Volvo 240 repariert.«
Rasmus nippte an seinem Kaffee. »Haben wir eine Liste mit den Halterdaten der zugelassenen Fahrzeuge?«
Pernille nickte. »Luís hat gestern einen Großteil der Leute abtelefoniert. Aber natürlich gibt keiner freiwillig zu, dass er einen Menschen totgefahren und Fahrerflucht begangen hat.« Sie strich sich eine dunkle Haarsträhne aus dem Gesicht. »Und bei dir? Wie war das Gespräch mit Bjarne Andresen?«
Rasmus erzählte von ihrem Treffen.
»Also ist nichts dabei rumgekommen«, stellte seine Kollegin fest. Enttäuschung schwang in ihrer Stimme mit. Sie sah nachdenklich zum Fenster.
Draußen war gerade die Sonne aufgegangen, und anders als an den vorherigen Tagen schimmerte der Himmel in einem wunderbaren Farbspiel aus Hellblau- und Rosatönen.
Pernille wandte ihm wieder den Blick zu. »Dabei war ich mir sicher, dass mit dem Mann etwas nicht stimmt.«
»Falls es dich tröstet, mir geht es ganz ähnlich, obwohl ich nicht einmal sagen kann, weshalb. Bjarne Andresen wirkte sehr sympathisch. Und er hat für beide Tatzeiträume ein Alibi.«
»Und daran ist nicht zu rütteln?«, fragte Søren.
Rasmus tippte mit dem Fuß gegen das Tischbein. »Nur wenn die Ehefrau gelogen hat. Davon abgesehen braucht es ein Motiv.«
»Was haben wir an Informationen über Birga Andresens verstorbenen Mann?«, erkundigte sich Vibeke.
»Im Grunde nichts«, sagte Pernille. »Nur dass er Andresen hieß.« Im CPR-System wurden Angaben zum Ehepartner nicht erfasst. »Birgas Geburtsname lautet Pedersen. Ich habe beim Rathaus in Sønderborg die Daten von der Heiratsurkunde angefragt, aber dort e xistiert keine. Entweder sie und ihr Mann haben in einer anderen Kommune geheiratet und die Urkunde wurde nie digitalisiert, oder die Heirat hat nicht in Dänemark stattgefunden und ist deshalb nicht registriert.« Sie drehte an ihrem Unendlichkeitsring. »Wenn wir also mehr darüber wissen wollen, werden wir sie oder ihren …«
Das laute Klingeln eines Handys unterbrach sie.
»Entschuldigt.« Vibeke griff nach ihrem Smartphone. »Das ist Jens«, sagte sie nach einem Blick aufs Display und nahm das Gespräch an. »Hallo, Jens, warte, ich stell dich auf laut, dann können alle mithören.«
»Hej! Also passt auf«, begann Jens. In seiner Stimme schwang Aufregung mit, und Rasmus ahnte, dass er auf etwas gestoßen war. »Der Tote, der in Hederup während des Eiswinters gefunden wurde, hieß Ernst Andresen. Er starb am 1. Januar 1979. Im Alter von vierundvierzig.«
Für einen kurzen Moment wurde es so still, dass man eine Stecknadel hätte fallen hören können.
»Ich weiß, das muss nicht unbedingt etwas heißen, den Namen Andresen gibt es wie Sand am Meer.«
»In Sønderborg existiert keine Heiratsurkunde von Birga Andresen«, informierte ihn Vibeke. »Wir haben also keinen Vornamen. Gut möglich also, dass er Ernst hieß und die beiden in Deutschland geheiratet haben.«
»Hier im Gemeindeamt suchen sie gerade nach den archivierten Meldedaten«, kam es über den Lautsprecher.
In Deutschland wurden die Meldedaten nach dem Tod eines Einwohners nach Ablauf von fünf Jahren aus dem aktuellen Bestand herausgenommen und für eine weitere Dauer von fünfzig Jahren archiviert. Dort waren auch Name und Anschrift des Ehepartners vermerkt. »Ich melde mich.«
»Danke, Jens.« Vibeke legte auf. »Wenn Birga mit diesem Ernst Andresen verheiratet war, dann müsste doch im CPR-System zu sehen sein, dass sie nach Deutschland gezogen ist, oder? Das hätte uns längst auffallen müssen.«
Rasmus schüttelte den Kopf. »Nicht unbedingt. Das CPR-Register wurde erst 1968 in Dänemark eingeführt. Wenn sie vorher nach Deutschland gezogen ist, wurde das nicht elektronisch registriert.« Er kratzte sich nachdenklich am Hinterkopf. »Und wenn es stimmt, was sich gerade andeutet, dass Birga mit diesem Ernst Andresen verheiratet war und in Hederup gewohnt hat, dann sind sie und Luise Dahlmann sich womöglich dort begegnet. In dem Fall hat uns die Frau angelogen.«
»Das Ganze ist über vierzig Jahre her«, gab Pernille zu bedenken. »Luise war damals wie alt? Fünfzehn? Ich glaube kaum, dass Birga Andresen sie nach der Zeit wiedererkannt hat. Vielleicht ist das Ganze nur ein Zufall.«
Rasmus schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht an Zufälle. Laut Birga starb ihr Mann an einem Herzinfarkt.« Er rieb sich den Nasenrücken. »Eigentlich ist man mit vierundvierzig viel zu jung dafür.«
»Womöglich ist Birgas Mann gar keines natürlichen Todes gestorben«, kam es von Søren.
»Du meinst, sie hat ihn umgebracht?«, fragte Pernille.
Søren zuckte die Achseln. »Könnte doch sein.«
»Und woher sollte Luise Dahlmann davon wissen?«
»Das müssen wir herausfinden, sofern Søren recht behält«, sagte Rasmus. »Auf jeden Fall brauchen wir den Totenschein.«
»Keine Chance«, sagte Vibeke. »Die Aufbewahrungsfrist ist längst abgelaufen.« In Schleswig-Holstein lag diese bei dreißig Jahren.
»Dann müssen wir herausfinden, wer ihn damals ausgestellt hat. Vielleicht ein ansässiger Arzt. So viele Möglichkeiten wird es nicht geben.«
»Ich rufe Jens an.« Vibeke griff nach ihrem Handy, tippte auf ein paar Tasten des Displays und hielt es sich ans Ohr. »Hallo, Jens. Wir brauchen den Totenschein von Ernst Andresen.« Sie lauschte einen Moment. Dabei weiteten sich ihre Augen. »Ich komme.« Sie legte wieder auf. »Jens konnte gerade die archivierten Meldedaten einsehen. Ernst Andresen war tatsächlich mit Birga Andresen, geborene Pedersen, verheiratet. Und nicht nur das. Laut Meldeadresse wohnten sie damals im Nachbarhaus von Luises Großcousin.«
»Also ist es kein Zufall«, sagte Pernille. »Birga Pedersen und Luise Dahlmann haben sich schon früher gekannt.«
Rasmus knirschte mit den Zähnen. »Und nicht nur sie. Auch Bjarne Andresen. Er und Luise waren fast gleichaltrig.«
»Dann sollten wir jetzt mit Birga Andresen reden.« Pernille strich sich eine Haarsträhne aus dem Ge sicht, die sich aus ihrem Pferdeschwanz gelöst hatte. »Und sie konfrontieren.«
Vibeke schüttelte den Kopf. »Dafür ist es noch zu früh. Die Frau hat bis jetzt geschwiegen und wird es vermutlich auch weiterhin tun. Birga Andresen ist eine harte Nuss. Wir müssen erst herausfinden, was hinter der ganzen Sache steckt. Bislang haben wir nichts außer Spekulationen.« Sie erhob sich von ihrem Stuhl. »Ich fahre nach Hederup und unterstütze Jens dabei, die Ärzte abzuklappern.« Ihr Blick wanderte zu Rasmus. »Kommst du mit?«
Er schüttelte den Kopf. »Ich sehe zu, was ich unterdessen über Bjarne Andresen in Erfahrung bringen kann. Aber ich bleib in Stellung. Ruf mich an, wenn du mich brauchst.«
Vibeke nickte, und für einen Moment kreuzten sich ihre Blicke. Dann griff sie nach ihrer Jacke an der Garderobe und verließ das Büro.
Rasmus spürte ein bekanntes Kribbeln in der Magengegend. Sie waren auf der richtigen Spur. Dessen war er sich vollkommen sicher. Doch was war damals in Hederup vorgefallen, das über vierzig Jahre später zum Tod von drei Menschen geführt hatte?
Ediths Stimmung war auf dem Tiefpunkt. Sie saßen jetzt seit über drei Tagen fest, abgeschnitten von jeglicher Zivilisation. Ihre Lebensmittelvorräte gingen zur Neige, die Räume waren längst eiskalt. In dem Campingkocher, mit dessen Hilfe sie sich Tee oder Tütensuppe zubereiteten, befand sich die letzte Kartusche. Auch die Tiere von Bauer Kruse schrien nicht mehr.
Am Morgen hatte der Hubschrauber über ihren Häusern gekreist, und kurz hatte Edith gehofft, er wäre ihretwegen gekommen, um sie endlich aus diesem Eisloch zu befreien, doch natürlich war dies reines Wunschdenken.
Die Schneeberge an den Straßen waren mittlerweile über zwei Meter hoch, dazwischen zogen sich Trampelpfade wie tiefe Schneisen. Um die Häuser auf der anderen Straßenseite sehen zu können, musste man jetzt ins Obergeschoss steigen.
Dort saß ihre Tochter, dick eingemummt in ihre Bettdecke, oft stundenlang am Fenster und beobachtete, was in der Straße vor sich ging.
Luise hatte mittlerweile den Mann und den Sohn aus dem Nebenhaus zu Gesicht bekommen, wenn sie zusammen Schnee schaufelten. Edith hatte die Nachbarn drüben bei Nils reden hören, dass die Frau krank sei.
Die Abende bei Nils waren der einzige Lichtblick in dieser schlimmen Zeit. Seine Frau Hilde kochte je den Tag auf ihrem Holzofen Eintopf für die Nachbarschaft.
Mit Einbruch der Dunkelheit trafen die Menschen in ihrer Küche zusammen, fabulierten über den Schnee und das Wetter und darüber, was sie als Erstes tun würden, sobald Strom und Heizung wieder gingen und die Straßen geräumt wären. Dazu aßen und tranken sie, lauschten gemeinsam dem Transistorradio, und für kurze Zeit brannte sich das warme Gefühl von Solidarität in ihre Herzen ein. Die Menschen in Hederup hielten zusammen. Heute hatten sie nach dem Essen das alte Jahr mit einem Schnaps verabschiedet, und alle waren sich darin einig, dass das neue nur besser werden konnte.
Mittlerweile war es Viertel vor neun, und Edith saß allein in der Küche, während ihre Tochter sich ins Obergeschoss zurückgezogen hatte. Der Rest der Familie war mit der Nachbarsgesellschaft ein paar Straßen weiter zum Dorfkrug gezogen, um dort den Jahreswechsel zu feiern.
Der Wind fegte noch immer ums Haus, und nachdem es am Nachmittag vorübergehend aufgehört hatte, schneite es seit dem frühen Abend erneut. Durch das Fenster hörte Edith das Kratzen von Schneeschaufeln.
Sie dachte daran, wie Luise und sie, beseelt von dem Gemeinschaftsgefühl und dem Wunsch, ebenfalls zu helfen, mit einer Schüssel von Hildes Eintopf zu den Leuten im Nebenhaus hinübergegangen waren.
Die Frau hatte ihnen mit blassem Gesicht die Tür geöffnet, sich höflich bedankt und das Essen entgegengenommen. Gleich darauf war ihr Mann aufgetaucht und hatte Edith und Luise barsch aufgefordert, sie in Ruhe zu lassen.
Edith war über sein rüpelhaftes Benehmen derart empört gewesen, dass sie auf dem Rückweg wie ein Rohrspatz geschimpft und darüber zum ersten Mal seit Tagen die Kälte vergessen hatte.
Es war dann Otto gewesen, der ihr nahegelegt hatte, sie solle doch ein wenig Verständnis zeigen. Schließlich befanden sie sich alle in einer Ausnahmesituation und waren mitunter ein wenig dünnhäutig geworden. Sie selbst sei doch das beste Beispiel dafür. Edith war daraufhin beleidigt zum Haus ihres Cousins abgerauscht, gefolgt von Luise.
Auf der Treppe polterten Schritte. Kurz darauf stürzte ihre Tochter zur Tür herein. Ihre sonst so blassen Wangen wirkten rot und erhitzt, als hätte sie Fieber, die Augen waren weit aufgerissen.
»Mama, es ist etwas passiert«, sprudelte es aus ihr heraus. Es folgte ein Schwall von Wörtern und Sätzen, die Edith kaum aufnehmen konnte.
Als Luise ihren Monolog beendet hatte, herrschte für einen kurzen Moment bleischwere Stille im Raum. Draußen war das Kratzen der Schneeschaufeln verstummt.
Ediths Blick ging zum Fenster. Der Schneefall hatte wieder zugenommen, und die Nacht erschien gespenstisch hell. Irgendwo in der Ferne wurde eine Silvesterrakete gezündet.
Schließlich lachte Edith auf. »Du besitzt eine blühende Fantasie, Luise. Du hast dir das Ganze sicher nur eingebildet.«
Bjarne trat aufs Gaspedal. Er fuhr viel zu schnell. Einhundertfünfzig anstatt der erlaubten einhundertzehn Stundenkilometer, doch die Unruhe trieb ihn voran.
Als der Polizist den schwarzen Volvo erwähnt hatte, war eine Erinnerung in ihm aufgeblitzt, und plötzlich war auch Luise wieder da. Das schmächtige blonde Mädchen, das zusammen mit ihrem Bruder ab und an bei den Nachbarn zu Besuch gewesen war. Er erinnerte sich, dass sie ungefähr in seinem Alter gewesen war und häufig vom Fenster zu ihnen herübergeschaut hatte. Miteinander gesprochen hatten sie nur ein einziges Mal, irgendwann im Sommer, doch dann war ihr Bruder aufgetaucht. Bjarne fiel ein, dass er Volker hieß.
Luise war nett gewesen, ganz anders als ihre zickigen Großcousinen, die ihn früher immer mit einer Mischung aus Mitleid und Abscheu angesehen hatten, und wenn sie lächelte, hatten sich tiefe Grübchen in ihren Wangen gebildet. Er hatte sie hübsch gefunden.
Die Landschaft neben der Autobahn wurde weiß. Im Süden Jütlands hatte es die letzten Tage nahezu unentwegt geschneit, doch jetzt war der Himmel leuchtend blau und wolkenfrei, und der Schnee glitzerte in der Sonne wie eine Decke aus Eiskristallen.
Höhe Høruphav verließ Bjarne die Route 8. Entlang der Landstraße lag der Schnee gut einen Meter hoch. Unwillkürlich kehrten seine Gedanken nach Hederup zurück. An diesen schrecklichen Winter, in dem so furchtbare Dinge passiert waren. Er hatte sie tief in seine Inneren vergraben und einen Deckel draufgemacht, da er es sonst nicht ausgehalten hätte.
Doch man konnte vor einer Schuld nicht davonlaufen, das hatte Bjarne immer gewusst. Irgendwann holte sie einen ein.
Meist in einem Moment, in dem man am wenigsten damit rechnete.
Hatte seine Mutter es gewusst? Dass es die Luise von früher gewesen war, die man zusammen mit ihrem Mann in Tinnes Haus gefunden hatte? Oder spielte ihnen das Schicksal einen bösen Streich?
Er erreichte Sarup. Der Ort wirkte wie ausgestorben. Weder auf den Bürgersteigen noch auf der Straße war eine Menschenseele zu sehen. Vielleicht trauten sich die Leute nach allem, was passiert war, nicht mehr aus dem Haus. Anfangs, nachdem der Doppelmord bekannt geworden war, hatten sie es auf die Deutschen geschoben, doch mit dem Tod von Ricky war vermutlich Argwohn in die Dorfgemeinschaft gezogen. Auch wenn er nicht zu den rühmlichsten Bewohnern von Sarup gehört hatte, war er einer von ihnen gewesen.
Bjarne bog in die schmale Straße ein, die zum Haus seiner Mutter führte. Die vertraute Landschaft war weiß eingehüllt, in der Ferne leuchtete stahlgrau das Meer.
An Tinnes Haus drosselte er das Tempo und sah kurz zum Gebäude. Bei dem Gedanken an die beiden Toten, die dort in der Küche gelegen hatten, stieg Unbehagen in ihm auf, und er fuhr weiter.
Kurz darauf lenkte er den Wagen in die Einfahrt seiner Mutter und trat abrupt auf die Bremse. Smilla, die bunte Glückskatze, saß mitten auf dem Weg und putzte sich das Fell. Das Tier starrte ihn mit seinen bernsteinfarbenen Augen an, ehe es sich schließlich erhob und in einem der angrenzenden Gebüsche verschwand. Er fuhr weiter bis vor den Hauseingang. Das Auto seiner Mutter stand unter dem Carport. Vom Schornstein stieg Rauch auf.
Schon beim Aussteigen hörte Bjarne das Geräusch, wenn Holz auf Holz traf. Ihm entfuhr ein Seufzen. Schon so häufig hatte er seiner Mutter gesagt, dass sie ihm das Brennholz überlassen sollte. Wofür hatte sie schließlich einen Sohn. Ein Anruf genügte.
Er rüttelte an der Gartenpforte, die im Schnee festgefroren war, bekam sie schließlich frei und stapfte nah am Gebäude unter dem Dach entlang. Eine dünne Eisschicht hatte sich um Büsche und Sträucher gelegt, und es knisterte unter seinen Schuhsohlen.
Seine Mutter stand am Hackklotz vor dem Holzschuppen, trug ihre dicke rostrote Weste über einem Wollpullover und hatte sich einen schwarzen Schal um die Haare geschlungen. Gerade schwang sie mit leicht gekrümmtem Oberkörper die Axt. In einigen Metern Entfernung hockte Mimi, die kleine schwarze Katze, neben einem Holzstapel und sah ihr dabei zu.
Bjarne stapfte durch den Schnee zu seiner Mutter. »Lass mich das machen.«
»Ich kriege das auch allein hin«, sagte Birga, ohne ihn anzusehen.
»Ich weiß.« Bjarne nahm ihr die Axt aus der Hand und spaltete erst einen, dann weitere Stammabschnitte in schmalere Stücke. Dabei spürte er ihren eigentümlichen Blick auf sich.
Schließlich packte er das Brennholz in den bereitstehenden Korb, während seine Mutter die Axt im Schuppen verstaute.
Über seinem Kopf kreiste einsam eine Krähe. Die schwarz gefiederten Vögel tauchten meist Ende Oktober auf und verschwanden im darauffolgenden März in ihre Brutgebiete. Für einen kurzen Moment kam ihm eins von Grimms Märchen in den Sinn, das ihm sein Vater als Kind vorgelesen hatte. Darin wurden den Halunken von Krähen die Augen ausgehackt. Am Ende blieben nicht mehr als ihre Skelette übrig.
Schnell wischte Bjarne die Erinnerung beiseite, packte den Korb mit Brennholz und folgte seiner Mutter schweigend durch den Schnee.
Im Haus war es warm und behaglich. Die Teekanne auf dem Stövchen verströmte einen Hauch von Bergamotte, im Kamin prasselte ein Feuer.
Bjarne stellte den Korb ab und legte ein Holzscheit nach. Dann drehte er sich zu seiner Mutter um.
»Die Tote in Tinnes Haus war die Luise von früher, oder?«
Birga wich seinem Blick aus, als sie nickte.
»Hast du sie erkannt?«
Einen Moment herrschte Schweigen.
»Anfangs nicht.« Birga zog sich den Schal vom Kopf, und ihre kurzen grauen Haare wurden sichtbar. Sie waren am Oberkopf platt gedrückt. »Ihr Mann Konrad wollte mein Haus kaufen, oder vielmehr das Grundstück.«
Bjarne nickte. »Ich weiß, er hat mir eine Kopie des Angebots geschickt. Vielleicht dachte er, ich hätte Einfluss auf dich.« Er lächelte matt.
»Ich habe ihm gesagt, was ich immer sage«, Birgas Stimme klang rau wie Schmirgelpapier, »dass mich hier keiner wegkriegt. Und wenn, dann nur mit den Füßen voraus.«
Mimi strich um ihre Beine, und seine Mutter bückte sich, um ihr das seidige Fell zu kraulen. »Irgendwann rief Tinne mich an und bat mich, den Dahlmanns den Zweitschlüssel vorbeizubringen, den ich noch hatte. Vorletzten Freitag bin ich hingefahren.« Sie richtete sich wieder auf. »Luise hat mich wiedererkannt. An meinen Augen.« Um ihren Mund zuckte es.
Bjarne spürte, wie Kälte seine Wirbelsäule hinaufkroch.
»Sie hat es gesehen, Bjarne«, sagte seine Mutter. »Luise hat es gesehen.«
Natürlicher Tod. Dort stand es schwarz auf weiß.
Vibeke saß neben Jens auf einem der Besucherstühle vor dem Schreibtisch des Arztes und betrachtete das Kreuz auf dem Totenschein. Personenangaben, Auffindeort, Identifikation, Unterschrift. Sämtliche Spalten waren korrekt ausgefüllt.
Enttäuschung machte sich in ihr breit.
»Existiert noch eine Patientenakte?«, erkundigte sich Jens.
Dr. Martensen, ein Endvierziger mit widerspenstigen braunen Haaren und schwarzer Kastenbrille, schüttelte den Kopf. »Leider nein.« Er hatte ihnen eingangs erzählt, dass er die Praxis von seinem verstorbenen Vater übernommen hatte, der einen Großteil der Unterlagen auch über die gesetzliche Aufbewahrungsfrist hinaus aufgehoben hatte.
»Sagt Ihnen der Name Ernst Andresen etwas?«, erkundigte sich Vibeke.
Etwas im Blick des Arztes veränderte sich. Er legte die Fingerspitzen gegeneinander und tippte sich bedächtig gegen die Lippen, so als schien er gedanklich etwas abzuwägen.
Vibeke musste sich zur Geduld zwingen, um ihn nicht zu drängen, und betrachtete stattdessen das gerahmte Poster an der Wand, das einen menschlichen Herzmuskel abbildete. Auch Jens hüllte sich in Schweigen. Vom Empfangsbereich klang Telefonklingeln zu ihnen ins Sprechzimmer.
»Ja. Der Name sagt mir etwas.« Dr. Martensen strich sich mit einer flüchtigen Geste über die Oberlippe. Er schien, als wäre er zu einer Entscheidung gelangt. »Kurz bevor mein Vater starb, hat er sich mir in einer Sache anvertraut, die ihn beschäftigt hat, und sie betrifft diesen Mann.« Er griff nach seinem Wasserglas, hob es an und stellte es wieder zurück, ohne daraus getrunken zu haben. »Ernst Andresen wurde am Morgen des 1. Januar 1979 auf dem Bürgersteig vor seinem Haus tot unter dem Schnee gefunden. Die Nachbarn verständigten meinen Vater. Er war damals der einzige Arzt im Ort, und Ernst Andresen und seine Familie gehörten zu seinen Patienten. Er hat den Totenschein ausgestellt.« Sein Blick g ing zu dem Dokument, das vor Vibeke lag, und er holte tief Luft. »Doch die Todesursache, die er angegeben hat, stimmt nicht.« Er machte eine bedeutungsschwangere Pause. »Ernst Andresen hatte eine Verletzung am Hinterkopf. Ihm wurde der Schädel eingeschlagen.«
Einen kurzen Moment wurde es im Sprechzimmer vollkommen still.
»Ihr Vater hat den Totenschein gefälscht?«, fragte Vibeke fassungslos.
Martensens Kiefer malmte. »Das war natürlich nicht richtig von meinem Vater.«
Die Untertreibung des Jahres, dachte Vibeke.
»Ihr Vater hat ein Tötungsdelikt verschleiert«, stellte Jens sachlich fest, »das ist ein Straftatbestand.«
Der Arzt nickte. »Sie haben natürlich recht. Im Grunde ist das Handeln meines Vaters unentschuldbar, aber er hatte Mitleid mit der Familie. Vor allem mit der Frau.« Er griff erneut nach seinem Glas; dieses Mal trank er einen kräftigen Schluck, ehe er es wieder abstellte. »Eigentlich dürfte ich es Ihnen gar nicht erzählen, aber ich möchte, dass Sie verstehen, weshalb mein Vater damals so gehandelt hat. Ernst Andresen hat seine Frau über Jahre schwer misshandelt. Die klassische Geschichte. Blaue Flecken. Eine aufgeplatzte Lippe. Prellungen. Es wurden Ausreden erfunden, woher die Verletzungen stammten. Eine offene Schranktür, die Kellertreppe, solche Dinge. Dabei war offensichtlich, was vor sich ging.« Er schüttelte den Kopf. »Die Nachbarn, die Leute im Ort, alle wussten davon, aber alle haben geschwiegen. Auch mein Vater. Und dafür hat er sich unsäglich geschämt.« Er streckte die Hand aus und tippte mit dem Finger auf den Totenschein. »Es war seine Art der Wiedergutmachung.«
Vibeke hob die Brauen. »Wollen Sie damit sagen, dass Birga Andresen ihren Mann getötet hat?«
»Mein Vater hat das jedenfalls angenommen.«
»Gibt es von Birga Andresen noch Patientenunterlagen aus der Zeit? Wurden die Misshandlungen in irgendeiner Art und Weise dokumentiert?«
»Mein Vater hat ihre Akte aufbewahrt. Allerdings benötige ich für die Herausgabe einen Beschluss.«
»Den bekommen Sie«, versprach Vibeke und erhob sich.
Kurz darauf traten sie und Jens wieder ins Freie.
Die Sonne stand jetzt hoch am Himmel.
»Es ist doch immer das Gleiche.« Jens blinzelte hinter seiner Brille. »Die Menschen wissen, was vor sich geht, und trotzdem halten sie den Mund. Da können Kinder verhungern oder zu Tode misshandelt werden, Frauen verprügelt und vergewaltigt werden, und alle sehen weg.«
Vibeke nickte betroffen. Häusliche Gewalt hatte viele Gesichter und kam in allen Schichten und Altersgruppen vor. Damals wie heute. Dabei traf sie Frauen und auch Männer. Häufig waren die Opfer nicht nur körperlicher oder sexueller Gewalt ausgesetzt, sondern auch psychischer. Demütigungen, Drohungen und Beschimpfungen gehörten oftmals zum Tagesprogramm. Dazu kamen die soziale Isolation und zum Teil auch wirtschaftlicher Druck, wenn den Opfern der Zugang zu Geld verwehrt wurde. Nur selten wurde häusliche Gewalt zur Anzeige gebracht. Zu groß waren Scham und Angst, und dementsprechend hoch war die Dunkelziffer.
»Ich wette«, erboste Jens sich weiter, »dass mindestens die Hälfte der Leute, die damals schon hier wohnten und mit denen wir gesprochen haben, Bescheid wussten. Aber alle waren zu feige, den Mund aufzumachen. Selbst heute noch.« Er klappte den Kragen seines Mantels hoch. »Was ist zum Beispiel mit dem Bestatter? Der muss die Leiche doch auch zu Gesicht bekommen haben.«
Vibeke zog ihr Handy aus der Jackentasche. »Ich gebe den anderen Bescheid.«
Rund anderthalb Stunden und eine kurze Lagebesprechung später fuhr Vibeke in ihrem Dienstwagen zusammen mit Rasmus die Straße zum Haus von Birga Andresen entlang.
Zuvor war das Team im Gemeinsamen Zentrum übereingekommenen, die alte Frau mit ihrer Vergangenheit zu konfrontieren und zeitgleich ihren Sohn zu vernehmen. Auch wenn Bjarne für beide Tatzeiträume Alibis vorweisen konnte, war seine Rolle noch immer ungewiss, und vielleicht konnte er Licht ins Dunkel bringen.
Im Wagen herrschte angespannte Stille. Die tief verschneite Landschaft sah aus wie in einem Winter märchen. Frost glitzerte an den kahlen Ästen, über Tannen, Büsche und Sträucher hatten sich dicke Hauben aus Schnee gelegt. Darüber erhob sich leuchtend blau der Himmel.
Die perfekte Idylle, dachte Vibeke. Wie trügerisch .
»Bjarne Andresen ist mit neunzehn von Als weggezogen, um in Aarhus Pädagogik zu studieren«, sagte Rasmus auf dem Beifahrersitz. »Nach dem Studium hat er einen freiwilligen Dienst in verschiedenen sozialen Einrichtungen durchlaufen, ehe er beim Jugendamt gelandet ist, wo er noch immer arbeitet. Mit Anfang fünfzig hat er geheiratet. Johanne, eine Pastorin. Kurz darauf ist er Vater von Zwillingen geworden. Mads und Bjørn sind sieben.« Er räusperte sich. »Ich habe mich etwas in seinem Umfeld umgehört. Bjarne Andresen wird von allen als äußerst warmherzig und hilfsbereit beschrieben.«
»Das muss nichts heißen«, sagte Vibeke. Schon zu oft hatte sie erlebt, dass sich hinter einer makellosen Fassade das Böse verbarg, und es war einer der Gründe, weshalb sie Menschen nur wenig Vertrauen entgegenbrachte. Die Täter waren häufig dort zu suchen, wo man sie am wenigsten erwartete.
Hinter der nächsten Biegung kam Birga Andresens Haus mit der gelb getünchten Fassade in Sicht. Automatisch spannten sich Vibekes Muskeln an. »Wir sind da.«
In der Auffahrt waren Autoreifenspuren zu sehen. Wenige Minuten später hielt sie mit dem Dienstwagen vor dem Eingang. Im Carport stand Birgas weißer Corsa.
»Wie es aussieht, ist sie da.«
Sie stiegen aus und steuerten auf die blau gestrichene Eingangstür zu. Im hellen Sonnenlicht traten die Spuren, die Wind und Wetter an der Hausfassade hinterlassen hatten, noch deutlicher hervor.
Rasmus klopfte an die Tür. Nichts tat sich.
»Vielleicht ist sie gerade auf der Toilette.« Er wartete einen Moment, dann klopfte er erneut. Dieses Mal ein wenig energischer.
Vibeke erinnerte sich an die erste Begegnung mit der Frau. Ihr misstrauischer Blick. Die zweifarbigen Augen. War Birga Andresen tatsächlich eine mehrfache Mörderin?
Ihre Anspannung wuchs, und sie spähte durch das angrenzende Sprossenfenster ins Innere des Hauses. Ein runder Tisch aus dunklem Holz, vier passende Stühle, ein Vitrinenschrank und Landschaftsbilder. Alles wirkte ordentlich und aufgeräumt.
Rasmus rüttelte an der Türklinke. »Abgeschlossen.«
»Ich sehe hinten nach«, sagte Vibeke und stapfte durch das offen stehende Gartentor seitlich am Haus entlang. Vor ihr zeichneten sich tiefe Fußspuren im Schnee ab. Offenbar war hier vor Kurzem schon mal jemand entlanggelaufen.
Zwei einsame Teakholzstühle standen an die Hauswand gelehnt auf der Terrasse, ein paar Buchsbaumkugeln schauten in Flechtkörben unter ihren weißen Hauben hervor.
Die Fußspuren führten zu einem Holzstamm, um den sich zahlreiche Späne verteilten. Dort war der Schnee niedergetrampelt, eine weitere Spur mit unterschiedlichen Schuhabdrücken ging zur Verandatür.
Die Vorhänge an den Sprossenfenstern waren beiseitegeschoben, und Vibeke spähte ins Wohnzimmer hinein. Das Sofa mit den blauen Bezügen. Der Ohrensessel neben dem Kamin. Die Teekanne auf dem Stövchen. Auf den ersten Blick wirkte alles wie zuvor, doch dann registrierte Vibeke, dass weder das Feuer im Kamin noch das im Stövchen brannte.
Ein klickendes Geräusch drang an ihr Ohr, und automatisch ging ihre rechte Hand zum Waffenholster. Doch es war nur die Katzenklappe in der Verandatür, aus der gerade ein dicker roter Kater herauskam. Für den Bruchteil eine Sekunde starrte er Vibeke aus bernsteinfarbenen Augen entgegen, dann flitzte er durch den Schnee davon.
Rasmus bog um die Hausecke und hielt sein Handy hoch. »Søren hat gerade angerufen. Bjarne Andresen ist heute nicht zur Arbeit erschienen. Und zu Hause ist er auch nicht.« Er steckte sein Handy in die Jackentasche und trat neben Vibeke an die Verandatür. »Niemand da?«
»Anscheinend nicht.«
Rasmus spähte durch die Scheibe. »Im Kamin brennt kein Feuer.«
»Vielleicht ist sie beim Einkaufen«, sagte Vibeke, nur halb überzeugt.
»Ihr Auto ist doch da.« Rasmus schüttelte den Kopf. »Das gefällt mir alles nicht.« In seinem Gesicht spiegelte sich Anspannung.
Vibeke sah zum Holzschuppen und weiter zur halbhohen Mauer, hinter der sich das Meer erstreckte. Sie konnte hören, wie die Wellen an den Strand schlugen.
»Ich sehe mal im Schuppen nach«, sagte Rasmus.
Vibeke folgte ihm mit dem Blick, wie er durch den Schnee davonmarschierte, kurz darauf in den Schuppen hineinsah, die Tür wieder schloss und zur Terrasse zurückkam.
»Nichts. Vielleicht machen wir einen Gedankenfehler.« Rasmus suchte ihren Blick. »Ich meine, Birga Andresen musste eine Menge Kraft aufbieten, um die Dahlmanns zum Heizkörper zu schleifen, und die Frau ist immerhin sechsundsiebzig.«
»Jemand könnte ihr geholfen haben«, schlug Vibeke vor. »Ihr Sohn zum Beispiel. Bjarne. Es gibt nur eine Sache, die verstehe ich nicht. Mal angenommen, unsere These stimmt und Luise hat den Mord an Ernst Andresen damals beobachtet. Weshalb hat sie nichts gesagt?«
Rasmus runzelte die Stirn. »Vielleicht hat ihr niemand geglaubt. Teenager haben mitunter eine blühende Fantasie.«
Vibeke nickte. »Lass uns das mal durchspielen. Erinnerst du dich an Birgas ungewöhnliche Augen? Die zweifarbige Iris?«
Ihr Kollege nickte.
»Luise erkennt dadurch in Birga die frühere Nachbarin ihres Großcousins und konfrontiert sie mit dem, was sie damals gesehen hatte.«
»Und Birga gerät deshalb in Panik«, spann Rasmus den Faden weiter.
»Aber weshalb? Das macht für mich keinen Sinn.« Vibekes Blick streifte ein paar hochwüchsige Rhododendren an der Grundstücksgrenze. »Birga hätte doch einfach alles abstreiten können. Schließlich hätte man ihr die Schuld am Tod ihres Mannes erst einmal nachweisen müssen. Die Leiche existiert nicht mehr, und der Totenschein lautet auf Herzinfarkt. Anstatt zwei Menschen umzubringen, hätte Birga sich einfach entspannt zurücklehnen können. Wo ist da die Motivation?«
Rasmus zuckte die Achseln. »Vielleicht denkst du zu kompliziert, und die Frau ist einfach nur ein eiskaltes Biest.«
»Oder es war alles ganz anders.« Ein Gedanke, den sie nicht zu fassen bekam, schwirrte durch Vibekes Kopf. Das letzte Puzzleteil.
Sie traten den Rückweg an. Vor dem Haus blieben sie stehen.
Vibeke blickte suchend die Straße entlang. Wo steckte Birga Andresen?
In der Auffahrt zeichnete sich im Schnee eine Spur schmaler Reifen ab.
»Sie ist mit dem Fahrrad weggefahren«, stellte Vibeke fest.
»Die Frage ist nur, wohin.«
Im nächsten Augenblick durchschnitt ein Schuss die Stille.
Der Schuss war aus der Richtung von Eldar Mobergs Hof gekommen, und Rasmus hatte umgehend die Einsatzzentrale informiert und Verstärkung angefor dert. Jetzt hielt Vibeke unweit des Grundstücks ihren Dienstwagen im Schutz einer Hecke an.
Sie stieß die Tür auf und sprang zeitgleich mit Rasmus aus dem Wagen. Mit gezogener Waffe sprintete sie zu den Gebüschen seitlich der Einfahrt.
Über dem Anwesen lag Stille. Bleischwer und drückend. Das Herz klopfte ihr bis zum Hals. Sie scannte ihre Umgebung. Es war niemand zu sehen. War der Schuss im Haus gefallen? Gab es Verletzte? Oder womöglich Tote?
Vibeke spähte durch eine Lücke im Gebüsch zu dem u-förmig angelegten Hof. Soweit sie es erkennen konnte, waren Tür und Fenster verschlossen. Sie schlich weiter, warf einen Blick zur gegenüberliegenden Seite der Auffahrt, wo sich Rasmus auf etwa gleicher Höhe entlang der Nadelbäume bewegte. Für einen Moment kreuzten sich ihre Blicke.
Vibekes Atem ging stoßweise und trieb kleine graue Wölkchen vor ihr her. Hinter einem Hagebuttenstrauch, etwa zwanzig Meter vom Haupthaus entfernt, blieb sie schließlich stehen.
Jetzt kam der schwierigste Teil des Unterfangens. Um zum Eingang zu gelangen, mussten sie den Vorplatz überqueren.
Vibeke stellte fest, dass das Fenster neben der Haustür einen Spalt weit offen stand. Falls Eldar Moberg dahinter mit einer Waffe hockte, konnte er sie abknallen wie Kaninchen.
Es war Wahnsinn, dieses Risiko einzugehen. Sie sollten abwarten, bis die angeforderte Verstärkung eintraf. Doch womöglich war Gefahr in Verzug.
Rasmus, der ebenfalls stehen geblieben war, gab ihr per Handzeichen zu verstehen, dass er über die Rückseite des Nebengebäudes versuchen würde, zum Wohnhaus zu gelangen. Doch dafür musste er sich aus der Deckung begeben. Blieb nur zu hoffen, dass ihre Ankunft bislang unbemerkt geblieben war, falls es Eldar gewesen war, der geschossen hatte.
Der überdachte Stellplatz war leer. Wo steckte Agnete? War sie mit dem Auto unterwegs oder bei ihrem Mann im Haus? Hatte der Schuss am Ende ihr gegolten?
Vibekes Unruhe wuchs, und sie verstärkte unwillkürlich den Griff um ihre Waffe.
Rasmus nickte ihr zu, und im nächsten Augenblick löste er sich aus dem Schutz der Büsche und lief in gebeugter Haltung über die freie Fläche in Richtung Seitengebäude.
Nahezu zeitgleich peitschten Schüsse über den Vorplatz.
Rasmus warf sich mit einem Hechtsprung zu Boden, rollte sich ab, kam zurück auf die Beine und rannte geduckt weiter.
Ein weiterer Schuss krachte über den Vorplatz, doch Rasmus hatte bereits das Nebengebäude erreicht und presste sich außerhalb des Schusswinkels dicht ans Gemäuer.
Vibeke atmete erleichtert auf. Sie spähte zwischen den Zweigen des Hagebuttenstrauchs zum Haupthaus. Sonnenlicht brach sich in den Fensterscheiben, und sie erkannte eine Gewehrmündung, die aus dem offenen Spalt hervorlugte. Dahinter blitzte etwas Metallisches auf. Die goldfarbenen Knöpfe einer Uniform. Eldar.
Vibeke lief ein Schauder über den Rücken. Der Mann ist wahnsinnig geworden.
Sie dachte an die Waffen, die Eldar Moberg in seinem Waffenschrank aufbewahrte. Möglicherweise war das noch längst nicht alles gewesen, und er hortete irgendwelche Handgranaten in seinen Schränken. Die Situation konnte jeden Moment eskalieren.
»Haut ab«, brüllte Eldar über den Hof. »Wenn ihr noch einen Schritt näher kommt, knall ich euch ab.«
Vibeke hatte keinerlei Zweifel daran, dass er es ernst meinte. In der Jackentasche vibrierte ihr Handy, und sie zog es heraus. Das Display zeigte die Nummer von Pernille. Sie meldete sich im Flüsterton.
»Hej. Søren und Jens sind unterwegs«, informierte sie Pernille, »zusammen mit drei ROMEO-Patrouillen. Die Kollegen sollten in etwa fünfzehn bis zwanzig Minuten bei euch vor Ort sein. Geht da nicht allein rein, Anweisung von oben.« Sie holte tief Luft. »Eldar Moberg hat vermutlich eine Geisel in seiner Gewalt.«
Vibeke schluckte. »Wissen wir, wen?« Ihr Blick ging die Auffahrt entlang. Im Schnee zeichneten sich dünne Reifenspuren ab.
»Birga Andresen.«
Auf der Route 427 Höhe Hørup kam Bjarne eine Kolonne Streifenwagen entgegen. Er nahm einen Schluck aus der Wasserflasche, die er gerade in einem kleinen Lebensmittelgeschäft gekauft hatte, und warf einen Blick in den Rückspiegel. Die Polizeifahrzeuge bogen in Richtung Mommark ab.
In seiner Magengegend machte sich ein Ziehen breit. Irgendwo im Südosten der Insel musste etwas passiert sein. Hatte es mit den Ereignissen in Sarup zu tun?
Kurzerhand lenkte er den Wagen im nächsten Kreisverkehr an der Ausfahrt Richtung Sønderborg vorbei und nahm stattdessen die Strecke, auf der er gekommen war.
Seine Gedanken wanderten zu dem Gespräch mit seiner Mutter zurück. Einem Gespräch, das sie schon vor Jahren hätten führen sollen. Jetzt war es zu spät. Zu viel Leid und Unrecht waren geschehen, das nicht wiedergutzumachen war.
Wie sollte er jemals wieder in den Spiegel schauen? Ganz zu schweigen von Johanne und seinen Kindern. Ein Schluchzen stieg in seiner Kehle hoch, doch er drängte es mit aller Macht hinunter. Er musste einen kühlen Kopf bewahren. Sein Handy in der Mittelkonsole klingelte. Das Display zeigte die Nummer seiner Frau. Es war bereits das dritte Mal, dass sie anrief, doch er fühlte sich nicht in der Lage, mit ihr zu sprechen. Nicht jetzt, Johanne . Er drückte das Gespräch weg.
Bjarne verließ die Route 427 und bog in Richtung Mommark ab. Die Streifenwagen waren längst außer Sicht. Eine unerwartete Furcht erfasste Bjarne, und er drückte aufs Gaspedal. Draußen schien noch immer die Sonne.
Vor ihm schlich ein Lkw die Landstraße entlang. Bjarne setzte den Blinker und überholte. Die Schein werfer eines entgegenkommenden Fahrzeugs blendeten auf, und er scherte rechts wieder ein. Schweiß lief ihm über die Stirn. Die Vorahnung, dass in Sarup gerade etwas Schreckliches vor sich ging, ließ ihn das Gaspedal noch weiter hinunterdrücken. Seine Anspannung stieg schier ins Unermessliche.
In der nächsten Kurve geriet sein Auto ins Schleudern.
Bjarne umklammerte das Lenkrad mit beiden Händen, trat instinktiv kurz und fest auf die Bremse, lenkte gleichzeitig gegen und machte sich darauf gefasst, von der Fahrbahn geschleudert zu werden. Doch in letzter Sekunde bekam er das Auto wieder unter Kontrolle.
Sein Herz klopfte wie verrückt, und er drosselte augenblicklich das Tempo. Mein Gott, das war knapp gewesen. Er warf einen Blick in den Rückspiegel, es war kein anderes Fahrzeug zu sehen. Erleichtert atmete er auf. Nicht auszudenken, wenn er andere durch seine Leichtsinnigkeit in Gefahr gebracht hätte.
Rund eine Viertelstunde später fuhr er in Sarup die Straße entlang, die zum Haus seiner Mutter führte.
Etwa fünfhundert Meter vor Eldars Hof blockierten zwei Streifenwagen mit stumm geschalteten Blaulichtern die Fahrbahn, dahinter erhaschte er einen Blick auf zahlreiche weitere Einsatzfahrzeuge vor der Grundstückseinfahrt.
Vor ihm hob ein Polizist in Uniform die Kelle und bedeutete ihm, sein Fahrzeug zu wenden. Bjarne ließ das Seitenfenster hinunter.
»Du kannst hier nicht weiter«, sagte der Streifenbeamte und warf einen Blick in seinen Wagen hinein zu der Rückbank mit den Kindersitzen.
»Ich bin auf dem Weg zu meiner Mutter«, sagte Bjarne. »Sie wohnt am Ende der Straße.«
Hinter ihm kam ein roter Kombi zum Stehen. Im Rückspiegel sah Bjarne, wie die Fahrertür aufging und eine kleine, dralle Frau ausstieg. Agnete.
Ihr Gesicht war vor Anspannung ganz grau. »Ich muss zu meinem Mann«, erklärte sie dem Polizeibeamten, ohne Bjarne zu beachten. Sie klang aufgewühlt. Tiefe Sorgenfalten hatten sich in ihre Stirn gegraben.
»Tut mir leid, die Straße ist gesperrt.«
»Aber ich wohne dort.« Agnete deutete mit der Hand zu ihrem Hof.
Der Uniformierte krauste die Stirn. »Einen Moment.« Er griff nach seinem Funkgerät.
Bjarne stieg aus dem Auto.
Agnete wandte ihm den Blick zu. »Ach, Bjarne, du bist es.« Ein flüchtiges Lächeln streifte ihre Lippen.
»Was ist denn bei euch los?« Er deutete mit dem Kopf zu ihrem Hof.
»Eldar hat offenbar geschossen.« In ihren Augen spiegelte sich Entsetzen. »Die Polizei hat mich auf dem Handy angerufen, als ich beim Einkaufen war.« Sie verstummte. Tränen stiegen ihr in die Augen.
»Warum tut er so etwas?«
Agnete zuckte hilflos die Schultern. »Er muss verrückt geworden sein.«
Der Uniformierte drehte sich zu ihnen um. »Es kommt gleich jemand, um dich abzuholen«, sagte er zu Agnete. »Dein Auto kannst du stehen lassen.«
»Ja, dann …« Agnetes unsicherer Blick streifte Bjarne. »Mach dir keine Sorgen.« Im nächsten Mo ment wandte sie ihm den Rücken zu und trat am Streifenwagen vorbei.
Aus dem Pulk der Einsatzfahrzeuge vor ihrem Hof löste sich ein Streifenwagen und kam die Straße entlang. Wenige Augenblicke später sah Bjarne dabei zu, wie Agnete auf der Rückbank Platz nahm und sich das Fahrzeug mit ihr wieder entfernte.
Mach dir keine Sorgen. Weshalb hatte sie das gesagt?
Sein Blick ging zu den Einsatzfahrzeugen vor Eldars Grundstückseinfahrt. Angst legte sich wie ein stählerner Panzer um seine Brust.
»Zugriff!«, gab der Einsatzleiter das Kommando durch das Mikrofon.
Die schwer bewaffneten Beamten der Spezialeinheit, die den Hof umstellt und die Nebengebäude gesichert hatten, kamen in Bewegung.
Rasmus presste vor Anspannung die Zähne zusammen. Obwohl der Einsatz jetzt schon mehrere Stunden andauerte, spürte er keinerlei Anzeichen von Müdigkeit, stattdessen pumpte Adrenalin durch seinen Körper. Zuvor hatten die Einsatzkräfte vergeblich versucht, Eldar Moberg zum Aufgeben zu bewegen, doch der alte Mann war völlig von Sinnen und hatte mehr fach auf die Polizisten geschossen. Glücklicherweise war bislang niemand verletzt worden.
Vor ihm ertönte ein Krachen und signalisierte, dass die Hintertür mithilfe des Rammbocks aufgebrochen worden war. Jetzt ging alles blitzschnell. Unter lauten Rufen stürmten die Einsatzkräfte mit ihrer dunklen Schutzkleidung und den mattschwarzen Helmen ins Haus, verteilten sich in Windeseile und sicherten Raum für Raum. Dabei drangen sie zügig vor.
Rasmus folgte den Einsatzkräften den Flur entlang, die Waffe im Anschlag. Irgendwo vorne im Gebäude entlud sich ein ohrenbetäubender Schuss. Es krachte zwei weitere Male. Er lief weiter. Jemand brüllte ein Kommando.
»Polizei, keine Bewegung. Und jetzt langsam die Hände nach oben! Wir wollen die Hände sehen!«
Vor ihm hatten zwei Männer der Zugriffstruppe ihre Waffen auf eine im Raum befindliche Person gerichtet.
Ein Stöhnen erklang, gefolgt von einem Poltern.
In der nächsten Sekunde stürzten die Einsatzkräfte in den Raum.
Rasmus rückte weiter vor. Er befand sich jetzt direkt neben dem vertäfelten Raum, in dem er Eldar Moberg noch vor wenigen Tagen zusammen mit Vibeke befragt hatte. Der Waffenschrank stand offen, die Vorhänge waren zugezogen, die Uniform, die beim letzten Mal auf einem Bügel an der Wand gehangen hatte, fehlte. Auf dem Tisch, wo Eldar Moberg seine Langwaffe gesäubert hatte, lagen mehrere aufgerissene Packungen Munition.
»Zielperson unter Kontrolle!«
Rasmus trat in den angrenzenden Raum hinein und steckte seine Heckler & Koch zurück ins Waffenholster. In Sekundenschnelle erfassten seine Augen die Umgebung. Dunkelbraune Küchenschränke, grüne Fliesen, ein von zahlreichen Ablagerungen verfärbter Spülstein. Vor dem Fenster, dessen Flügeltüren einen Spalt weit geöffnet waren, stand ein Stuhl, darunter verteilten sich mehrere leere Patronenhülsen auf dem Boden.
Dort auf dem Stuhl hatte Eldar Moberg gesessen und auf sie geschossen. Jetzt lag er mit schmerzverzerrtem Gesicht auf den Fliesen, die Handgelenke auf dem Rücken fixiert. Durch den zerfetzten blauen Stoff seiner Uniformhose sickerte Blut aus seinem Oberschenkel und breitete sich zu einem kleinen See auf dem Boden aus. Einer der Einsatzkräfte legte ihm ein Tourniquet an, ein Abbindesystem zur Blutstillung.
Sobald die Erstversorgung abgeschlossen war, ging Rasmus neben Eldar Moberg in die Hocke. »Wo ist Birga Andresen?«
Der alte Mann stöhnte. Seine Augen waren geschlossen.
»Sieh mich an und sag mir, wo Birga ist.«
Eldar Moberg blinzelte. »Der Teufel soll sie holen«, zischte er kaum hörbar. »Euch alle.« Die Augenlider fielen ihm wieder zu.
Jemand drückte Rasmus’ Schulter. Vibeke. Sie war bei den Einsatzkräften gewesen, die das Haus durch die Vordertür gestürmt hatten, das Überraschungsmoment nutzend, während seine Truppe laut rufend durch den Hintereingang eingedrungen war.
»Lass ihn. Sobald er ärztlich versorgt ist, sprechen wir mit ihm.« Vibeke war blass im Gesicht, die leichte Sonnenbräune von ihrem Urlaub nahezu gänzlich verschwunden. Sie hielt ihr Handy am Ohr. »Ihr könnt reinkommen. Und bringt die Rettungssanitäter mit.«
Rasmus erhob sich aus der Hocke und ging in den Flur zum Leiter der Zugriffstruppe. »Wir übernehmen jetzt die Zielperson.«
Ein Blick aus stahlgrauen Augen unter der Sturmhaube traf ihn. Der Truppführer nickte.
»Wir rücken ab«, gab er das Kommando durch sein Mikrofon.
Søren und Jens schoben sich im Flur an den Einsatzkräften vorbei. Ihnen folgten zwei Rettungssanitäter, die mit ihren Notfallrucksäcken sofort zu dem Verletzten eilten.
Vibeke trat beiseite, um ihnen Platz zu machen, und kam in den Flur. »Birga Andresen ist nicht im Haus«, informierte sie die Neuankömmlinge. »Aber das wussten wir ja bereits.«
Die Wärmebildgeräte der Spezialeinheit hatten angezeigt, dass sich nur eine Person im Gebäude befand.
»Ich will, dass hier alles auf den Kopf gestellt wird«, sagte Rasmus. »Knudsen soll ein Team schicken«
»Schon erledigt«, sagte Søren. »Die Kriminaltechniker warten draußen.«
Rasmus nickte. Sein Blick schweifte in die Küche, wo Eldar Moberg gerade eine Infusion angelegt wurde. »Von wem stammt eigentlich die Information, dass Birga Andresen sich hier im Haus aufhalten sollte?«
»Von Agnete Moberg.« Jens rückte mit dem Zeigefinger die runde Brille zurecht. »Pernille hat sie auf dem Handy erreicht, als sie gerade beim Einkaufen war. Sie erzählte, dass Birga sie kurz vorher angerufen und darum gebeten hätte, ihre Katzen zu füttern. Sie hatte wohl vor, ein paar Tage zu verreisen, und wollte den Schlüssel vorbeibringen.«
Vibeke sah Rasmus an. »Dann könnte der Schuss, den wir zuerst gehört haben, Birga Andresen gegolten haben. In der Auffahrt waren dünne Reifenspuren zu sehen.«
»Jetzt vermutlich nicht mehr«, sagte Rasmus düster. Er runzelte die Stirn. »Weshalb hätte Eldar auf Birga schießen sollen?«
Søren verzog das Gesicht zu einer Grimasse. »Vielleicht ist der Typ einfach nur durchgeknallt.«
»Oder es hat damit zu tun.« Vibeke deutete auf eine Zeitung auf dem Küchentisch. Auf dem Titelblatt war neben einem Foto von Ricky Ahlgren der schwarze Volvo abgebildet.
Einer der Rettungssanitäter drängte sich aus der Küche an ihnen vorbei. »Wir bringen den Verletzten jetzt ins Krankenhaus. Vielleicht könnt ihr hier gleich mal Platz machen, wenn wir mit der Rollbahre kommen.«
»Kann ich mit ihm reden?«, erkundigte sich Rasmus.
Der Rettungssanitäter schüttelte den Kopf. »Wir haben ihm ein starkes Schmerz- und Beruhigungsmittel gegeben. Für die nächsten Stunden ist er nicht ansprechbar.« Er eilte zum Ausgang.
»Lasst uns auch rausgehen«, sagte Jens. »Ich gebe einem der Kollegen Bescheid, dass er bei Moberg bleibt und uns informiert, sobald er vernehmungsfähig ist.«
Vibeke nickte und folgte ihm und Søren ins Freie. Rasmus schloss sich ihnen an.
Vor dem Hof wimmelte es von Polizei und Rettungskräften, als er durch den Hauseingang trat. Gerade wurde die Rollbahre aus einem der RTWs geschoben. Doch zumindest blieben ihnen fürs Erste die Pressemeute und die Schaulustigen erspart. Das gesamte Hofareal und auch ein Teil der Zufahrtsstraße waren mit rot-weißem Flatterband abgesperrt worden, um eine Fremdgefährdung auszuschließen. Nicht auszudenken, wenn Unbeteiligte in einen Schusswechsel gerieten.
»Gibt es etwas Neues von Bjarne Andresen?«, erkundigte sich Vibeke, die zusammen mit Søren ein paar Meter entfernt stehen geblieben war, während Jens einen der Uniformierten instruierte.
Søren nickte. »Agnete hat ihn vorhin an der Straßensperre getroffen. Sie wartet übrigens dort.« Er deutete mit seiner schaufelgroßen Hand zu einem Polizeitransporter hinter der Absperrung der Hofeinfahrt. »Pernille ist bei ihr.«
Rasmus trat neben Vibeke. »Und wo ist Bjarne Andresen jetzt?«
»Das wissen wir leider nicht«, erklärte Søren. Bedauern schwang in seiner Stimme mit. »Laut dem Kollegen an der Straßensperre ist er wieder weggefahren. Luís hat eine interne Fahndung rausgegeben.« Sein Blick wanderte zurück zum Hauseingang, wo gerade die Rettungssanitäter mit der Rollbahre erschienen, auf der Eldar Moberg unter einer Decke lag. »Ballert der einfach so in der Gegend rum.«
»Vielleicht gab es einen Auslöser.« Rasmus sah Vi beke an. »Lass uns noch einmal zum Haus von Birga Andresen fahren.«
Sie nickte. »Das wollte ich auch gerade vorschlagen.« Für den Bruchteil einer Sekunde streifte ein Lächeln ihre Lippen, doch gleich mit dem nächsten Wimpernschlag wurde ihr Gesichtsausdruck wieder hart.
Søren zog den Reißverschluss seiner Jacke ein Stück höher. »Jens und ich bleiben in der Zwischenzeit hier und regeln alles.«
»Dann los!« Vibeke machte auf dem Absatz kehrt und steuerte entschlossen zur Straße, wo ihr Dienstwagen noch immer hinter der Hecke stand.
Rasmus eilte an ihre Seite.
Das Anwesen von Birga Andresen schien unverändert, als sie wenige Minuten später vor dem Hauseingang aus dem Dienstwagen stiegen.
Der weiße Corsa unter dem Carport, das offen stehende Gartentor, die Abdrücke im Schnee, die größtenteils von ihren eigenen Schuhsohlen stammten.
»Siehst du irgendwo ein Fahrrad?« Rasmus schlug die Beifahrertür zu.
Vibeke ließ den Blick über das Grundstück schweifen und schüttelte den Kopf. Sie ging zum Carport und drückte auf der Fahrerseite des Corsa den Türgriff. Abgeschlossen.
»Vielleicht sollten wir versuchen, ins Haus zu kommen.« Rasmus spähte durch das Fenster neben dem Eingang.
Ein quietschendes Geräusch drang an Vibekes Ohr.
»Hast du das gehört?«
Der Ermittler nickte. »Es kommt von hinten aus dem Garten. Vielleicht vom Schuppen. Lass uns nachsehen.«
Im nächsten Moment ertönte ein leises Schaben, so als würde etwas Schweres über den Schnee geschleift werden.
»Da ist jemand auf dem Grundstück.« Vibekes Hand fuhr zum Waffenholster. »Und dieses Mal ist es definitiv keine Katze.«
Sie schlichen dicht an der Hauswand entlang. Am Gebäudeende lugte Vibeke um die Ecke. Im Garten war niemand zu sehen. Auch die Geräusche waren verstummt. Bis auf das Rauschen des Meeres war es vollkommen still. Zu still.
Sie lösten sich von der Hauswand, huschten zwischen Büschen und Sträuchern vorsichtig zum Schuppen.
Rasmus spähte durch das Fenster, das im Laufe der Zeit blind geworden war. »Ich kann nichts erkennen.«
Gerade als er nach dem Türgriff langen wollte, ertönte das Geräusch erneut.
Vibeke schnellte herum. Es kam von den hochwüchsigen Rhododendren, wenige Meter von dem dichten Wall aus Büschen und Sträuchern entfernt, der das Grundstück umsäumte.
Sie wandte sich zu Rasmus um und legte warnend den Zeigefinger an die Lippen.
Der Schnee knirschte unter ihren Schuhsohlen, als sie sich mit gezückten Waffen den Rhododendren näherten. Blieb nur zu hoffen, dass derjenige, der sich dort zu schaffen machte, genügend abgelenkt war und ihre Ankunft unbemerkt blieb.
Zwischen Wall und Rhododendren lag gut versteckt ein weiterer, etwas größerer Schuppen, die Holzfassade stark verwittert und fensterlos, die nach außen geöffnete Tür versperrte ihnen die Sicht ins Innere.
Vibeke vernahm jetzt ein anderes, menschliches Geräusch, das sie nicht gleich einordnen konnte, bis sie es erkannte. Jemand schluchzte. Rasmus und sie verständigten sich per Handzeichen.
Vibekes Puls beschleunigte sich. Vor ihr schnellte Rasmus um die Schuppentür herum, die Waffe im Anschlag, während sie ihm Rückdeckung gab.
»Polizei! Keine Bewegung!«, brüllte Rasmus.
Ein kräftiger, dunkelhaariger Mann mit spitz zulaufendem Vollbart hatte sich mit den Händen auf die Motorhaube eines schwarzen Volvos ohne Nummernschild gestützt. Sein mächtiger Körper, der gerade noch unkontrolliert gebebt hatte, wurde schlagartig stocksteif.
»Die Hände aufs Dach und Beine breit«, befahl Rasmus.
Der Mann kam seiner Anweisung augenblicklich nach.
Vibeke trat hinter ihn, ließ ihre SIG Sauer zurück ins Holster gleiten und tastete ihn schnell und routiniert ab. Nichts. »Er ist sauber.« Sie entfernte sich ein paar Schritte.
Rasmus senkte die Waffe. »Du kannst jetzt die Hände runternehmen, Bjarne. Aber du bleibst, wo du bist. Eine falsche Bewegung und wir legen dir Handfesseln an, verstanden?«
Bjarne Andresen nickte. Seine Augen waren rot und geschwollen.
»Also, wem gehört das Auto?«, fragte Rasmus scharf.
Der dunkelhaarige Mann presste die Lippen zusammen.
»Wir finden es anhand der Fahrgestellnummer ohnehin heraus«, erklärte Vibeke und nahm den schwarzen Volvo in Augenschein. Kotflügel und Stoßstange im rechten Frontbereich wiesen zahlreiche Schädigungen auf. Auch der Scheinwerfer war kaputt. »Aber du kannst guten Willen zeigen, indem du mit uns kooperierst.«
»Du hast gehört, was meine Kollegin gesagt hat«, sagte Rasmus. »Also?«
Um Bjarnes Mund zuckte es fast unmerklich.
»Er hat meinem Großvater gehört«, sagte er schließlich.
»Hast du damit Ricky Ahlgren überfahren?«
Er schüttelte heftig den Kopf. »Nein. Natürlich nicht. Ich war an dem Abend zu Hause. Bei meiner Familie.«
»Aber du wusstest, dass der Volvo hier steht?«
Bjarne strich sich mit einer müden Geste übers Gesicht. »Ich dachte, meine Mutter hätte ihn längst verkauft.«
Rasmus machte einen Schritt auf ihn zu, musterte ihn eindringlich. »Hat Birga Ricky überfahren?«
Vibeke ließ Bjarne ebenfalls nicht aus den Augen, doch er wich ihren Blicken aus und schwieg. An seiner linken Schläfe pochte eine Ader.
Das Schweigen dehnte sich in die Länge.
»Wo ist sie?«, fragte Vibeke mit Nachdruck in der Stimme. »Wo ist Birga?«
»Ich weiß es nicht«, stieß Bjarne hervor.
Ungeduld kroch in ihr hoch, doch sie bemühte sich um einen sachlichen Tonfall. »Agnete Moberg erzählte, deine Mutter hätte sie heute Vormittag angerufen und darum gebeten, die Katzen zu füttern.« Vibeke registrierte leichtes Stirnrunzeln. »Birga wollte ihr den Haustürschlüssel vorbeibringen«, schob sie hinterher. »Deshalb haben wir angenommen, dass sie bei Eldar ist, aber da war sie nicht. Du hast sicher schon mitbekommen, dass auf seinem Hof geschossen wurde … Wir denken, dass das Auftauchen deiner Mutter der Auslöser war. Bei den Mobergs lag eine Zeitung auf dem Küchentisch mit einem Bericht über den schwarzen Volvo, nach dem die Polizei sucht.«
Bjarnes Augen weiteten sich. »Eldar hat auf meine Mutter geschossen?« Sein Blick wanderte zu dem Fahrzeug. »Natürlich. Er hat den Volvo wiedererkannt.«
Rasmus räusperte sich. »Wenn du es also nicht warst, der Ricky überfahren hat, müssen wir davon ausgehen, dass es deine Mutter war. Und das führt uns zu dem Schluss, dass sie auch diejenige war, die Luise und Konrad Dahlmann getötet hat.«
Bjarnes Gesicht verschloss sich. »Ich muss mich nicht dazu äußern. Ich kenne meine Rechte.«
»Luise Dahlmann musste sterben, weil sie etwas gesehen hat, das sie nicht sehen sollte«, setzte Rasmus knallhart nach. »Und Birga wollte verhindern, dass es ans Licht kommt.« Er machte eine bedeutsame Pause. »Luise war damals während der Schneekatastrophe, als ihr noch in Deutschland gelebt habt, zu Besuch im Nachbarhaus. Dabei hat sie beobachtet, wie deine Mutter deinen Vater in der Silvesternacht draußen im Schnee erschlagen hat. Ist es nicht so?«
Bjarne war aschfahl im Gesicht geworden. Jetzt sackten seine Schultern herab, und er schien sichtlich um Fassung zu ringen.
»Weshalb sollte Agnete die Katzen füttern?«, fragte er mit belegter Stimme.
»Birga sagte, sie wolle ein paar Tage verreisen«, erwiderte Vibeke.
»Aber meine Mutter verreist nie. Sie …« Bjarne brach mitten im Satz ab. Sein Blick flackerte.
Vibeke hob fragend die Brauen. »Sie …?«
»Sie sagt immer, sie verlässt das Haus nur mit den Füßen voran.« Seine Antwort hing bleischwer über ihren Köpfen.
Eine steife Brise fegte über die Küste heran, und Vibeke rückte ihre Mütze zurecht.
»Bitte denk nach«, forderte sie Bjarne auf. »Wo könnte deine Mutter hingegangen sein?«
»Ins Meer.«
Für einen kurzen Moment stutzte Vibeke angesichts seiner Wortwahl, doch dann begriff sie. »Wo?«
Neben ihr langte Rasmus zum Handy.
In Bjarnes Gesicht spiegelte sich blankes Entsetzen. »Ich bin von Norden über den Strand hergekommen«, erklärte er tonlos, »da hätte ich sie sehen müssen. Vermutlich ist sie irgendwo weiter südlich. Richtung Hummelvig. Es gibt da eine Stelle …« Seine Stimme brach, und es dauerte einen Moment, ehe er sich wieder gesammelt hatte. »Dort war ich früher häufig mit Magnus zum Angeln. Eldars Sohn. Einmal haben wir versucht, rüber nach Ærø zu schwimmen, dabei wären wir fast ertrunken. Die Strömung ist dort stellenweise sehr stark. Meine Mutter weiß davon.« Er war jetzt aschfahl im Gesicht.
»Wie weit ist das von hier?«, fragte Rasmus mit dem Handy am Ohr.
»Am Strand entlang etwa eine Viertelstunde zu Fuß. Es ist dort recht unwegsam. Mit dem Auto geht es schneller.«
Rasmus wandte sich ab, um zu telefonieren. Seinen Worten konnte Vibeke entnehmen, dass er mit Søren sprach. Kurz darauf drehte er sich wieder zu ihnen um. »Wir fahren hin.«
Das Tageslicht nahm bereits ab, als Vibeke zusammen mit Rasmus und Bjarne Andresen den kleinen Strandparkplatz rund einen Kilometer weiter südlich erreichte. Dunkle Wolken waren am Himmel aufgezogen, und kräftiger Wind blies ihnen entgegen, als sie aus dem Auto stiegen.
Hinter ihnen kam ein Streifenwagen zum Stehen. Sie hatten für die Suche nach Birga Andresen Unterstützung bei der dänischen Marine angefordert. Jens und Søren würden zudem den Strand von Norden aus ablaufen.
»Dort steht ihr Fahrrad.« Bjarne Andresen deutete auf ein E-Bike, das neben einem Gebüsch abgestellt worden war. Es hatte eine auffällige Lackierung in dreifarbigem Schildpattmuster. Weiß. Schwarz. Und Rot. »Johanne und ich haben es ihr zum siebzigsten Geburtstag geschenkt. Es ist eine Sonderlackierung, angelehnt an die Fellfarben ihrer Lieblingskatze.« Er klang resigniert, fast teilnahmslos, so als hätte er sich mit dem Unausweichlichen bereits abgefunden.
»Es ist besser, wenn du hier wartest.« Rasmus wandte sich ab und instruierte die beiden Uniformierten.
Bjarne protestierte nicht, hielt den Blick stattdessen starr aufs Wasser gerichtet. Er wirkte vollkommen abwesend.
Vibeke fragte sich, was wohl gerade in ihm vorging.
Kurz darauf versackten ihre Schuhe in dem mit einer Schneeschicht bedeckten Sand. Der schmale Strandabschnitt war voller Steine und Äste, und sie musste aufpassen, dass sie nicht stolperte.
Der Wind war hier noch kräftiger. Er peitschte die Ostsee zu Wellen hoch, spülte Schaumkronen und Seetang an Land und fuhr ihr kalt ins Gesicht.
Sie stemmte sich gegen den Wind und ging neben Rasmus den Küstenstreifen entlang. Vor ihnen erstreckte sich eine Steinmole in die Ostsee hinein. Das Ufer war hier sehr flach, stellenweise schimmerten bunte Kieselsteine vom Grund durch die aufgewühlte Wasseroberfläche.
Dann sah sie es. Am Fuß der Mole stand windgeschützt zwischen zwei Steinen ein Paar Schuhe auf einem rostroten Kleidungsstück.
Rasmus hatte es offenbar auch gesehen, denn er steuerte neben Vibeke zielstrebig darauf zu.
Das Kleidungsstück entpuppte sich als Strickoberteil, eine Jacke oder Weste, fein säuberlich zusammengelegt. Die Schuhe waren aus robustem schwarzem Leder.
Vibeke ließ den Blick über das aufgepeitschte Wasser schweifen, doch Birga Andresen war nirgendwo zu entdecken. Sollte sie tatsächlich an dieser Stelle ins Meer gegangen sein, hatte die Strömung sie längst weggerissen.
Neben ihr griff Rasmus zum Handy. Der Wind verwischte seine Worte.
Vibeke betrachtete die Kleidungsstücke, und eine tiefe Traurigkeit erfasste sie. Wie verzweifelt musste ein Mensch sein, um Ertrinken als Freitod zu wählen? Es war ein qualvolles Sterben. War es am Ende Birga Andresens selbst auferlegte Strafe?
Noch immer brachte Vibeke in ihrem Kopf nicht zusammen, weshalb Luise und Konrad Dahlmann hatten sterben müssen. Selbst wenn Luise mit ihrem Wissen zur Polizei gegangen wäre, hätte Aussage gegen Aussage gestanden. Wie hätte man Birga den Mord an ihrem Mann nach all den Jahren nachweisen sollen?
Ihr Blick wanderte in Richtung Parkplatz. Dort stand Bjarne Andresen, flankiert von den beiden Uniformierten, und blickte zu ihnen ans Ufer. Und wenn alles ganz anders gewesen war?
Der Gedanke, der seit Stunden in Vibekes Hinterkopf herumschwirrte, kehrte zurück, und dieses Mal bekam sie ihn zu fassen.
Das letzte Puzzleteil fiel an seinen Platz.
»Es ist alles meine Schuld«, gestand Bjarne Andresen, nachdem die Tonaufzeichnung lief und sie die Formalitäten festgehalten hatten.
Mittlerweile war es Abend, und sie saßen im Konferenzraum des Gemeinsamen Zentrums. Birga Andresen war bis zum Eintritt der Dunkelheit nicht gefunden worden, und die Suche würde erst am nächsten Morgen fortgesetzt werden.
Rasmus hatte die Hände auf der Tischplatte ineinander verschränkt und wartete darauf, dass Bjarne Andresen weitersprach. Der Familienvater wirkte seit ihrem letzten Zusammentreffen um Jahre gealtert, sein Gesicht war grau, die Schultern herabgesackt, als läge eine zentnerschwere Last auf ihnen.
»Meine Mutter hat meinen Vater nicht getötet«, sagte Bjarne mit brüchiger Stimme. »Ich war es.«
Stille.
Rasmus registrierte aus den Augenwinkeln, dass Vibeke beifällig nickte. Sie hatte ihm diese Vermutung bereits im Vorfeld der Vernehmung mitgeteilt, und es überraschte ihn nicht, dass sie damit recht behielt. Jetzt ergab alles einen Sinn.
»Meine Mutter wollte die Schuld auf sich nehmen.« Bjarne fixierte einen Punkt auf der Tischplatte. »›Du bist es nicht gewesen, hörst du. Ich war es‹, hat sie zu mir gesagt.« Er sah Rasmus an. »Aber dann stellte sich heraus, dass es überhaupt niemanden interessierte.« Er lachte bitter. »Der Arzt bestätigte einen natürlichen Tod. Das muss man sich mal vorstellen. Schließlich hatte ich meinem Vater mit der Schneeschaufel den Schädel eingeschlagen.« Er verstummte.
Rasmus strich sich über das unrasierte Kinn. »Was ist an dem Abend passiert?«
Bjarne Andresen senkte den Blick. »Mein Vater hat meine Mutter verprügelt. Es war schlimm. Viel schlimmer als sonst.« Er hielt einen Moment inne, ehe er weitersprach. »Anfangs passierte es nur alle paar Monate, da war ich noch kleiner, dann geschah es öfter, und irgendwann schlug er sie jede Woche. Manchmal sogar mehrere Tage hintereinander.« Gedankenverloren betrachtete er seine Hände. Rasmus fielen die heruntergebissenen Nägel auf. »Als der Schnee kam, wurde mein Vater noch aggressiver. Er warf auch mit Gegenständen, manchmal flogen sogar Möbel durchs Haus. Vermutlich hing es damit zusammen, dass wir wegen der Isolation alle aufeinanderhockten und er seinem gewohnten Tagesablauf nicht nachgehen konnte. Die Schneekatastrophe war wie ein Brandbeschleuniger.« Sein Blick suchte den von Rasmus, so als erwartete er sich von ihm Absolution. »Die Angriffe wurden immer massiver. An dem Abend hatten Nachbarn Essen vorbeigebracht. Danach schlug mein Vater zu. Immer wieder. Ich hatte Angst, dass er sie totschlägt.« Er vergrub das Gesicht in den Händen. »Ich habe mich dazwischengestellt und ihn angefleht, dass er aufhören soll, aber er hat mich weggestoßen. Erst als meine Mutter blutend auf dem Boden lag, hat er von ihr abgelassen.« Bjarne Andresen war jetzt kreidebleich im Gesicht. »Anschließend verlangte er, dass ich ihm beim Schnee schippen helfe, ansonsten würde er meiner Mutter den Rest verpassen. Also ging ich mit ihm nach draußen.« Seine Stimme versagte, und es vergingen mehrere Sekunden, ehe er weitersprechen konnte. »Ich war so wütend, so unfassbar wütend. Und als ich dann hinter ihm stand, mit dem Schneeschieber in der Hand, wir hatten so einen mit Stahlkante, da habe ich rotgesehen und zugeschlagen.«
»War er sofort tot?«, fragte Rasmus.
Es dauerte eine ganze Weile, ehe Bjarne antwortete. »Ich weiß es nicht«, gab er zu. »Aber er hat sich nicht mehr bewegt. Ich bin danach erst mal zurück ins Haus zu meiner Mutter. Später, nachdem ich begriffen hatte, was ich da eigentlich getan hatte, bin ich noch einmal raus, aber da hatte es schon so stark geschneit, dass man ihn unter dem Schnee kaum noch erkennen konnte.«
»Du hast deinen Vater liegen gelassen?«
Bjarne Andresen nickte.
»Könntest du es für die Aufnahme bitte sagen.«
»Ja. Ich habe ihn liegen gelassen.« Bjarne fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. »Ich wollte mich stellen. Mehrfach sogar. Doch meine Mutter hat es mir jedes Mal ausgeredet. ›Wofür soll das gut sein?‹, hat sie gefragt. ›Dafür, dass du im Gefängnis landest?‹ Ich war damals vierzehn und schon strafmündig«, erklärte er. »Meine Mutter sagte, dass der Einzige, der dorthin gehöre, mein Vater gewesen sei. Und dass es allein ihre Schuld sei, dass es dazu nicht gekommen sei. Weil sie zu schwach gewesen sei.« Seine Stimme verlor erneut an Kraft. Er räusperte sich. »Sie hat geschworen, dass sie nie wieder zulassen würde, dass mir etwas geschieht. Das, was ich getan hatte, sei reine Notwehr gewesen.« Er griff nach dem Wasserglas, das vor ihm auf der Tischplatte stand, und trank einen Schluck. »Ich wollte so gerne glauben, dass sie recht hatte, aber meine Schuldgefühle haben mich innerlich aufgefressen.« Er strich sich mit zwei Fingern über den Nasenrücken und schloss für einen kurzen Moment die Augen. »Erst als ich Johanne kennengelernt habe, ist es besser geworden. Mit ihr und den Kindern habe ich zum ersten Mal erfahren, was es bedeutet, glücklich zu sein.«
Vibeke beugte sich vor. »Weiß deine Frau von deinem Vater?«
Bjarnes Blick wurde eine Spur dunkler. »Darauf möchte ich nicht antworten.«
Rasmus nickte. »Das ist dein gutes Recht.«
Vibeke lehnte sich wieder zurück.
»Ich hatte keine Ahnung, dass Luise alles gesehen hat«, beteuerte Bjarne, »die Nachbarn haben ja zusammen im Dorfkrug Silvester gefeiert, sonst hätte ich mich sofort gestellt, das schwöre ich.« Er holte tief Luft. »Meine Mutter wusste das. Deshalb hat sie Luise getötet. Sie hat es für mich getan. Weil sie nicht wollte, dass mein Leben mit Johanne und den Kindern zerstört wird.«
»Und Konrad?«
»Er tauchte auf, als meine Mutter gerade zugeschlagen hatte und Luise am Boden lag. Sie ist in Panik geraten und hat ihn von hinten erschlagen, als er Luise helfen wollte. Er war sofort tot.«
Rasmus nickte. Das deckte sich mit der Einschätzung des Rechtsmediziners.
»Ihr müsst wissen, dass meine Mutter Luise nicht mit Vorsatz getötet hat«, beteuerte Bjarne. »Luise drohte, zur Polizei zu gehen, sie wollte Gerechtigkeit, und dann lag da dieser Hammer. Es geschah im Affekt.« Sein Adamsapfel hüpfte. »Meine Mutter hat die beiden dann an die Heizung gefesselt und Konrad die Uhr abgenommen, damit es wie ein Raubüberfall aussah.«
»Was war mit Ricky?«, fragte Rasmus.
Ein Schatten flog über Bjarnes Gesicht. »Er hat das E-Bike meiner Mutter zur Tatzeit an Tinnes Haus stehen sehen und dann eins und eins zusammengezählt. Er hat sie erpresst, verlangte Geld, damit er den Mund hält. Geld, das sie nicht hatte.« Sein Adamsapfel hüpfte. »Es gibt ein Baumversteck an der Landstraße, da sollte sie es hinterlegen, aber stattdessen hat sie Ricky überfahren, als er es holen wollte.« Er schüttelte den Kopf. In seinen Augen schimmerten Tränen. »Ich hätte nie gedacht, dass sie dazu fähig ist.«
Eine Mutter, die ihr Kind in Gefahr sieht, ist zu allem fähig, dachte Rasmus, doch er sprach es nicht aus. Er selbst würde auch alles Menschenmögliche tun, um Ida zu schützen. Vor allem, nachdem er bei Anton bereits versagt hatte. Er schob den Gedanken rasch beiseite. Nichts rechtfertigte den Mord an drei Menschen.
Trotzdem verspürte er Mitleid mit dem Mann, der ihm gegenübersaß, und dem Kind, das keinen anderen Ausweg gesehen hatte, als den eigenen Vater zu töten. Warum hatte niemand die Not des Jungen bemerkt? Warum hatte niemand eingegriffen?
»Weshalb hat deine Mutter deinen Vater nicht verlassen oder Hilfe gesucht?«
»Weil sie sich geschämt hat.«
Eine Weile sagte niemand etwas.
Bjarne räusperte sich. »Was passiert denn jetzt mit mir?«
»Du wirst dich für die Tat verantworten müssen«, sagte Rasmus. »Da sie in Deutschland verübt wurde, werden wir dich an die deutschen Behörden übergeben.«
Vibeke nickte. »Ich werde dafür alles in die Wege leiten. Wenn du möchtest, können wir dir einen Pflichtverteidiger stellen lassen.«
»Das ist nicht nötig. Ich kenne jemanden mit einer Zulassung für Deutschland.«
»Das ist gut.« Vibeke schob ihm Stift und Zettel über den Tisch. »Wenn du mir seinen Namen aufschreibst, werde ich ihn im Anschluss gleich anrufen.«
Bjarne griff zum Stift. »Darf ich meiner Frau Bescheid geben, dass ich hier bin?«
»Das übernehmen wir für dich«, sagte Rasmus. »Ende der Vernehmung um neunzehn Uhr zweiundfünfzig.« Er stoppte die Tonaufzeichnung.
Das Team war vollständig versammelt, als Vibeke, gefolgt von Rasmus, das Büro der Sondereinheit betrat.
»Die Kriminaltechniker sind jetzt im Haus von Birga Andresen«, informierte sie Luís.
»Wurde die Tatwaffe schon gefunden?«, fragte Vibeke und ging zu ihrem Schreibtisch.
»Bislang nicht. Auch nicht die Kleidung, die sie während der Tat getragen hat, oder Dahlmanns Uhr. Vermutlich hat sie die Dinge längst entsorgt.«
»Alles andere hätte mich auch gewundert«, sagte Rasmus. Trotz der späten Uhrzeit schenkte er sich am Sideboard einen Kaffee ein.
»Übrigens hat Knudsen einen Blick auf den alten Volvo geworfen«, ließ Luís verlauten. »Sie müssen ihn beim NKC natürlich noch genauer ansehen, aber laut seiner Einschätzung passen die an der Landstraße gefundenen Splitter zu den Beschädigungen am Scheinwerfer. Laut Datenbank gehörte er Birga Andresens Vater. Er wurde nach dessen Tod 2001 abgemeldet, aber offensichtlich nie verkauft. Ein Wunder, dass der überhaupt noch lief.«
»Volvo-Motoren sind nahezu unverwüstlich«, sagte Jens. »Der von meinem Nachbarn hat schon über zweihunderttausend Kilometer auf dem Buckel und fährt immer noch wie geschmiert.« Er rieb sich mit dem Zeigefinger unter der Nase entlang. »Was hat Bjarne Andresen ausgesagt?«
Vibeke gab eine kurze Zusammenfassung der Vernehmung wieder. »Er sitzt jetzt im Warteraum«, sagte sie abschließend und sprach damit von den Gefängniszellen, die sich im Gemeinsamen Zentrum befanden. »Sobald der Europäische Haftbefehl vorliegt, wird er zum Grenzübergang überführt und dort der Bundespolizei übergeben.«
»Eigentlich könntest du ihn direkt mitnehmen«, sagte Søren.
Vibeke lächelte flüchtig.
»Birga Andresens Krankenakte ist vorhin gekommen«, sagte Pernille. »Die Praxis hat die Unterlagen extra für uns eingescannt.« Sie blickte auf ihren Bildschirm. »Ihre Verletzungen wurden von ihrem Hausarzt jahrelang dokumentiert. Hämatome. Riss-Quetsch-Wunden. Prellungen. Sogar Würgemale wurden beschrieben.«
Betroffene Gesichter.
»Zudem liegt der Akte ein Bericht vom Krankenhaus bei«, fuhr Pernille fort. »Demnach wurde Birga Andresen dort im Mai 1978 schwer verletzt eingeliefert.« Ihre Augen hefteten sich erneut auf den Bildschirm. »Eine Fraktur im linken Jochbein, ein gebrochener Unterkiefer, mehrere geprellte Rippen, diverse Hämatome und Prellungen sowie ein Milzriss.« Sie blickte wieder auf. »Birga hat dem behandelnden Arzt gegenüber angegeben, sie sei die Treppe hinuntergefallen.«
Für einen Moment herrschte im Büro der Sondereinheit betretene Stille.
»Männer, die Frauen schlagen, sind einfach nur erbärmlich«, schnaubte Søren und sprach damit aus, was vermutlich alle dachten. »Ganz ehrlich? Ich kann den Jungen verstehen.«
»Trotzdem darf man nicht einfach Selbstjustiz üben und einen Menschen töten«, sagte Vibeke.
Rasmus griff nach seinem Kaffeebecher. »Kein Kind sollte so etwas erleben müssen. Ich wünsche Bjarne jedenfalls ein mildes Urteil. Im besten Fall wird es als rechtswidrige Notwehrhandlung eingestuft, dann könnte er sogar straffrei bleiben.« Er trank einen Schluck. »In meinen Augen hat der Mann schon genug gelitten. Jetzt muss er auch noch mit dem Tod der Mutter klarkommen.«
»Vorausgesetzt, sie ist tatsächlich ins Wasser gegangen«, warf Jens ein.
»Zweifelst du daran?«, fragte Søren.
»Ich halte mich an Fakten.« Jens nahm die Brille ab und begann, sie mit einem kleinen Tuch zu putzen. »Birga Andresen ist für mich erst tot, wenn wir ihren Leichnam gefunden haben. Genau genommen könnte sie sich auch abgesetzt haben.«
Søren blähte die Backen.
»Für meinen Geschmack seid ihr alle ein wenig zu rührselig.« Jens begutachtete die Brille und setzte sie wieder auf. »Bjarne Andresen hat seinen Vater ermordet, dafür muss er sich verantworten. Hätte er sich nach der Tat direkt gestellt, wären drei Menschen noch am Leben. Das ist Fakt. Mein Mitleid für den Mann hält sich also in Grenzen.«
Einen Augenblick lang schwiegen alle.
»Ich habe vorhin im Krankenhaus angerufen«, sagte Luís schließlich. »Eldar Moberg ist bereits operiert worden. Er hat zwar einiges an Blut verloren, aber so weit alles gut überstanden. Laut dem zuständigen Arzt können wir morgen mit ihm sprechen. Da fällt mir gerade noch etwas ein.« Er wandte sich Vibeke zu. »Da hat vorhin jemand für dich angerufen. Warte, ich habe es aufgeschrieben.« Er langte nach einem Zettel und kam mit seinem Rollstuhl hinter dem Schreibtisch hervor, um ihn an Vibeke weiterzureichen.
»Danke, Luís.« Sie betrachtete den Namen, den ihr Kollege notiert hatte. Dr. Dr. Hardenberg. Ihr entfuhr ein leises Stöhnen. Unwillkürlich kam ihr der Spruch von Werner in den Sinn, den er vor langer Zeit nach dem Besuch seiner Schwiegermutter von sich gegeben hatte. »Der Tod und die Familie sind die einzigen Dinge im Leben, denen keiner entkommt.«
»Alles in Ordnung?« Rasmus musterte sie besorgt.
Vibeke straffte sich augenblicklich und winkte ab. »Schon gut. Es ist nichts Wichtiges.« Kurzerhand zerknüllte sie den Zettel und beförderte ihn in den Papierkorb. Ihr Blick wanderte zu Jens. »Wir haben den Fall gelöst. Und wir können davon ausgehen, dass es keine weiteren Toten geben wird. Das sind gute Nachrichten. Und ob es nun Mord, Totschlag oder Notwehr war – das zu entscheiden, liegt nicht in unserer Hand. Ich denke, darauf können wir uns alle einigen.«
Jens verzog das Gesicht. »Trotzdem hätte es nicht so weit kommen müssen«, beharrte er.
Vibeke nickte. »Du hast recht. Aber Menschen treffen manchmal falsche Entscheidungen. Davor sind wir alle nicht gefeit.« Sie sah in die Runde. »Und jetzt lasst uns weitermachen.«