»Skål!« Søren Molin hob das Glas.
»Skål«, erklang es im Chor.
Auch Rasmus stimmte mit ein. Es war lange her, seit das gesamte Team privat zusammengekommen war, zuletzt bei Sørens und Brigittes Hochzeit rund eineinhalb Jahre zuvor. Jetzt hatte das Paar zur Einweihung seines neuen Hauses eingeladen. Neben Familie, Freunden und Kollegen war gefühlt halb Skovby erschienen, um die neuen Nachbarn zu begrüßen. Die Gäste verteilten sich in kleinen Grüppchen über Foyer, Wohn- und Essbereich des dreiteiligen Flügelbaus. Historische Terrazzoböden und altes Gebälk versprühten einen Hauch von Geschichte und vermischten sich mit der funktionalen und modernen Einrichtung zu einem farbenfrohen Mix.
Vor den Fenstern zeigten sich bereit die ersten Frühlingsboten. Krokusse und Narzissen schossen aus den Beeten, die Temperaturen waren milder und die Tage länger geworden.
Rasmus stand ein wenig abseits im Foyer und beobachtete das Geschehen, während er mit seinen Ge danken ganz woanders war. Jemand vom Rauschgiftdezernat in Kopenhagen hatte ihm eine Nachricht auf seiner Mailbox hinterlassen und um Rückruf gebeten, während er von Esbjerg nach Als unterwegs gewesen war. Uffe Højbjerg. Rasmus hatte schon mehrfach versucht, den Mann zu erreichen, bislang jedoch erfolglos.
»Hej, du.« Vibeke trat mit einem Sektglas in der Hand neben ihn. Er hatte sie zuletzt vor einigen Wochen im Gemeinsamen Zentrum zur Nachbereitung des Falls gesehen, wenige Tage nachdem der Leichnam von Birga Andresen auf Ærø angespült worden war.
Vibeke wirkte ausgeglichen und gelöst, was sich auch in ihrem Äußeren widerspiegelte. Statt ihrem strengen Look trug sie ein lässiges schwarzes Outfit. Oversize-Pullover zur eng anliegenden Hose in Lederoptik und Chelsea-Boots. Ihre hellbraunen Haare fielen ihr in leichten Wellen auf die Schultern, und ihr dezentes Make-up ließ ihre Gletscheraugen noch heller leuchten, als sie es ohnehin schon taten.
Rasmus stellte befremdet fest, dass er sie attraktiv fand.
»Alles in Ordnung?« Vibeke musterte ihn eindringlich. »Du siehst mich so eigenartig an.«
»Nein. Alles bestens.« Er grinste schief. »Ich war nur gerade mit meinen Gedanken woanders.«
»Ich habe letzte Woche mit Mirjam Dahlmann telefoniert«, erzählte Vibeke. »Bei Dahlmann Invest waren die Wirtschaftsprüfer im Haus, dabei wurden Unregelmäßigkeiten in der Buchhaltung entdeckt. Offenbar wurden überhöhte Rechnungen für Sanierungsarbeiten ausgestellt. Dabei ist herausgekommen, dass Faber und der Bauleiter des Sanierungsunternehmens gemeinsame Sache gemacht haben.«
»Also habe ich doch den richtigen Riecher gehabt«, sagte Rasmus. »Trotzdem wüsste ich gerne, wo er sich zur Tatzeit aufgehalten hat.«
»Vielleicht war er tatsächlich im Büro. Wie auch immer, der Fall ist abgeschlossen.«
Sie stießen mit ihren Gläsern an und blickten zu Pernille, die wenige Meter entfernt mit ihrer Lebensgefährtin Hanne zusammenstand und gerade den Kopf in den Nacken warf und lauthals lachte. Dabei griff sie nach Hannes Hand, und die beiden Frauen küssten sich.
»Wie glücklich sie ist«, sagte Vibeke und wandte sich ihm wieder zu. »Also, was ist los?«
Rasmus räusperte sich. »Wahrscheinlich ist gar nichts«, wiegelte er ab. Er berichtete ihr von dem Anruf aus Kopenhagen.
»Vielleicht wollen sie dir ein Jobangebot machen.«
»Wohl kaum. Aber ich frage mich, ob es etwas mit Anton zu tun haben könnte.«
»Wie kommst du darauf?«
Rasmus trank einen Schluck Sekt. »Ich glaube nicht, dass du die Antwort hören willst.«
»Jetzt spuck’s schon aus.« Vibeke durchbohrte ihn förmlich mit ihrem Blick.
Er fuhr sich mit der Hand über den Mund. »Damals nach Antons Tod habe ich einen Kollegen in Kopenhagen gebeten, die Augen aufzuhalten. Für den Fall, dass das Zeug, das Anton genommen hatte, wieder im Umlauf wäre, sollte er mir Bescheid geben.«
»Verstehe. Und das war der Typ, der dich angerufen hat?«
Rasmus schüttelte den Kopf.
»Dann mach dich jetzt nicht verrückt.« Vibeke lächelte ihm aufmunternd zu. »Vielleicht geht es um etwas ganz anderes.«
Er nickte halbherzig. Die Unruhe ließ ihn nicht los.
Die Musik wurde lauter gedreht, und aus den Boxen ertönte »Ingen kan love dig i morgen«, ein Popsong von Rasmus Seebach, der schon vor Jahren im Radio rauf und runter gelaufen war. Damals war er noch mit Camilla verheiratet gewesen. Rasmus wischte den Gedanken an seine Ex-Frau beiseite. Er war jetzt mit Maja zusammen. Und es lief ausgesprochen gut zwischen ihnen.
Einige der Umherstehenden begannen zu tanzen.
»Komm, lass uns zu den anderen gehen«, sagte Vibeke.
Rasmus folgte ihr durch das Gedränge. Am Büfett stießen sie auf Jens und Søren mit voll gehäuften Tellern in den Händen. Miniatur-Smørrebrøds mit Räucherlachs, roter Bete und Frischkäse, Avocado, Krabben, Ei und Zwiebeln, dazwischen türmten sich Radieschen und Gürkchen.
Jens hatte seinen üblichen formellen Anzug und die auf Hochglanz polierten Schuhe gegen Jeans, Sneakers und ein Retroshirt mit Popeye-Aufdruck getauscht. Neben ihm kaute Søren gerade genüsslich an einem Smørrebrød.
»Toll, dass ihr alle gekommen seid«, sagte er zwischen zwei Bissen. »Was haltet ihr davon, wenn wir ein Foto machen?« Ohne eine Antwort abzuwarten, wandte er sich zum langen Esstisch um, wo Luís neben Vickie saß. »Komm, Luis, wir machen ein Foto. Und Pernille, du auch.« Er winkte seine Frau mit seiner schaufelgroßen Hand zu sich. »Schatz, mach doch bitte mal ein Foto von unserer Truppe.«
Brigitte eilte mit ihrem Handy herbei. »Stellt euch etwas dichter zusammen.«
Rasmus rückte näher an Vibeke heran.
»So ist es gut.« Brigitte brachte ihr Handy in Stellung. »Bei drei ruft ihr alle ›Smile‹. Achtung, es geht los. Eins. Zwei. Drei.«
»Smile«, riefen sie im Chor. Alle lachten.
Brigitte drückte noch ein paar weitere Male ab. »Prima.«
Rasmus’ Handy vibrierte in seiner Hosentasche. Er zog es heraus. Nach einem Blick aufs Display wandte er sich ab und ging ins Foyer. Erst dort nahm er das Gespräch an.
»Hej, Rasmus. Uffe hier. Uffe Højbjerg vom Rauschgiftdezernat«, schallte ihm eine tiefe Männerstimme entgegen. »Gunnar hat mir deine Nummer gegeben. Er ist gerade in Elternzeit. Du hattest ihn gebeten, sich zu melden, falls bei uns bestimmte Tütchen im Umlauf sind.«
Rasmus’ Puls beschleunigte sich augenblicklich. »Jep. Spice«, bestätigte er. Spice galt vor einigen Jahren als Designerdroge und zählte zu den sogenannten neuen psychoaktiven Substanzen, kurz NPS genannt, ein Oberbegriff für chemisch-synthetische Stoffe, die Drogen wie Ecstasy, Cannabis und Amphetaminen ähnelten, nur dass sie ein Vielfaches stärker in der Wirkung waren. In vielen Ländern Europas waren diese Substanzen, die häufig als Kräutermischung in kleinen bunten Tütchen verkauft wurden, schon seit Langem ve rboten. Auch in Dänemark. Häufig führte die Einnahme zu Panikattacken, Halluzinationen, Herzrhythmusstörungen und Wahnvorstellungen und nicht selten zum Tod. So wie bei Anton. »Stimmt die Zusammensetzung der Inhaltsstoffe überein?«
»Die Mischung wurde geringfügig verändert.«
Das war nicht ungewöhnlich. Der Drogenmarkt war stets im Wandel und Spice schon längst nicht mehr so stark im Umlauf wie noch vor ein paar Jahren. Derzeit standen Kokain und Amphetamine, wie Chrystal Meth und Ecstasy in Pillenform, hoch im Kurs. Letztere schmissen sich die jungen Leute zum Teil wie Smarties ein.
»Wisst ihr, wer den Stoff in Umlauf gebracht hat?«, erkundigte sich Rasmus.
»Nicht nur das. Wir haben auch den Typen, der die Tütchen an der Schule vertickt hat. Er heißt Pavel Novotná. Ich komme gerade von Theo Lindstrøm. Ich nehme an, der Name sagt dir etwas?«
»Der beste Freund meines Sohnes«, bestätigte Rasmus.
»Er hat den Mann anhand von Fotos identifiziert.«
Rasmus ballte die linke Hand zur Faust. »Ich will mit diesem Pavel reden.«
»Das wird leider nicht möglich sein.«
»Weshalb nicht?«, fragte Rasmus ungehalten. »Komm mir jetzt bitte nicht mit Zuständigkeiten.« Köpfe drehten sich zu ihm um, doch es war ihm egal.
»Pavel Novotná ist tot«, erwiderte Uffe Højbjerg am anderen Ende der Leitung. »Es gab gestern eine Schießerei in der Pusher Street, dabei wurden zwei Menschen getötet. Einer von ihnen war Novotná.«
»Und der andere?«
»Dazu kann ich nichts sagen«, gab sich der Drogenfahnder verhalten.
Rasmus rieb sich mit zwei Fingern den Nasenrücken. »Wer bearbeitet den Fall?«
»Oscar Rommedal von der Abteilung für Gewaltkriminalität.«
Der Name sagte Rasmus nichts. Doch das war nicht weiter verwunderlich. Mit dem Umzug seiner früheren Abteilung vom Politigården in das neue Polizeigebäude auf Teglholmen war zugleich frischer Wind durch die alten Reihen gezogen, zumindest arbeitete von den Ermittlern, die er von früher kannte, kaum noch einer dort.
»Dann möchte ich mit Oscar reden.«
»Der ist gerade in einer Besprechung.«
Rasmus knirschte mit den Zähnen. »Dann richte Oscar doch bitte aus, dass Rasmus Nyborg unterwegs nach Teglholmen ist und mit ihm sprechen möchte. Hej hej.« Er legte auf und fischte in der Hosentasche nach dem Autoschlüssel mit der kleinen Legofigur. Sobald seine Finger Luke Skywalker umschlossen, eilte er zur Haustür und ins Freie.
Er war bereits bei seinem VW-Bus angelangt, als sich hinter ihm die Haustür öffnete und Vibeke herauskam. »Du willst los, ohne dich zu verabschieden?« Sie eilte auf ihn zu.
Rasmus hielt sein Handy hoch. »Sorry, aber ich muss nach Kopenhagen.«
Vibeke verstand augenblicklich. »Es ist also doch wegen Anton«, stellte sie fest. »Ich kann dich begleiten.«
Für einen kurzen Moment verkeilten sich ihre Blicke. Er wusste, dass er im Ernstfall immer auf sie zählen konnte, das hatte Vibeke in der Vergangenheit schon häufiger bewiesen. Selbst in der Zeit, als sie nach dem Tod von Claas seine Anrufe ignoriert hatte, war sie am Grab von Eva-Karin Holm an seiner Seite gewesen und hatte ihm Kraft gegeben. Auch jetzt würde sie ohne Zögern in seinen Bulli steigen.
Rasmus schüttelte den Kopf. »Ich muss das allein tun. Bitte richte Søren und Brigitte aus, dass es mir leidtut.«
Sie nickte. »Und – Rasmus. Pass auf dich auf!«
Rasmus hob zum Abschied die Hand, dann öffnete er die Fahrertür des Bullis und schwang sich hinter das Lenkrad.