Epilog

Kopenhagen, Dänemark

Die Abendsonne hing wie ein orangefarbener Feuerball tief über den Dächern der Stadt, als Rasmus rund dreieinhalb Stunden später die im Südhafen befindliche Halbinsel Teglholmen erreichte. Dort, wo bis in die 1970er-Jahre vor allem Schwerindustrie angesiedelt gewesen war, beherbergten jetzt gradlinige Gebäudekomplexe hauptsächlich dänische und regionale Zentralen multinationaler Unternehmen.

Am Wasser reihten sich moderne Wohnquartiere mit grünen Innenhöfen an den neu angelegten Piers aneinander. Zahlreiche Kräne und umliegende Baustellen zeugten von der Entstehung weiterer Bauvorhaben.

Das Tageslicht war schon fast verschwunden, als Rasmus mit seinem Bulli in der Teglholm Allé vor dem neuen Polizeiquartier zum Stehen kam. Helle Sandsteinklinker. Schwarze Fenster. Geradlinig und ultramodern. Nichts erinnerte hier an den unter Denkmalschutz stehenden Politigården mit seinem runden Innenhof und seinen Bürowaben, um den sich so viele Mythen und Geheimnisse rankten und von dem es noch immer hieß, es würde dort spuken.

Rund fünf Minuten und ein Telefonat später, nachdem Rasmus sich in der kameraüberwachten Lobby ausgewiesen hatte, nahm ihn eine Etage höher ein junger Hipstertyp, der sich ihm als Jakob vorstellte, am Fahrstuhl in Empfang und führte ihn einen langen Flur mit Glaswänden entlang zu einem Büro. »Oscar kommt dann gleich.« Er ließ Rasmus allein.

Die Einrichtung war modern und funktional, die Technik auf dem neuesten Stand. Vier höhenverstellbare Schreibtische standen sich in Zweierblöcken gegenüber, die Monitore waren auf Stand-by, die Arbeitsflächen wirkten bis auf vereinzelte Zettel wie leer gefegt. Willkommen in der digitalen Welt, dachte Rasmus.

Eine große Glasstellwand mit Tatortfotos bezeugte als Einziges, dass er sich in einem Raum der Mordkommission befand. Auf verschiedenen Fotos waren zwei tote Männer zu sehen, aufgenommen aus unterschiedlichen Perspektiven.

Rasmus betrachtete die Nahaufnahme des Mannes, unter dem in schwarzer Schrift der Name Pavel Novotná stand. Kein Detail blieb auf dem Foto verborgen. Die zusammengekniffenen Augen, die Blutsprenkel auf der Nase, das Einschussloch oberhalb der Brauen, mittig auf der Stirn.

Das war also der Mistkerl, der Theo die schmutzigen Drogen verkauft hatte, an denen Anton gestorben war.

Rasmus wartete auf ein Gefühl des Triumphs oder der Genugtuung, dass der Dealer mit einem Loch auf der Stirn auf dem Asphalt lag, doch alles, was er jetzt spürte, war innere Leere. Gedankenverloren betrachtete er die Schmauchauflagerung rund um den Wundkanal.

Die Tür ging auf, und ein dunkelhaariger Mann kam herein. Mittelgroß, sehnig und durchtrainiert wie ein Marathonläufer. »Pavel Novotná wurde aus unmittelbarer Nähe erschossen.« Er blieb neben Rasmus stehen und reichte ihm die Hand. »Oscar.« Tief liegende dunkle Augen blickten ihn an.

»Rasmus.« Er erwiderte den kräftigen Händedruck.

»Ich habe schon von dir gehört.« Oscars Gesichtsausdruck verriet nicht, welcher Art das Gehörte war, doch Rasmus konnte es sich denken. Der prügelnde Bulle mit dem toten Sohn. Sein Ruf war ihm wieder einmal vorausgeeilt. »Was wisst ihr über Novotná?«

»Nicht viel. Ein Kleindealer. Bislang nicht aktenkundig, allerdings stand er unter Beobachtung der Kollegen von der OK.« Die Abteilung für organisierte Kriminalität bearbeitete unter anderem Fälle von Banden- und schwerer Drogenkriminalität.

»Weshalb?«

»Einer ihrer Informanten behauptet, dass Novotná als Runner zu Boskos Leuten gehörte.«

Runner waren die Drogenkuriere oder die Verteiler der Drogen vor Ort, die sich auf der untersten Ebene der Pyramide befanden, während die Schwerverbrecher an der Spitze die Fäden zogen.

»Der Name sagt mir nichts.«

»Ein Zwischenhändler, den die Kollegen schon lange im Visier haben. Bislang fehlten ihnen für die Festnahme nur die Beweise. Sein Name ist in Verbindung mit dem Netzwerk von Markov aufgetaucht.«

Rasmus sog scharf die Luft ein. »Markov? Etwa Dimitri Markov?«

Oscar nickte. »Der Name sagt dir offensichtlich etwas.«

»Ich hatte während meiner Zeit bei der OK mit ihm zu tun.« Rasmus fuhr sich mit der Hand über den Mund. In seinem Kopf überschlugen sich die Gedanken, mischten sich mit lang zurückliegenden Bildern. Markov. Der Mann, der in Kopenhagen die Zügel in der Hand gehalten hatte. Der über alles gewacht hatte. Der Mann, mit dem Rasmus noch eine Rechnung offen hatte. Und der mit ihm.

Es musste ein Zufall sein. Allein der Gedanke war absurd.

Rasmus kämpfte gegen die plötzliche Enge in seinem Hals.

»Alles in Ordnung?« Oscar schien ihn mit Blicken förmlich zu durchbohren.

Rasmus wusste, dass er antworten sollte, doch er brachte keine einzige Silbe heraus. Sein Mund war trocken, und er verspürte einen Druck auf der Brust, der so heftig war, dass er kaum atmen konnte.

»Ich muss an die Luft«, stieß er hervor und verließ den Raum. Keuchend nahm er die Treppe ins Erdgeschoss und lief hinaus in die Dunkelheit.

Neben einer kleinen Parkanlage blieb er stehen und atmete tief durch, sog die frische klare Luft in jeden Winkel seiner Lunge. Er spürte, wie der Druck auf seiner Brust langsam nachließ und schließlich verschwand.

Zurück in seinem VW-Bus, blieb er regungslos hinter dem Lenkrad sitzen. Er sah Anton vor sich, wie er drei gewesen war. Ein kleiner Blondschopf in einem Schlafanzug mit winzigen grünen Dinos. Damals hatte er seinem Sohn versichert, dass es keine Monster gab. D ass sie sich nicht in seinem Schrank oder unter seinem Bett versteckten. Er hatte gelogen. Es gab Monster. Monster in Menschengestalt. Und eines von ihnen war Dimitri Markov.