An diesem Morgen war Lotty beim Aufwachen übel, wie so häufig in letzter Zeit. Sie schob es auf den Besuch der Rowlands, war insgeheim jedoch davon überzeugt, dass sie auf den bevorstehenden Abschied von Corran körperlich reagierte. Sobald dieser Tag vorüber war, hatte sie keine Ausrede mehr. Sie musste zu dem Versprechen stehen, das sie ihrer Großmutter gegeben hatte, und nach Hause fahren.
„Worüber denkst du nach“, fragte Corran.
„Ich dachte, du schläfst noch!“
„Wie könnte ich, wenn du dich neben mir hin und her wälzt?“ Er zog sie an sich und begann sie zu streicheln. „Mach dir keine Sorgen, alles wird gut.“
Davon war Lotty zwar nicht überzeugt, doch sie ließ sich bereitwillig ablenken. Die Freuden, die sie einander bereiteten, verdrängten alle unangenehmen Gedanken.
Im Lauf des Vormittags legte sie noch letzte Hand an die Vorbereitungen für den Besuch. Anschließend bewegte sie Corran dazu, zu Ehren seiner Gäste ein gutes Hemd anzuziehen. Zu einer Krawatte konnte sie ihn jedoch nicht überreden.
Die Entscheidung, was sie selbst tragen sollte, fiel ihr schwer. Die Kleidung, die sie aus Montluce mitgebracht hatte, erschien ihr zu elegant. Ihre Arbeitskluft war allerdings auch nicht angemessen. Also zog sie saubere Jeans und den rosa Pulli an, den sie an ihren ersten Abenden auf Loch Mhoraigh getragen hatte.
„Kann ich mich so sehen lassen?“, fragte sie Corran und drehte sich einmal um die eigene Achse.
Er betrachtete sie von oben bis unten. In seinem Blick lag so viel Wärme wie nie zuvor.
„Du siehst genau richtig aus.“
Sein Lob tat ihr gut, und sie strahlte noch immer, als die Rowlands endlich vorfuhren.
Im Lauf ihres Lebens hatte Lotty viele wichtige Geschäftsleute kennengelernt, schließlich war Montluce ein bedeutendes Finanzzentrum. Sie hatte erwartet, dass Dick Rowland jenen eleganten Herren ähnelte. Das Gegenteil war der Fall. Der massige Mann aus Yorkshire, mit riesigen Händen, einem fleischigen Gesicht und kleinen Augen, die ihm ein gerissenes Aussehen verliehen, wirkte wie ein Farmer. Seine Frau Katie, eine Blondine mit überschäumendem Temperament, begann zu reden, noch ehe sie ganz dem Auto entstiegen war, und hielt kaum inne, um Atem zu schöpfen.
Zum Glück gefiel ihr das Gut. „Das ist ja traumhaft schön!“, rief sie begeistert. „Es muss wunderbar sein, hier zu leben.“
Als ihr Blick auf Lotty fiel, stutzte sie. „Kennen wir uns von irgendwoher? Sie kommen mir so vertraut vor“, fragte sie, als Corran die Frauen miteinander bekannt machte.
Lotty sank das Herz. Hatten die Rowlands schon einmal Montluce besucht und waren ihr bei einem der zahllosen Empfänge für ausländische Bankiers und Kapitalgeber vorgestellt worden?
„Ich glaube nicht“, erwiderte sie, so ruhig sie konnte. „Daran würde ich mich gewiss erinnern.“
„Vielleicht ähneln Sie einer Schauspielerin. Was meinst du, Dick?“
Zu Lottys Erleichterung ging ihr Mann nicht auf diese Bemerkung ein. Er unterhielt sich mit Corran über den Zustand der Auffahrt.
„Die müssen Sie dringend in Ordnung bringen lassen. Ein Schlagloch reiht sich ans andere.“
„In meinem Finanzplan sind die Instandsetzungskosten bereits berücksichtigt.“
Den Kaffee, den Lotty ihnen anbot, lehnten die Rowlands ab. Sie wollten sich lieber sofort einen Eindruck von Corrans Land verschaffen.
Zu viert stiegen sie in seinen Geländewagen, der tags zuvor gründlich gereinigt worden war, und fuhren los. Zunächst besichtigten sie die Ferienhäuschen. Die Gäste zeigten sich begeistert von den gemütlichen Unterkünften und sparten nicht an Lob. Dann ging es weiter in die Berge, zu einem Aussichtspunkt, von dem aus sich ein Überblick über das gesamte Anwesen bot.
Es war ein klarer Tag, eine zarte Brise wehte und schob immer wieder kleine Wolkenfelder vor die Sonne, sodass sich den Besuchern ein abwechslungsreiches Licht- und Schattenspiel bot. Tief unten im Tal glitzerte silbern der See, und Lotty fiel ein, wie sie ihn zum ersten Mal gesehen hatte. Inzwischen war er ihr vertraut, und sie fühlte sich hier ganz zu Hause.
Am liebsten hätte sie den Anblick schweigend genossen, doch während Corran seinem Gast die Maßnahmen darlegte, die er plante, redete Katie unaufhörlich auf sie ein. Sie schien fest entschlossen herauszufinden, an wen ihre Gastgeberin sie erinnerte. Dazu verglich sie sie mit sämtlichen Schauspielerinnen, die ihr einfielen – und das waren einige. Zu Lottys Bestürzung erwies Katie sich als eifrige Leserin von Klatschmagazinen. Glücklicherweise brachte sie sie jedoch nicht mit Montluce in Verbindung.
Als sie endlich ins Herrenhaus zurückkehrten und sie sich in die Küche zurückziehen konnte, um den Tee herzurichten, atmete Lotty auf. Den Teig für die Scones hatte sie bereits am Vormittag vorbereitet. Jetzt musste sie nur noch Milch hinzufügen und die Teiglinge formen. Sie legte sie auf das Backblech und schob es in den vorgeheizten Ofen. Anschließend setzte sie den Teekessel auf und machte das Serviertablett zurecht. Als sie das Blech nach etwa zwanzig Minuten aus dem Ofen zog, wagte sie ihren Augen kaum zu trauen: Diesmal waren die Scones perfekt gelungen. Zur Kontrolle brach sie einen in der Mitte durch. Der äußere Schein hatte nicht getrogen: Das goldgelbe Gebäck war im Inneren so weich und luftig, wie sie es sich immer gewünscht hatte.
Vorsichtig trug sie das Teetablett ins Wohnzimmer und stellte es auf dem Tisch vor dem Kamin ab. Corran lächelte ihr beifällig zu, als er die appetitlichen Scones bemerkte.
„Jetzt weiß ich es endlich!“, rief Katie in diesem Moment. „Sie ähneln Prinzessin Charlotte von Montluce.“
Lotty wurde es erst heiß und dann eiskalt. „Finden Sie?“, fragte sie so gelassen wie möglich. „Hat sie nicht dunkles Haar?“
„Stimmt.“ Die Stirn in Falten gelegt, dachte Katie nach. „Ihr Markenzeichen ist ein wunderschöner Bob. Aber dennoch … die Ähnlichkeit ist frappierend. Und Sie tragen sogar denselben Namen. Lotty ist doch eine Abkürzung für Charlotte, oder?“
„Ja, was für ein Zufall.“ Mit bebenden Händen schenkte Lotty den Tee ein. Sie spürte, dass Corran sie fragend ansah, wagte jedoch nicht, seinen Blick zu erwidern. Als alle eine Tasse hatten, nahm sie neben ihm auf dem Sofa Platz.
Katie, die nichts von ihrer Bestürzung bemerkte, plauderte ungeniert weiter. „Das arme Ding tut mir leid. Auf ihrer Familie scheint ein Fluch zu liegen. Erst verstarb ihr Vater, dann ihr Onkel und sein Sohn. Soweit ich weiß, gibt es noch einen weiteren Sohn, der aber im Gefängnis sitzt.“
Schweigend, aber höflich lächelnd bot Lotty ihrem Gast die Scones an.
„Oh, wie köstlich!“ Katie griff beherzt zu, ließ sich dadurch jedoch nicht von ihrem Thema abbringen. „Prinzessin Charlotte war mit Prinz Philippe verlobt, doch der hat sie wegen einer Unbekannten sitzen gelassen. Das war sicher sehr erniedrigend.“
Verzweifelt bot Lotty auch Dick und Corran von dem Gebäck an.
„Es heißt, er hätte ihr das Herz gebrochen, deshalb ist sie untergetaucht“, fuhr Katie fort.
„Wirklich?“, fragte Corran mit ausdrucksloser Stimme.
Als Lotty ihm einen flüchtigen Blick zuwarf, bemerkte sie, dass er sie nicht aus den Augen ließ. Er weiß es! dachte sie entsetzt. Sein kalter Blick ließ keinen Zweifel daran. Wehmütig erinnerte sie sich an den liebevollen Ausdruck, mit dem er sie noch kurz vor der Ankunft der Rowlands angesehen hatte.
„Vermutlich wollte sie nicht zusehen, wie ihr Verlobter mit einer anderen angibt. Ich kann es ihr nicht verdenken.“
„Meines Wissens waren die beiden nicht offiziell verlobt“, wandte Lotty ein, der es schwerfiel, überhaupt ein Wort zu sagen.
„Doch! Sie hat Philippe angebetet, und das ist kein Wunder. Es heißt zwar, er wäre ein Playboy, aber er sieht großartig aus“, erklärte die passionierte Glitz-Leserin.
Am liebsten hätte Lotty sie angeschrien, dass sie sich irrte. Stattdessen musste sie ruhig bleiben, sich Spekulationen über die Zukunft von Philippe und Caro anhören und ein Loblied auf die arme Prinzessin, die so schön und gut und unglaublich reich war, jedoch kein Glück in der Liebe hatte. Es war nahezu unerträglich! Katie plapperte unbeirrt weiter über ihr Lieblingsthema und ließ sich durch nichts davon abbringen.
Corran erneut anzusehen, wagte Lotty nicht. Er sprach kaum ein Wort, und sie konnte die Wut, die er ausstrahlte, förmlich spüren. Stocksteif saßen sie nebeneinander auf der Couch den Rowlands gegenüber, die nichts von der Spannung zu bemerken schienen, die in der Luft lag.
„Wahrscheinlich erholt sie sich gerade auf irgendeiner Jacht“, unterbrach Dick endlich seine Frau. „Corran, haben Sie schon in Erwägung gezogen, in die Fischzucht einzusteigen?“
Es folgte eine ausführliche Diskussion über die Vorzüge von Lachs gegenüber Forellen. Währenddessen schob Lotty den wunderbaren Scone auf ihrem Teller hin und her und wusste nicht, ob sie das Ende des Besuchs herbeisehnen sollte oder nicht. Waren die Gäste erst fort, stand ihr unweigerlich eine Aussprache mit Corran bevor.
Nach einer gefühlten Ewigkeit erhob Dick sich. „Was ich heute gesehen habe, hat mich schwer beeindruckt“, wandte er sich an Corran. „Schicken Sie mir die genauen Zahlen, dann unterhalten wir uns nach meiner Rückkehr aus Skye noch einmal ausführlich.“
Anschließend bedankte er sich bei Lotty für den Tee. „Das waren die besten Scones, die ich je gegessen habe“, lobte er und fügte an Corran gewandt hinzu: „Ich beneide Sie um Ihre Köchin.“
Dick schien zu erwarteten, dass er ihr einen Arm um die Schultern legte und ihm beipflichtete, doch Corran konnte sich nicht dazu aufraffen, die verschollene Prinzessin von Montluce zu berühren. Dass sie es tatsächlich war, hatte ihm ihre Mimik verraten. Nur ein Narr wie er hatte wochenlang hartnäckig sämtliche Hinweise ignorieren können!
Irgendwie schaffte er es, seine Gäste nach draußen zu begleiten und sich höflich für den Besuch zu bedanken. Dann stand er mit versteinerter Miene neben Lotty – nein, neben Prinzessin Charlotte – und winkte den Rowlands hinterher, während sie die Auffahrt hinabfuhren. Schweigend wartete er, bis der Wagen außer Sicht war.
„Ich denke, wir haben uns gut geschlagen, Hoheit.“
Unwillkürlich zuckte Lotty zusammen. „Den Eindruck habe ich auch“, erwiderte sie betont gleichmütig und wandte sich ab, um ins Haus zurückzukehren.
Ihre unerschütterliche Ruhe versetzte Corran in Rage, und er packte sie am Arm. Dann fiel ihm ein, wer sie war, und er ließ sie hastig wieder los. „Du hast mich belogen!“
„Inwiefern?“
Sie war blass, hielt das Kinn jedoch hoch erhoben. Wie habe ich sie je für etwas anderes als eine Prinzessin halten können? wunderte er sich.
„Inwiefern habe ich dich belogen?“, fragte sie. „Ich habe dir erzählt, dass ich mein Portemonnaie verloren habe, eine Auszeit brauchte und nicht für immer bleiben kann. Das alles stimmt.“
„Dafür hast du mir die Bagatelle unterschlagen, dass du eine Prinzessin bist.“
„Hätte das etwas geändert?“
Verblüfft fragte er zurück: „Inwiefern?“
„Hättest du mich dennoch bleiben lassen? Hättest du trotzdem mit mir geschlafen?“
Nachdenklich rieb er sich mit der Hand übers Kinn. „Ja! Nein! Ich weiß nicht.“
Sie lächelte traurig. „Genau aus diesem Grund habe ich es dir nicht erzählt.“
Ohne ein weiteres Wort wandte sie sich ab, ging ins Wohnzimmer und begann, das Teegeschirr abzuräumen, als wäre nichts geschehen.
„Du hältst mich bestimmt für einen kompletten Idioten.“ Corran war ihr gefolgt. „Wie konnte mir das nur entgehen? Es gab so viele Hinweise, so viel, das nicht zusammenpasst. Wer, außer einer Prinzessin, weiß nicht, wie Tee zubereitet wird? Wieso hast du dich mir nicht anvertraut?“
Die Tassen klapperten laut, als Lotty sie mit mehr Nachdruck als nötig auf dem Tablett abstellte. „Du hättest mich mit Samthandschuhen angefasst. Ich wollte aber wenigstens einmal im Leben wie ein Mensch behandelt werden, nicht wie eine Prinzessin.“
Einen Moment herrschte Stille. Corran betrachtete Lotty und versuchte, in der Prinzessin, die mit blitzenden Augen und geröteten Wangen vor ihm stand, die Frau zu entdecken, die er kannte.
„Und was hast du hier gesucht?“
„Freiheit.“ Erschöpft ließ sie sich auf das Sofa fallen. „Alles, was ich dir über meine Familie erzählt habe, stimmt. Ich habe dir lediglich verheimlicht, dass mein Vater der König von Montluce war. Er war ein freundlicher Mensch, ist aber nie über den Tod meiner Mutter hinweggekommen. Damals hat er sich in seine Studien vergraben und Großmutter das Regieren überlassen.“ Sie warf Corran einen besorgten Blick zu. Er hörte ihr mit finsterer Miene zu, die Arme vor der Brust verschränkt. Wie konnte sie ihm nur begreiflich machen, wie ihr Leben in Montluce ausgesehen hatte?
„Papa hat sich mehr für die Antike interessiert als dafür, Hände zu schütteln. Also fiel mir diese Aufgabe zu. Sofort nach dem Schulabschluss trat ich in die Fußstapfen meiner Mutter und wurde zum öffentlichen Gesicht von Montluce. Mir blieb keine andere Wahl: Ich war ein Einzelkind, Papa hatte sich in seine eigene Welt zurückgezogen, Großmutter war alt. Von Kindheit an war mir beigebracht worden, was meine Pflicht war. Ich habe sie erfüllt.
In deinen Augen mag Montluce eine Westentaschenmonarchie sein, doch seinen Einwohnern bedeutet das Land alles. Wohin immer ich kam, freuten sich die Leute, mich zu sehen. Sie liebten mich und hielten mich für schön und gut, für die perfekte Prinzessin. Ich konnte sie nicht enttäuschen. Daher ließ ich zu, dass sie mich auf ein Podest stellten, bemerkte dann aber, dass ich nicht mehr davon herabsteigen konnte.“
„Schließlich hast du es doch geschafft und bist nach Mhoraigh gekommen“, stellte er mit eisiger Stimme fest.
Lotty seufzte. Er verstand sie nicht. „Zunächst einmal fragte ich mich, was ich auf dem Podest sollte. Wieso liebten diese Menschen mich? Es musste an meiner Position liegen, nicht an meiner Person. Niemand kannte mich wirklich – und ich mich selbst am wenigsten.“
Sie hielt inne. Corran hörte ihr aufmerksam zu, doch sie vermochte nicht zu erraten, was er dachte. „In meinem Stammbaum gibt es zahlreiche stolze Menschen, die für ihr Land und ihre Ideale alles gaben. Ich dagegen musste nie um etwas kämpfen, wurde nie auf die Probe gestellt.“
„Das stimmt nicht“, wandte er zornig ein. „Als Zwölfjährige musstest du mit dem Tod deiner Mutter fertig werden und wurdest auch noch auf ein Internat geschickt! Das war hart genug.“
„Dennoch fand ich nie heraus, wer ich wirklich war. Als Papa starb, trauerte ich natürlich. Gleichzeitig sagte ich mir, dass ich jetzt die Gelegenheit erhalten würde, eigenständig zu leben. Der neue König war verheiratet, ich wurde nicht länger gebraucht. Aber dann starb auch mein Onkel, kurz darauf sein Sohn.“
Sie lächelte müde. „Ich musste wieder die Familie repräsentieren, es gab niemanden sonst. Inzwischen regiert König Honoré das Land, doch er ist geschieden. Also hat Großmutter sich in den Kopf gesetzt, dass ich seinen Sohn und Erben Philippe heiraten soll. All meine Träume auf Freiheit drohten sich in Luft aufzulösen. Ich habe mich ihr noch nie widersetzt und verfiel in Panik. Ich wollte fort aus Montluce, wenigstens für eine Weile, um zu mir selbst zu finden. Also schmiedete ich mit Philippes Hilfe einen Plan.“
„Derselbe Philippe, der dir das Herz gebrochen hat?“
„Das stimmt nicht, Katie hat das falsch verstanden.“
„Wie war es dann?“
Also erklärte sie ihm von ihrer Vereinbarung mit Philippe und Caro und wie die beiden ihr eine Ausrede für ihre Flucht verschafft hatten.
„Jetzt ist anscheinend etwas schiefgegangen. Caro ist nach England zurückgekehrt, Philippe soll verzweifelt sein, und Großmutter versteht die Welt nicht mehr. Ich muss nach Hause fahren.“
„Zurück auf das Podest?“
„Zurück zu meinen Aufgaben.“ Sie sah ihm fest in die Augen. „Als Prinzessin kann ich nicht tun und lassen, was ich will. Meine Position bringt Pflichten mit sich, vor denen ich mich nicht auf Dauer drücken kann.“ Sie schluckte.
„Dann hast du in den letzten Wochen also nur das Spiel vom einfachen Leben gespielt?“ Wie unfair seine Bemerkung war, wusste Corran genau, doch die Entdeckung, dass Lotty eine Prinzessin war, hatte ihn tief getroffen. Er stand wie ein Narr da und fühlte sich betrogen. Es verletzte ihn, dass sie ihm nicht genug vertraut hatte, um ihm die Wahrheit zu gestehen. Er hatte sie für offen und aufrichtig gehalten. Jetzt fragte er sich, ob sie ihn auch noch in anderer Hinsicht belogen oder ihm etwas vorgespielt hatte.
„Ich wollte wissen, wie es ist zu leben, ohne ständig unter Beobachtung zu stehen. Ist das so verwerflich?“
„Du hättest es mir sagen müssen“, beharrte Corran.
Lotty stellte die letzten Teller auf das Tablett und schüttelte erschöpft den Kopf. „Wozu? Von einer gemeinsamen Zukunft war nie die Rede. Ich wollte die Dinge zwischen uns nicht unnötig komplizieren.“
„Das war es dann also?“
„Es gibt nichts mehr zu sagen“, stimmte Lotty ihm ruhig zu, doch als sie das Tablett aufhob, um es in die Küche zu tragen, traten ihre Fingerknöchel weiß hervor. „Wir wussten beide, dass unsere Beziehung nicht andauern kann. Jetzt ist es Zeit für mich, heimzukehren.“
„Wie kommst du nach Hause?“
„Ein Anruf im Palast genügt, dann wird man mich abholen.“ Sie ging in die Küche, drehte den Wasserhahn auf und prüfte mit einer Hand die Temperatur. Corran sah sie entgeistert an.
„Was machst du da?“
„Den Abwasch.“ Sie warf ihm einen zornigen Blick zu. „Siehst du, ich habe gewusst, dass es so sein würde! Du denkst, eine Prinzessin soll nicht abspülen.“
„Ich weiß überhaupt nicht mehr, was ich denke.“
Erschöpft ließ er sich auf einen Küchenstuhl sinken und fuhr sich mit den Händen durchs Haar, als könne er dadurch seine Gedanken sortieren.
Erst jetzt, viel zu spät, erkannte er, dass er sich in Lotty verliebt hatte. Nicht in die abweisende, kühle Prinzessin, sondern in die liebenswürdige, aufrichtige Frau, für die er sie gehalten hatte. Doch war sie das wirklich? Er wusste es nicht mehr.
Ohnehin konnte er ihr jetzt seine Liebe nicht mehr erklären. Nicht, nachdem er entdeckt hatte, wer sie war, und Katie Rowland ihren enormen Reichtum erwähnt hatte.
Er hätte besser auf seinen Instinkt vertraut, der ihn von Anfang an gewarnt hatte, dass sie ihm Probleme bereiten würde. Jetzt stand er da wie ein Narr, und was er für die Wahrheit gehalten hatte, brach um ihn herum zusammen wie ein Kartenhaus.
Mittlerweile war Lotty mit dem Abwasch fertig und trocknete sich die Hände ab. Nach einem kurzen Blick auf Corran sagte sie: „Ich rufe jetzt in Montluce an.“
Sie ging in sein Büro. Als sie kurz darauf in die Küche zurückkehrte, saß er immer noch reglos am Küchentisch. „Sie holen mich gleich ab.“
„Gleich?“
„Noch ist es hell genug.“
Vor dem Fenster erglühten die Berge im Licht der Abendsonne, und tatsächlich verfärbte der Himmel sich gerade erst zartrosa, als Corran den Hubschrauber hörte. Er erhob sich, trat vor die Haustür und sah zu, wie die Maschine sicher auf der gekiesten Auffahrt vor dem Haus aufsetzte und die Vögel verstört aus den Bäumen aufflogen.
Helikopter waren ihm aus seiner Zeit beim Militär vertraut, doch dieses Exemplar erschien ihm seltsam befremdlich, bedrohlich und völlig fehl am Platz.
Die Hunde teilten offenbar seine Meinung, denn sie bellten aufgeregt. Mit einem scharfen Befehl rief er Meg zur Ordnung, Pookie ließ sich allerdings erst beruhigen, als Lotty an die Haustür kam und ihn auf den Arm hob.
In dem Moment, als der Hubschrauber den Boden berührte, ging eine Tür auf, dunkel uniformierte Männer sprangen heraus, duckten sich unter den Rotorblättern und eilten auf das Haus zu, die Gewehre im Anschlag. Sie behielten ihn scharf im Auge.
Corran hatte an ähnlichen Operationen teilgenommen. Er wusste, dass Profis nichts für gegeben hinnahmen, also blieb er reglos stehen und hielt die Arme ruhig.
Rasch war der Anführer der Truppe bei ihnen. Er wechselte einige Worte auf Französisch mit Lotty. Anscheinend erklärte sie ihm, dass von Corran keine Gefahr drohte, denn der Man gab seinen Leuten ein Zeichen, auf das hin sie stehen blieben, ohne jedoch in ihrer Wachsamkeit nachzulassen.
„Ich muss los“, sagte Lotty. Sie kraulte Pookie den Kopf und setzte ihn auf dem Boden ab. „Sei ein braver H… hund.“ Ihr Stottern war nicht zu überhören. Dann streichelte sie Meg und wandte sich zu guter Letzt an Corran. „Die Zeit hier wird mir für immer im Gedächtnis bleiben.“
Ein bleiernes Gewicht in seiner Brust schien ihm das Herz abzudrücken, und das Atmen fiel ihm schwer. Um Worte verlegen, nickte er lediglich.
Lotty atmete tief durch, dann wandte sie sich um und ging auf den Helikopter zu.
Sofort stürmte Pookie ihr nach und sah sie erwartungsvoll an. Als sie stehen blieb, hielt das Hündchen ebenfalls inne und wedelte heftig mit dem Schwanz.
„Pookie!“, rief Corran, der erst jetzt seine Stimme wiederfand.
Der Hund sah sich überrascht nach ihm um, entschied dann aber, dass er an Lottys Seite gehörte. Also blieb ihr nichts übrig, als ihn aufzuheben und zu Corran zurückzubringen. Sie legte ihm das Tier in die Arme, und Corran bemerkte, dass ihr Tränen in den Augen standen. Es brach ihm beinahe das Herz.
Unzählige Bilder und Gefühle stürmten auf ihn ein: Er dachte daran, wie hart sie gearbeitet und was sie alles bewirkt hatte, im Haus und in den Cottages, wie sie sich in seine Arme schmiegte, wie es war, wenn er sie nachts an sich zog. Er würde sie schrecklich vermissen!
Und er war wütend auf sich selbst, weil er sie liebte, es ihr aber nicht gestanden hatte, bis es zu spät gewesen war.
Inzwischen hatte sie sich bereits wieder abgewandt und ging zum Helikopter zurück. Pookie wand sich in seinen Armen.
„Lotty“, rief er ihr hinterher.
Sie blieb stehen, wandte sich halb um und sah ihn über die Schulter an.
Es musste einen Weg geben, ihr mitzuteilen, was er für sie empfand, doch ihm fiel nichts ein. Alles, woran er denken konnte, war ihre Abreise und dass er sie daran nicht hindern konnte. Schließlich brachte er nur heraus: „Danke – für alles.“
Einen Augenblick lang verharrte sie noch so, dann wandte sie sich abrupt ab und schritt mit erhobenem Kopf auf den Hubschrauber zu. Ein Offizier salutierte, sie bückte sich, um unter den Rotoren zur geöffneten Tür zu eilen, dann stieg sie ohne einen Blick zurück ein.
Rasch folgten die restlichen Uniformierten ihr, die Tür wurde geschlossen, der Propeller drehte sich immer schneller, und die Maschine hob ab. Einen Moment lang stand sie unbeweglich in der Luft, dann schwang sie herum und flog über den See davon.
Corran sah ihr hinterher, bis sie nur noch ein winziger Punkt am Horizont war und schließlich ganz verschwand. Die Vögel ließen sich wieder in den Bäumen nieder und glätteten ihr Gefieder. Pookie seufzte, Meg legte sich zu Boden, die Schnauze auf den Vorderpfoten. Es herrschte wieder Stille. Lotty war fort.
Lotty stand an einem Fenster in ihrem Apartment und sah traurig auf den See hinunter. Die Aussicht war wunderschön: Segelboote glitten übers Wasser, die Blätter der Bäume am Ufer verfärbten sich bereits herbstlich rot und golden. Dennoch sehnte sie sich nach Loch Mhoraigh zurück, den kargen Hügeln der Highlands … und nach dem Mann, der dort lebte.
Caro trat zu ihr und berührte sie am Arm. „Hast du es deiner Großmutter schon gestanden?“
„Nein, noch nicht. Sie wird nicht gerade begeistert sein.“
„Hauptsache, du bist glücklich. Bist du dir auch sicher, dass du es willst?“
„Ja, absolut.“ Es war das Einzige, was sie mit Sicherheit wusste, seit sie die beiden blauen Linien auf dem Teststreifen entdeckt hatte. „Ich will das Baby bekommen.“
„Und was ist mit Corran?“
Zu Lottys großer Freude hatte Philippe sich kurz nach ihrer Ankunft in Montluce mit Caro ausgesprochen und sie zurückgeholt. Lotty freute sich für das glückliche Paar, obwohl ihr der eigene Kummer dadurch noch deutlicher vor Augen trat. Mit Caro war eine freundliche Atmosphäre in den Palast eingezogen, Gelächter schallte durch die Korridore, und selbst die Königinwitwe lächelte gelegentlich.
Um ihrer Freundin die Gelegenheit zu geben, ihr Glück zu genießen, leistete Lotty ihrer Großmutter Gesellschaft und nahm ihre Pflichten wieder auf. Auf Dauer würde Caro diese übernehmen, fürs Erste war sie jedoch mit Hochzeitsvorbereitungen beschäftigt. Die Feier sollte Anfang Dezember stattfinden. Bis dahin besuchte Lotty wieder Schulen, Krankenhäuser und Fabriken, lächelte und schüttelte Hände.
Sie erfüllte ihre Pflichten automatisch, im Inneren empfand sie nichts als Leere. Corran fehlte ihr unendlich. Nachts lag sie wach und sehnte sich nach ihm. Immer wieder fragte sie sich, ob er es spürte, wenn sie in Gedanken bei ihm war. Hielt er dann inne und sah von seiner Arbeit auf?
Alle behandelten sie sehr rücksichtsvoll, wie jemanden, der ein Trauma durchlitten hatte. Niemand fragte sie nach ihren Erlebnissen oder weshalb sie verschwunden war.
Nur Caro hatte sie von ihrer Zeit in Loch Mhoraigh berichtet, sie war die Einzige, die von Corran wusste. Daher hatte Lotty sich an sie gewandt, als die Folgen jenes Nachmittags im Badezimmer des Cottages zutage traten.
In ihrem Elend hatte sie länger als nötig gebraucht, um die Veränderungen zu bemerken, die mit ihrem Körper vor sich gingen. Inzwischen legte sie sich immer wieder staunend die Hand auf den Bauch. Das Wissen um das neue Leben, das in ihr wuchs, verlieh ihr eine ungeahnte Kraft.
Dabei war eine Schwangerschaft nichts Außergewöhnliches. Ganz normale Frauen überall auf der Welt bekamen Kinder und empfanden vermutlich ähnlich verworren eine Mischung aus Freude, Angst und Ehrfurcht.
Caro wartete immer noch auf eine Antwort. „Corran wird Vater, Lotty. Du musst es ihm sagen!“
„Ich weiß, und das werde ich. Aber noch nicht jetzt.“
„Wieso?“
Lotty verschränkte die Arme vor der Brust und wandte sich vom Fenster ab. „Seine Exfrau hat ihn mit einer vorgetäuschten Schwangerschaft dazu gebracht, sie zu heiraten.“
„Du bist aber tatsächlich schwanger.“
„Woher soll er das wissen? Ich habe zweieinhalb Monate bei ihm gelebt und die ganze Zeit über vorgegeben, jemand anderer zu sein. Weshalb sollte er mir jetzt glauben?“
„Wenn er dich liebt, wird er es tun.“
„Er hat mir nie seine Liebe gestanden. Außerdem will er noch keine Kinder, sondern erst das Gut sanieren. Ich werde ihm keine Beziehung aufdrängen, die er nicht will. Wenn ich ihm jetzt von dem Baby erzähle, wird er zu seiner Verantwortung stehen und vorschlagen, dass wir heiraten, wie er es auch Ella gegenüber getan hat. Dann ist er wieder an die falsche Frau gebunden.“
„Du liebst ihn. Macht dich das nicht automatisch zur richtigen Frau?“
„Er braucht eine vernünftige, praktisch veranlagte Frau. Das verstehe ich vollkommen.“
„Aber du bist beides! Du hast gelernt zu putzen und anzustreichen. Viel mehr kann er nicht verlangen, oder?“
„Seine Frau darf sich nicht an der Einsamkeit stören, muss zupacken können, über Farmarbeit Bescheid wissen und Gemüse anpflanzen. Ich wusste nicht einmal, wie man Kartoffeln schält.“
„Aber du hast es gelernt – so wie ich gelernt habe, mich im Palast zu benehmen.“
Gegen ihren Willen musste Lotty schmunzeln. „Na, ja. Letzte Nacht beim Empfang in der Botschaft hast du mit Philippe herumgealbert. Das entspricht nicht gerade den Etiketteregeln!“
„Philippe hat angefangen.“ Caro lächelte, dann wurde sie wieder ernst. „Tatsache ist: Ich gehöre nicht hierher, aber ich lerne, mich anzupassen. Dasselbe schaffst auch du. Außerdem muss Corran erfahren, dass er Vater wird.“
„Schon, aber nicht jetzt. Ich will ihn nicht bedrängen.“ Als sie Caros skeptischen Blick auffing, fuhr sie fort: „Sobald das Kind geboren ist, teile ich es ihm mit. Zunächst muss ich noch Großmutter und den König informieren. Sie werden schrecklich enttäuscht sein. Perfekte Prinzessinnen werden nicht schwanger!“
„Oh, Lotty!“ Caro ergriff ihre Hand. „Was wirst du nur tun?“
„Mein Baby bekommen. Natürlich wird Großmutter entsetzt sein, dass ich eine ledige Mutter werde, vielleicht stören sich auch andere daran. Aber ich habe genug davon, ständig die Erwartungen anderer zu erfüllen.“
Sie dachte an Corran, und das Herz tat ihr weh. Dennoch würde sie an ihrem Plan festhalten. Es war besser, allein zu bleiben, als Corran in eine weitere verhängnisvolle Ehe zu drängen. In Mhoraigh hatte sie gelernt, dass sie alles erreichen konnte, was sie sich vornahm. Sie war stark wie ihre Vorfahren, wenn es darauf ankam – das zumindest hatte sie in den letzten Wochen über sich herausgefunden.
„Ich tue es für mich und mein Kind“, erklärte sie Caro. „Und zwar allein.“