Während Corran sie nach dem Frühstück durch das Haus zu ihrem Zimmer in der ersten Etage führte, sah Lotty sich entsetzt um. Seine Stiefmutter hatte ganze Arbeit geleistet und sämtliche Teppiche, Vorhänge und fast jedes Möbelstück mitgenommen. Helle Flecken an den Wänden verrieten, wo früher Bilder gehangen hatten.
Ihr Schlafzimmer war ebenso spärlich möbliert wie der Rest des Hauses. Lediglich ein Bett und ein Stuhl standen auf den blanken Dielen. Dafür war es geräumig und hell, und vom Fenster aus bot sich ein herrlicher Blick auf den Loch, wie sie begeistert feststellte.
Ihr Rucksack befand sich noch in dem Schuppen, in dem sie übernachtet hatte. Sie beschloss, ihn später zu holen, denn zunächst benötigte sie ihn nicht. Nachdem Corran sich zurückgezogen hatte, tauschte sie ihren Pulli gegen das alte Hemd aus, das er ihr gegeben hatte. Kragen und Manschetten waren abgestoßen, aber es sah sauber aus und duftete angenehm.
Wenig später verließen sie gemeinsam das Haus und gingen zu den Cottages, zurück an ihre jeweilige Arbeit. Die Handschuhe, die Lotty mit Hinblick auf ihre Wanderung erstanden hatte, leisteten ihr nun gute Dienste. Fest entschlossen, Corran von ihrer Nützlichkeit zu überzeugen, wollte sie den Schmutz und die Spinnennetze dennoch keinesfalls mit bloßen Händen berühren.
In den nächsten Stunden schleppte sie die ruinierten Möbel und den übrigen Müll, der sich in dem Cottage befand, ins Freie. Lediglich einige schwere Stücke ließ sie stehen, um sie später mit Corrans Hilfe zu beseitigen. Dann rückte sie mit einem Besen dem Staub und den Spinnweben an der Zimmerdecke zu Leibe. Die aufgescheuchten Spinnen, darunter etliche riesengroße Exemplare, liefen kreuz und quer über den Fußboden, und Lotty sprang erschrocken und angeekelt beiseite.
Nachdem sie die ungebetenen Gäste erfolgreich vertrieben hatte, begann die Arbeit ihr Spaß zu machen. Sie war schmutzig und verschwitzt, und der Staub reizte sie immer wieder zum Husten, doch sie musste niemanden umschmeicheln oder Hände schütteln. Ihre einzige Aufgabe bestand darin, für Sauberkeit zu sorgen. Auch die ungewohnte Einsamkeit tat ihr gut. Lediglich Pookie leistete ihr Gesellschaft, sprang munter um ihre Beine und schnüffelte neugierig an den Löchern in den Fußleisten.
Gegen Mittag kehrte Corran zurück. Er blieb an der Tür stehen und beobachtete Lotty unbemerkt. Sein altes Hemd hing lose an ihrem schlanken Körper und betonte die Zartheit ihrer Arme und den eleganten Schwung ihres Nackens. Dazu verlieh der Schal, den sie sich erneut um den Kopf gebunden hatte, ihrem Äußeren das gewisse Etwas.
Während sie das Zimmer eifrig, wenn auch ein wenig unbeholfen, ausfegte, sang sie gut gelaunt auf Französisch vor sich hin.
Wieso hat sie noch nicht aufgegeben? fragte er sich verwundert. Der Auftrag, den er ihr erteilt hatte, war kaum zu bewältigen. Und das hatte einen Grund: Es stimmte durchaus, dass er auf Unterstützung angewiesen war, aber er benötigte einen kräftigen, praktisch veranlagten Helfer. Lotty schien zwar über ein Rückgrat aus Stahl zu verfügen, wirkte aber dennoch viel zu zart und elegant für diese Arbeit. Und ihre funkelnden grauen Augen … Sie brachte ihn auf dumme Gedanken und lenkte ihn von wichtigen Aufgaben ab.
Erst beim Frühstück hatte sie ihn gegen seinen Willen zum Reden gebracht, und jetzt unterbrach er sogar seine Arbeit, nur um sicherzugehen, dass sie eine Pause einlegte. Dabei hatte er für so etwas eigentlich keine Zeit.
Er klopfte an, um sich bemerkbar zu machen. „Hier kommt das Mittagessen.“
Überrascht hielt Lotty mitten im Lied inne, und Pookie sprang schwanzwedelnd auf ihn zu.
„Still“, befahl er streng, und der Hund plumpste erschrocken aufs Hinterteil und ließ die Ohren hängen.
„Er freut sich, dich zu sehen“, erklärte Lotty. Sie stellte den Besen beiseite und kam ihm entgegen. „Genau wie ich, wenn du etwas zu Essen dabeihast.“ Sie lächelte, und ein Strahlen überzog ihr Gesicht.
Corran wusste nicht, wann ihm zum letzten Mal ein derart herzlicher Empfang bereitet worden war, und ihm wurde warm ums Herz.
„Glaub bloß nicht, dass das zur festen Einrichtung wird“, warnte er sie. „Ich habe gerade eine Arbeit abgeschlossen und wollte Mittagspause machen, ehe ich eine neue in Angriff nehme. Es gibt auch nur ein paar belegte Brote.“
„Ich wusste gar nicht, dass mir eine Pause zusteht, und auf den Gedanken, dass du das Essen herrichtest, wäre ich nie gekommen. Was für ein Service!“
„Sollen wir bei dem schönen Wetter am Seeufer essen?“
„Eine gute Idee“, stimmte sie begeistert zu und folgte ihm ins Freie. Vor der Haustür atmete sie tief durch. Nach dem Vormittag in der staubigen Hütte tat ihr die frische Luft gut. Sie stemmte die Hände ins Kreuz und dehnte aufstöhnend den schmerzenden Rücken.
„Hast du die Nase schon voll?“, erkundigte Corran sich sofort.
„Wie kommst du darauf? Du hast die Pause vorgeschlagen, nicht ich.“ Wie dankbar sie ihm dafür war, verschwieg sie ihm vorsichtshalber.
Am See angekommen, wusch sie sich die Hände in dem kühlen, klaren Wasser, dann setzte sie sich auf einen Felsen am Ufer, direkt neben Corran, der die Brote auspackte.
„Es gibt nichts Besonderes“, warnte er und reichte ihr ein Sandwich.
Sie nahm es. Zu ihrem großen Erstaunen war sie trotz des ausgiebigen Frühstücks bereits wieder hungrig. „Sieht doch gut aus.“
Die einfachen Käsebrote schmeckten ihr besser als die köstlichsten Delikatessen aus der Palastküche. Genüsslich sog sie die frische, noch angenehm kühle Luft ein, die ein wenig nach Moor roch, und hob ihr Gesicht der Sonne entgegen. „Herrlich!“, murmelte sie mit vollem Mund – ein für eine Prinzessin ungeheuerliches Benehmen. Wenn sie nach Hause zurückkehrte, musste sie sich wieder ihrer Manieren besinnen, doch hier konnte sie tun und lassen, was ihr gefiel.
Corran hatte Plastiktassen und eine Thermoskanne voll Kaffee mitgebracht. Er schenkte das heiße Getränk ein, dann zupfte er Lotty eine Spinnwebe von der Schulter. „Du bist schmutzig.“
„Kein Wunder, schließlich plage ich mich mit dem Schmutz von Jahrzehnten herum“, erwiderte sie ein wenig außer Atem. Die beiläufige Berührung hatte sie seltsamerweise aus der Fassung gebracht. Dabei fand sie nicht einmal, dass Corran besonders gut aussah. Er wirkte hart und unnachgiebig wie der Fels, auf dem sie saßen. Dennoch hatte der kurze Kontakt bewirkt, dass ihr das Blut heiß durch die Adern schoss.
„Leider weiß ich nicht mehr, wie du deinen Kaffee trinkst. Ich habe einfach etwas Milch hinzugefügt.“
Skeptisch betrachtete Lotty die Flüssigkeit in ihrer Tasse. „Glaub nicht, dass ich undankbar sein will, aber Kaffee sieht anders aus.“
„Dass du dich als verwöhnte Prinzessin entpuppen wirst, habe ich schon geahnt.“ Unvermittelt kniff er die Augen zusammen und dachte scharf nach. „Das Lied eben … du hast auf Französisch gesungen. Ich wäre nie auf die Idee gekommen, dass du Französin bist, weil du akzentfrei Englisch sprichst, aber es stimmt, oder?“
Das Einfachste wäre gewesen, ihm recht zu geben, doch das ließ ihr angeborener Nationalstolz nicht zu. „Ich komme aus Montluce. Dort spricht man zwar französisch, aber das Land ist eine unabhängige Monarchie“, stellte sie energisch klar.
„Und ihr seid ein wenig empfindlich?“
„Wir haben lediglich eine hohe Meinung von uns.“
Er schmunzelte. „Ich verstehe. Ist Englisch eure zweite Landessprache? Ohne das Lied wäre ich nie auf die Idee gekommen, dass es nicht deine Muttersprache ist.“
„Ich habe nach dem Tod meiner Mutter ein Internat in England besucht.“
„Das muss schwer gewesen sein: Erst die Mutter zu verlieren und dann in die Fremde geschickt zu werden.“
„Es war nicht die beste Zeit meines Lebens, aber ich bin zurechtgekommen.“ Sie hatte ihren Vater angefleht, bei ihm bleiben zu dürfen, doch ihre Großmutter hatte davon nichts wissen wollen: Lotty müsse Englisch lernen, und eine Ortsveränderung würde ihr guttun. Sicher war es tragisch, dass sie die Mutter verloren hatte, aber sie musste lernen zu ertragen, was das Schicksal ihr auferlegte. Prinzessinnen weinten und klagten nicht.
Also war sie nach England gereist, doch sie hatte die Schule gehasst.
„Anfangs war es einfach nur grässlich“, erzählte sie und trank nachdenklich einen Schluck Kaffee. „Ich weiß nicht, was ich ohne Caro gemacht hätte. Wir waren beide pummelig, unansehnlich und schrecklich schüchtern, obendrein habe ich gestottert. Wenn ich nervös bin, hört man es heute noch.“
„Das ist mir bereits aufgefallen“, erwiderte er ungerührt und war damit der Erste, der es ihr gegenüber eingestand. „In der Zwischenzeit hast du dich allerdings grundlegend verändert.“
„Ja, ich habe den Babyspeck abgelegt und bin erwachsen geworden.“
„Mehr als das: Du bist wunderschön, wie du gewiss selbst weißt“, stellte er in einem sachlichen Ton fest.
Die schöne Prinzessin Charlotte – das hatte sie schon oft gehört, viel zu oft. Die Leute stellten sie auf ein Podest, starrten sie an und bewunderten sie, doch niemand wagte es, ihr nahe zu kommen.
„Ich wäre viel lieber einfach nur hübsch.“
„Wieso das? Ist schön nicht besser als hübsch?“
„Eine hübsche Frau schüchtert andere nicht ein.“ Gedankenverloren scharrte sie mit dem Fuß im Kies. „Außerdem ist eine Schönheit nicht automatisch auch begehrenswert.“
„Da hast du recht“, stimmte Corran ihr nach kurzem Nachdenken zu.
Dass er sie dennoch begehrte oder dass sie sich irrte und er schöne Frauen im Gegenteil sehr anziehend fand, fügte er zu Lottys Enttäuschung jedoch nicht hinzu. Was erwartest du eigentlich von ihm? schalt sie sich gleich darauf für ihre Dummheit.
Viele Menschen lobten ihre Schönheit, dennoch war sie einsam. Tausende verehrten die Prinzessin, doch mochten sie auch die Frau?
Lotty wollte nicht wegen ihres Titels oder Reichtums gefallen, sondern um ihrer selbst willen. Sie sehnte sich danach, um ihrer selbst willen geliebt zu werden.
Trotz all ihrer Vorzüge war sie noch kein einziges Mal geküsst worden. Die Männer, die sie kennenlernte, ließen sich von der steifen Etikette am Hof von Montluce einschüchtern. Vermutlich war sie auf der ganzen Welt die einzige Jungfrau im Alter von achtundzwanzig Jahren!
Niedergeschlagen aß sie ihr Sandwich auf, dann wischte sie sich die Krümel von den Händen. Corran trank seinen Kaffee, den Blick auf die Berge am gegenüberliegenden Ufer des Lochs gerichtet. Die Hände, mit denen er die Tasse hielt, waren groß und kräftig, zupackend und von Kratzern und Narben übersät – die Hände eines Farmers. Er strahlte Zielstrebigkeit aus und hatte ein unglaubliches Charisma, wirkte sicher und mit sich selbst im Reinen. Diesen Mann konnte nichts so leicht erschüttern, er nahm sich, was er wollte.
Wenn er mich begehren würde, wäre es ihm egal, dass ich eine Prinzessin bin, dachte sie, er würde mich kurzerhand von meinem Podest herabholen.
Statt wie sie zu klagen, mit welchen Schwierigkeiten es verbunden war, einen geeigneten Mann für eine erste gemeinsame Nacht zu finden, und sich von der eigenen Unsicherheit und Unerfahrenheit ausbremsen zu lassen, würde er beherzt zur Tat schreiten und sich die passende Partnerin suchen.
Sie schluckte. Es hatte sie bereits all ihren Mut gekostet, für eine Weile von ihrem Podest hinabzuklettern. Jetzt fehlte ihr der Schneid, um den nächsten Schritt zu tun.
Aufseufzend schüttete sie den letzten Tropfen Kaffee aus ihrem Becher auf den Kies. „Ich gehe wieder an die Arbeit.“
Im Nachhinein vermochte Lotty nicht mehr zu sagen, wie sie ihren ersten Arbeitstag überstanden hatte. Um Corran zu beweisen, wie falsch er sie beurteilte, hatte sie bis an den Rand der körperlichen Erschöpfung geschuftet. Bereits am Nachmittag hatte sie so viel geschafft, dass sie damit beginnen konnte, die verblassten Tapeten von den Wänden zu reißen. Ihre Arme schmerzten, und die Augen brannten von der Anstrengung und dem Staub, doch nicht umsonst hatte ihre Großmutter ihr beigebracht, zu tun, was zu tun war, ohne zu klagen.
Abends tauchte Corran wieder bei ihr im Cottage auf. „Was tust du noch hier?“ Eine halbe Stunde zuvor war er ins Gutshaus zurückgekehrt, in der Erwartung, sie dort anzutreffen. Dass er noch einmal losgehen musste, um sie zu holen, hatte seine Laune nicht gerade verbesserte.
Missmutig beobachtete er Lotty, die leicht schwankend auf einer Trittleiter stand und Tapetenreste von der Zimmerdecke kratzte. Papierfetzen klebten an ihrem Schal, und ihr Gesicht war blass vor Erschöpfung – soweit er das durch den Schmutzfilm hindurch beurteilen konnte. „Komm, um Himmels willen, von der Leiter, ehe du fällst.“
„Du hast mir aufgetragen, alles für den Anstrich vorzubereiten.“
„Aber ich habe dir nicht befohlen, die Nacht hier zu verbringen.“
„Falls nötig, mache ich auch das.“ Sie sah ihn trotzig an. „Es bleibt noch lange hell, ich möchte das Tageslicht nutzen.“
„Mach dich nicht lächerlich. Du fällst vor Müdigkeit gleich um.“
„Mir geht’s gut.“
„Und was ist mit dem Hund?“, änderte er seine Taktik. Pookie war von oben bis unten dreckig, das Fell grau vor Staub und übersät mit Papierstückchen und anderem Unrat. „Er braucht Futter.“
Schuldbewusst zuckte Lotty zusammen. „Daran habe ich gar nicht gedacht. Tut mir leid, Pookie.“ Sie wandte sich an Corran. „Könntest du ihn mit ins Haus nehmen und versorgen, während ich hier fertigmache?“
„Bestimmt nicht. Sei nicht so stur. Es ist höchste Zeit aufzuhören und nach Hause zu kommen, ehe du zusammenbrichst.“
„Aber ich bin noch nicht so weit.“
Entnervt von so viel Starrsinn fuhr Corran sie an: „Wenn du nicht augenblicklich tust, was ich dir sage, bist du gefeuert. Komm sofort von der Leiter, oder ich hole dich persönlich runter.“
Seine Miene ließ keinen Zweifel offen, dass er es ernst meinte, also gehorchte sie widerspruchslos. Insgeheim genoss sie seinen rauen Tonfall und dass er sie nicht wie eine Prinzessin behandelte.
Außerdem kam ihr die Zwangspause gelegen. Nach dem langen Fußmarsch am Vortag, einer schlaflosen Nacht und harter körperlicher Arbeit war sie so müde und ausgepumpt, dass sie auf dem Rückweg zum Gutshaus kaum die Kraft aufbrachte, nach den lästigen Mücken zu schlagen. Als sie zum wiederholten Mal stolperte, griff Corran nach ihrem Arm und stützte sie.
„Du bist die dickköpfigste Frau, die mir je begegnet ist. Wieso gibst du nicht einfach zu, dass dir die Arbeit zu viel wird?“
„Weil es nicht stimmt. Mir geht es gut, wirklich!“
„Du kannst nicht einmal mehr geradeaus gehen. Das passt mir nicht. Ich habe keine Zeit, mir Sorgen um dich zu machen. Wenn ich ständig befürchten muss, dass du dich überanstrengst, weil Vernunft ein Fremdwort für dich ist, kann ich mich nicht auf meine eigene Arbeit konzentrieren.“
Lotty war zu erschöpft, um ihm auch nur zuzuhören. Als sie endlich das Haus erreichten, durch die Hintertür eintraten und Corran ihren Arm losließ, lehnte sie sich gegen die Wand, sonst wäre sie zu Boden gesunken.
Er sah von ihr zu Pookie, der lautstark seinen Hunger kundtat, unschlüssig, um wen er sich zuerst kümmern sollte. „Still“, befahl er dem Hund und wandte sich dann an Lotty. „Geh hoch und nimm ein Bad. Das Essen ist in einer halbe Stunde fertig. Und schlaf nicht in der Wanne ein!“, rief er ihr hinterher, als sie auf ihrem Weg durchs Treppenhaus gegen die Wand torkelte.
Das Badezimmer, ein trostloser, zugiger Raum mit einer gusseisernen Badewanne auf altmodischen Klauenfüßen und Rostflecken unter dem Wasserhahn, erschien ihr einladender als alle luxuriösen Bäder, die sie jemals benutzt hatte. Sie ließ die Wanne voll laufen und stieg wohlig aufstöhnend in das heiße Wasser, holte tief Luft, schloss die Augen und tauchte unter. Einen Moment später durchbrach sie die Wasseroberfläche wieder, prustend und glücklich. Ihr Tag war lang und anstrengend gewesen, aber sie hatte durchgehalten. Fürs Erste hatte sie einen Job und eine Unterkunft – und außerdem würde sie gleich wieder sauber sein.
Das Leben war herrlich!
Sie schloss die Augen, lehnte den Kopf an den Rand der Wanne und ließ ihre Gedanken schweifen. Prompt stand ihr Corrans Bild vor Augen, als er gekommen war, sie abzuholen: mit vom Duschen noch feuchtem Haar, in einer engen Jeans, die seine langen Beine und schmalen Hüften betonte, und einem schlichten dunklen T-Shirt, unter dem sich seine Muskeln deutlich abzeichneten.
Er hat wirklich einen tollen Körper, dachte sie. Auch wie er sich bewegte und sich offensichtlich in seiner Haut wohlfühlte, gefiel ihr. Sie bewunderte seine handwerklichen Fähigkeiten und die Selbstsicherheit, die er ausstrahlte. Er war Herr der Lage in jeder Situation. Dass er so gut wie nie lächelte, störte sie nicht weiter. Es hatte sie auch nicht davon abgehalten, sich in der Mittagspause zu fragen, wie es wäre, mit ihm zu schlafen.
Wenn ich nur etwas mutiger wäre, dachte sie seufzend. Sie galt als intelligent, tüchtig und schön, eigentlich brauchte sie keine Skrupel zu haben, ihn zu verführen.
Allerdings war sie jahrelang von ihrer Großmutter auf tadelloses Benehmen gedrillt worden.
Solange ich hier bin, muss ich nicht die perfekte Prinzessin geben, fiel ihr ein. Drei Monate lang durfte sie schlicht und normal leben wie eine einfache Bürgerin – obwohl es gewiss nicht normal war, mit achtundzwanzig Jahren noch Jungfrau zu sein. Den Mut, etwas an diesem Zustand zu verändern, würde sie vermutlich nie aufbringen, aber träumen durfte sie, und das nutzte sie gründlich aus.
Sie stellte sich vor, wie sie aus der Wanne stieg und zu Corran in die Küche ging. Die Atmosphäre dort war zwar nicht gerade romantisch, doch ihr gefiel der Gegensatz zwischen der häuslichen Umgebung und seiner maskulinen Ausstrahlung. Also träumte sie …
Er stand also in der Küche und kochte oder, besser noch, schnitt Gemüse. Nicht Zwiebeln oder Knoblauch, sondern etwas, das weniger streng roch – Tomaten beispielsweise. Auf seine Aufgabe konzentriert, hielt er den Kopf gesenkt, hob ihn jedoch bei ihrem Eintreten.
Und er lächelte.
Das Lächeln breitete sich langsam über sein Gesicht aus. Die Vorstellung, wie seine strenge Miene sich dadurch veränderte, weicher und einladender wirkte, jagte ihr Schauer über den Rücken.
Komm her, forderte er sie mit leiser, drängender Stimme auf, sodass es ihr unmöglich war, ihm zu widerstehen. Also ging sie zu ihm, ohne den Blick von ihm abzuwenden, und …
Moment – was habe ich an? überlegte Lotty. Ihr Tagtraum sollte vollkommen sein. Wenn sie sich zum ersten Mal einem Mann hingab, dann nicht in ihrer Arbeitskleidung oder der Jeans und dem Pulli vom Vortag.
Nur in ein Badetuch gehüllt in die Küche zu gehen, erschien ihr zu gewagt. In ihrer Fantasie brauchte sie sich jedoch nicht auf den Inhalt ihres Rucksacks zu beschränken, und so entschied sie sich für einen Seidenkimono, der sich in dem Koffer befand, den sie in dem Schließfach auf dem Bahnhof in Glasgow deponiert hatte.
Im Geist schlüpfte sie hinein und spürte den glatten Stoff geradezu über ihre bloße Haut gleiten. Ja, das war perfekt.
Wieder sagte Corran: „Komm her“, und sie ging auf ihn zu und blieb vor ihm stehen. Er streckte die Hände aus und öffnete den Gürtel, der den Kimono zusammenhielt.
Wie würde er auf ihren nackten Körper reagieren? Sicher würde er nicht beginnen, schwer zu atmen, das passte nicht zu ihm. Vielleicht würde er träge lächeln, ihr die Hände um die Taille legen und sie an sich ziehen? Dann würde er den Kopf neigen und …
„Lotty!“ Die Badezimmertür flog auf, und Corran stürmte herein.
Vor Schreck stieß sie einen spitzen Schrei aus und sprang hastig auf die Beine. Im selben Moment wurde sie sich ihrer Nacktheit bewusst, und sie schlug die Hände vor die Brust.
„Was machst du hier?“, fuhr sie ihn an.
„Ich dachte, du wärst ertrunken.“ Er hatte an die Tür geklopft und mehrfach ihren Namen gerufen, ohne eine Antwort zu erhalten. Da er wusste, dass sie zutiefst erschöpft war – und daran war er schuld –, hatte er befürchtet, dass sie eingeschlafen war und ihr Kopf allmählich unter Wasser sank. Von Panik erfüllt, war er ins Bad gestürmt, in der Überzeugung, sie leblos vorzufinden.
Zum Glück hatte er sich geirrt. Sie stand lebendig vor ihm und sah ihn aus großen Augen ängstlich an. Es fiel Corran schwer, den Blick von ihrem makellosen, verführerischen Körper abzuwenden.
„Ich habe angeklopft“, rechtfertigte er sich, statt auf dem Absatz kehrt zu machen, denn er war nicht in der Lage, sich zu bewegen, ob vor Erleichterung oder Wut, wusste er nicht.
Schließlich entschied er, dass er zornig war. Diese Gefühlsregung war ihm bestens vertraut. „Warum, zum Teufel, hast du nicht geantwortet?“
„Ich habe nichts gehört, weil ich get… träumt, habe.“
Das zarte Stottern brachte ihn umgehend wieder zur Besinnung. Er hatte ihr einen gehörigen Schrecken eingejagt. Beschämt wandte er ihr den Rücken zu und verließ den Raum.
„Jetzt weiß ich ja, dass du lebst. Das Essen ist fertig.“
„Ich … komme gleich runter.“
Während Corran in die Küche zurückkehrte und die Nudeln abschüttete, überlegte er, wie lange es dauern würde, bis er das hinreißende Bild vergaß, das sich ihm im Bad geboten hatte: die zarte Haut, der anmutige Schwung ihres Halses, das nasse Haar und die großen grauen Augen. Ich habe zu lange allein gelebt, dachte er. Eine Komplikation, wie Lotty sie für ihn darstellte, konnte er gerade jetzt nicht gebrauchen.
Wenige Minuten später gesellte sie sich zu ihm. Sie trug die Jeans und den Pulli vom Morgen. Der rosafarbene Stoff schmiegte sich eng an ihre Arme und ließ ihn sogleich wieder an ihre glatte, nackte Haut denken. Der dezente Ausschnitt betonte ihren schlanken Hals.
Mit großer Mühe wandte er seine Aufmerksamkeit wieder dem Kochen zu. „Was eben passiert ist, tut mir leid.“
„Es war meine Schuld, ich habe dich nicht gehört. Wenn du nicht nach mir gesehen hättest, wäre ich vielleicht tatsächlich eingeschlafen. Also, vielen Dank.“
Für einen Moment herrschte Stille.
„Das muss ja ein toller Traum gewesen sein. Ich habe einen Höllenlärm veranstaltet.“
Lotty errötete heftig. Rasch zog sie einen Stuhl heran und setzte sich an den gedeckten Küchentisch. „Hier riecht es lecker“, wechselte sie das Thema, und seine Neugierde erwachte.
Wovon träumte eine Frau wie sie? Oder von wem? Beides ging ihn nichts an und sollte ihm gleichgültig sein. Er gab die Pasta in die Soße, die auf dem Herd vor sich hin köchelte, rührte um und stellte den Topf auf einen Untersetzer auf dem Tisch.
„Es gibt Spaghetti Bolognese, eines der wenigen Gerichte, die ich kochen kann. Gastronomische Highlights darfst du bei mir nicht erwarten.“
„Macht nichts“, antwortete Lotty, von ihrem Erlebnis im Bad noch immer schwer erschüttert. Im einen Moment hatte sie von ihm geträumt, im nächsten hatte er vor ihr gestanden – wutentbrannt. In diesem Moment war ihr schlagartig klar geworden: Dieser Mann war nicht der leidenschaftliche Liebhaber ihrer Träume. Er hatte ganz andere Sorgen als ihre armseligen kleinen Fantasien.
Dennoch war er so aufmerksam gewesen, ihren Rucksack aus dem Schuppen zu holen und auf ihr Zimmer zu bringen. Vollständig bekleidet, wenn auch in denselben Sachen, die sie seit Beginn ihrer Wanderung jeden Tag anzog, fühlte Lotty sich gleich besser. In seiner Nähe jedoch fiel ihr das Atmen schwer – ein Effekt, den sonst nur ihre zierliche, despotische Großmutter hervorrief.
„Bedien dich“, forderte er sie auf und schob ihr den Topf hin. „Es füllt zumindest den Magen.“
Dankbar häufte Lotty sich eine Portion auf ihren Teller und begann zu essen. Nur das Klappern von Löffeln und Gabeln durchbrach die Stille.
Eine Prinzessin nimmt ihrem Gesprächspartner die Befangenheit, ging ihr eine Anweisung ihrer Großmutter durch den Kopf. Sie räusperte sich und versuchte, eine Unterhaltung in Gang zu bringen. „Kochst du immer für dich?“
„Mir bleibt nichts anderes übrig. Obwohl ich mir nicht viel aus Essen mache, bin ich meine drei Standardgerichte allmählich leid. Du kochst nicht zufällig?“
Vor ihrer Ankunft in Loch Mhoraigh hatte Lotty kaum je eine Küche von innen gesehen, und es erschien ihr sinnlos zu lügen. „Leider nicht.“
„Das ist schade. Ich wollte dir eben vorschlagen, dir etwas hinzuzuverdienen.“
„Du zahlst mir keinen Lohn, wie kann ich da etwas dazuverdienen?“
„Okay: Vielleicht möchtest du ein wenig Geld verdienen – zusätzlich zu Kost und Logis? Du könntest meine Haushälterin sein. Viel zahlen kann ich nicht, aber ich wäre froh, eine Zeit lang nicht selbst kochen zu müssen.“
„Wenn du dir eine Haushälterin leisten kannst, wieso bekomme ich dann kein Geld für das Reinigen der Cottages?“
„Das war deine Idee, du wolltest es machen! Mir geht es darum, etwas nicht selbst erledigen zu müssen. Das ist ein großer Unterschied.“
Nachdenklich kaute Lotty. Er hatte recht – seine Kochkünste ließen zu wünschen übrig. Wesentlich schlechter konnte sie vermutlich auch nicht kochen, und die Vorstellung, eigenes Geld zu verdienen, reizte sie ungemein – trotz des Reichtums, der ihr in Montluce zur Verfügung stand.
Auf einem Bord über dem Herd entdeckte sie einige Kochbücher. „Erfahrung habe ich nicht, aber ich kann lesen. Ich könnte es versuchen.“
„Prima! Dann betrachte dich als eingestellt.“
Überrascht sah Lotty ihn an. „Das ist alles?“
„Hast du ein Vorstellungsgespräch erwartet? Mir ist egal, was es gibt, solange es essbar ist und ich es nicht selbst zubereiten muss.“
Für Verhandlungen war es zwar zu spät, dennoch unternahm Lotty einen Versuch: „Während ich hier koche und putze, kann ich nicht im Cottage arbeiten, deswegen brauche ich dort mehr Zeit.“
„Du bekommst einen Tag zusätzlich – mehr nicht.“
Sie akzeptierte ohne zu zögern.