Beim Gedanken an ihre Großmutter fiel Lotty auch ihre Freundin Caro ein, und sie fragte sich, wie es ihr in Montluce erging. Als sie ihre Einkäufe bezahlte, erkundigte sie sich bei der Verkäuferin nach einem Internet-Café, das sie gleich darauf aufsuchte. Dort bestellte sie eine Tasse Kaffee und setzte sich an einen der Computer.
In ihrem E-Mail-Postfach befand sich bereits eine Nachricht von Caro, die auf amüsante Weise ihre erste Begegnung mit der Königinwitwe und das Leben im Palast aus ihrer Sicht schilderte. Sie schien guter Dinge zu sein und sich obendrein gut mit Philippe zu verstehen.
Um das Vorhaben ihrer Großmutter zu durchkreuzen, sie mit Philippe zu verkuppeln, hatte Lotty gemeinsam mit ihm einen raffinierten Plan ausgeheckt: Lotty sollte für einige Zeit aus Montluce verschwinden, während Philippe gleichzeitig eine Affäre mit Caro vortäuschte. Lotty blieb nur zu hoffen, dass ihre Großmutter sich ihrer Freundin gegenüber nicht allzu feindselig verhielt. Allzu schlimm konnte es jedoch nicht sein, stellte sie jetzt zu ihrer Erleichterung fest, denn Caro brachte offenbar sogar Verständnis für die alte Dame auf:
„Irgendwie hat sie mir leidgetan. Meiner Meinung nach verbirgt sie hinter ihren Gardinenpredigten über Verantwortung und prinzessinnenhaftes Benehmen nur ihre Sorge um dich“, hatte sie geschrieben.
Caro hat recht, dachte Lotty. Die Königinwitwe, eine zierliche Frau mit einem Rückgrat aus Stahl und einer scharfen Zunge, wurde in Montluce gleichermaßen respektiert, gefürchtet und verehrt. Sie liebte ihre Enkelin zutiefst und hatte ihr gleichzeitig mit liebevoller Strenge Verantwortungsbewusstsein und Pflichtgefühl beigebracht. Während andere Mitglieder der königlichen Familie vor den Anforderungen des Königshauses geflohen waren, hatte Lotty nie dagegen aufbegehrt.
Bis jetzt.
Um ihrer Großmutter die Sorge um ihre Sicherheit zu nehmen, formulierte sie eine beruhigende E-Mail an deren Privatsekretärin. Dann berichtete sie Caro – die sich königlich darüber amüsieren würde –, womit sie sich beschäftigte: Kartoffeln schälen, Tee kochen … einfachen Tätigkeiten, die ihr große Befriedigung bereiteten. Sie war noch lange nicht bereit, zu ihren eigentlichen Pflichten zurückzukehren.
Auf der Rückfahrt nach Loch Mhoraigh House empfand sie prompt Gewissensbisse wegen des freien Tags, den sie sich geleistet hatte. Den Einkaufswagen durch den Supermarkt zu schieben und sich wie alle anderen in die Schlange vor der Käsetheke einzureihen, hatte ihr riesiges Vergnügen bereitet.
Ehe sie das Gut erreichte, machte sie kurz im Dorfladen Station, um dort Dinge des täglichen Bedarfs einzukaufen. Damit wollte sie das kleine Geschäft unterstützen und gleichzeitig die Beziehung zwischen den Dorfbewohnern und Corran verbessern – was er allerdings mit einem Achselzucken abtat.
Der winzige Tante-Emma-Laden wurde von einer fülligen Frau mit dauergewelltem Haar und einer riesigen Brille geführt, die Lotty neugierig entgegensah.
„Sie arbeiten im Gutshaus, oder?“, fragte sie die überraschte Lotty, die ländlichen Klatsch und Tratsch nicht gewohnt war.
„Woher wissen Sie das?“
„Sie fahren Corran McKennas Geländewagen, obendrein erzählt man im Hotel, Sie hätten bei ihm angefangen. Allerdings hat niemand erwartet, dass Sie es so lange bei ihm aushalten.“
„Mir gefällt es. Ich habe vor, einige Monate zu bleiben. Corran leistet hervorragende Arbeit.“
„Ja, das glaube ich. Schon als kleiner Junge liebte er das Land.“
„Sie kennen ihn?“
„Ich habe früher als Köchin im Herrenhaus gearbeitet.“
„Dann sind Sie Mrs McPherson? Corran schwärmt noch heute von Ihren Scones.“
Die Ladenbesitzerin errötete geschmeichelt. „Ich habe sie immer extra für ihn gebacken“, gestand sie. „Mir tat der kleine Kerl leid. Es ist eine Schande, wie er behandelt wurde. Er musste sich praktisch selbst erziehen. Sein Vater hatte nie Zeit für ihn, und seiner Mutter war egal, was die Leute von ihr hielten. Sie war Engländerin!“ Als ihr aufging, dass sie mit dieser Bemerkung vielleicht auch Lotty beleidigt hatte, hielt sie erschrocken inne. „Natürlich gleichen Sie ihr in keiner Weise.“
Lotty schmunzelte. „Ich stamme nicht aus England.“
„Nein? Sie sprechen aber so.“
„Ich habe jahrelang ein Internat in England besucht, komme aber aus Montluce.“
Wie sich herausstellte, wusste Betty McPherson als begeisterte Leserin der Klatschmagazine, die sie auch in ihrem Laden vertrieb, ausgezeichnet über Montluce Bescheid, und Lotty wünschte im Nachhinein, sie hätte über ihre Herkunft geschwiegen. Sie fürchtete, ihre Identität könnte aufgedeckt werden. Doch der älteren Dame fiel keinerlei Ähnlichkeit zwischen der eleganten Prinzessin Charlotte und der lässig gekleideten jungen Frau auf. Offenbar hatte es sich gelohnt, das Haar zu schneiden und rot zu färben.
Bei der ersten Gelegenheit wechselte Lotty das Thema und bat Mrs McPherson um das Rezept für ihre Scones. Ihr erster Backversuch war gründlich fehlgeschlagen. Das Ablenkungsmanöver erwies sich als erfolgreich, und es dauerte eine ganze Weile, ehe Lotty den Laden verlassen konnte, versehen mit ausführlichen Anweisungen.
„Vergessen Sie bloß nicht, das Backblech mit Mehl zu bestäuben“, gab Mrs McPherson ihr zum Abschied mit auf den Weg. Was das bedeutete, wusste Lotty zwar nicht, dennoch lächelte sie höflich und winkte im Fortgehen.
In Loch Mhoraigh House angekommen, verstaute sie ihre Einkäufe und machte sich dann sofort ans Werk. Doch das Ergebnis war eher noch entmutigender als beim ersten Mal.
„Ist doch nicht so wichtig“, versuchte Corran vergeblich, sie zu trösten. Aber Lotty weigerte sich aufzugeben. Scones zu backen war schließlich keine Hexerei! Was Mrs McPherson ihr erklärt hatte, klang kinderleicht. Auch die Anweisungen im Kochbuch erschienen ihr unkompliziert. Wieso nur wollten ihr die Scones nicht gelingen? Je länger sie darüber nachgrübelte, desto deprimierter wurde sie.
Wozu bin ich eigentlich gut? dachte sie betrübt. Sie hätte bei ihrer Rückkehr nach Montluce gern mehr vorzuweisen gehabt als ein paar abgebrochene Fingernägel. Gut, sie hatte gelernt Kartoffeln zu schälen und Wände zu streichen – nichts davon war jedoch eine echte Herausforderung. Bin ich wirklich nur eine verwöhnte Prinzessin, fragte sie sich entmutigt, ein Kleiderständer auf Beinen, mehr nicht?
Das Vorbild ihrer Großmutter vor Augen, die sich nie geschlagen gab, startete sie unermüdlich neue Backversuche, mit immer demselben enttäuschenden Ergebnis.
„Wieso lässt du es nicht einfach bleiben?“, fragte Corran verständnislos, als sie ein weiteres Blech missratener Teigfladen aus dem Ofen zog.
„Ich möchte endlich einmal etwas gut machen!“
„Aber das tust du doch bereits.“
„Zum Beispiel?“
Er zögerte.
„Na also! Dir fällt nichts ein. Ich bin absolut nutzlos!“
„Das bist du nicht, sei nicht albern!“ Er warf ihr einen finsteren Blick zu. Zu gern hätte er ihr erklärt, wie sich sein Leben durch ihre bloße Anwesenheit verändert hatte, wie er sich am Ende eines harten Arbeitstags darauf freute, in die Küche zu kommen, wo sie skeptisch in irgendeiner undefinierbaren Soße rührte. Ihr Lächeln erhellte seinen Tag. Doch er wagte es nicht, aus Sorge, sie könnte daraus schließen, dass sie ihm etwas bedeutete – was nicht zutraf. Nicht sehr zumindest.
Es wäre Wahnsinn, sich mit einer Frau wie ihr einzulassen, sagte er sich jeden Tag aufs Neue, wenn sie ihm wieder einmal nachts im Traum erschienen war, nackt in der Badewanne stehend.
Dabei arbeitete sie mit einer Entschlossenheit, die deutlich stärkere Männer beschämen könnte. Gleichzeitig war sie eine umwerfende Schönheit. Selbst müde und schmutzig umgab sie ein Hauch von Glamour. Gerade das jedoch erweckte sein Misstrauen. Für so etwas war in Loch Mhoraigh kein Platz.
Bestes Beispiel dafür, wie fatal es enden konnte, wenn man jemanden aus seiner natürlichen Umgebung herausriss, waren seine Mutter und seine Exfrau. Diesen Fehler würde er kein weiteres Mal begehen. Sollte er sich jemals wieder binden, dann an eine Frau, die hierher passte, die zupacken konnte und sich nicht in erster Linie zu Dekorationszwecken eignete.
Leider hatte er sich bereits stärker an sie gewöhnt, als gut für ihn war. „Du bettelst doch nur um Aufmerksamkeit“, warf er ihr vor.
„Dir fällt also wirklich nichts ein!“
„Na ja, du kommst gut mit Pookie zurecht“, zog er sich aus der Affäre, und das war noch nicht einmal gelogen. Seit sie sich mit dem Hund abgab, fiel er ihm wesentlich weniger lästig. Manchmal fand er ihn sogar richtig niedlich und ertappte sich dabei, wie er ihm den Bauch kraulte, wenn Pookie neben ihm auf der Couch lag.
Seine Antwort schien sie jedoch nicht zu überzeugen, daher ergänzte er: „Mit einem Besen gehst du ebenfalls hervorragend um.“ Ihrer Miene nach zu schließen hielt sie auch von diesem Kompliment nicht viel. „Die Würstchen gestern waren lecker.“
„Sie waren angebrannt!“
„Kohle soll ja gesund sein.“
Um ihre Mundwinkel herum zuckte es verdächtig. „Du versuchst nur, nett zu sein.“
„Ich würde alles tun, damit das Essen bald auf dem Tisch steht. Was für ein gastronomisches Highlight erwartet uns heute?“
„Hackbraten – etwas anderes haben wir nicht im Haus“, fügte sie hinzu, als sie seine enttäuschte Miene bemerkte. Gehacktes hatte es in letzter Zeit allzu häufig gegeben. Es war das einzige Gericht, das sie halbwegs vernünftig zubereiten konnte, doch mittlerweile war selbst Corran es leid.
„Lass uns morgen die Vorräte aufstocken, auf dem Rückweg von Glasgow“, schlug er vor. „Wir kaufen ein paar Möbel für die Hütten und holen auch gleich deinen Koffer ab. Wenn wir schon einen Arbeitstag opfern, erledigen wir am besten so viel wie möglich.“
„Was soll das heißen: Du hast den Code nicht?“ Corran betrachtete Lotty kopfschüttelnd. Sie standen vor den Gepäckschließfächern am Bahnhof von Glasgow, die mit digitalen Zahlencodes verschlossen waren.
„Ich habe den Zettel mit der Nummer in mein Portemonnaie gesteckt.“
„Das du im Pub vergessen hast?“
Sie nickte schuldbewusst. „Es ist mir gerade erst wieder eingefallen. Was für ein Pech, jetzt sind wir umsonst hierhergekommen.“
„Sicher verlieren auch andere Unglücksraben den Code. Ohne deinen Koffer gehen wir jedenfalls nicht von hier fort. Warte hier auf mich“, wies er sie an und ging davon.
Wenig später kehrte er in Begleitung eines Bahnangestellten zurück. Was ihm an Charme fehlt, macht er durch Kompetenz wett, dachte Lotty. Man konnte sich in jeder Situation auf ihn verlassen.
Rasch begriff sie, dass er ihr die Rolle der reuigen Sünderin zugedacht hatte. Während er dem Mann erklärte, wie dumm und unvorsichtig sie gewesen war, sah Lotty hilflos und zerknirscht drein.
„Du solltest dich schämen“, schimpfte Corran. „Sieh nur, wie viel Arbeit du diesem armen Mann machst, von mir ganz zu schweigen.“
Sie ließ den Kopf hängen, genoss insgeheim aber die ungewohnte Standpauke. „Du hast recht. Es tut mir wirklich leid.“
Seinen skeptischen Blicken zum Trotz, gelang es ihr, ernst zu bleiben, bis ihr Koffer aus seinem Gefängnis befreit war. Dann bedankte sie sich mit ihrem strahlendsten Lächeln bei dem Bahnangestellten.
„Du hättest nicht gar so dick auftragen müssen“, raunte Corran ihr zu, als sie das Bahnhofsgebäude verließen. Auf ihren fragenden Blick hin erklärte er: „Ihm schöne Augen machen und so …“
„War es falsch, freundlich zu sein?“
„Ein einfaches Danke hätte genügt.“
„Wenn du nicht so ein Grießgram wärst, würde ich mich auch bei dir nett bedanken.“ Unter den Wimpern hervor warf sie ihm einen frechen Blick zu. „Im Ernst: vielen Dank. Es bedeutet mir sehr viel, meine Sachen wiederzuhaben.“
„Meine Hilfe war gar nicht nötig. Ein Lächeln, und dieser Mann hätte dir jedes einzelne Schließfach aufgeschlossen.“
„Ohne dich wäre ich nicht zurechtgekommen“, widersprach Lotty voller Überzeugung.
Kurz darauf erreichten sie den Parkplatz und verstauten den Koffer im Kofferraum des Geländewagens. Dann fuhren sie weiter zu einem riesigen Einrichtungshaus, in dem sie einen Großteil des Tages verbrachten.
Einkaufen mit Corran erwies sich als alles andere als ein Kinderspiel. Er ignorierte hartnäckig das komplizierte interne Bestellsystem und schien nicht bereit, der Aufgabe mehr Zeit als nötig zu widmen. „Was für ein Albtraum! Lass es uns so schnell wie möglich hinter uns bringen, und dann nichts wie raus hier!“
Unter den Kunden in dem Geschäft befanden sich viele junge Paare, die gemeinsam nach Möbeln und anderen Einrichtungsgegenständen suchten.
Wahrscheinlich wirken wir beide auch wie ein Pärchen, dachte Lotty, und sie fragte sich insgeheim, wie es sein mochte, zusammen mit dem Mann, mit dem man sein Leben verbringen wollte, die Ausstattung für das erste Heim auszuwählen. Gewiss bereitete es mehr Freude, als ein fertig möbliertes komfortables Apartment im Palast zu beziehen.
Gleichzeitig wurde ihr bewusst, in welcher Hinsicht sie sich von den anderen Paaren unterschieden: Sie berührten einander nicht und steckten auch nicht die Köpfe zusammen, um miteinander zu diskutieren. Stattdessen marschierte Corran zielstrebig durch den Laden, fest entschlossen, die unangenehme Aufgabe möglichst rasch zu erledigen.
„Ein Stuhl ist ein Stuhl“, erklärte er und griff nach dem ersten, auf den er stieß.
„Nicht den! Der ist hässlich wie die Nacht!“
„Wir richten ein Ferienhaus ein. Wen kümmert es da schon, worauf er sitzt?“
„Ich fände es schrecklich, wenn du die Häuschen, die ich mit so viel Mühe herrichte, mit scheußlichen Möbeln verschandelst. Das Mindeste, was deine Mieter erwarten dürfen, ist eine stilvolle Einrichtung.“
„Okay“, lenkte Corran mürrisch ein. „Dann such du die Sachen aus.“
Gut gelaunt notierte Lotty die Nummern der Betten und Kommoden, Tische und Stühle sowie eines schlichten bunt gemusterten Sofas für das Wohnzimmer auf dem Bestellformular. Sie häufte Bettzeug, Hand- und Badetücher, Lampen und Tischdecken, dazu eine komplette Küchenausstattung, in den Einkaufswagen. Schließlich machten sie sich auf den Weg zur Kasse.
„Bist du sicher, dass wir das alles wirklich brauchen?“, fragte Corran skeptisch.
„Wenn du möblierte Häuser inserierst, müssen sie auch eingerichtet sein.“
Unter Einsatz ihres ganzen Charmes bewegte sie den Verkäufer dazu, die Kleinteile gemeinsam mit den Möbeln nach Mhoraigh zu liefern, und so verließen sie das Möbelgeschäft lediglich mit einer bunt karierten Tischdecke, die Lotty gegen Corrans Widerstand für das Herrenhaus ausgesucht hatte.
„Haben wir noch nicht genug ausgegeben?“
„Auf das bisschen kommt es auch nicht mehr an, und mit diesem hübschen Tischtuch wirkt die Küche sicher gleich viel einladender.“
„Einladend für wen? Außer uns kommt ohnehin niemand dorthin.“
„Was eine Schande ist! Das Haus ist wunderschön. Du müsstest nur ein wenig Zeit investieren …“
„Und eine Menge Geld, über das ich derzeit nicht verfüge“, erwiderte Corran, während sie über den Parkplatz zum Auto gingen. „Sobald die Ferienhäuser fertig sind, lade ich Investoren ein, die sich das Gut ansehen sollen. Wenn sie bereit sind, mich zu unterstützen, kaufe ich Zuchtvieh, keine Tischdecken. Das Haus kommt erst an letzter Stelle.“
„Das verstehe ich, dennoch ist es eine Schande. Es würde nicht viel kosten, das Haus komfortabler herzurichten. Dann könntest du auch Gäste empfangen.“
„Wen denn? Die Leute aus dem Dorf werden keinen Fuß hineinsetzen, solange ich dort lebe.“
„Hast du sie denn eingeladen?“
Sie erreichten das Auto, und Corran hielt ihr die Tür auf. „Das haben wir doch schon besprochen. Mir fehlt die Zeit für gesellschaftliche Kontakte, selbst wenn das ganze Dorf sich um mich reißen sollte.“
„Dennoch solltest du dich darum bemühen“, beharrte Lotty. „Wie willst du sonst eine passende Frau kennenlernen?“
„Ein Einsiedler bin ich nicht, aber ich habe sehr viel zu tun“, erwiderte Corran schneidend. „Und mir fehlt das Geld, um das Haus für nicht existierende Gäste herzurichten.“
Lotty bedauerte zutiefst, dass die Dorfbewohner Corran nicht über den Weg trauten. Sie war überzeugt, dass sie ihn schnell ins Herz schließen würden. Er war nicht der unangenehme Mensch, als den sein Bruder ihn anscheinend beschrieben hatte.
„Ich hoffe, du findest eines Tages Gelegenheit, dich um das Haus kümmern“, sagte sie, als Corran den Motor anließ. „Mir gefällt die Vorstellung, dass es wieder zum Leben erwacht. Es muss früher wunderschön gewesen sein, voller Menschen, Kinder und Hunde.“
„Hunde habe ich schon – wenn man Pookie mitzählt.“ Er legte den Rückwärtsgang ein, legte einen Arm auf Lottys Rückenlehne, sah aus dem Heckfenster und fuhr an.
Lotty war sich seiner Hand überdeutlich bewusst. Wenn er sie nur ein wenig bewegte, würde er ihre Schulter berühren.
„Gib zu, du wirst Pookie vermissen, wenn er wieder bei deiner Mutter ist. Ich habe bemerkt, wie du seinen Bauch kraulst, wenn du dich unbeobachtet glaubst. Unter deiner rauen Schale verbirgt sich ein weiches Herz.“
Corran beendete zunächst den Ausparkvorgang, ehe er ihr einen Blick zuwarf. „Ich streichle ihn nur, damit er Ruhe gibt“, meinte er, doch um seine Mundwinkel spielte ein Lächeln.
Wie tut er das nur: lächeln ohne zu lächeln? fragte sich Lotty und zwang sich, beiseite zu sehen. Sein Anblick löste seltsame Empfindungen in ihr aus.
„Wahrscheinlich denkt Mutter gar nicht mehr an ihn. Sobald sie nach Hause kommt, stürzt sie sich mit Feuereifer auf etwas Neues und überlässt ihn mir ganz.“ Er schüttelte den Kopf. „Meg wird sich zu Tode schämen, wenn sie weitere zehn Jahre mit einem nutzlosen Hund zusammenleben muss, der ‚Pookie‘ heißt. Sie kann wenigstens die Schafe zusammentreiben, aber was kann er?“
„Er ist ein guter Kamerad.“
„Ein Hund muss zu etwas nutze sein.“
Genau wie die Frau, die du suchst, dachte Lotty traurig.
Als Corran den ersten Gang einlegte, berührte seine Hand fast ihr Knie, und eine Hitzewelle überflutete sie. Mit einem Mal kam ihr der Geländewagen viel enger vor als noch am Morgen, und das Atmen fiel ihr schwer.
Was ist nur los mit mir? fragte sie sich erschüttert. Es war doch gar nichts vorgefallen zwischen ihnen. Hatten die vielen glücklichen Pärchen in dem Einrichtungshaus ihre Fantasie in eine ungeeignete Richtung gelenkt? Wochenlang war es ihr gelungen, sich Corran gegenüber einen gewissen Gleichmut zu bewahren. Unruhig rutschte sie auf ihrem Platz hin und her und versuchte krampfhaft, ein unverfängliches Gespräch in Gang zu halten.
„Deine Kinder werden Pookie lieben.“
„Welche Kinder?“, fragte er erstaunt.
„Willst du etwa keine Familie gründen?“
„Ich bin noch nicht einmal verheiratet!“
„Loch Mhoraigh ist ein Paradies für Kinder. Du solltest viele haben und dafür sorgen, dass sie ihre Kindheit genießen können.“
„Dafür habe ich keine Zeit.“ Corran steuerte den Wagen auf die Hauptstraße und beschleunigte. „Erst muss ich die Cottages herrichten und das Gut wieder auf Vordermann bringen. Danach werde ich mich dem Haus und möglicherweise der Suche nach einer Frau widmen. Bis ich an Kinder denken kann, vergehen noch Jahre. Zunächst gibt es Wichtigeres zu tun.“
„Und das wäre?“
„Die Herden aufstocken, Böcke kaufen …“
„Ich habe auf deinem Land noch keine Schafe gesehen.“
„Sie weiden oben in den Bergen. Ich hole sie erst im September ins Tal zurück.“
„Dann bin ich nicht mehr hier“, antwortete sie traurig und sah aus dem Fenster. Sie musste nach Montluce zurückkehren und ihr altes Leben wieder aufnehmen, als gehorsame, pflichtbewusste Prinzessin, die sich nie schlecht benahm, Launen zeigte oder sich vor Verlangen nach einem Mann verzehrte, und Corran würde wieder seine Schafe versorgen und sein Land bewirtschaften – ohne sie.
Es ist besser so, redete Lotty sich ein. Sobald Großmutter ihren Plan aufgab, sie mit Philippe zu verheiraten, würde sie andere Männer kennenlernen. Irgendwo musste es einen Prinzen oder Grafen geben, den auch die Königinwitwe guthieß. Einen Mann, der wusste, wie man sich bei Hof benahm, wie man lächelte, Hände schüttelte und der einen würdigen Gemahl für die Prinzessin von Montluce abgab. Sie würde ihre Jungfräulichkeit an ihren Ehemann verlieren, wie es sich gehörte.
Aber das wollte sie nicht. Die Wochen in Mhoraigh waren vermutlich die einzige Phase in ihrem Leben, in der sie tun konnte, was sie wollte, ohne Gedanken an die Berichterstattung in der Presse oder die Reaktion ihrer Großmutter zu verschwenden. Sie sehnte sich danach, etwas zu wagen, Risiken einzugehen wie ihre berühmten Vorfahren.
Eine kurze, leidenschaftliche Affäre – war das wirklich zu viel verlangt?
Gedankenverloren rieb sie sich die von der Arbeit rauen Hände und grübelte über die Frage nach, die sie seit jenem ersten Bad in Loch Mhoraigh House quälte:
Sollte sie versuchen, Corran zu verführen?
Aus den Augenwinkeln heraus beobachtete sie, wie er den Wagen steuerte. Das Lenkrad lag sicher in seinen großen Händen, er wirkte entspannt und gleichzeitig konzentriert. Beim Bremsen spannten sich die Muskeln in seinen Oberschenkeln an, und ihr lief ein Schauer des Verlangens über den Rücken.
Was spricht eigentlich dagegen?
Zum einen waren sie beide ungebunden. Dass sie nicht sein Typ war, wie er ihr deutlich zu verstehen gegeben hatte, mochte sich als Vorteil erweisen, wenn der Zeitpunkt der Trennung gekommen war. Sie konnte gehen, ohne ihm zu verraten, wer sie wirklich war. Zwar hielt sie ihn nicht für einen Menschen, der die Story über seine Affäre mit der Prinzessin an die Presse verkaufen würde. Andererseits konnte sie es nicht mit Sicherheit ausschließen. Ein unerwarteter Geldsegen für das Gut käme ihm möglicherweise gelegen.
Außerdem wollte sie nicht, dass er an sie als Prinzessin dachte. Sie wollte von ihm behandelt werden wie eine ganz normale Frau, und so sollte er sie auch in Erinnerung behalten.
Er war Single, ausgesprochen attraktiv, und sie verbrachte viel Zeit mit ihm allein. Eine bessere Gelegenheit, ihre Jungfräulichkeit zu verlieren, würde sich ihr nie wieder bieten.
Andererseits stellte ihre mangelnde Erfahrung ein ernsthaftes Problem dar. Sie hatte keine Ahnung, wie man einen Mann verführte, und wagte es noch nicht einmal, mit ihm zu flirten. Ohnehin würde er nicht auf irgendwelche Tricks hereinfallen.
Es war sinnlos, auch nur daran zu denken, mit ihm zu schlafen.
Dennoch setzte ihr Herzschlag jedes Mal für einen Moment aus, wenn er nach dem Schalthebel griff oder einen Blick in den Rückspiegel warf. Immer wieder fragte sie sich, wie es sein würde, wenn er sie liebte.
Dann könnte sie endlich ihre Sehnsucht stillen und seine breiten Schultern berühren, sein markantes Gesicht studieren. Sie würde wissen, wie seine Lippen schmeckten, wie sein Körper sich anfühlte.
Nervös schluckte sie und verschränkte die Finger ineinander, während sie verzweifelt den Blick auf die Straße heftete.
„Ist alles in Ordnung?“
Erschrocken blickte sie auf. „Ja, klar.“
„Du bist so ruhig.“
„Findest du? Ich habe gerade an zu Hause gedacht.“
„Es ist nicht mehr weit, höchstens eine Stunde.“
„Damit meine ich Montluce.“
Einen Augenblick schwieg er. „Sicher.“ Wieder herrschte Stille, bis er sich schließlich räusperte. „Ich weiß gar nichts über deine Heimat. Wie ist es dort?“
Lotty blickte versonnen aus dem Autofenster. „In Montluce ist alles eine Nummer kleiner als hier. Es ist wunderschön und wirkt ein wenig wie ein Märchenland mit Bergen, Seen, Schlössern und kleinen, altmodischen Städten.“
Draußen zogen die majestätischen Bergketten der Highlands vorüber, die im Schein der untergehenden Sonne weniger schroff wirkten als tagsüber. „Die Landschaft hier wirkt viel wilder und großartiger. Das wird mir fehlen.“
„Musst du denn zurückkehren?“, erkundigte sich Corran, ohne sie anzusehen. Er hielt den Blick fest auf die Straße gerichtet, und seine Stimme klang irgendwie gepresst.
„Ja, leider.“ Sie atmete tief durch.
Mit Philippe, der nur so lang im Land bleiben würde, bis sein Vater, der König, sich von seiner Krankheit erholt hatte, hatte sie vereinbart, maximal drei Monate fortzubleiben. Danach musste sie ihrem Land wieder als First Lady dienen.
Von frühester Kindheit an waren ihr Verantwortungsgefühl und Pflichtbewusstsein eingebläut worden. Nach dem Tod ihres Vaters hatte ihre Großmutter ihr klargemacht, wie egoistisch es wäre, auf einem Privatleben zu bestehen. Sie durfte den neuen König und ihr Land nicht im Stich lassen.
Aber wenigstens einen Akt der Rebellion hatte sie sich mit ihrer Flucht gestattet.
„Ich muss nach Hause zurückkehren“, bestätigte sie erneut.
„Aber noch nicht sofort?“
Schwang da ein Hauch Besorgnis in seiner Stimme mit? Lotty sah ihn verwundert an und hoffte, sich nicht getäuscht zu haben. Leider konnte sie seiner Miene nichts entnehmen.
„Nein“, erwiderte sie gedehnt. „Noch nicht gleich.“