S ophia hatte weniger Druck verspürt, wenn sie in eine Schlacht zog und sich tödlichen Kräften gegenübersah, als die Kammer des Baumes zu betreten. Sie kannte die meisten der Ratsmitglieder schon ihr ganzes Leben lang. Sie gehörten zu ihr und doch hatte sie sich noch nie so abgespalten von ihrer Rasse gefühlt.
Die junge Drachenreiterin schätzte Livs harte Worte, denn sie musste sie hören, um sich vorzubereiten. Sie befürchtete, dass sie sonst in die Kammer des Baumes gegangen wäre und dort nach Unterstützung gesucht hätte, wo es keine gab. Jetzt wusste sie, was sie sagen musste, wenn sie die Kammer betrat. Was noch wichtiger war: Es brachte ans Licht, was sie selbst nicht über die Drachenelite und die neuen Dracheneier verstand.
»Viel Glück«, sagte sie zu sich selbst, als sie in die Kammer des Baumes trat und erwartete halb, dass Plato oder Liv antworten würden. Stattdessen war es die eine Stimme, die sie mehr als alle anderen hören musste.
Du brauchst keines , meinte Lunis in ihrem Kopf. Sprich einfach aus deinem Herzen und denk daran, dass du am Ende die jenige bist, die regiert, aber nur mit wohlwollender Kraft. Nutze die Vernunft und du wirst Anhänger finden. Nutze Gewalt und du wirst Gefangene bekommen.
Sophias Augen gewöhnten sich an die Dunkelheit und die funkelnden Lichter an der Kuppel im Saal.
Wenn Sophia früher vor dem Rat auftrat, musste sie dessen Aufmerksamkeit einfordern. Das war dieses Mal kein Problem.
»Miss Beaufont«, sagte Lorenzo Rosario sofort, als Sophia eintrat. »Wir haben dich schon erwartet.«
Jude und Diabolos blickten beide in ihre Richtung und zeigten ein reges Interesse an jeder ihrer Bewegungen. Sie schüttelte es ab. Sie waren die Regulatoren für das Haus der Vierzehn. Sophia brauchte sich keine Gedanken um sie zu machen, denn sie hatte nicht vor, zu lügen, was sie herausfordern würde.
Sprich aus dem Herzen , ermutigte Lunis sie.
»Das habe ich mir schon gedacht«, entgegnete Sophia selbstbewusst und schritt an dem Halbkreis der Krieger vorbei, zu denen auch Liv gehörte. Sie blieb vor der Bank stehen und sah zu den Ratsmitgliedern auf, die sie mit prüfenden Blicken musterten.
Bianca Mantovani scrollte durch Dateien auf ihrem Tablet und blickte Sophia kaum an. »Die Welt ist unzufrieden mit der Drachenelite und die Umfragen zeigen, dass sich eure Beliebtheit auf einem historischen Tiefstand befindet.«
Bevor Sophia antworten konnte, atmete Haro Takahashi aus. »Es ist wahr. Ich glaube, wir müssen uns von euch distanzieren, je nachdem, wie ihr euch entscheidet, weiterzumachen.«
Sophia antwortete nicht. Stattdessen schaute sie zu den anderen Ratsmitgliedern, ihrem Bruder Clark, Hester DeVries und Raina Ludwig. Der Sitz, den die Familie Sinclair innehatte, war noch immer nicht besetzt, weil das Haus der Vierzehn so viele Unruhen zu bewältigen hatte.
Zu ihrer Enttäuschung, aber nicht zu ihrer Überraschung, blieben die anderen drei Ratsmitglieder stoisch und stimmten weder zu noch widersprachen.
»Nun gut«, begann Sophia, die Hände am Rücken verschränkt. »Distanziert euch. Wir werden uns daran erinnern, wenn wir unsere Autorität über die Welt wiedererlangt haben, was wir, das versichere ich, tun werden. Wie praktisch, dass ihr vergesst, dass vor nicht allzu langer Zeit eure Köpfe auf der politischen Schlachtbank lagen und dass es die Drachenelite war, die euch gerettet hat.«
»Ist es das, was du willst?«, fragte Bianca mit einem schrillen Ton in der Stimme, der Sophia das Blut in den Adern gefrieren ließ.
»Natürlich nicht«, antwortete Sophia sofort. »Was ich wollte … was wir wollten, war die Unterstützung des Hauses, während wir diese Hindernisse überwinden.«
Bianca lachte. »Wirklich, Hindernisse überwinden? Die Drachenelite steht vor der totalen Auslöschung oder wird überflüssig. Ich verstehe nicht, warum ihr annehmt, dass wir uns mit euch verbünden sollten.«
Sophia hielt ihre Wut im Zaum. »Nein, ich sehe, welche Fähnchen im Wind ihr seid. Als ihr von etwas heimgesucht wurdet, das eure Rasse angegriffen hat, sind wir eingeschritten und haben eure Ärsche gerettet. Jetzt seht ihr, wie wir kurz vor der Ausrottung stehen und haltet eure Hände nach oben, als wolltet ihr euch ergeben.«
Lorenzo seufzte dramatisch. »Ich verstehe nicht, wie du etwas anderes von uns erwarten kannst. Ihr habt nie etwas über die Drachenpopulation verraten. Wir können tatsächlich nicht dulden, dass fünfhundert Drachen schlüpfen, die die Macht haben, die Erde in zwei Hälften zu spalten.«
Sophia wollte mit dem Argument kommen, dass es die Vorgabe der Engel war und einen legitimen Grund für das Gleichgewicht gäbe. Das hatte bei der Drachenelite funktioniert. Im Haus der Vierzehn würde es nicht funktionieren. Sie holte tief Luft.
»Es gibt keine Weiterentwicklung in einer Welt, in der es keine Konflikte gibt.« Sophias Stimme wurde immer intensiver, je länger sie sprach. »Es ist richtig, dass es für jeden Drachen, der schlüpft und sich uns anschließt und für Gerechtigkeit kämpft, einen gibt, der eine Bedrohung für uns darstellen könnte. Aber ich behaupte: Das Gleiche gilt unweigerlich auch für euch. Jeder Mensch, der geboren wird, ist zur einen Hälfte gut und zur anderen böse und daraus entsteht eine Mischung. Manche sind zum Guten fähig, tun aber das Böse und umgekehrt. Schickst du deine Kriegerinnen und Krieger mit dem Auftrag aus, Übeltäter zu töten und sie auszurotten? Ist dieses Vorgehen nicht ein Teil eurer Gerechtigkeit?«
»Ja, natürlich«, antwortete Haro sofort. »Wir müssen mit gerechter Hand regieren.«
»Wie sollten wir, die Drachenelite, dann all unsere Eier loswerden, wo wir doch wissen, dass aus ihnen halb gute und halb böse Drachen schlüpfen werden?«, fragte Sophia. »Wir wissen das mit Sicherheit, weil wir einen direkten Draht zu Mutter Natur haben. Das wisst ihr aus Erfahrung. Trotzdem wird von uns erwartet, dass wir sofort handeln, obwohl ihr manchen Magiern erlaubt, in die Welt hinauszugehen und sie zu verschmutzen.«
Bianca warf ihr Tablet zur Seite. »Du bagatellisierst das.«
»Das tue ich nicht«, widersprach Sophia fest. »Ich drücke es nur so aus, dass ihr es verstehen könnt. Ja, es wird böse Drachen geben. Aber wir glauben, dass das Gute dem Bösen überwiegt. Noch wichtiger ist, dass die Welt nicht schwarz-weiß ist. Vielleicht müsst ihr euch daran erinnern, dass es keinen Fortschritt gäbe, wenn wir alle gleich geschaffen wären. Diesem Planeten sind schreckliche Dinge widerfahren, aber sie haben auch zu einem erstaunlichen Wachstum geführt.« Sophia schloss ihre Augen und ließ die Worte ihres Lieblingsdichters auf sich wirken. Die Worte von Kahlil Gibran halfen ihr immer, wenn sie ihre eigenen verlor. »Doch solltet ihr in eurer Angst nur den Frieden der Liebe und die Freuden der Liebe erstreben, dann ist es besser für euch, eure Blöße zu bedecken und den Dreschplatz der Liebe zu verlassen und die gleichmütige Welt zu betreten, wo ihr lachen sollt, aber nicht all euer Lachen und weinen sollt, aber nicht alle eure Tränen.«
Im Rat wurde es still. Sie sahen sich gegenseitig an und warteten auf eine Antwort. Als niemand etwas sagte, beugte sich Clark vor, mit einem stolzen Glitzern in seinen beaufontblauen Augen. »Was du sagst, ergibt Sinn. Also, wie willst du das Problem lösen?«
Sophia zuckte mit den Schultern. »Die Welt ist besorgt, obwohl wir Vertrauen erwecken wollen. Das ist uns klar. Aber sie muss an uns glauben, so wie wir. Sie muss erleben, wie die Drachenelite den Tag rettet. Sie muss sehen, dass die Führungsgremien zusammenkommen und Vertrauen in uns haben.«
»Du meinst das Haus der Vierzehn?«, fragte Hester.
Sophia nickte. »Ja und das Reich der Fae und Elfen und so weiter. Wenn es böse Drachen in der Welt gibt, können wir uns mit ihnen befassen. Sie können ein Problem werden. Sie können sich selbständig machen und sich um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern, wie es bei Drachen üblich ist. Aber wenn wir nicht zusammenhalten, dann versichere ich euch, dass diese Welt ohne die Unterstützung der Drachenelite nur noch chaotischer wird.«
»Und dieser Magier, Nevin Gooseman? Wie wollt ihr mit ihm verfahren?«, wollte Raina wissen.
Das war die schwierige Frage. Er war einer der ihren, ein Magier, aber er versteckte sich hinter einer politischen Agenda und wurde von Sterblichen unterstützt. Das machte die Situation für die Drachenelite nicht gerade einfach. »Nevin Gooseman hat Angst vor dem, was er nicht versteht. Ich glaube, er möchte kein übergeordnetes Regierungsgremium.«
»Ich kann nicht behaupten, dass ich dir zustimme«, stieß Lorenzo sofort hervor.
»Dann tritt von deinem Amt zurück«, feuerte Sophia. »Das Haus der Vierzehn hat diesen Planeten viele Jahrhunderte lang regiert und das hat dich nicht gestört. Ich erinnere euch daran, dass es das Böse eurer eigenen Mitglieder war, das die Probleme verursacht hat. Wir haben uns entschieden, weiterzumachen, mit euch zusammenzuarbeiten und euch zu beschützen.«
»Das ist zwar wahr«, begann Haro und räusperte sich.
»Es ist wahr«, betonte Sophia. »Es mag auf Widerstand stoßen, aber die Drachenelite ist die oberste regierende Kraft. Wir wollen sie nicht missbrauchen. Wir wollen nicht, dass unsere eigenen Leute das Böse weltweit verbreiten – ganz im Gegenteil. Wir haben kein Problem mit Kontrollen und Gegenkontrollen. Schließlich müssen wir uns vor Mutter Natur verantworten. Aber wir sind nicht bereit, das aufzugeben, wofür wir gekämpft haben und was noch wichtiger ist: Das ist es, was dieser Planet verdient hat. Er braucht jemanden, dem es wichtig genug ist, Tag und Nacht und ohne Rücksicht auf Verluste für die Gerechtigkeit zu kämpfen. Ihr kümmert euch hauptsächlich um die Angelegenheiten der Magier. Ich möchte euch fragen, ob ihr die Rolle zurückhaben wollt, euch um die Angelegenheiten der Welt zu kümmern – im Großen wie im Kleinen.«
Die Frage ließ den Rat wieder sprachlos zurück. Schließlich lächelte Clark seine Schwester leicht an.
»Ich denke, du hast dich klar ausgedrückt«, meinte er. »Macht weiter, wie ihr wollt und ihr werdet unsere Unterstützung bekommen. Aber haltet uns auf dem Laufenden über eure wachsende Drachenpopulation und darüber, wie ihr die Sache regeln wollt.«
Sie stimmte zu. »So soll es sein!«
Sophia lächelte vor sich hin und fühlte sich zum ersten Mal groß, obwohl so viele körperlich Größere um sie herumstanden.